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Meditation hängt von mythischen, magischen, mystischen und anderen ähnlichen Vorgaben ab, die ein Lehrer durch seine eigene Erfahrung vermittelt. Doch dies genügt heute nicht mehr. Ein wissenschaftliches Vorgehen ist gefragt, auch wenn ein derartiger Zugang zum Meditieren irgendwie widersprüchlich klingt. Aber bereits in Freuds Psychoanalyse stellt die'gleichschwebende Aufmerksamkeit' des Therapeuten und das 'freie Assoziieren' des Patienten ein wissenschaftlich orientiertes, meditatives Vorgehen dar. Durch das Hereinnehmen der Sprachwissenschaft hat der französische Psychoanalytiker J. Lacan dieses Vorgehen noch weiter bereichert, und so versucht der Autor von dort ausgehend eine meditative Praxis zu gestalten, die jeder Einzelne leicht begreifen und aus dem Text dieses Buches auch erlernen kann.
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Seitenzahl: 188
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Inhaltsverzeichnis
Was ist ein Signifikant?
Pyrrhon und die Gelassenheit
Rauschen und Stammeln
Die Subeinheiten
Die Vater-Metapher und die Analytische Psychokatharsis
Der gedimmte Blick
Identitäts- oder
Pass-Worte
Psychosomatik
Beziehnisse
Anhang
Literatur
Kann’s das geben, eine wissenschaftlich begründete Meditation, wo doch üblicherweise der Meditationslehrer, wenn er nur lauter, rein, ehrlich, anständig genug ist, für eine Einweisung ins Meditieren ausreicht? Vor allem die Lauterkeit, seelisch-geistige Reinheit, eine Art gehobener Authentizität, legitimiert doch den Lehrer, der Schüler zum Meditieren anleitet. Es muss nicht unbedingt ein religiöser Führer wie im Buddhismus sein, oder ein durch lange Praxis erfahrener Yogalehrer, oder sonst jemand, der sich in einem großen Umfeld als Meister kontemplativer Verfahren bewährt hat und bekannt ist. Es gibt viele Wege, die eine Berechtigung dazu nachweisen, indem sie wenigstens einen wissenschaftlichen Hintergrund haben wie beispielsweise das autogene Training, speziell in seiner Oberstufe. Trotzdem sind darin noch zahlreiche Mutmaßungen vorhanden, eine fundierte Wissenschaftlichkeit liegt hier nirgendwo vor.
Freilich ist das mit der Wissenschaftlichkeit so eine Frage, denn eine objektive oder gar naturwissenschaftlich definierte Form, mit der man in diesen meditativen, ‚nach innen gehenden‘ Verfahrensweisen reüssieren kann, kann es kaum geben. Nun ist aber gerade die Psychoanalyse, die sich doch einen wissenschaftlichen Rang im Laufe von über hundert Jahren erobert hat, in der gleichen Situation. Von vielen Universitäten wurde ihr lange Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen. Doch in der Folge und vor allem durch den französischen Psychoanalytiker J. Lacan hat sie eine hoch entwickelte Form der Logik als einer Wissenschaft v o m Subjekt erreicht, in der sich trotz eines scheinbaren Widerspruchs zwischen meditieren und analysieren ein fundierter Zugang zu der Methode herstellen lässt, die ich in diesem Buch favorisiere und detailliert darlegen will.
