Überwältigt - Günter von Hummel - E-Book

Überwältigt E-Book

Günter von Hummel

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Beschreibung

Es gibt negatives und positives Überwältigtsein, für dessen Erklärung in diesem Buch einerseits die Psychoanalyse und andererseits meditative Verfahren herangezogen werden. In beiden Fällen beruht das Überwältigtsein auf Grenzsituationen, die unbeabsichtigt erscheinen, aber eine wichtige Gemeinsamkeit erkennen lassen. Um diese konstruktiv zu nutzen, entwickelte der Autor eine in Theorie und Praxis erlernbare Methode, die beide Bereiche in einer Weise verbindet, die den positiven Ausgang der Überwältigung ermöglicht. Im Zentrum dieser Analytische Psychokatharsis genannten Methode stehen sogenannte Formel-Worte, die die gleiche Struktur ausweisen wie das psychisch Unbewusste: mehrere Bedeutungen, die zusammengefasst keinen vordergründigen Sinn zulassen, aber gedrängt und überwältigt durch das selbstpraktische Vorgehen nunmehr zu einer Sinn-Aussage gebracht werden.

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Das Umschlagsbild der Malerin T. Heydecker (semantik-art.com) mit dem Titel ‚Drift‘ zeigt rechts oben den noch ungeformten Ball der menschlichen Seele, der sich wandelnd nach links driftet, wo er aussieht wie ein Virus (das Bild ist vor der Covid19 Pandemie entstanden), das jedoch aus Buchstaben besteht, die im Kreis geschrieben eine wichtige Formulierung in diesem Buch darstellen. Schließlich breitet sich alles in ein cytoskelettartiges Gewebe aus, das die Seele des Menschen als voll entwickelt symbolisieren soll.

Inhaltsverzeichnis

Lumis Monster

Das ‚overwhelming‘ in Mathematik und Psychoanalyse

Wort-Formeln

Es Fühlt

Pass-Worte

Wortklangbild, Haiku und die Stimme aus dem Off

Beatrice, Laura und Dora

Analytische Psychokatharsis

Überwältigt

Intentionalität

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Lumis Monster

Wem dieses Buch zu anspruchsvoll erscheint, zu sachkundig und kompliziert geschrieben, kann sich damit trösten, dass das selbstpraktische Verfahren äußert einfach zu erklären und praktisch handzuhaben ist. Er kann sich mit Kapitel 8 und 11 begnügen. Denn der übrige Text dient der wissenschaftlichen Begründung, ohne die man in der heutigen Zeit ja nur schlecht volles Vertrauen und Sicherheit aufbauen kann. Dieses Buch hat viel mit der Psychoanalyse zu tun, die mich vor fünfzig Jahren faszinierte, so dass ich sofort eine Ausbildung dazu begann. Ich war – ich glaube es so sagen zu können – ein bisschen überwältigt von dem Phänomen des Unbewussten und der darin versteckten Gedanken und Bilder, von der Deutung der Träume und der Spaltung der Seele. Überwältigt sein muss nichts Negatives bedeuten. Auch wenn es vom Wort Gewalt herkommt, ist doch ein Ausdruck wie: ‚Ich war von einem schönen Konzert oder von einem Spaziergang durch die erblühte Natur überwältigt‘, positiv zu sehen.

Trotzdem hielt die positive Überwältigung meiner psychoanalytischen Ausbildung nicht lange. Nach eineinhalb Jahren war ich von den Dozenten im Ausbildungsinstitut etwas enttäuscht. Sie waren interessant, aber kühl und distanziert. Ich fand alles etwas bieder und schulmeisterlich. Damit es dem Leser also nicht genauso ergeht, stelle ich meine Empfehlung zuerst einmal nur die beiden genannten Kapitel zu lesen und das Verfahren auszuprobieren an den Anfang. Man kann die anderen Kapitel auch in verschiedener Reihenfolge lesen, weil sich darin meist Beispielhaftes, das Verfahren Umrahmendes findet. All dies verstärkt jedoch die Beweiskraft und die Wahrhaftigkeit der Methode, Eigenschaften, die wohl letzten Endes wichtig sein werden.

