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Dein Erbe ist der Tod
Kurz nachdem Dr. Jonathan Lyons eine sensationelle wissenschaftliche Entdeckung gemacht hat, findet seine Tochter Mariah ihn ermordet in seinem Büro auf. Die Hauptverdächtige: ihre eigene Mutter. Mariah setzt alles daran, den wahren Täter zu finden. Sie kommt ihm bald gefährlich nahe.
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Seitenzahl: 420
MARY HIGGINS CLARK
MEIN AUGE RUHT
AUF DIR
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Lost Years bei Simon & Schuster, New York
Copyright © 2012 by Mary Higgins Clark
All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung der Fotos von Colourbox.com
Redaktion: Claudia Alt
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN 978-3-641-09083-8
www.heyne-verlag.de
Zum Angedenken an meinen lieben Schwager und Freund Kenneth John Clark.
Geliebter Ehemann, Vater, Großvater, Urgroßvater und »The Unc« für seine ihn innig liebenden Neffen und Nichten.
Wir haben dich sehr geliebt.
Ruhe in Frieden.
Prolog
1474 nach Christus
In der abendlichen Stille, als sich lange Schatten auf die Mauern der ewigen Stadt Rom legten, trat ein alter, gebeugter Mönch verstohlen in die Biblioteca Secreta. So hieß das Geheimarchiv der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek, die insgesamt vier Räume umfasste und zweieinhalbtausend lateinische, griechische und hebräische Manuskripte beherbergte. Manche davon durften unter strenger Aufsicht von Außenstehenden gelesen werden, andere wurden unter Verschluss gehalten.
Zu den umstrittensten Manuskripten gehörte jenes, das unter den Bezeichnungen Josef-von-Arimathäa-Pergament oder Vatikanischer Brief bekannt war. Die Schrift, vom Apostel Petrus nach Rom gebracht, war angeblich der einzige von Jesus verfasste Brief.
Mit einfachen Worten dankte er darin Josef von Arimathäa für die Freundlichkeiten, die dieser ihm hatte zuteilwerden lassen, nachdem er den damals gerade zwölfjährigen Jesus im Jerusalemer Tempel hatte predigen hören und in ihm den lange erwarteten Messias gesehen hatte.
Nachdem Herodes Archelaos, der Sohn Herodes’ des Großen, herausgefunden hatte, dass das kluge und gelehrte Kind in Bethlehem geboren worden war, befahl er umgehend dessen Ermordung. Als Josef davon erfuhr, eilte er nach Nazareth und erbat von den Eltern die Erlaubnis, den Jungen nach Ägypten in Sicherheit zu bringen. Dort konnte er im Tempel von Leontopolis im Niltal die heiligen Schriften studieren.
Über die folgenden achtzehn Jahre im Leben Jesu ist nichts bekannt. Als sich seine Zeit in Ägypten dem Ende näherte und er vorhersah, dass Josef ihm sein eigenes Grab zur letzten Ruhestätte übereignen würde, schrieb Jesus einen Brief, in dem er dem treuen Freund seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Manche Päpste hielten diesen Brief für echt, andere hegten Zweifel. Der vatikanische Bibliothekar allerdings hatte erfahren, dass sich der gegenwärtige Papst Sixtus IV. mit dem Gedanken trug, den Brief vernichten zu lassen.
Der Hilfsbibliothekar hatte in der Biblioteca Secreta bereits auf den alten Mönch gewartet. Mit sorgenvollem Blick übergab er ihm das Pergament. »Ich tue dies auf Weisung Seiner Eminenz, des hochwürdigsten Kardinal del Portego«, sagte er. »Das heilige Pergament darf nicht zerstört werden. Bewahrt es gut in Eurem Kloster auf und verratet niemandem von seinem Inhalt.«
Der Mönch nahm das Pergament entgegen, küsste es ehrerbietig und schob es schützend in den Ärmel seiner Kutte.
Erst mehr als fünfhundert Jahre später, zu Beginn dieser Geschichte, sollte der Brief an Josef von Arimathäa wieder auftauchen.
1
Heute ist die Beerdigung meines Vaters. Er wurde ermordet.