Das wird nicht einfach sein, Lacan gilt als schwer verständlich. Zudem hat er ganz offen gesagt, dass man ihn in der gleichen intellektuellen Form, also in dem gleichen Diskurs, in der gleichen sprachlichen Art, in der er seine Lehre vermittelte, nicht weiterführen kann. Denn ihn nachmachen würde nichts bringen, man müsste ihn in einem völlig anderen und neuen Diskurs einbringen, natürlich auf der von ihm gelegten Spur, aber eben divers, ‚anders herum‘, kontrapunktisch. Nun will ich ja vom Meditieren schreiben, was sich schon zu Genüge von der Psychoanalyse unterscheidet. Wie aber trotzdem auf der von Lacan ‚gelegten Spur‘ bleiben? Vielleicht eignen sich zur Einführung in dieses Buch gut die Bemerkungen des Psychoanalytikers und Lacan Schülers Juan D. Nasio über das, was ein Signifikant ist.1
Der Begriff des Signifikanten stammt aus der Sprachwissenschaft, und ich übersetze ihn immer mit dem Begriff des ‚Wort-Wirkenden‘, also nicht nur mit dem, was ein Wort so landläufig bedeutet, sondern wie es mit ihm in der Sprache zu so vielschichtigen und vieldeutigen Wirkungen kommt, indem es in der Kette der Worte auch noch mit anderen Worten oft wie magisch verbunden ist. Es geht also um das, was im sprachlichen Sich-Ausdrücken das Bezeichnende ist, das Zutreffende, das aber dennoch keine fertige Bedeutung darstellt. Der einzelne Signifikant ist zu keiner Bedeutung fähig, erst im Zusammenspiel mehrerer Signifikanten, in ihrem Knäuel, kommt die wirkliche Bedeutung zustande. Die Signifikanz eines Satzes liegt an mehr als nur an den aneinander gereihten Worten, sie liegt eher an den manchmal geradezu kreuzwortartig, rätselhaft geordneten, eben verknäuelten signifikanten Einheiten des Sich-Ausdrückens.
Auch wenn meine Erklärungen nicht klug genug sind, für ein Erfassen des Textes, den ich hier schreibe, ist es meist gar nicht so wichtig, das mit dem Signifikanten allzu genau zu verstehen. Von Nasio selbst werde ich noch einige bessere Hinweise zitieren. Aber es wird speziell auch darum gehen, was man gar nicht so gut zu verstehen braucht, weil man es nicht nur wort-wirkend, sondern auch vorstellungshaft, bildhaft, als ‚Erscheinungs-Wirkendes‘ direkt erfahren, sehen, erleben und beglückend imaginieren kann. Um so etwas Beglückendes geht es ja gerade auch beim Meditieren. S. Freud musste dieses Beglückende aufgeben, das bei seinen Behandlungen im Zustand der Hypnose seiner Patienten auftauchte, den er aber als zu unpräzise, zu unlauter empfand und somit auf das mehr rationale und intellektuelle Verfahren der Psychoanalyse umdisponierte. Das Wort-Wirkende sollte bevorzugt sein, das Erscheinungs-Wirkende, Bildhafte, Nebensache.
Ich beziehe mich mit den Ausdrücken erscheinungswirkend und beglückend auf den altgriechischen Philosophen Pyrrhon von Elis (360-270 v. Chr.), der ein totaler Skeptiker war und als erkennbar nur das unmittelbar Erscheinende gelten lassen wollte.2 Nichts ist bewiesen, sagte er, und so glaubte er nur an das ihm unmittelbar Geschehende, unmittelbar Erscheinende und Wahrzunehmende. Dies besaß aber dann auch schon Wirkung von sich aus, war Wirkendes per se, indem es so bereits Beglückung und Befriedigung erzeugte. Alles gedanklich zu sehr Fixierte lehnte er ab und so wurde er auch von Lacan respektiert, weil ja auch der Psychoanalytiker vor zu schnellem Wissen um der Wahrheit willen Halt machen muss. Das Wissen muss sich der Wahrheit unterordnen, darin waren sich Lacan und Pyrrhon einig.3Ich komme auf Pyrrhon im nächsten Kapitel ausführlich zurück, und will vorher noch etwas zu Nasio und seinem Vortrag sagen.
Dort, in seiner Art Lacans Psychoanalyse zu kommentieren, geht es besonders intensiv um den Vorrang des Wort-Wirkenden, der verbalen Signifikanten, auch wenn dem Erscheinungs-Wirkenden, das man auch imaginäre Signifikanten nennen kann, in etwas abstrakter Form Geltung verschafft wird. Und so schreibt Nasio, „der Ausgangspunkt der Psychoanalyse besteht in der sprachlichen Tatsache, die so ausgedrückt wird: ‚Ich weiß nicht, was ich sage‘.“ Was soll das heißen? Nur Erscheinungen haben und nichts davon wissen, was man sagt? Gemeint ist freilich der Patient in der analytischen Psychotherapie, der ja alles sagen soll, was ihm gerade so einfällt, spontan, ohne Überlegung, nur was ihm so erscheint, und wobei er manches sagt, das ihm selbst nicht ganz bewusst ist, das heißt, dass es aus seinem Unbewussten kommt ohne dass er es merkt. Es ist sogar gewollt, dass er nicht weiß, was er sagt, dann das bietet einen Anlass zur Deutung, zur Interpretation, so zum Beispiel bei einem Versprecher. Im Versprecher weiß der Patient nicht, was er sagt, aber er verrät das, was er eigentlich nicht so definitiv sagen wollte, was aber doch wesentlich und wichtig ist. Denn es bringt die Wahrheit hervor, deren Unterdrückung und Verdrängung die Ursache seiner Symptome ist.