Ich selbst führte zwar meine Ausbildung weiter fort und war dann auch vierzig Jahre lang als Psychoanalytiker tätig, besuchte jedoch schon damals gleichzeitig eine Meditationsgruppe. Ich hatte das Gefühl, dass Meditation und Psychoanalyse kein Widerspruch sind und sich gegenseitig bereichern könnten. In der Psychoanalyse muss sich der Therapeut völlig neutral verhalten. Er soll vielmehr – und insofern ganz übereinstimmend mit dem Wesen der Meditation – seinen Klienten mit ‚gleichschwebender Aufmerksamkeit‘ zuhören. Das bedeutet, dass der Therapeut sich fast ein bisschen in Trance befinden muss, auch wenn er gleichzeitig nach außen hin wach sein soll für gewisse Holperigkeiten, Pausen, Versprechern in den Erzählungen des Patienten oder Klienten. Das gleiche gilt für die sogenannten ‚freien Assoziationen‘, die spontanen Einfälle, die der Klient von sich geben soll, wozu er auf der Couch liegt, als sei er einer Absence oder einer Glossolalie (dem Zungenreden, das oft in alten Mythen eine wichtige Rolle spielt) nahe.

Das gedanklich Neutrale in einer Meditation hat damit zu tun, dass man nicht einem anderen zuhört wie es der Psychoanalytiker tut, sondern sich selbst, dem inneren unbewussten Es, dem eigenen ‚Anderen‘ in sich. Mit l’Autre, dem Anderen, bezeichnete Lacan eine Mischung aus Überich (Pflichtich) und dem Alter Ego in einem selbst, der oder das sich aus Verinnerlichungen der Eltern, Lehrer und weiterer bedeutender Anderer gebildet hat. Dieses Gebilde in der eigenen – unbewussten – Seele besitzt eine gewisse Neutralität, da sich die Stimmen all dieser Figuren überlagern, auch wenn sie das Bedeutsame behalten. Ich nehme im zweiten Teil dazu ausführlich Stellung und komme dann noch weiter auf all dies später zurück, wenn ich beschreibe, wie aus Psychoanalyse und Meditation ein eigenes, übergreifendes Verfahren entwickelt werden konnte, das für jeden Einzelnen leicht zu erlernen ist.

Denn freilich hat das Nebenher von Psychoanalyse und Meditation auf Dauer keinen Sinn. Ich musste also die wesentlichen Eckpunkte beider Methoden einander gegenüberstellen, sie vergleichen und neu in einer übergeordneten Ausdrucksweise verbinden. Doch so sehr dieses neue Verfahren in seiner Praxis einfach zu erklären und anzuwenden ist, so sehr ist es dennoch notwendig, die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen zu schildern, die es auch wirklich plausibel machen. Viele Leser werden mich nicht kennen und können daher nicht unmittelbar mit einer Methode beginnen, die mit kurzen Worten ohne jeden Hintergrund erklärt ist. Wenigstens den Kern dieses Verfahrens, das ich Analytische Psychokatharsis genannt habe, muss ich also durch erklärende Schilderungen einrahmen, und so will ich es schon hier im Vorwort kurz darstellen. Im Zentrum steht nämlich etwas sprachlich rein Formales, fast mathematisch Formelhaftes, wie es für die Psychoanalyse als auch für die Meditation wesentlich ist. Dieses sprachlich Formelhafte ist hier detaillierter abgebildet, und es entdeckt zu haben, war für mich auch überwältigend.

Es handelt sich nämlich um eine aus dem Lateinischen entnommene formelartige Verbalisierung, ‚Verwortung‘, die im Kreis geschrieben von verschiedenen Buchstaben aus gelesen unterschiedliche Bedeutungen beinhaltet. Ich bezeichne es als Formel-Wort. Genau-so – nämlich mit derartigen Schnittstellen zwischen den einzelnen Buchstaben versehen – ist das psychoanalytisch Unbewusste aufgebaut und so ist es auch als Stütze zur Meditation im Sinne des gedanklich Neutralen geeignet. Man kann also in der gezeigten Abbildung beim E anfangen und ENS CIS NOM oder beim N links und NOMEN SCIS herauslesen. Auch von anderen Buchstaben aus lassen sich so lateinische Bedeutungen erkennen, die ich später ausführlich übersetzen und darstellen will, wenn es um das Verfahren der Analytischen Psychokatharsis im Speziellen gehen soll. Denn vorerst will ich einen Überblick über das Ganze an Hand des Titels ‚überwältigt‘ geben.