Mit diesem Gedanken erwachte die achtundzwanzigjährige Mariah Lyons, nachdem sie eine unruhige Nacht im Haus ihrer Eltern in Mahwah verbracht hatte, einer Stadt nahe der Ramapo Mountains im nördlichen New Jersey. Sie wischte ihre Tränen fort, richtete sich langsam auf und sah sich um.
Mit sechzehn hatte sie als Geburtstagsgeschenk ihr Zimmer neu einrichten dürfen. Sie hatte die Wände rot streichen lassen und sich für die Tagesdecke, die Kissen und die Blende der Gardinenleisten ein rot-weißes Blütenmuster ausgesucht. Ihre Hausaufgaben hatte sie dann nie am Schreibtisch gemacht, sondern immer nur im großen, bequemen Sessel in der Ecke. Ihr Blick fiel auf das Regal, das ihr Vater über der Ankleide angebracht hatte und auf dem ihre Pokale standen, die sie mit den Fußball- und Basketballmannschaften an der Highschool gewonnen hatte. Er war immer so stolz auf mich, dachte sie traurig. Er hat das Zimmer neu einrichten wollen, als ich mit dem College fertig war, aber ich habe mich dagegen entschieden. Es ist mir egal, dass es immer noch wie das Zimmer eines Teenagers aussieht.
Bislang hatte sie sich glücklich schätzen können, weil sie bis auf ihre Großmutter, die mit sechsundachtzig Jahren im Schlaf gestorben war, nie um ein Familienmitglied hatte trauern müssen. Ich habe Großmutter wirklich geliebt, trotzdem war ich dankbar um ihren Tod, dachte sie. Ihr ist vieles erspart geblieben, weil sie doch körperlich mehr und mehr abgebaut und es immer verabscheut hat, auf andere angewiesen zu sein.
Mariah stand auf, griff sich den Morgenmantel am Fußende des Bettes, schlüpfte hinein und schlang den Gürtel um die gertenschlanke Taille. Aber jetzt ist es etwas anderes, dachte sie. Mein Vater ist keines natürlichen Todes gestorben. Er ist in seinem Arbeitszimmer erschossen worden. Sie musste schlucken, als ihr die Frage in den Sinn kam, die sie sich mittlerweile schon so oft gestellt hatte: War Mom im Zimmer, als es geschehen ist? Oder ist sie erst dazugekommen, nachdem sie den Schuss gehört hat? Kann es sein, dass Mom die Täterin ist? Bitte, Gott, lass das nicht zu!
Sie ging zum Toilettentisch und betrachtete sich im Spiegel. Ich bin so blass, dachte sie, als sie sich ihr schulterlanges schwarzes Haar bürstete. Die Augen waren geschwollen von ihren vielen Tränen in den letzten Tagen. Ein unpassender Gedanke ging ihr durch den Kopf: Ich bin froh, dass ich Daddys dunkelblaue Augen habe und so groß bin wie er. Beim Basketball hat das jedenfalls nie geschadet.
»Ich will einfach nicht glauben, dass er tot ist«, flüsterte sie und musste an die kaum drei Wochen zurückliegende Feier zu seinem siebzigsten Geburtstag denken. Wieder ließ sie die vergangenen vier Tage Revue passieren. Am Montagabend war sie länger im Büro geblieben, um für einen Neukunden einen Investmentplan zu entwerfen. Als sie um acht in ihre Wohnung im Greenwich Village kam, rief sie wie gewöhnlich ihren Vater an. Daddy war sehr niedergeschlagen, erinnerte sie sich. Mom, erzählte er, hatte einen schrecklichen Tag hinter sich; es war klar, dass es mit ihrer Alzheimer-Erkrankung immer schlimmer wurde. Aber aus irgendeinem Grund habe ich um halb elf noch einmal angerufen, weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe.
Als sich Daddy nicht gemeldet hat, wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Wieder musste sie an die scheinbar endlose Fahrt vom Greenwich Village nach New Jersey denken. Immer wieder hatte sie von unterwegs angerufen. Um 23 Uhr 20 war sie in die Anfahrt eingebogen, hatte in der Dunkelheit nach dem Haustürschlüssel gekramt und war zum Haus gerannt. Im Erdgeschoss brannten sämtliche Lichter, und sie eilte sofort ins Arbeitszimmer.