Sein Therapeut, der Psychoanalytiker, weiß allerdings auch nicht immer gleich und ganz genau, was der Patient gesagt hat. Er muss innehalten und vermehrt zuhören. Er muss sich erst einmal mit seinem Erstaunen, mit dem, was ihn vielleicht verwundert und was ihn einfach nur anrührt und überrascht, zufrieden geben und weiter zuhören. „Bleiben wir bei diesem ‚Ich weiß nicht, was ich sage‘.“ schreibt Nasio daher erst einmal und frägt dann erneut: „Ich weiß was nicht? Ich weiß nicht, dass das, was ich sage, ein Signifikant ist. Und was ist ein Signifikant“? Nasio beschreibt es anders als ich es vorhin getan habe, er erklärt es damit, dass wir heutzutage längst an einem Punkt angelangt sind, an dem man sich nicht mehr so ausgiebig zuhört und behutsam aufeinander eingeht, auch wo man ständig aneinander vorbeiredet, also an dem Punkt ankommt, „an dem der Signifikant nicht mehr in Erstaunen versetzt, an dem er uns nicht mehr überrascht, während wir in der analytischen Theorie den Begriff des Signifikanten paradoxerweise dazu verwenden, um die Verwunderung zu definieren: Ein Subjekt wundert sich genau dann, wenn es den Einschlag eines Signifikanten [also das nur vage und vieldeutig geordnete, knäuelartige Wort-Wirkende] empfängt“.
Nun muss es – wie oben gesagt – erst einmal der Therapeut tun. Er muss für den Einschlag des nicht-wissend und nicht leicht zu verstehend Redenden offen und interessiert bleiben. Freud sagte, er muss in einer ‚gleich schwebenden Aufmerksamkeit‘ verharren, in einem angerührten, wundersamen Erstaunen, ohne gleich auf das zu reagieren, was man zu verstehen glaubt. In der Psychoanalyse wird oft zu schnell verstanden, zu voreilig interpretiert, doch ver-stehen heißt, sich in eine bestimmte Position bringen, in ein künstlich stehen, in einem geeigneten stehen, ver-stehen.4 Zu gut verstehen kann nämlich bedeuten, dass man nichts begriffen hat, dass man eigentlich nur voreilig, hastig und oberflächlich zugehört hat und nun glaubt all das zu wissen, um was es wirklich geht.
„Sich zu wundern“, sagt Nasio daher im gleichen Sinne, „das heißt, die Auswirkung des Signifikanten auszuhalten, ihn nicht unmittelbar als Zeichen zu nehmen, ihn nicht zu schnell begreifen, ihn nicht zu verstehen. Denn wenn Sie ihn verstanden haben, verlieren Sie ihre Verwunderung. Sich nicht zu wundern heißt also, sich seines Wissens allzu sicher zu sein. Und auf gewisse Weise ist es das, was mit der Formel ‚Was ist der Signifikant?‘ geschieht: Man ist sich zu sicher, man hält sich zu sehr an das, was man versteht. Daher noch einmal: Was ist das, ein Signifikant? Es gibt mehrere Weisen, sich ihm anzunähern. . . Der Signifikant ist genau das, was nicht zu verstehen ist, eine unverständliche Vorstellung“.
Mit dem Ausdruck der unverständlichen Vorstellung landet Nasio fast wieder beim Erscheinungs-Wirkenden, bei dem, was einem unmittelbar so vorkommt, so erscheint wie ich es von Pyrrhon erwähnt habe, also der primäre Eindruck, dasjenige eben, das Verwunderung erzeugt, und das in der Psychoanalyse aus einem bestimmten Grund nicht genug psychisch repräsentiert ist und erfasst werden kann. Bei Freud ist mit Vorstellung nicht das geistige sich Vorstellen gemeint, sondern die Impression, die das Begehren, der unbewusste Trieb, im Psychischen erzeugt, denn er ist auch nicht Instinkt. Er ist eben vor-, vorne hin gestellt, das primärste Psychische, menschliche Libidinöse, das nur erfasst werden kann, wenn es an sogenannte erogene Zonen gebunden ist. Fehlt dies, bleibt die Vorstellung unverständlich.