Wie vom Freud’schen Versprecher her bekannt, verrutschen hierbei die Schnittstellen und geben eine andere, unbewusste, verdrängte Bedeutung frei. Gleichermaßen ist auch für die Meditation eine Formulierung, die durch die zu vielen Bedeutungen keinen Sinn hat, da sich die Bedeutungen für die Gesamt-Formulierung gegenseitig auslöschen, die also neutral bleibt, wichtig. Dass die mehrspruchartige Formulierung keinen Sinn hat und damit neutral bleibt, liegt nicht daran, dass sie unsinnig ist, sondern – wie auch in der Psychoanalyse vom Traum gesagt wird – dass sie ‚überdeterminiert‘ ist (zu viele Bedeutungen, zu viele Einzelsinne, das Mehrspruchartige, stecken in dem einen, in sich geschlossenen Schriftzug). Diese Überdeterminierung ist ein ganz wichtiger Begriff in der Psychoanalyse und so auch in der Analytischen Psychokatharsis.

Was den Freud‘schen Versprecher angeht, die frühere französischen Justizministerin R. Dati hat ein gutes Beispiel dafür geliefert, als sie statt von Inflation von Fellatio gesprochen hat. Man kann präzise das Verrutschen und Überdeterminierung der Buchstaben sehen, wenn es auch für die Betroffene ein sehr peinliches Beispiel war. Die ganze Nation hat gelacht. Nur zwei Buchstaben sind aufgrund mehrfacher Bedeutungen verrutscht. Im Hintergrund wurde dieser Versprecher sicher dadurch mit verursacht, dass die Ministerin ein geheimes Liebesverhältnis hatte und den Mann ihres Kindes nie verriet. Mehrere Bedeutungen haben sich also in ihr verwickelt, haben Berufliches und Privates durcheinander gebracht und in ihr Druck erzeugt, und so hat ihr Versprecher sie selbst überwältigt. Es handelt sich so gesehen um eine Überwältigung von innen heraus, die für den Betreffenden nur gut ist, wenn er den Sinn dieses Versprechers erkennen und anerkennen kann.

Wie die einzelnen Bedeutungen dieses in der Abbildung oben gezeigten Beispiels lauten, vermittle ich also in einem späteren Teil des Buches, in dem die Methode ausführlicher beschrieben wird. Die in einem durchgehenden Schriftzug steckenden Bedeutungen sind auf jeden Fall nicht so brisant wie die im Beispiel von R. Dati, sondern sind dermaßen disparat, d. h. so unterschiedlich, dass man aus ihrer Gesamtheit jedenfalls keinen definitiven Sinn herauslesen kann. Die Struktur des Formel-Wortes stellt sich genauso wie die des Versprechers dar, die Verwendung ist jedoch genau umgekehrt. Die Disparität der verschiedenen, durch Schnittstellen erzeugten Bedeutungen im Formel-Wort sorgt also dafür, dass man sich in der Meditation zwar der Überwältigung durch den als Folge der Überdeterminierung entstandenen Nichtsinn aussetzt, doch gerade dadurch wird das Unbewusste provoziert, in Form einer gewissen Überwältigung einen Sinn herauszugeben.

Jetzt handelt es sich um keinen verdrängten Sinn wie um den, der beim Versprecher herauskommt, sondern um einen infolge der ‚logischen Selbststruktur‘ im Formel-Wort provozierten Sinn, der der Selbstpraxis, Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung dient.

Doch der Reihe nach und auch dem Titel entsprechend fange ich mit dem Überwältigt Sein in der Psychoanalyse an, wo es immer wieder passiert oder auch durch sogenannte ‚enactments‘ (Eingriffe, Interventionen in das neutrale Vorgehen des Therapeuten) willkürlich entsteht. Gleich im ersten Beispiel zitiere ich ein – noch dazu unbewusst geschaffenes ‚enactment‘, während solches sonst vom Therapeuten bewusst initiiert wird. Eines der bekanntesten Vorfälle dieser Art war die ‚mutuelle (wechselseitige) Analyse‘ des Freudschülers S. Ferenczi. Er legte sich manchmal selbst auf die Couch und plapperte von sich weg, was dann der Patient interpretieren konnte. Diese besondere Art der Überwältigung wurde von Freud schwer missbilligt, führte sie doch zu weitgehend unkontrolliertem Vorgehen.