Dort bot sich ihr ein schrecklicher Anblick. Ihr Vater lag zusammengesackt über dem Schreibtisch, Kopf und Schultern waren blutüberströmt. Ihre Mutter, ebenfalls voller Blut, kauerte im begehbaren Wandschrank neben dem Schreibtisch und hielt Vaters Pistole umklammert.
Mom hat mich angesehen und gestöhnt. »So viel Lärm … so viel Blut …«
Ich war völlig außer mir, erinnerte sich Mariah. Ich habe den Notruf gewählt und nur gestammelt: »Mein Vater ist tot! Mein Vater ist erschossen worden!«
Wenige Minuten darauf ist die Polizei eingetroffen. Ich werde nie vergessen, wie sie Mom und mich angesehen haben. Ich hatte Daddy noch im Arm, deshalb war ich ebenfalls voller Blut. Und einer der Polizisten sagte, ich hätte den Tatort kontaminiert, weil ich Daddy berührt habe.
Mariah wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit in den Spiegel gestarrt hatte, ohne sich wirklich wahrzunehmen. Die Uhr auf dem Toilettentisch zeigte bereits halb acht. Ich muss mich fertig machen, dachte sie. Um neun sollen wir im Bestattungsinstitut sein. Hoffentlich ist Rory bis dahin mit Mom fertig. Rory Steiger war die untersetzte Zweiundsechzigjährige, die sich seit zwei Jahren um ihre Mutter kümmerte.
Zwanzig Minuten später trat Mariah, geduscht und geföhnt, wieder in ihr Zimmer, öffnete den Schrank und nahm die schwarz-weiße Jacke und den schwarzen Rock heraus, die sie für die Beerdigung vorgesehen hatte.
Nach dem Ankleiden trat sie ans Fenster. Sie hatte es offen gelassen, als sie zu Bett gegangen war, sodass sich nun die Vorhänge im sachten Wind bauschten. Sie sah in den Garten hinaus, in dem ein Japanischer Ahorn stand, den ihr Vater vor vielen Jahren eingesetzt hatte. Die im Frühjahr gepflanzten Begonien und Fleißigen Lieschen rankten sich um die Veranda. In der Ferne schimmerten die Ramapo Mountains grüngolden in der Sonne. Ein herrlicher später Augusttag.
Ich will nicht, dass heute so ein wunderschöner Tag ist, dachte Mariah. Man könnte glatt meinen, es wäre nichts Schreckliches passiert. Aber es ist Schrecklichespassiert. Daddy ist ermordet worden. Ich will, dass es regnet und kalt ist und trüb. Ich will, dass Regen auf seinen Sarg fällt. Ich will, dass der Himmel um ihn weint.
Er ist für immer fort.
Trauer und Schuldgefühle drohten sie zu überwältigen. Der sanftmütige College-Professor hatte sich erst drei Jahre zuvor so sehr auf seinen Ruhestand gefreut, weil er dann all seine Zeit mit dem Studium alter Manuskripte verbringen konnte, und jetzt war er so gewaltsam aus dem Leben gerissen worden. Ich habe ihn geliebt. Obwohl unsere Beziehung in den letzten eineinhalb Jahren fürchterlich angespannt war, weil er eine Affäre mit Lillian Stewart gehabt hat, der Professorin, die er an der Columbia University kennengelernt und die unser aller Leben verändert hat.
Mariah erinnerte sich noch gut an ihre Bestürzung, als sie eineinhalb Jahre zuvor nach Hause gekommen war und ihre Mutter Fotos in der Hand hielt, die zeigten, wie Lillian und ihr Vater sich umarmten. Ich war so wütend, schließlich war klar, dass das schon seit fünf Jahren so ging, weil Lily ihn bei allen archäologischen Ausgrabungen in Ägypten und Griechenland und Israel oder weiß Gott wo begleitet hat. Ich war so schrecklich wütend, weil sie ebenfalls immer hier war, wenn er seine Freunde Richard, Charles, Albert und Greg zum Essen eingeladen hat.