Nasio erklärt es mit der psychischen Abspaltung, mit dem Schnitt in der Psyche, der mehr ist, der direkter und unbewusster ist als die übliche Verdrängung, der der Mensch immer wieder mal unterliegt. ‚Ach, das hab‘ ich ganz verdrängt‘, sagt man, und geht weiter zur Tagesordnung über. Aber der Schnitt im ursprünglich Psychischen, etwa beim frühen Trauma, das jedem Menschen einmal passiert sein muss – früher hat man es ‚Erbsünde‘ genannt, obwohl es gar keine Sünde war, aber es war so wie abgeschnitten, wie unbewusst ererbt, ‚urverdrängt‘ wie Freud auch sagte – kein Wunder, dass man das durch den Schnitt getrennte und seelisch abgespaltene in der Psychoanalyse auch als unverständliche Vorstellung bezeichnet hat.
Der Signifikant ist also nicht nur ein plötzlicher psychischer Einschlag, der einen in Verwunderung zurücklassen kann, wenn man dafür bereit ist oder auch – wie gesagt – modernerweise durchs Danebenreden nicht mehr so überrascht, der einen vielleicht sogar kalt lässt, aber der auch eine unverständliche Vorstellung darstellt, die man psychisch nicht einzuordnen weiß und die man schon längst wie mit einem Schnitt in sich abgespalten und zur Fremde gemacht hat. Und genau da, bei dieser unverständlichen Vorstellung, hakt Nasio nach und kommt auf den Philosophen Pyrrhon von Elis zu sprechen. Dessen Theorie ist hautnahe Praxis, ihm ist die primäre Vorstellung, das unmittelbare Erscheinungs-Wirkende, die ad hoc Erfahrung gar nicht so fremd, so abgespalten, so unverständlich, denn er richtet von vornherein seine Aufmerksamkeit exakt nur darauf, auf das Vorstellungshafte, das als Erscheinung Wirkende. Während er dem nach außen hin Wahrzunehmenden nur geringe Beachtung schenkt, hört er nur in sich hinein, lässt der Verwunderung und dem Erstaunen Platz, alles andere verwertet er nur mit Skepsis.
Man darf nicht glauben, dass Pyrrhon sehr unbekannt ist und skurrile Thesen vertrat. Der in Fußnote 2 zitierte griechische Philosoph Sextus Empiricus, sodann auch Cicero, Montaigne, Erasmus von Rotterdam und andere bekannte Leute bis hin zu Lacan haben sich in seinem Sinne verstanden oder waren überzeugte Anhänger von ihm. Doch Nasio sagt, „darauf will ich nicht weiter eingehen“. Ihm ist das nicht mehr so ganz geheuer. Er folgt recht pedantisch Freud, der davon ausgegangen war, dass Vorstellungshaftes, Erscheinungs-Wirkendes, eher als primär Unbewusstes, Phantasmatisches im Psychischen einzuordnen sei, dass es zwar ziemlich unverständlich repräsentiert sein kann, es aber in Affekten, in Träumen, als Depression, als schwerer Verlust und sogar als zu umschweifiges, zu sehr rationalisierendes Denken erfasst werden kann.
Doch viel anfangen können die Psychoanalytiker damit trotzdem nicht. Sie sagen also, dass es sich im Psychischen ‚Nicht Repräsentiertes‘ gibt, das man also nicht so richtig spürt, nicht aus dem Patienten heraushören, empathisch oder traumdeutend erfahren und interpretieren kann. Es erscheint nicht wirkend genug. Pyrrhon setzt sich diesem ursprünglichen Wahrnehmen, meditativem Erfassen des Erscheinungs-Wirkenden und Vorstellungshaften trotzdem einfach direkt aus, sie sind für ihn die ursprünglichste aber auch alltäglichste Lebenserfahrung, die ἀνάγκη παθῶν (ananke pathon), die Vorzeichnung, die ursprüngliche Erscheinung der Natur, etwas, was man wohl nur in tiefster Ruhe und in einem dafür besonderen Bereit-Sein erleben kann. Eben, in der Verwunderung und im Erstaunt-Sein, was selbstverständlich auch ans Meditieren erinnert.