Eine andere Art der Überwältigung beschrieb die amerikanische Psychoanalytikerin A. Saketopoulou. Sie behauptete, dass Beziehungen letztlich immer noch ein ungelöstes Rätsel enthalten, das nur gelöst werden kann, wenn es zu einer Art intimen Situation des ‚overwhelmings‘ (der Überwältigung) kommt.1 Die Autorin beginnt ihren wissenschaftlichen Artikel mit der Geschichte einer Mutter (Imani), die mit ihrer vierjährigen Tochter (Lumi) spielt:

„Spiel das Monster“, fordert Lumi die Mutter auf. Imani verwandelt sich augenblicklich in einen stattlichen Menschenfresser und springt auf ihre Tochter zu. „Ich werde dich auffressen“, knurrt sie drohend. Lumi windet sich aus Imanis festem Griff heraus und kreischt vor Freude. Sie wehrt sich und kichert ungezwungen. Dann brüllt sie aber ganz plötzlich ’Stopp‘ und Imani hört auf. Sie schauen einander an, ein Augenblick verstreicht und Lumi befiehlt: „Nochmal!“ Imani fängt wieder an. Wieder grabscht sie, wieder ist sie das gruselige Monster, wieder ist sie unheildrohend und beängstigend. Lumi lacht. „Stopp!“ befiehlt sie abermals. Imani hört auf. Sie wiederholen dieses Szenario noch eine Weile. Nach ein paar weiteren Wiederholungen macht Lumi einen unzufriedenen Eindruck. Dann findet sie eine Lösung. „Wir spielen ein anderes Spiel“, kündigt sie an. „Ich befehle dir das Monster zu spielen, du grabscht nach mir und erschreckst mich; ich sage ‚Stopp!‘; aber dieses Mal“ – und sie betont jetzt jedes Wort einzeln – „hörst – du – nicht – auf!“ „Ich höre nicht auf“, zögert Imani? „Nein“, antwortet Lumi voller Zuversicht, „du machst weiter und weiter, immer länger weiter“. „Aber wenn es zu viel wird, was dann?“, fragt Imani beklommen. Das kleine Mädchen scheint sich jedoch überhaupt nicht für diese erwachsenen Fragen der Sicherheit oder der umsichtigen Feinjustierung zu interessieren. Es scheint sie nicht zu beunruhigen, dass die Frage sicherer Grenzen unbeantwortet bleibt. „Du darfst nicht aufhören, sonst klappt es nicht“, entgegnet sie ungeduldig.“ Mach dir keine Sorgen, wir machen einfach weiter und weiter, immer länger weiter“.

Die Autorin benutzt im Verlauf ihres Artikels dieses Beispiel für Beziehungen, in denen es um das Wesen des zutiefst verdrängten Freud’schen ‚infantil Sexualen‘ geht. Saketopoulou benutzt diesen Ausdruck des französischen Psychoanalytikers J. Laplanche, um die äußerst frühen und tief gehenden Verdrängungen zu konzeptualisieren, also das Urverdrängte, das in der üblichen Psychoanalyse nicht tangiert wird und nicht zur Sprache kommt, denn es ist auch mit dem Aggressiven eng verbunden. Dieses ‚overwhelming‘, dieses Überwältigt Sein und Überwältigen, kann nunmehr – so die Autorin – dabei helfen, das letzte Rätsel in einer therapeutischen Beziehung aufzubrechen und zu lösen,