Es hat sie offensichtlich nicht gestört, dass mein Vater zwanzig Jahre älter war als sie, dachte Mariah verbittert. Ich habe versucht, gerecht zu sein und sie zu verstehen, aber ich verabscheue diese Frau aus tiefstem Herzen.
Mit Mom ist es seit Jahren bergab gegangen, und ich weiß doch, wie schlimm es für Dad war, dass er das alles hat miterleben müssen. Aber sie hat auch immer noch ihre guten Tage. Und immer noch spricht sie oft von diesen Fotos. Es hat sie sehr verletzt, dass Dad eine andere Frau hatte.
Ich will nicht daran denken, sagte sich Mariah und wandte sich vom Fenster ab. Ich möchte, dass mein Vater wieder lebt. Ich möchte ihm sagen, wie leid es mir tut, dass ich ihm erst letzte Woche höhnisch die Frage hingeworfen habe, ob die gute Lily ihm auch bei der letzten Exkursion nach Griechenland eine gute Reisegefährtin gewesen ist.
Sie ging an ihren Schreibtisch und betrachtete das zehn Jahre alte Bild ihrer Mutter und ihres Vaters. Wie liebevoll sie damals miteinander umgegangen sind, dachte Mariah. Sie hatten geheiratet, als sie noch nicht einmal mit dem Studium fertig waren.
Und erst fünfzehn Jahre später bin ich gekommen.
Mit einem traurigen Lächeln erinnerte sie sich an ihre Mutter, die ihr gesagt hatte, sie hätten zwar lange warten müssen, aber Gott habe sie mit einem perfekten Kind gesegnet. Da hat Mom etwas übertrieben, dachte sie. Ihre beiden Eltern waren äußerst attraktive Menschen mit viel Charme. Als Kind war ich sicherlich keine Augenweide. Lange, glatte, schwarze Haare, viel zu groß für mein Alter und so dürr wie eine Bohnenstange, dazu Zähne, die für mein Gesicht damals noch viel zu groß waren. Aber glücklicherweise bin ich dann doch noch eine ganz anständige Mischung aus meinen beiden Eltern geworden.
Dad, Daddy, bitte sei nicht tot. Sitze bitte am Frühstückstisch, wenn ich ins Zimmer komme, mit der Kaffeetasse in der Hand und der Times oder dem Wall Street Journal vor dir. Ich schnappe mir dann die Post und blättere zum »Vermischten«, und du wirfst mir über die Brille diesen Blick zu, mit dem du mir zu verstehen gibst, dass man sich mit so etwas überhaupt nicht abgeben sollte.
Ich will nichts essen, ich werde nur einen Kaffee trinken, beschloss Mariah, öffnete die Tür und ging durch den Flur zur Treppe. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und lauschte, hörte aber keinen Laut aus den beiden miteinander verbundenen Zimmern, in denen ihre Mutter und Rory schliefen. Was hoffentlich heißt, dass sie unten sind, dachte sie.
Im Frühstückszimmer aber war von ihnen nichts zu sehen. Sie ging in die Küche zu Betty Pierce, der Haushälterin. »Mariah, Ihre Mutter wollte nichts essen. Sie ist im Arbeitszimmer. Ich glaube nicht, dass Ihnen gefällt, was sie anhat, aber sie besteht auf das blau-grüne Leinenkostüm, das Sie ihr zum Muttertag geschenkt haben.«
Mariah wollte schon protestieren, hielt dann aber inne: Was in Gottes Namen machte es schon? Sie nahm von Betty die Kaffeetasse entgegen und ging damit ins Arbeitszimmer. Dort fand sie eine äußerst bekümmerte Rory vor, die, ohne dass sie gefragt werden musste, nur mit dem Kopf zur Schranktür wies. »Sie erlaubt nicht, dass ich die Tür offen lasse«, sagte sie, »und sie will mich auch nicht bei sich haben.«
Mariah klopfte an die Schranktür, öffnete sie langsam und murmelte dabei den Namen ihrer Mutter – seltsamerweise reagierte sie darauf manchmal eher als auf das »Mom«, mit dem Mariah sie üblicherweise ansprach. »Kathleen«, sagte sie also, »Kathleen, es ist Zeit für eine Tasse Tee und ein Zimthörnchen.«
Kathleen Lyons kauerte ganz hinten auf dem Boden des großen begehbaren Wandschranks, der zu beiden Seiten mit Regalen versehen war. Sie hatte schützend die Arme um den Körper geschlungen und den Kopf gegen die Brust gepresst, als erwartete sie, jeden Moment geschlagen zu werden. Die Augen hatte sie fest geschlossen, ihre silbergrauen Haare fielen ihr über das Gesicht. Mariah kniete sich neben sie und wiegte sie wie ein Kleinkind in den Armen.