Nasio schließt seinen Kommentar herkömmlich psychoanalytisch ab, in dem für ihn das Unbewusste eben vorwiegend nicht so sehr nur das Fremde, unverständlich Vorgestellte, sondern l’Autre, der/das Andere ist, der/das ein Gebilde, ein Wesen, ein Etwas aus unbewusst wort-wirkender Stimme einerseits und unbewusst erscheinungs-wirkendem Blick andererseits ist. Kein Golem, kein Gespenst, sondern ein Signifikant eben, ein Unverständlicher: „Was ist dieser fehlende Signifikant des Anderen in mir“? lamentiert Nasio daher weiter und schreibt: „Wo wird sich mein Gesagtes verketten, und woher kommt es? Allein schon dadurch, dass das Subjekt sich diese Frage stellt, entwirft es, installiert es den Anderen als Begehrenden. Wenn Sie sich fragen: ‚Was ist mein Traum, was bedeutet er?‘ Wenn Sie sich fragen: ‚Warum leide ich an diesem Symptom?‘ Wenn Sie sich fragen: ‚Warum vergesse ich?‘ Wenn Sie das tun, bringen Sie den Anderen in die Position des Begehrenden. Mit einem Wort, ich weiß nicht, was ich sage, weil mein Gesagtes anderswohin geht, ohne mein Wissen richtet es sich an den Anderen, und ohne mein Wissen kommt es vom Anderen zu mir“.
Es ist Signifikanten-Getue, es ist ein innerseelisches Gerangel, „es kommt vom Anderen und es wendet sich an den Anderen, es geht vom Anderen aus und es kehrt zum Anderen zurück“, schließt Nasio seinen Vortrag. Es lässt den Menschen als Subjekt, als Einzelnen, im Feld des Begehrens, im Feld, wo alles von unbekannten inti-men Wünschen, unbewusstem Wollen, kurz eben: von dem in der Freudschen Sexualtheorie charakterisierten und modellierten Begehren dominiert ist, alleine. Das ist so, das ist Freud’sche Theorie, aber sie klärt nicht alles. Man muss sie dennoch als eine neue Wissenschaft tolerieren und akzeptieren
Und doch kann man sich fragen, warum steckt hinter allem gleich ein Begehren, meistens sogar ein infantiles Begehren, das aus Konflikten und Sehnsüchten der frühesten Kindheit stammt? Ist das nicht vielleicht schon zum allgemein verständlichen Dogma der psychologischen Wissenschaften geworden? Ist es nicht statt dem albernen ‚denk positiv, denk positiv‘, und alles wird gut, ein ‚such das infantile Begehren, such das peinlich Verdrängte in dir‘, und alles wird klar sein? Nein, ich vertraue auf die Wissenschaft v o m Subjekt, auf Lacan und seinem Schüler Nasio, dass das Begehren, die libidinöse Intention von Anfang an immer irgendwo und irgendwie dabei war, auch schon als die ‚Erde noch wüst und leer war‘.
Ich will das alles, was jetzt noch unklar und unausgereift ist, aufgreifen und in eine konstruktive, nicht mehr nur herkömmlich, klassisch psychoanalytisch begründete, sondern um ein weiterfassendes, wissenschaftlich meditativ begründetes Verfahren erweitern, das sich intensiver mit den unverständlichen Vorstellungen, mit den bildhaften, erscheinungs-wirkenden, ja manchmal sogar musikalischen, also den gegenüber den sprachlichen, symbolischen Signifikanten mehr imaginären Signifikanten, beschäftigt. Beide sind wichtig, das erscheinungs- und das wort-wirkend Signifikante. Diesbezüglich macht der Übersetzer von Nasios Vortrag, der Psychoanalytiker R. Nemitz, noch zusätzlich folgende Anmerkung:
„Die Pyrrhonsche Schule ist für uns interessant, weil sie als einzig mögliche Angleichung an die unverständliche Vorstellung die Methode der Urteilsenthaltung empfiehlt.5 Das hat sie dazu gebracht, jedes Dogma, jede Weltanschauung zurückzuweisen. Darüber hinaus ist für uns ihr Wahrheitsverhältnis von Bedeutung. Für die Skeptiker der Pyrrhonschen Strömung ist die Wahrheit etwas, was nicht erkannt werden kann und was auch nicht zurückzuweisen ist; die Wahrheit ist vielmehr etwas, was in der Schwebe gehalten werden muss, und man muss sich an ihre Wirkungen anpassen. Auch auf die Gefahr hin, dies später entwickeln zu müssen, möchte ich behaupten, dass dies ein Echo erzeugt zu Lacans Bezugnahme auf die Wahrheit als Ursache. Einer dieser Wahrheitseffekte ist das Schweigen. Für die Skeptiker wie für uns gibt es davon zwei Arten: das Stillsein (se taire) als Zurückhaltung gegenüber dem, was man nicht versteht, und das Schweigen, lat. sileo, als Wahrheitseffekt.
