Mehrwert, Mehrlust, Mehrsein - Günter von Hummel - E-Book

Mehrwert, Mehrlust, Mehrsein E-Book

Günter von Hummel

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Beschreibung

Mehr, immer mehr, ist in vielen Bereichen schon zu einer Devise unserer Zeit geworden. Bei den im Titel genannten Figuren enthält dieses Mehr unterschiedliche Aspekte, die man jedoch gut miteinander in Beziehung setzen kann. Neben dem Mehrwert von Marx liegt das Hauptgewicht in diesem Buch auf der Psychoanalyse Lacans: bei ihm spielt die 'Mehrlust' und ihre Funktion bei der Erstellung von Wissen eine große Rolle, denn sie behindert durch ihr ständiges Immer-Mehr-Wissen-Wollen die Frage nach der Wahrheit dieses Wissens, und damit auch die Frage nach dem 'Mehrsein'. Gibt es so etwas überhaupt? Der Autor versucht mit einem neuen Verfahren, das Psychoanalyse und Meditation verbindet, diese Frage mit wissenschaftlichen Begründungen zu beantworten. Doch nicht nur Theoretisches ist wichtig, auch eine Beschreibung der Praxis verhilft dazu, das genannte Verfahren direkt aus dem Buch heraus zu erlernen.

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Das Umschlagsbild zeigt außer den wohl schon bekannten Personen (Marx und Lacan) eine Bronzestatuette vom Nationalmuseum in Beirut aus der Zeit um 1500 v. Chr. Sie stellt einen ‚vergöttlichten Herrscher‘ namens Reshek aus Byblos dar, sozusagen eine der frühesten Vaterfiguren, die so ganz anders ist als die beiden intellektuellen Denker aus der heutigen Zeit. Er ist eher ein Adonis, dessen Kult dort, im vorderen Orient, blühte. Reshek hat feminine Züge, und passt so gut in die Zeit psychologischer Diskussionen um das Verhältnis von Mann und Frau, für das Lacan, und das von Herrscher und Beherrschten, für das Marx zuständig ist.

Inhaltsverzeichnis

Begehren und Anspruch

Der Sündenfall

Marx und Adonis

Mann und Frau

Hans im Glück

Die Allround-Wissenschaftler

Virtuelle Schizoidie

Bild- und Blick-Theorie

Ikon und

Pass-Worte

‚Ding‘ und

Formel-Worte

Anhang

Literaturverzeichnis

1. Anspruch und Begehren

In seinem XXI. Seminar beschreibet der französische Psychoanalytiker J. Lacan, dass das sogenannte Reale und das Genießen, die ‚Jouissance‘, sich gegenseitig bedingen. Mit dem Realen ist nicht die Wirklichkeit, die äußerliche Realität gemeint, sondern das ‚Wirkende‘ als solches, das Substanzielle, Körperhafte. Für den Menschen bedeutet das, „dass die eigentliche Definition eines Körpers darin besteht, dass er eine ‚substance jouissante‘ ist, ein genießendes Substanzielles, ein Körpergenießen.1 „Wieso hat das noch nie jemand behauptet? Dies ist das Einzige, abgesehen vom Mythos, das wirklich erfahrbar ist. Ein Körper genießt sich selbst, er genießt es gut oder schlecht . . .,“ sagt Lacan in dem gerade zitierten Seminar und ergänzt, dass das ganze Köperselbstgenießen nur funktioniert, wenn es in den Rahmen gestellt ist, in dem neben dem Realen auch Imaginäres und Symbolisches wirksam ist, weil nur so das menschliche Subjekt, das dem Unbewussten unterstellte Subjekt erfassbar ist.2

Klingt das schon zu umständlich, zu kompliziert? Das kann eigentlich nicht sein, denn in dem vorliegenden Buch wird es hauptsächlich nur um diese beiden Bereiche gehen, um das Imaginär-Reale, das Bild-Wirkende des Körpergenießens, und um das Symbolisch-Reale, das Wort-Wirkende des Sprachgenießens. Mit letzterem hat es schon der Philosoph I. Kant versucht, und er hat es recht originell gemacht, als er sich in lateinischer Sprache so ausdrückte: „Aktiv fängt die Ursache an (infit) „weil passives Anfangen als Kausalität Ursache wird (fit)“.3 Basta, fertig, aber ganz logisch ist das nicht. Es ist genauso kühn wie mit dem Körper-Genießen anzufangen ohne dies im Detail klar zu machen. Wie soll das genau vor sich gehen mit der ‚substance jouissante‘, und was soll im Falle Kants ein passives Anfangen sein? Es passiert nichts, und obwohl nichts passiert, wird die Ursache aktiv? Anscheinend hat Kant doch im Wort Ur-Sache schon die Sache präferiert (sie sozusagen ‘ge-urt’, verurtümlicht), anstatt im Wort Anfang den Fang zu präsentieren, den er für sich somit gemacht hat. Kurz: er ist in einer Art Spiegelbeziehung, ‚fit’/‚fit‘ festgefahren.