»So viel Lärm … so viel Blut«, flüsterte ihre Mutter nur, die gleichen Worte, die sie seit dem Mord unaufhörlich wiederholte. Schließlich ließ sie sich von Mariah aufhelfen und das gewellte Haar aus dem hübschen Gesicht streichen. Wieder wurde Mariah daran erinnert, dass ihre Mutter nur wenige Monate jünger war als ihr Vater und für ihr Alter sehr jung aussah, wären nicht ihre ängstlichen Bewegungen gewesen, fast so, als fürchtete sie, jeden Augenblick in einen Abgrund zu stürzen.
Während Mariah ihre Mutter aus dem Arbeitszimmer führte, bemerkte sie weder den hasserfüllten Blick von Rory Steiger noch deren verstohlenes Lächeln, das ihr in diesem Moment über die Lippen huschte.
Jetzt, dachte Rory, werde ich sie bald los sein.
2
Detective Simon Benet von der Staatsanwaltschaft des Bergen County sah aus wie jemand, der viel Zeit im Freien verbrachte. Er war Mitte vierzig, hatte eine rötliche Gesichtsfarbe und schütter werdendes blondes Haar. Seine Anzugjacke war immer verknittert, da er sie, sobald er sie nicht tragen musste, über eine Stuhllehne oder auf den Rücksitz seines Wagens warf.
Seine Partnerin, Detective Rita Rodriguez, war eine durchtrainierte Frau hispanischer Abstammung, Ende dreißig, mit modisch kurzen braunen Haaren, und im Gegensatz zu Benet war sie stets makellos gekleidet. Die beiden bildeten das Top-Ermittlerteam, dem auch der Mordfall Jonathan Lyons übertragen worden war.
Am Freitagmorgen waren sie die Ersten, die am Bestattungsinstitut eintrafen. Da sie aus Erfahrung wussten, dass der Täter – sollte er wirklich ein Einbrecher gewesen sein – sein Opfer unter Umständen noch einmal sehen wollte, hielten sie unter den Anwesenden nach Verdächtigen Ausschau.
Jeder, der so etwas schon mal mitgemacht hat, weiß, wie es ist, dachte sich Rodriguez. Es gibt Unmengen an Blumen, obwohl in der Todesanzeige ausdrücklich darum gebeten worden ist, zugunsten von Spenden an das örtliche Krankenhaus darauf zu verzichten.
Weit vor neun Uhr begann sich der Raum, wo der Tote aufgebahrt lag, zu füllen. Die beiden Detectives wussten, dass manche Gäste nur aus morbider Neugier erschienen – Rodriguez erkannte sie auf den ersten Blick. Sie standen unnötig lange am Sarg und suchten im Antlitz des Toten nach Anzeichen von Verletzungen. Jonathan Lyons aber hatte eine friedliche Miene, und die kosmetische Kunst des Bestatters hatte dafür gesorgt, dass von möglichen Wunden nichts mehr zu erkennen war.
In den zurückliegenden drei Tagen hatten die beiden Detectives die Nachbarn befragt und gehofft, dass jemand den Schuss gehört oder den Täter vielleicht aus dem Haus hatte laufen sehen. Die Nachbarn gleich nebenan waren im Urlaub, ansonsten war niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen.
Mariah Lyons hatte ihnen die Personen genannt, die ihrem Vater sehr nahegestanden hatten und denen er sich bei Problemen möglicherweise anvertraut hatte.