Saketopoulou verrät nicht, wie das Spiel zwischen Lumi und ihrer Mutter weitergegangen ist, doch man kann es sich denken. Imani, die Mutter, wird wohl etwas länger und vielleicht mit ein bisschen verändertem Knurren und Zähnefletschen das Monster gespielt haben, auch noch nachdem ein „Stopp“ gefallen ist. Denn das weitere Spiel zu verweigern wäre für Lumi nicht nur enttäuschend gewesen, sie hätte irgendwann – vielleicht in einer noch heikleren Situation – so etwas Ähnliches wie dieses Überwältigungsspiel wieder versucht. So aber konnte Lumis Mutter schon bald nach Beginn des neuen Spiels, indem sie, die sie ihre Tochter weitgehend gut kennt, das Gefühl hatte, dass es mit der Überwältigung lang genug weitergegangen ist, ein geschicktes Ende finden. Sie könnte zum Beispiel stöhnen und sagen, dass dem Monster jetzt die Kräfte auszugehen drohen, die Prankenmuskeln erlahmt sind und die Krallen abgewetzt, so dass man das Spiel ein anderes Mal wieder aufnehmen muss, wenn das Monster sich wieder erholt hat. Dass das Monster sich schnell erschöpft hat, wird Lumi verstehen können. Sie wird beruhigt sein und wissen, dass das Spiel ein anderes Mal wieder aufgenommen wird.

Sekatopoulou schreibt selbst dazu differenzierter als ich, indem sie der Mutter kein weitgehendes In- und Auswendig-Kennen ihrer Tochter unterstellt. Vielmehr wird die Mutter durch die Aufforderung, Lumis ‚Nein‘ nicht als ‚Nein‘ zu verstehen, in ein eigenes, unbewusstes und bei jedem Menschen irgendwie immer vorhandenes Sexual- Aggressives verstrickt. Imani, die Mutter, muss also Angst vor sich selbst bekommen, meint die Autorin. „Auf der bewussteren Ebene wird sie einwilligen müssen, sich über ihre Sorge, Lumi nicht zu verärgern oder gar zu verletzen, hinwegzusetzen. Auf einer weniger bewussten Ebene muss sie gewillt sein, ein unbewusstes, weitgehend sadistisches Begehren in ihr zu tolerieren, ein Begehren, das nicht pathologisch, sondern uns allen gemein ist. . . Imani wird nicht einfach ‚unschuldig‘ weiterspielen können“.

Umgekehrt, so die Autorin weiter, darf man den Verzicht auf geregelte Grenzen nicht als „masochistische Passivität missverstehen“. Im Gegenteil, es handelt sich um eine „radikale Rezeptivität“, um eine Art der Empfänglichkeit oder Hingabe. „Daher erfordert Imanis Teilnehme am Spiel paradoxerweise eine provisorische Hingabe an Lumi, an Lumis Begehren und an die Unerkennbarkeit dessen, was da gleich kommen wird. Lumi stellt aber auch ihrerseits die Bedingungen einer Hingabe auf, auch wenn sie sich als Kind dessen weniger bewusst ist“. Kurz: die Autorin will darauf hinaus, dass es sich um ein „asymmetrisches Sich-gehen-lassen“ handelt, vergleichbar dem was sich in einer psychoanalytischen Sitzung auch abspielt.

Die psychoanalytische Sitzung definierte Lacan in ganz ähnlicher Weise. Für sie gilt der Satz: „Ich bitte dich zurückzuweisen, was ich dir anbiete – denn das ist es nicht. Ist was nicht? Was ich begehre. . . Mit diesem Begehren – was ich dir anbiete, das nicht das ist, was du begehrst – könnten wir die Sache leicht schließen, damit nämlich, dass du begehrst, dass ich dich bitte. Und so geht es unbegrenzt weiter. Wer sieht nicht, dass eine derartige Verkettung für den analytischen Diskurs grundlegend ist“? 2 Weder der Therapeut noch der Patient wissen genau, auf was sie sich einlassen, und so wird es letztlich – wenn man sich nicht mit der Unbegrenztheit (hier von Bitte, Zurückweisung, Begehren und erneuter Bitte) beschäftigen will, die Freud auch als die ‚unendliche Analyse‘ bezeichnet hat – eine Überwältigung geben müssen.