Dabei hat er doch nur – wie die Psychoanalytiker sagen würden – mit seinem ‚fit‘/‚fit‘, einem Wiederholungszwang nachgegeben, einer Verdopplungssucht. Die Sache ist trotzdem irgendwie originell, und ich werde darauf zurückkommen. Kant sagt es nicht ganz falsch, er weiß alles ganz genau – und dies gilt durchaus auch für heute noch – aber er sagt es nicht gut genug! ‚Fit‘/‚fit‘, er stottert, er rhythmisiert. Er genießt seine sprachliche Argumentation und erklärt es nicht so, dass wir es gut und unmittelbar erfahren können. Alles ist richtig gewusst, aber nicht gelungen kommuniziert, nicht einfühlend gut vermittelt! (Es war auch schon zu Kants Zeiten so, dass die Leser über seinen Werken stöhnten). Und zudem: er hat den Sound des Wort-Wirkenden betont, es aber nur in der Spiegelung des Bild-Wirkenden ausgedrückt. Diese zwei Grund-Gegebenheiten machen den Anfang und das Wesen eines jeden Diskurses (jeder Vermittlungsart) aus, und es wird darauf ankommen, sie in eine bessere, reife, gelungenere Kombination zu bringen.

Lacan meinte, es gäbe seit jeher einen umfassenden Diskurs, also eine universelle Art Worte, Symbole, Wort-Wirkendes, Signifikanten im Zusammenhang mit Bild-Wirkendem, Ikonischem, Blicklichem zu erstellen und auszutauschen. Lacan betont jedoch wie alle Philosophen und Psychoanalytiker das Wort-Wirkende. „Die Signifikanten sind die „Materialität, das Reale der Sprache“, sagt er.4 Es handelt sich nicht um das Wort allein, sondern um das mit ihm oft verbundene Reale, das Wirkende – und damit gibt es auch einen Bezug zum Wirkenden in der Natur, zum Genießen, zum Wesen des Menschen und allem anderen, womit dann doch wieder das weniger betonte Bild-Wirkende mit hereinkommt. „Die Natur liefert Signifikanten“, schreibt Lacan. „Noch bevor die eigentlichen Humanbeziehungen entstehen, sind gewisse Verhältnisse schon determiniert . . .Vor jeder individuellen Deduktion und noch bevor überhaupt kollektive Erfahrungen . .sich niederschlagen, gibt es etwas, das dieses Feld organisiert und die ersten Kraftlinien in es einschreibt . . die Funktion einer ersten Klassifizierung. Wichtig ist für uns, dass wir hier die Ebene erkennen, auf der es – noch vor jeder Formierung eines Subjekts, das denkt – bereits zählt, auf der gezählt wird. Wichtig ist, dass in diesem Gezählten ein Zählendes schon da ist“.5

Diese Aussage betrifft wohl speziell das mit sich selbst ‘durchgegangene’ und ‘vorauseilende Gehirn’ der Vormenschen und dann auch das der ersten Menschen, wie es der Evolutionsbiologe C. Wills erforscht hat. Sie sind von dem Bild-Wirkenden in sich selbst überflutet worden und haben so ein Wort-Wirkendes gebraucht, um sich zu stabilisieren.6 Damit will ich gleich klarstellen, dass der Begriff ‚vorauseilendes Gehirn‘ nur eine Allegorie ist. Für mich ist das überflutend Psychische entscheidend, das zum Unbewussten führte. Denn der Mensch ist nicht sein Gehirn, er ist – wie es auch der Philosoph Alva Noë zeigt – sein Text, seine Textur, sein Bild-Wort-Wirkendes (der Text betrifft das Wort, die Textur das Bild)!

Das war auch die Grundlage der Philosophie Hegels: die Natur, das Gegebene, bildhaft Gesetzte war die These, die Textur, doch es musste eine Antithese geben, das Wort, das textlich Symbolisierte, um zu einem Schluss, zur Synthese zu kommen. So war für ihn das Wort (die Antithese) Mord an der Sache (These), aber letztlich muss sich etwas Gemeinsames ergeben. Genau dies ist auch das Ziel dieses Buches. In der ‚vorauseilenden Textur‘ waren die bedürfnisartigen Instinkte, (das bildhaft Gesetzte) verloren gegangen und haben unter der Domäne des Zählenden, Erzählenden, des Textes der Signifikanten, das geschaffen, das Lacan an den Anfang stellt: das Begehren (desir), das verlangende Wollen, die freien, menschlichen ‚Triebe‘ die man in Anführungszeichen setzen muss, denn mit dem Tierischen haben sie nichts mehr zu tun, aber ebenso nichts mit der Neurowissenschaft, nochmals: wir sind nicht das Gehirn!