»Richard Callahan, Charles Michaelson, Albert West und Greg Pearson. Sie haben Dad in den letzten sechs Jahren bei seinen jährlichen archäologischen Exkursionen begleitet«, hatte sie ihnen erzählt. »Sie alle kommen etwa einmal im Monat zu uns zum Essen. Richard ist Doktor für Biblische Geschichte an der Fordham University. Charles und Albert sind ebenfalls Wissenschaftler, Greg ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, seine Firma macht irgendetwas mit Computersoftware.« Und dann hatte sie ihnen, ohne ihre Abneigung zu verbergen, noch den Namen Lillian Stewart genannt, der Geliebten ihres Vaters.
Mit diesen Personen wollten sich die Detectives treffen, um sie zu befragen. Benet hatte die Pflegerin, Rory Steiger, gebeten, sie ihnen zu zeigen, wenn sie eintrafen.
Zwanzig Minuten vor neun betraten Mariah, ihre Mutter und Rory das Bestattungsinstitut. Kathleen Lyons starrte sie mit leerer, verständnisloser Miene an, obwohl sie in den vergangenen Tagen zweimal bei ihr zu Hause gewesen waren. Mariah nickte ihnen zu und begrüßte die bereits eingetroffenen Gäste, die nahe beim Sarg standen.
Die Polizisten wählten eine Stelle ganz in der Nähe, wo sie die Gäste und deren Gesichter erkennen konnten, wenn sie mit Mariah sprachen.
Rory setzte Kathleen auf einen Platz in der ersten Reihe, kam anschließend zu ihnen und stellte sich hinter sie, wo sie mit ihrem schwarz-weißen Kleid und ihren grauen, zu einem Knoten gebundenen Haaren nicht weiter auffiel. Sie versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, und musste ständig daran denken, dass sie zwei Jahre zuvor die Arbeit nur wegen Joe Peck angenommen hatte, einem fünfundsechzigjährigen Witwer, der im selben Apartmentgebäude an der Upper West Side in Manhattan wohnte wie sie.
Joe Peck war pensionierter Feuerwehrmann und besaß ein Haus in Florida. Sie war mit ihm regelmäßig zum Essen ausgegangen, und Joe hatte ihr anvertraut, wie einsam er sich seit dem Tod seiner Frau fühlte. Rory hatte daraufhin insgeheim die Hoffnung gehegt, dass er ihr vielleicht einen Heiratsantrag machen würde. Aber dann hatte er eines Abends bei einem ihrer Treffen gestanden, dass er eine andere Frau kennengelernt habe, die bei ihm einziehen würde.
Noch in derselben Nacht hatte Rory ihrer besten Freundin Rose voller Wut und Enttäuschung erzählt, dass sie die ihr angebotene Stelle in New Jersey annehmen würde. »Die Arbeit wird gut bezahlt. Ich werde von Montag bis Freitag dort sein und keinen Grund haben, nach der Arbeit nach Hause zu eilen, weil ich vielleicht hoffe, Joe könnte anrufen«, hatte sie verbittert gesagt.
Aber nie im Leben habe ich mir träumen lassen, dass es damit enden würde, dachte sie. Dann erblickte sie zwei Männer Ende sechzig. »Sehen Sie da drüben«, flüsterte sie Benet und Rodriguez zu, »diese beiden sind Experten auf Professor Lyons’ Fachgebiet. Sie kommen so einmal im Monat zu Besuch, und ich weiß, dass Professor Lyons oft mit ihnen telefoniert hat. Der größere ist Professor Charles Michaelson, der andere Professor Albert West.«
Eine Minute später zupfte sie an Benets Ärmel. »Hier kommen Callahan und Pearson«, sagte sie. »Die Geliebte ist auch dabei.«
Mariah riss die Augen auf, als sie die Neuankömmlinge bemerkte. Ist es zu fassen! Lily ist so dreist, hier aufzutauchen, dachte sie und musste sich gleichzeitig unweigerlich eingestehen, dass Lillian Stewart mit ihren kastanienbraunen Haaren und den braunen Augen eine sehr attraktive Frau war. Sie trug ein hellgraues Leinenkostüm mit weißem Kragen. Wie lange wird sie dafür wohl die Geschäfte durchstöbert haben?, fragte sich Mariah. Es war die perfekte Trauerkleidung für eine Geliebte.