Dass tiefes Schweigen (franz. silence) eine Wahrheit hervorbringen kann, leuchtet ein. Es ist klar, dass der Gesprächs-, Dialog- oder auch Streit-Partner die Zurückhaltung, die ‚silence‘ bemerkend, auch einen Moment innezuhalten vermag, nachdem er sich umschweifig ausgesprochen oder in Rage geredet haben wird. Denn dadurch wird deutlich, dass etwas fehlt, querliegt oder unverständlich ist, und es offenbar den Anderen braucht, den Verbindlicheren aus unbewusstem Blick und unbewusster Stimme, den Schiedsrichter oder Wort-Klang-Bild-Vermittler, der gar keine Vorstellungen hat, der satzlos ist und keinen Sinn beansprucht, zumindest keinen voreiligen.
Dass jedoch die Wahrheit Ursache von vielem, ja vor allem sein kann, wie gerade von Lacan zitiert wurde, ist schon schwerer zu erfassen. Auch den/das innere/äußere Andere(n) kann sie nicht völlig vermitteln. Nasio hat den Begriff des bedeutenden und deswegen groß zu schreibenden Anderen, l’Autre, von Lacan übernommen, der ihn von den Verinnerlichungen der Eltern und etlicher bedeutender Bezugspersonen in der Kindheit herleitet, wobei die Stimme des Vaters eine besondere Rolle einnimmt. Freilich ist auch die Mutter bedeutend, aber sie ist nicht so anders. Sie ist zu vertraut und überdeckt damit die in ihr verborgene Frau, d i e, die die ganz Andere wäre, aber d i e es so (mit dem universalierenden Artikel) wohl gar nicht gibt, worauf ich im weiteren Text zurückkommen werde.
Viele Schüler Lacans haben im inneren, unbewussten Anderen eine göttliche Figur gesehen, aber er/es ist nur die andere Seite des Ichs, das der Dichter A. Rimbaud mit dem berühmten Ausspruch „Ich ist ein Anderer“ belegte. Er hat nicht gesagt ‚Ich bin ein Anderer‘, das wäre schizophren gewesen. Aber dass es dem Ich gegenüber noch etwas oder jemanden – nur ausgedrückt in der dritten Person – geben kann, klingt nicht uninteressant. Vom Unbewussten spricht heutzutage ohnehin schon jedermann, nur weiß man davon immer noch zu wenig. Dies drückt sich ja auch in dem Begriff des Unverständlichen aus, wobei die Psychoanalyse, aber ebenso Neurowissenschaften und Kognitionsforschung zum Verständlichen des Psychischen, der nicht so ganz bewussten seelischen Vorgänge, auch ein bisschen beigetragen haben.
Trotzdem bleibt noch vieles ungeklärt, in der Psychoanalyse spricht man oft von all dem, was selbst im Unbewussten nicht so richtig fassbar repräsentiert ist, was man also selbst mit Traumdeutung und Interpretation frei, spontan assoziierter Äußerungen der Patienten nicht weiter klären kann. Aber es ist etwas da, das eben unverständlich ist. Und so ähnlich klingt es ja auch bei Nasio, wenn er warmherzig vom Anderen schwärmt, geschrieben mit reinem A. Und weil er nicht Gott ist, aber auch nicht ein Über-Ich oder ein Gewissen, bleibt Er/Es ein Pro- und Contra-Partner, ein selbst nicht fertiger, und doch fast perfekter Anderer, Ⱥ mit Querstrich, der einen ein Leben lang begleitet, und zu dem das Sprechen geht und wieder zurückkehrt, geht und wieder kommt, Blick draußen, Stimme innen, Blick innen, Stimme draußen, kurz Ⱥ, wie Lacan ihn schreibt, was trotz allem ein großer Trost ist, weil es ihn im Unbewussten gibt. Ja weil man mit ihm sogar kommunizieren kann, denn er hat – wie gesagt – sowohl Blick wie auch Stimme, und das genügt ja, um in wirksam zu machen.