Dabei muss man also das elementar bild-wirkende Begehren als solches von dem wort-wirkendem Begehren unterscheiden, die wohl von früh an in engstem Zusammenhang miteinander stehen. Dieses komplexere Begehren, die Freud‘schen Triebe, sind nicht mehr objektiv von einem Bedürfnis gezeichnet, sondern ist Ausdruck des Subjekts, des dem Unbewussten unterstellten Bild- und Wort-Wirkenden, für das die herkömmlichen Psychoanalytiker allerdings keinen Zusammenschluss (Synthese) finden.7 Wie gesagt erfährt das Kind schon bald, dass es sein Bedürfnis, z. B. an der Brust der Mutter zu saugen mit einem Schrei, einem Appell, einem Ruf, kurz: dem artikulierten Anspruch (dem beginnenden Wort-Wirkenden) zur Geltung bringen kann. Doch der zwischen dem vom bild-gestalt-wirkenden Bedürfnis losgerissenen Anspruch entsteht im Zwischenraum das nunmehr bild- und wort-wirkende Begehren. Der Anspruch ist beim Psychoanalytiker nämlich stets Liebesanspruch, und so hat er die Kraft vom Bedürfnis weg zum Begehren zu taumeln, wo er den erotischen, ‚phallischen‘ Anstrich bekommt, diese Symbolik des Sexuellen, die Freud als für den Menschen typisch herausgehoben hat.8

„Das Subjekt befriedigt aber nicht einfach nur ein Begehren, es genießt es zu begehren, und das ist eine wesentliche Dimension seines Genießens. Es ist vollkommen irrig, diese ursprüngliche Gegebenheit zu unterschlagen, . . .“.9 Das elementar bild-wirkende Begehren gelangt in die zweite Dimension, mathematisch: zweite Potenz, als vom wort-wirkenden Begehren übertrumpft. Ich werde mich im Folgenden auf diese Zusammenhänge berufen, denn so wird das eingangs erwähnte Körpergenießen in seinem Bezug zum Begehren erklärt. Ich verstehe es so, dass das Begehren nach dem Begehren zu genießen, nicht eine Erklärung vom Bedürfnis und dem Liebesanspruch erfahren muss, sondern eine Zurückführung nach dem ursprünglichen Lebens-Begehren darstellt, nach dem reinen Genießen, bezüglich dessen Lacan bestätigt, dass auch die Pflanzen darüber verfügen.10 Die Bäume, aber auch die Amöben und die Bakterien genießen, schreibt er an anderer Stelle.11

Natürlich weist auch der Begriff des Zählenden auf das Genießen, und zwar auf das, wo wirklich gezählt wird, das Genießen des Mathematikers zum Beispiel, wie Lacan hervorhebt. Denn der Mathematiker versucht ja möglichst präzise, möglichst haargenau dieses Signifikanten/Begehren zu definieren. Und tatsächlich, hört man nicht immer wieder, dass die Welt eigentlich mathematisch aufgebaut ist, dass man zählen muss, ob mit Zahlen oder etwas anderem ist egal. Man kann durchaus mit dem ‚Ein‘ bzw., der Eins, mit l’Un, wie Lacan sagt, anfangen, doch dann darf man nicht einfach weiterzählen mit der Kette der ersten ganzen Zahlen, die nämlich bis heute nicht empirisch klar theoretisiert sind.

Diese Eins, das erste ‚Ein‘, bleibt noch unbestimmt, weil kein wissenschaftliches Argument da ist, wie man weiter zählen soll. Die einzige Möglichkeit weiter zukommen besteht nun darin, es wie Kant zu machen, also dem Wiederholungszwang nachzugeben und ein zweites ‚Ein‘ dazu zu setzen. ‚Ein‘ und nochmals ein anderes ‚Ein‘. ‚Ein‘ ‚Ein‘, eine Art von Doppelklick, wie man ihn am Computer anwendet.12 Es herrscht so auch wieder das

Rhythmisierende des Genießens vor, eine Kombination des mathematisch Realen und der wort-wirkenden Sprechlust. ‚Fit‘/‚fit‘, ‚Ein‘ ‚Ein‘, es ist das Gleiche.