Es wird sie deswegen geben müssen, weil es nirgendwo eine wirkliche, nachhaltige Befriedigung gibt, schon gar nicht in der Sexualität. In ihr existiert immer irgendwo eine Überwältigung, und wenn man Glück hat, fällt diese „grenzzustimmend“ aus, wie Saketopoulou es auch für ihre Arbeit beschreibt. Sie will sich damit abgrenzen von den ausgehandelten Zustimmungen der Liebespaare, die vereinbaren, was in gegenseitiger Erotik geschehen darf und was nicht. Diese modernen Liebestechniken beinhalten nun wirklich nicht das Sich-gehen-lassen, die Freiheit, den Rausch und den illusionären Vereinigungswunsch, zu dem es kommen soll. Denn da stören die Worte. Auch wenn die Überwältigung nicht ohne Risiko ist, ist das Wort-Wirkende, der verbale Signifikant alleine zur ihrer Erfassung nicht völlig ausreichend. Es braucht auch das Bild-Blick-Wirkende, den imaginären Signifikanten.3

Die Übertragung, in der man üblicherweise Bedeutungen auf den Therapeuten aus früheren oder anderen Beziehungen überträgt, die auch ganz inadäquat sein können, nennt man positiv, weil sie dem Gesprächsvorgang dient. Aber im Falle einer Überwältigung oder Missverstehens kann sie ins Negative kippen, wonach der Patient oft die Behandlung abbricht. Lumis Mutter wird also wie eine behutsame Psychotherapeutin agieren müssen, so wie es Saketopoulou in dem Fall der Patientin, deren Behandlung sie anschließend an die Geschichte von Imani und Lumi aus ihrer psychoanalytischen Praxis schildert, und die mit dem ‚overwhelming‘ arbeitet, auch tut. Sie hat die Patientin nicht mit einer gewagten Deutung überwältigt, hat auch nicht, was oft der beste Weg in der psychoanalytischen Therapie ist, sich für ein zaghaftes, behutsames „erzählen Sie . . .“ weiter entschieden, sondern sich selbst von ihrer Patientin ein bisschen überwältigen lassen.

Die afroamerikanische Patientin hatte in der Therapiesitzung davor von ihren Gewaltphantasien im Zusammenhang mit ihrer lesbischen Freundin gesprochen, wo es im Sinne einer subtilen sadomasochistischen Überwältigung zu einem – wie die Patientin selbst sagte – seelischen ‚Aufbrechen‘ gekommen war. Und so hatte sich die Therapeutin schon vor der Therapiestunde als leicht angespannt und nervös empfunden, da sie der Fall besonders interessierte, und schnell noch einen ‚griechischen Kaffee‘ getrunken. Dessen Aroma bemerkte die Patienten zu Beginn der Sitzung, was sie an ein traumatisches Ereignis mit ‚griechischem Kaffee‘ erinnerte, von dem auch die Therapeutin wusste. Doch keine von beiden sprach diesbezüglich ein Wort. In der Folge führte dies zu einer etwas missverständlich-verwirrenden Situation. Die Patientin fing zu weinen an, schluchzte immer mehr, was die Psychoanalytikerin in eine Phase von Unsicherheits-, Schuld- und Beklemmungsgefühlen brachte. Sie war nunmehr selbst überwältigt und konnte nichts dazu sagen. Schließlich stand die Patienten nach einiger Zeit auf und ging ohne ein Wort nach Hause.

Solch ein Geschehen nennt man auch die von mit bereits erwähnte negative Übertragung, wonach der Patient oft die Behandlung abbricht. Dich die Patienten kam wieder und die Therapie ging positiv weiter, denn man kam nun doch dazu vom ‚griechischen Kaffee‘ zu sprechen. Nun gab es genug über diese Überwältigungserlebnisse zu reden, was sie aufgebrochen hatten und welche Deutungen damit angeregt wurden. Mich interessierte Theorie und Praxis dieser Thematik jedoch zudem deswegen, weil sie auch meinen Veröffentlichungen über das von eingangs erwähnte psychoanalytisch/meditative Verfahren der Analytischen Psycho-katharsis entgegenkommt. Denn gerade in dem meditativen Teil dieser Methode setzt man sich – wie wohl bei vielen anderen Meditationsverfahren auch – der Stille und dem Dunkel, dem Nichts, der Leere und das heißt der Überwältigungsmöglichkeit in einem selbst aus, so wie es offensichtlich auch Lumi, nichtsahnend von den Implikationen, ihrer Mutter gegenüber tun wollte.