Genau solche Sticheleien habe ich auch Dad gegenüber immer geäußert, dachte sie reumütig. Und ich habe ihn gefragt, ob sie auch solche hochhackigen Schuhe tragen würde, wenn sie in den Ruinen herumgraben. Ohne Lily Stewart zu beachten, gab sie Greg Pearson und Richard Callahan die Hand. »Was für ein trauriger Tag heute, nicht wahr?«, sagte sie.
Der Kummer im Blick der beiden hatte etwas Tröstliches. Sie wusste, wie wichtig ihnen die Freundschaft zu ihrem Vater gewesen war. Sie waren beide Mitte dreißig und eifrige Amateurarchäologen, trotzdem hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Richard, schlank, über eins neunzig groß, mit schwarzen Haaren, in die sich allmählich graue Strähnen schlichen, besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor. Sie wusste, dass er ein Jahr lang das Priesterseminar besucht hatte und nach wie vor nicht ausschloss, doch noch Geistlicher zu werden. Er wohnte in der Nähe der Fordham University, wo er auch unterrichtete.
Greg war genau so groß wie sie, wenn sie Absätze trug. Er hatte braune, kurz geschnittene Haare und große, helle graugrüne Augen. Er gab sich stets still und zurückhaltend, und Mariah hatte sich schon oft gefragt, ob er trotz seiner geschäftlichen Erfolge insgeheim nicht ein überaus schüchterner Mensch war. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er Dad so sehr geschätzt hat, dachte sie. Dad war ein faszinierender Erzähler gewesen.
Sie hatte sich einige Male mit Greg getroffen, aber da sie ihm keinerlei romantische Gefühle entgegenbrachte und fürchtete, eben dies könnte bei ihm der Fall sein, hatte sie ihm bald zu verstehen gegeben, dass sie einen anderen hatte. Von da an hatte er sie nicht mehr gefragt, ob sie mit ihm ausgehen wolle.
Die beiden Männer knieten kurz vor dem Sarg. »Die langen Abende mit dem Geschichtenerzähler sind jetzt also vorbei«, sagte Mariah, als sie sich erhoben.
Dann traten Albert West und Charles Michaelson zu ihr. »Mariah, es tut mir so leid. Ich bin immer noch völlig fassungslos. Das alles ist so plötzlich gekommen«, sagte Albert.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Mariah und betrachtete die vier Männer, die mit ihrem Vater befreundet gewesen waren. »Habt ihr schon mit der Polizei gesprochen? Ich habe den Beamten eine Liste mit den engen Freunden geben müssen, und natürlich habe ich euch alle aufgeführt.« Dann wandte sie sich an Lily. »Ich muss wohl nicht erwähnen, dass dein Name ebenfalls darauf steht.«
War in ihren Mienen eine Veränderung bemerkbar?, fragte sich Mariah. Schwer zu sagen, denn in diesem Augenblick erschien der Direktor des Bestattungsinstituts und bat alle Anwesenden, Abschied vom Toten zu nehmen und sich dann zu den Autos zu begeben. Es war an der Zeit, in die Kirche zu fahren.
Sie wartete mit ihrer Mutter, bis alle anderen fort waren. Erleichtert stellte sie fest, dass Lily so viel Anstand besaß und ihren Vater nicht berührte. Ich glaube, ich hätte mich nicht mehr beherrschen können, wenn sie sich über ihn gebeugt und ihm einen Kuss gegeben hätte, dachte sie.
Ihre Mutter schien überhaupt nicht zu registrieren, was um sie herum vor sich ging. Als Mariah sie zum Sarg führte, starrte sie nur auf ihren toten Mann und sagte: »Ich bin froh, dass er sich das Gesicht gewaschen hat. So viel Lärm … so viel Blut.«
Mariah übergab Rory ihre Mutter und nahm daraufhin selbst Abschied. Daddy, du hättest noch viele Jahre leben sollen, dachte sie. Aber jemand wird dafür büßen, dass er dir das angetan hat.
Sie beugte sich vor, legte ihre Wange an die seine und bereute es sofort. Was sie spürte, war die harte, kalte Oberfläche irgendeines Gegenstands, aber es hatte nichts mehr mit ihrem Vater gemein.