Doch steckt darin nicht auch das – ebenso unbewusste – Bild-Wirkende, das Imaginäre samt seiner Körperlust? Selbstverständlich findet es sich betont in den Signifikanten der Natur wieder, in den Kraftlinien und in den Zahlen, und damit nicht so sehr im Wort-Wirkenden des Sprechtriebs, sondern im Bild-Wirkenden des Schautriebs und seiner Schaulust. Denn es liegt an der bildwirkenden Spiegel-Beziehung, also den rein reflektiven Zuwendungen zwischen dem Kind und seiner Mutter, dass das Kind sich mit einem Zug von ihr identifiziert und es dieses Bild dabei stets nachjustieren muss. Die Mutter ist mächtiger und komplexer, und so wird das Kind gezwungen, irgendwann einen Halt im Wort-Wirkenden zu finden, auch wenn dies zu Beginn nur in einem Widerhall auf die mütterlichen Verlautungen besteht.

Diesen Vorgang hat schon die Psychoanalytikerin Birkstedt-Breen ausführlich beschrieben, als sie von den Widerhalleffekten sprach, die das Kleinkind bereits in den frühesten Wochen in Bezug auf das Reverie-Geplapper der Mutter macht. Doch auch dabei geht es nur um eine Echo-Beziehung, einen Echo-Diskurs, kurz: wieder nur um das ‚Ein‘ ‚Ein‘ des rhythmisierenden Genießens. Damit ist noch nicht das volle Wort-Wirkende erreicht, und vor allem sind nicht beide, Bild- und Wort-Wirkendes gleich gewichtet und in klaren, gegenseitigen Zusammenhang gebracht. Und so habe ich in der Abbildung 1 den Zusammenhang der beiden in Form des Übergangs vom Bild- (1) zum Wortwirkenden (2) dargestellt – jetzt wieder hinsichtlich der Mutter-Kind-Beziehung.

Sie zeigt die anfängliche Strebung, die begehrende Intention des kindlichen Subjekts in dem nach oben und wieder nach unten gehenden Bogen in der Senkrechten, wo sie zuerst nur durch den Punkt 1 läuft, wo sie das Bild-Wirkende, Imaginäre kreuzt, das mit a gekennzeichnet ist. Das klein geschriebene a bedeutet bei Lacan den vergleichbaren anderen, wie er dem kleinkindlichen Subjekt in Form der mütterlichen Brust, aber später auch von anderen seinesgleichen, Spiel-kameraden, Gegenständen, kurz: dem ‚ich / anderen‘, dem a / a’, in reiner Spiegelbeziehung, begegnet. Dementsprechend fällt das Resultat der Bogenbewegung links unten als bildlich idealisiert aus, was Freud Ideal-Ich bzw. das Ich-Ideal nannte.

So lässt sich zeigen, dass das erste Auftauchen des Begehrens vom Bild-Wirkenden,von den Kraftlinien her zu sehen ist, also von dem senkrecht auf- und dann absteigenden Bogen der Abb. 1, auch wenn es – in einer parallelen Aktion – sozusagen fast gleichzeitig mit dem Wort-Wirkenden, dem horizontalen Bogen, konfrontiert ist. Dort greift das Wort-Wirkende zu, indem die gekreuzte Intention von 1 nach 2 weitergeht und so das Bild-Wirkende ins Wort-Wirkende umgewandelt ist und im bedeutenden und nunmehr also dem unbewusst Wort-Wirkenden zugehörigen groß zu schreibenden Anderen,A endet. Der Lacansche Andere hat sich im Unbewussten nicht nur durch Verinnerlichung der Reverie-Laute der Mutter, sondern auch durch die Stimme bedeutender Anderer (Eltern, frühe Bezugspersonen, Lehrer, Großväter, etc.), gebildet, und stellt so den primär verbalen Signifikanten (simpel und kurz: Wesen oder Geist des Wortes dar.

Abb. 1

Darin wird das eine ‚Ein‘ bei 1 sichtbar und das andere ‚Ein‘ bei 2, aber indem es nun nicht mehr um eine einfache Zahlenreihe wechselnder anderer (a / a’, wozu ja auch das wechselnde Mutterbild gehört) geht, sondern um einen ans Wort-Wirkende gebundene Mathematik, kommt ein ausdrückliches Sprechen zustande. So repräsentierte für Lacan eine Eins eine Null für eine andere Eins, indem in der Psychoanalyse der Patient die eine ‚Ein(s)‘ darstellt, die eine Unkenntnis, Unbestimmtheit, Unbekanntheit, also eine Null für den gegenübersitzenden Therapeuten als der anderen ‚Ein(s)‘ ist (und umgekehrt freilich genauso). Beide wissen nichts voneinander, sie müssen sich erst an das Beziehungsverhältnis sprechend heran tasten, es differenzierend, fast stotternd verbalisieren, um eine klare Bestimmtheit zu erreichen.