Es ist eine uralte Geschichte, dass es im Menschen oder in seinen unmittelbaren Beziehungen, die sein Innerstes zum Innersten eines Anderen hat, eine enigmatische Höhle, einen unüberbrückbaren Abgrund oder irgendein anderes angsterfüllendes Geheimnis gibt. Seit Freud nennt man es das Unbewusste und hat man hauptsächlich den Weg beschritten, der zu diesem Innersten einen Zugang speziell durch das Wesen der Sprache, also der symbolischen Ordnung, des Wort-Wirkenden, bekommt.4 Inzwischen gibt es Bibliotheken psychoanalytischer Literatur, die erklären, wie der Therapeut seinen Patienten in die wunderbare Landschaft der Seele wandern, straucheln, gleiten und stolpern lässt – der Patient darf alles sagen, was ihm spontan in den Sinn kommt, Größenphantasien, Blödheiten, Peinlichkeiten und endlos ausgeschmückte Tiraden – bis er eben irgendwo daneben tritt.

Das Danebentreten wird ihm dann als Zusammenhang seines Widerstandes gegen die eigentliche Wahrheit und seines, verdrängten Begehrens enthüllt, und dann logisch aufbereitet. Dieses Vorgehen ist möglich, weil das Wort-Wirkende mit dem Bild-Wirkenden verkettet ist und sich so Bedeutungen, Sinn und Unsinn, Freud’sche Theorie und der Widerstand dagegen ständig überschneiden. Diese „Kette der Signifikanten“, des Bild-Wort-Wirkenden, beschreibt Lacan so: „Ringe [Bild-Wirkendes], die in einer Kette sich in den Ring einer anderen Kette einfügen, die wieder aus Ringen [Wort-Wirkendes] besteht.“5 Ich muss dies alles gleich am Anfang so kompliziert ausdrücken, weil es das Grundgerüst der Thematik dieses Buches darstellt. Aber das Bild-Wirkende des Verfahrens reicht so gehandhabt nicht aus, denn es fehlt die Praxis, die Ringe werden nicht erfahren.

Im Zentrum der Psychoanalyse steht zwar eine derartige Ringstruktur in Form des Ödipus- und/oder Kastrations-Komplexes, der den Knaben zum mörderischen Rivalen und Hasser seines herrschenden Vaters macht, sowie diese Logik ihn auch zum perversen Liebespartner seiner königlichen Mutter erklärt. Eine Verkettung also in horizontaler (Rivalität und Liebschaft) und vertikaler (Herrschaft und Perversion) Richtung. Viele Analytiker haben jedoch versucht und versuchen es immer noch, die Begrenzung dieser Theorie durch tiefergreifende Begründungen (also um ein paar Ringe mehr) zu erweitern. So schrieb die Psychoanalytikerin J. Le Soldat, dass im Mittelpunkt der Ödipus Geschichte die Sphinx steht und nicht nur das Drama um das Königspaar und deren Sohn.

Freud – so meinte Le Soldat – wollte nicht in die glühenden Augen der Sphinx schauen, die mit ihrem Blick die Männer verhexte. Sie hat Freuds Traum von ‚Irmas Injektion‘, den Freud als denjenigen Traum bezeichnete, der ihm das Wesen des Traums enthüllte, als von ihm selbst falsch gedeutet analysiert.6 Viel zu sehr hätte Freud nur die libidinösen Seiten seines Traumes beschrieben, die aggressiven aber nicht erwähnt. Der Traum handelt von einer Patientin namens Irma, die bei Freud in verunglückter seelischer und bei seinem Freud Fließ in verunglückter HNO- ärztlicher Behandlung war. So deutet Le Soldat den Satz Freuds in diesem für die Psychoanalyse so wichtigen Traum von Freud: „Irma, die ich sofort beiseite nehme, um . . . “ , dass Freud hier jemand beseitigen wollte, und zwar sein bereits erwartetes sechstes Kind. Denn dies störte jetzt seine Karriere.

Aber auch eine homosexuelle Beziehung zu einem Kollegen, der im Traum vorkommt, soll Freud – Le Soldats Schlüssen folgend – beseitigt haben wollen. Man muss zugeben, dass Le Soldat diese ihre Deutungen plausibel mit zahlreichen Beispielen belegt, sie stehen auch Freuds Auffassungen vom Traum als einen als erfüllt dargestell