1 Nasio, J. D., Cinq leçons sur la theorie de Jacques Lacan, Èditions Rivage (1992) S. 226-230. Übersetzung von R. Nemitz, lacan-entziffern.de
2 Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhoneischen Skepsis, Suhrkamp (2021)
3 Brusa, L., Between Truth and Relativism, filozofski vestnik, Vol. XXXIII, 2. 11. 12
4 Ver ist eine Vorsilbe, die bestimmt, dass eine starke, schwer rückgängig zu machende Änderung auf den körperlichen oder seelischen Zustand von jemandem ausgeübt wird (wictionary.org/wiki/ver-)
5 Nemitz, R., Was ist ein Signifikant? https://lacan-entzif-fern.de
Manchmal demonstrieren die Aussprüche noch unbefangener Kinder recht gut das Wesen, ja geradezu die Mathematik des Signifikanten. „Ich (als Aussage für die 1) habe drei Brüder (Aussage für die 3), Paul, Ernst (für die 2) und mich (Schlussaussage für alle zusammen für die 4). Intelligenzforscher lachen sich kaputt über den Spruch dieses Kindes, dabei ist das 1, 3 und dann 2, 4 ganz konkret der Anfang aller Dinge und aller Mathematik, und nicht die 1, 2, 3, 4, etc. Denn bevor alles zu Zählende da ist, gibt es auch einen oder etwas der/das zählt, was mit berechnet werden muss. Das Kind (die 1) sieht sich und die Brüder (3), aber dann zählt es sie auch noch in Form zweier Gruppen, Paul und Ernst (2), sowie sich selbst nunmehr in einer neueren Version als einer, die als letzter Schritt wieder zum Anfang zurückgeführt werden kann, und die somit eigentlich eine neue, ganz andere Eins ist.
Lacan begründete auf diese Weise eine andere, neue Mathematik, in der sich sagen lässt, dass die erste Eins eine Null für eine andere, die zweite Eins repräsentiert, wodurch beide unterschiedliche Einsen sind, die aber die bis heute bestehende Problematik der fehlenden Evidenz der ersten ganzen Zahlen sogar zu lösen vermag. Denn der Null/Eins Abstand erhält damit eine bestimmbare Größe, man kann sich nicht mehr einfach einem 1, 2, 3, 4 bis ins Unendliche anvertrauen, von dem keiner weiß, was das sein soll. Mehr und noch mehr und noch mehr bis zu Geht-Nicht-Mehr oder was? Um klare Verhältnisse definieren zu können, lässt sich das Problem des Null-Eins-Abstandes auch am Wesen der Psychoanalyse zeigen.
Der Analytiker sitzt schon im Sprechzimmer, er ist die irgendwie vorgesetzte Eins, wenn der Patient als zweite Eins hereinkommt. Es gibt nichts Definitives, kein festgelegtes Thema, nur eine Null sozusagen, die sie sich gegenseitig repräsentieren, denn sie wissen nichts voneinander. Sie müssen beide nun durch ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit‘ (Analytiker) und ‚freies Assoziieren‘ (Patient) irgendwie abstecken, was sie sich eigentlich zu sagen haben, bzw. was sie füreinander zählen und sind. Dass der Patient dabei Bedeutungen aus früheren oder anderen Beziehungen ins Spiel bringt und auf den Analytiker ‚überträgt‘, weil er ihm ein Wissen ‚unterstellt‘, dass dieser so genau gar nicht hat, ist nur der theoretische Rahmen, in dem sich die analytische Psychotherapie abspielt.6 Das Wesentliche besteht im Klären eines gemeinsamen, miteinander definierten Null/Eins Abstandes. Wieviel zählt der Andere für den Einen und umgekehrt. Nach vielen Stunden des Zusammensitzens wird man ein Ergebnis haben.
Der Patient weiß nicht, was er sagt, aber der Analytiker weiß auch nicht so genau, was er sagen soll, wie er in welchem Moment welche Deutung er zum Gesagten anbringen darf, kann oder muss. Wann er den Anderen repräsentiert und wann nicht. Den Anderen