Das ‚fit‘, ‚fit‘, das ‚Ein‘ ‚Ein‘, vermittelt also anfänglich eher ein Bild als ein Wort. Auch die zwei in der Psychoanalyse zusammen sitzenden Personen, die sich nicht ansehen, sind ein Paradebeispiel dafür, dass das Blickliche, Imaginäre, Bild-Wirkende das Primäre ist. Sie vermeiden den Blick, um sich in die letzten Buchstaben der Worte hinein flüchten zu können und nicht miteinander verschmelzen zu müssen.13 Die verschmelzenden Blicke würden sie nicht aushalten, aber sie sind das Primäre, das autochthone Körpergenießen. Erst wenn das herantastende Sprechen Entscheidendes zu Tage fördert, wird die Beziehung zu A reifer, bewusster. Es ist nicht einfach zu sagen, um was genau es geht, doch ich will es in diesem Buch versuchen, es als eine von jedem Einzelnen zu erübende Praxis zu vermitteln, die zu viel Theorie vermeidet.

Bevor ich der Abbildung 1 weitere Erklärungen hinzufüge, kurz unten noch ein Schema der vergleichbaren verwendeten und noch zu verwendenden Begriffe zum Verständnis des Ganzen, das sicher nicht ganz leicht wird.

Doch so zusammengefasst zeigt es nochmals links das Bild-Wirkende, rechts das Wort-Wirkende und den Zusammenhalt aller drei mit Hilfe des Realen. Ich will jedoch – erneut gesagt – ein speziell vom Bild-Wirkenden, von der Textur, vom Imaginären heraus entwickeltes Verfahren begründen. Dazu passte ein Vorschlag Lacans, wie man dieses Hin und Her, die sich kreuzenden ‚Ein‘, noch anschaulicher erklären kann, als durch das herkömmliche psychoanalytische Vorgehen. Es handelt sich um die ‚projektive Geometrie‘, wie sie beispielsweise vom Mathematiker G. Desargues entwickelt wurde. Die übliche geometrische Perspektive, die vom Auge und dem Sehzentrum im Gehirn bzw. im bewussten Seelenleben gestaltet wird, ist nämlich nur der eine Teil des visuellen Wahrnehmungsvorgangs, nur die eine Ecke, nämlich die des normalen Sehens.

Abb. 2

In diesem Sehen gibt es bekanntlich eine Horizontlinie, auf der – besonders in Gemälden und Fotographien deutlicher sichtbar – der Fluchtpunkt, der Anpeilungspunkt, des Sehenden markiert ist. Das Haus in der Abbildung 2 hat durch diese Projektion schräge Wände. Die andere (jetzt projektiv genannte) Ecke des Visuellen, besteht aus den, dem menschlichen Subjekt eigenen unbewussten Blicken, ein Blicken, in dem nicht Auge und Gehirn gestaltend vorherrschen, sondern das Unbewusste mit seiner ‚organisierten Perspektive‘ verwendet wird, wie sie eben durch die ‚projektive Geometrie‘ und deren Einbettung in die Einstein’sche Raumzeit-Krümmung erklärt wird. In dieser Geometrie liegt der Fluchtpunkt im Unendlichen.

In der also projektiv organisierten Perspektive spielt das für die Psychoanalyse entscheidende Unbewusste in Form des sogenannten Phantasmas (unbewusster Phantasie) eine wesentliche Rolle. Es handelt sich nicht um die üblich bewusste Phantasie, sondern um einen unbewussten Vorgang, der aber konkret strukturierend für das Bild-(und Blick-)Wirkende ist, weil es eben den Gesetzen der projektiven Geometrie gehorcht, die auch den Traum beherrscht. So sind Traumbilder immer irgendwie im Raum gekrümmt oder eingerollt, sie haben keinen Horizont, der das Sehen bewusster machen würde. Daher existiert auch kein klassischer Fluchtpunkt, sondern ein – wie man sagt – Subjektpunkt, der irgendwo im Bild zu finden wäre, der die Verschmelzung sucht, die aber auch Angst macht. Man hat keine Methode dafür, das Sehen in seiner Gänze ideal, perfekt und total zu machen.

Doch mit der projektiven Geometrie alleine konnte ich meinen Plan, dem unbewusst Bild-Wirkenden zu großem Glanz zu verhelfen, nicht gänzlich reüssieren. Schließlich hätte ich ja davon ausgehen müssen, dass die Spiegelbeziehung, die Selbstspiegelung, das ‚Urbilds des Ichs‘ wie es auch im primären Narzissmus vorliegt, in direkter Weise zu immer höheren, plastischeren Imaginär-Realem führen würde. Ich hätte dieses frühe Ich nur mit immer wieder kurzfristigen, halbfertigen Objekten, wie dem der frühen Mutter, dem des kleinen a oder wenigstens dem einer Art von Luzidität zur Selbsterfahrung und Wahrheitsspiegelung bringen müssen. Ich hätte eine Selbst-Sublimierung (Selbst-Verfeinerung, -Vergeistigung) höchsten Ausmaßes beschreiben müssen, doch dazu fiel mir nichts ein. Zu sehr allein nur im Ich sublimiert, transzendiert sein, führt zum Wahnsinn.