Als sie sich wieder aufrichtete, flüsterte sie zum Abschied: »Ich werde mich um Mom kümmern, versprochen.«
3
Lillian Stewart schlich sich in die Kirche, nachdem der Trauergottesdienst schon begonnen hatte, und verließ sie noch vor dem letzten Gebet, sodass sie nach dem frostigen Empfang im Bestattungsinstitut nicht mehr Gefahr laufen konnte, Mariah oder deren Mutter zu begegnen. Dann fuhr sie zum Friedhof, parkte in einiger Entfernung zum Eingang und wartete, bis die Beerdigung vorüber war und die Trauergäste sich verabschiedet hatten. Erst dann fuhr sie weiter zu Jonathans Grabstelle, stieg aus und ging mit einem Dutzend Rosen zum frisch aufgeworfenen Grab.
Die Totengräber, die gerade den Sarg in die Erde lassen wollten, traten respektvoll zurück, als sie sich hinkniete, die Rosen auf den Sarg legte und flüsterte: »Ich liebe dich, Jon.« Blass, aber gefasst ging sie an den Grabreihen vorbei zu ihrem Wagen zurück. Erst als sie hinter dem Steuer saß, überließ sie sich ihren Gefühlen und verbarg das Gesicht in den Händen. Die bislang zurückgehaltenen Tränen strömten ihr nun ungehindert über die Wangen, ihr ganzer Körper bebte unter ihrem Schluchzen.
Kurz darauf wurde die Beifahrertür geöffnet. Erschreckt blickte sie auf und unternahm den vergeblichen Versuch, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Tröstende Arme hielten sie fest, bis ihr Schluchzen abgeebbt war. »Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finde«, sagte Richard Callahan. »Ich habe dich in der Kirche gesehen.«
Lily löste sich von ihm. »O Gott, ich hoffe, Mariah oder ihre Mutter haben mich nicht bemerkt«, sagte sie mit zittriger Stimme.
»Ich glaube nicht. Ich habe dich gesucht, nachdem du das Bestattungsinstitut verlassen hast. Du hast gesehen, wie voll die Kirche war?«
»Richard, es ist sehr nett, wenn du dich um mich kümmerst, aber wirst du nicht beim Essen erwartet?«
»Ja, aber erst wollte ich sehen, wie es dir geht. Ich weiß, wie viel Jonathan dir bedeutet hat.«
Lillian hatte Richard Callahan fünf Jahre zuvor bei ihrer ersten archäologischen Grabung kennengelernt. Er war Doktor für Biblische Geschichte an der Fordham University und hatte davor ein Jesuitenseminar besucht, das er jedoch vor der Priesterweihe verlassen hatte. Mit seiner unbeschwerten Art war er ihr überraschenderweise ein guter Freund geworden. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er ihre Beziehung zu Jonathan nicht unbedingt gutheißen würde, aber falls dem so war, hatte er sich ihr gegenüber nie darüber ausgelassen. Es war auf dieser ersten Grabung gewesen, dass sie und Jonathan sich heftig ineinander verliebt hatten.
Lillian lächelte schwach. »Richard, ich bin dir sehr dankbar, aber du solltest jetzt wirklich zu den anderen zurück. Jonathan hat mir oft gesagt, dass Mariahs Mutter dich sehr mag. Es wird ihr guttun, wenn du dabei bist.«
»Gleich«, erwiderte Richard, »nur eines noch, Lily. Hat dir Jonathan erzählt, dass sich unter den Schriftrollen, die er in der alten Kirche gefunden hat und die er übersetzen sollte, eine von unschätzbarem Wert befindet?«
Lillian Stewart sah Richard Callahan unverwandt an. »Eine alte, wertvolle Schriftrolle? Ganz bestimmt nicht«, log sie. »Davon hat er mir nie etwas erzählt.«
4
Der restliche Tag folgte dem üblichen Ablauf von Beerdigungen. Mariah, mittlerweile etwas gefasster, lauschte aufmerksam dem langjährigen Freund der Familie, Pater Aiden O’Brien, einem Mönch aus der Kirche des heiligen Franziskus in Manhattan, der die Totenmesse leitete und auf dem nahe gelegenen Friedhof Maryrest auch die Gebete sprach. Danach fuhren sie in den Ridgewood Country Club, wo für die Trauergäste ein Essen gegeben wurde.
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