So beschloss ich – noch während meiner psychoanalytischen Ausbildung – eine Meditationsgruppe zu besuchen, in der ja das Bild-Wirkende betont wird, und von der ich einige Besucher kannte, und die erfolgversprechend schien. Und tatsächlich, viel besser und elementarer, unmittelbarer und beeindruckender konnte ich bei der dort erlernten Meditation – ausreichend sublimiert – in mein Unbewusstes ‚schauen‘, wenn ich das einmal so unwissenschaftlich ausdrücken darf. Natürlich wusste ich, dass mein gutes Ergebnis einerseits mit der in der Psychoanalyse als zentralem Angelpunkt herausgestellten sogenannten ‚positiven Übertragung‘ zu tun hatte. In der Psychoanalyse ‚überträgt‘ der Patient auf den Therapeuten Bedeutungen aus früheren und anderen Beziehungen, deren Inadäquatheit – weil ja nicht wirklich auf ihn bezogen – dieser nutzen kann, um Deutungen unbewusster Vorgänge beim Patienten anzubringen. Und so schwärmt, so steigert man sich gefühlsmäßig daran hoch, indem man dem Therapeuten – aber jetzt auch dem Meditationslehrer – Wissen oder Fähigkeiten unterstellt, die dieser, genauso wie die – wenn auch überlegene – Mutter dem Kind gegenüber gar nicht in dem Maße oder der Präzision besitzt. Damit erfuhr ich mich in den Meditationen im Laufe der Zeit von einem ungeklärten, wissenschaftlich nicht gesicherten, also eher ideologischen Hintergrund beunruhigt.

Dank des Studium der Lacanschen Seminare kam ich jedoch auf eine Idee, wie ich die – wenn auch eben nicht gänzlich beruhigenden – so doch erstaunlich positiven Ergebnisse der Meditation mit dem wissenschaftlichen Oeuvre der Psychoanalyse in Einklang bringen könnte. In der Meditation wurden nämlich Sanskrit-Worte verwandt, die weder Sinn noch Bedeutung hatten. Doch exakt darin liegt das Wesen der Signifikanten, des unbewusst Wort-Wirkenden. Ohne jetzt hier groß auf die Theorie der Signifikanten aus der Linguistik einzugehen, ist klar, dass besonders der stumme, tote Signifikant, die Null zwischen den zwei ‚Ein(s)en‘, die Leere zwischen den Zeilen, die eklatanteste Wirkung hat. Lässt man mehrere solcher Signifikanten auf sich einwirken, bringt das Unbewusste – und das ist ja der gleiche Mechanismus wie in der Psychoanalyse – eine Antwort heraus. Ich gehe auf diese Dinge noch reichlich ein, vorerst nur noch der Hinweis, wie ich die ja durch keine Wissenschaft zu begründenden Sanskrit-Worte in solche der Lacanschen Psycho-Linguistik verwandeln konnte.

Ich brachte sie in klare Worte, Sprüche, Kurzsätze der lateinischen Sprache, die die unterschiedlichsten Bedeutungen hatten, sich jedoch so überlappten, dass keine einzelne dieser Bedeutungen – jetzt in einer einzigen Formulierung aufgeschrieben – zum Zug kommen konnte. Leere, tote Signifikanten also. Denn liest man diese Formulierung stets von einem anderen Buchstaben aus, kommt zwar immer eine (andere) der genannten Bedeutungen heraus, meditiert man diese Formulierung aber als Ganzes, kann man sich wie bei den Signifikanten der Sanskritworte an nichts mehr festhalten. Man muss weiter meditieren, bis nunmehr das Unbewusste – auf diese Weise provoziert – eine Antwort herausgeben muss, die in der Meditation wie ein Gedanke hörbar wird. Die Abbildung oben zeigt eine derartige Formulierung (Formel-Wort genannt) im Kreis geschrieben (Inhalt der einzelnen Bedeutungen zeige und erläutere ich später).

Nochmals zu den zwei Ecken, nun wieder im Bezug gesetzt und mit dem für die Psychoanalyse so wichtigen Ödipus-Komplex: Das Begehren des Kindes richtet sich wie erwähnt anfänglich auf die Mutter, es bleibt aber ein Spiegelvorgang (a / a’), der durch die Übermacht der Mutter gefestigt, aber auch verkompliziert wird. Das Kind muss seine Intentionen in stets neue Spiegelungsvorgänge einbringen, bis es – jetzt krass ausgedrückt – so frustriert ist, dass sich bei ihm statt des befriedigenden Objekts ein Zeichen, ein Signifikant der Mutter einstellt, ein erstes Wort-Wirkendes. Jetzt kann es Mama sagen, was mehr wert ist als die wechselnde Realität. Schließlich werden weiter Worte die Beziehung klären und bereichern.

Aber es gibt für den Psychoanalytiker noch eine zweite Beziehungsebene zwischen Kind und Mutter, nämlich die, durch die das Geschlechtliche hereinkommt, die aber auch betont an dem Vorgang des Übergangs zum Symbolischen, zum Wort-Wirkenden mitbeteiligt ist. Es geht um den Vater, dessen Geschlechtlichkeit ihren Platz bei der Mutter hat, die aber eine Ausstrahlung auch auf die Kinder besitzt. Laut Freud treten im Ödipuskomplex der Knabe und das Mädchen in die gleiche ‚phallische‘ Phase ein. Es handelt sich nicht um irgendein ‚Phallisches‘, sondern um das speziell vom Vater her insinuierte Symbol des Begehrens, von Lacan gerne mit Φ (griechisch Phi) bezeichnet. Ich erkläre dies immer gerne mit dem Lingam der Inder, das nicht den Phallus als solchen repräsentiert, wie es die englischen Besatzer glaubten. Es zeigt nicht den Phallus von jedermann, sondern den eines Auserwählten, den eines Gottes – und das heißt nichts anders, als den eines Signifikanten. Der imaginäre Phallus (z. B. Lingam) ist von Ecke 1 zu Ecke 2 gerutscht und dort symbolisch Φ geworden.

Das ist etwas anderes, und nur so vermittelt er beim Knaben eine Rivalitätssituation zum Vater, beim Mädchen dagegen eine Ausgleichsfunktion gegenüber der Mutter.14 Das männliche Kind muss erfahren, dass der Vater als Rivale ihm die Mutter verbieten wird, und wenn dies wirklich klappt, wird das Kind aus dem Ödi-pus-Konflikt geheilt herauskommen und wissen, dass es eines Tages eine ihm gleichwertige Frau beglücken können wird. Analog gilt dies für das Mädchen, das genauso aus der vom Begehren gekennzeichneten Mutterbeziehung herauskommend einen Umweg über die Identifikation mit dem Vater und dessen Φ eingehen muss (ich werde einmal den Papa heiraten, der Papa wird mir mal ein Kind schenken, etc.), sich älter werdend aber von den Elternfiguren lösen wird, um ebenso eigene Beziehungen einzugehen.

Freud hat diese Zusammenhänge anschaulich an Hand der Psychoanalyse des ‚kleinen Hans‘, eines Wiener Jungen, beschrieben, bei dem es allerdings nicht so geklappt hat wie gerade erwähnt, denn die Eltern haben unglücklich agiert. Die Mutter war dominierend und hat den Vater wegen üblicher Ehequerelen aus dem Schlafzimmer verbannt, dafür aber den ‚kleinen Hans‘ mit ins Ehebett genommen. Der tendierte zur frühkindlichen Masturbation und redete gerne von seinem Penis und auch davon, wer diesbezüglich einen – vom Symbolwert her gesehen – größeren, aber vielleicht auch gar keinen hätte. Bei der Mutter war es ihm nicht klar, der Vater intervenierte nicht verbietend genug und entfachte kein Donnerwetter darüber, dass der ‚kleine Hans‘ im Ehebett keinen Platz hätte. Und so verstrickte sich der kleine Hans‘ im Hin und Her des ‚phallus imaginaire & symbolique‘, des Φ, und entwickelte eine schwere Phobie und Angstneurose. Durch klärende Gespräche mit Freud konnte der Vater seinem Söhnchen die wahren Bedeutungs- und Beziehungs-Verhältnisse letztlich klar machen und so eine weitgehende Besserung der Phobie erreichen.

Trotzdem stellt Lacan oft klar, dass Φ eine Witzfigur ist, eine Nichtigkeit, die man aber wohl nie ganz loswerden wird, solange die Menschen irrationale Lüste (Objekte der ‚Mehrlust‘) haben, Begehren und blindes Verlangen, weil das mehrheitlich imaginäre, bild-wirkende ‚Ein(s)‘ der Frau (Mutter) dem mehrheitlich symbolischen, wortwirken-den ‚Ein(s)‘ des Vaters als die entscheidenden Eckpunkte im menschlichen Unbewussten weiter getrennt existieren werden.15 Der ‚Mehrlust‘, ein Ausdruck Lacans für das stete ‚Mehr‘ eines zu genießenden Objektes, steht das ‚vollendete Objekt‘, der psychische Zustand gelungener Reife gegenüber, wozu ich erst später genaueres schreiben will.

Genauso stellen die Praxis des stark Sublimierenden und das ideologisch Theoretische in der Meditation die zwei Ecken dar. Auch ist das Wort-Wirkende für die Verdrängung typisch (Ecke 2), für das Bild-Bick-Wirkende jedoch die psychisch-unbewusste Spaltung (Ecke 1).16 Es muss nunmehr etwas darüber Hinausführendes gefunden werden. Für die Theorie ist das Lacan, für die Praxis sehe ich die Analytische Psychokatharsis als geeignet an, die ich eben mit Lacan wissenschaftlich begründen will, obwohl es von der praktischen Seite her ganz einfach zu erklären und zu erlernen ist, was man alleine tun muss.

Aber damit vermeide ich den mythisch-mystischen Ansatz, der in allen Meditationen üblich ist (Glaube an einen Guru), und begründe die Praxis der Analytischen Psycho-katharsis wissenschaftlich. Würde ich nur einfach schreiben, dass man betreffend das Bild-Wirkende zuerst eine mehr meditative Übung durchführt und sich dann in einer zweiten Übung auf das mehr analytische Wort-Wirkende konzentriert, würde kaum jemand volles Vertrauen darin haben können. Das Bild-Wirkende muss in der ersten Übung eine bestimmte Konkretheit seiner Textur erreichen, die jedoch korreliert mit etwas rein Formalem des Wort-Wirkenden (die erwähnten Formel-Worte), was wiederum zur zweiten Übung führt, die in Form des analytischen Teils des Verfahrens durch das Erreichen von Identitäts- oder Pass-Worten (des letztlich wahren Textes) gekrönt wird, was ich bereits als die dem Unbewussten abgepressten Antworten bezeichnet habe. Auch dazu will ich erst später genaue Erklärungen abgeben, und weil dies alles so trocken war, jetzt eine Paraphrase zum Alten Testament.

1 Lacan, J., Seminar XXI, Vortrag vom 12. 3. 1974

2 Das Reale, Imaginäre (unbewusst Bild-Wirkende) und das Symbolische (unbewusst Wort-Wirkende) stellen für Lacan die grundlegende Dreiheit alles Existierenden dar. Demnach gibt es außer dem Realen des Genießens auch die dem Symbolischen zugeordnete Sprechlust, und die dem Imaginären zugeordnete Schaulust.

3 Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Reclam (1993) S. 499

4 Er betont auch, dass der Signifikant nur in seiner Vielschichtigkeit wirkt, der einzelne Signifikant ist keiner Bedeutung fähig. Die Vielschichtigkeit weist aber auch aufs Bild-Wirkende, aufs Imaginäre hin. Gelegentlich spricht Lacan auch vom imaginären Signifikanten, es gibt also Überschneidungen. Ausführliche Erklärungen später.

5 Lacan, J., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Walter (1980) S. 26

6 Wills, C., Das vorauseilende Gehirn, Fischer (1996) S. 20.

7 Sie wollen auch keinen finden, er soll sich in jeder einzelnen Analyse einstellen. Aber reicht das für mehr als die paar reichen, intellektuellen und jungen Leute, die dort hingehen?

8 Ich werde diesen Sachverhalt später weiter beschreiben.

9 Lacan, J., Seminar V, Die Bildungen des Unbewussten, Turia & Kant (2006) S. 371

10 Lacan, J., Lettres de L’Ècole freudienne, Nr. 16 (1975) S. 192

11 Lacan, J., Seminar XXI, Vortrag vom 23. 4. 1974.

12 Der Wiederholungszwang steht bei Freud dem von ihm so genannten Todestrieb nahe, was die Sache ziemlich pessimistisch macht. Ich werde noch zeigen, dass es auch kreative Wiederholungen gibt. Das Zeichen steht für ‚Beziehung zueinander‘.

13 Der Therapeut sitzt abgewandt hinter dem Patienten. Es soll keinen Blickkontakt geben. Der primäre, unverstellte Blick hat etwas Verschmelzendes an sich. Mehr dazu im Kapitel 3.

14 Lacans Φ steht für den schon bei Freud im Zentrum des Trieb-Struktur-Konzeptes stehenden ‚symbolischen Phallus‘. Was ein symbolischer Phallus ist, ist jedoch für manche nicht leicht zu verstehen. Ich nenne es daher weiterhin ein Symbol für das Begehren, das libidinösen Charakter hat, nutze aber der Einfachheit und Anschaulichkeit auch das Zeichen Φ.

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