Weil deine Augen ihn nicht sehen - Mary Higgins Clark - E-Book

Weil deine Augen ihn nicht sehen E-Book

Mary Higgins Clark

4,4
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kein Laut drang aus dem Kinderzimmer …

Für Margaret Frawley wird der schlimmste Albtraum wahr: Skrupellose Erpresser entführen ihre dreijährigen Zwillingstöchter. Nach einer dramatischen Geldübergabe kommt eine Tochter frei, die andere aber sei gestorben, heißt es. Doch Margaret will nicht an den Tod ihres Kindes glauben.

Margaret Frawley ist mit ihrem Mann Steve auf einem Empfang, als das Schreckliche passiert: Zwei Männer dringen in ihr Haus ein, schlagen die Babysitterin nieder und rauben die Zwillingstöchter des Paares. Auf dem Kinderbettchen hinterlassen sie eine Lösegeldforderung über eine immens hohe Summe. Die Polizei tappt komplett im Dunkeln, aber es gibt einen Lichtblick: Die Eltern schaffen es tatsächlich, acht Millionen Dollar zusammenzubekommen. Vor Angst nahe am Nervenzusammenbruch wartet Margaret auf die Übergabe, doch nur ein Zwilling, Kelly, kehrt zurück. Die andere Tochter sei erkrankt und gestorben, lassen die Entführer wissen. Margaret ist hin und her gerissen zwischen Freude über Kellys Rückkehr und Verzweiflung über Kathys Tod. Doch mitten im Gedenkgottesdienst fängt Kelly zum ersten Mal seit ihrer Heimkehr wieder zu sprechen an: »Kathy hat so Angst vor der Frau! Mami, du musst sie auch heimholen.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 454

Bewertungen
4,4 (34 Bewertungen)
22
4
8
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Copyright

Für Michael V. KordaLektor und Freund

1

»WARTE MAL, ROB, ich glaube, eine von den Zwillingen hat angefangen zu weinen. Ich ruf dich später zurück.«

Die neunzehnjährige Trish Logan legte ihr Handy weg, sprang vom Sofa auf und hastete aus dem Wohnzimmer. Es war das erste Mal, dass sie als Babysitterin für die Frawleys arbeitete, jene netten Leute, die vor ein paar Monaten in die Stadt gezogen waren. Trish hatte sie auf Anhieb sympathisch gefunden. Mrs. Frawley hatte ihr erzählt, sie sei als kleines Mädchen oft mit ihren Eltern in Connecticut gewesen, um Freunde zu besuchen, und es habe ihr so gut gefallen, dass sie sich schon damals gewünscht habe, einmal selbst dort zu wohnen. »Letztes Jahr, als wir auf der Suche nach einem Haus waren, sind wir zufällig durch Ridgefield gekommen, und da dachte ich sofort, dass dies der Ort ist, in dem ich wohnen will«, hatte sie Trish erzählt.

Die Frawleys hatten das alte Farmhaus der Cunninghams gekauft, ein richtiges Schnäppchen, von dem Trishs Vater jedoch behauptete, es sei eine ziemliche Bruchbude. Am heutigen Donnerstag, dem 24. März, feierten die eineiigen Zwillinge der Frawleys ihren dritten Geburtstag, und Trish war angeheuert worden, um bei der Feier zu helfen und am Abend die beiden Mädchen zu hüten, weil die Eltern zu einem offiziellen Dinner nach New York fahren mussten.

Nach dem ganzen Trubel auf ihrer Geburtstagsparty hatte ich eigentlich gemeint, die beiden seien total erledigt, dachte Trish, als sie die Treppe erreichte, die zum Schlafzimmer der Zwillinge führte. Die Frawleys hatten den abgetretenen Teppichboden herausgerissen, der im ganzen Haus verlegt gewesen war, und die Stufen aus dem neunzehnten Jahrhundert knarzten unter ihren Füßen.

Kurz vor der obersten Stufe hielt sie inne. Sie hatte das Licht im Flur angelassen, doch oben war alles dunkel. Wahrscheinlich war wieder eine Sicherung durchgebrannt. Die elektrische Anlage in dem alten Haus war eine einzige Katastrophe. Erst am Nachmittag war dasselbe in der Küche passiert.

Das Zimmer der Zwillinge befand sich am Ende des Flures. Es war jetzt nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hatte eines der Mädchen im Schlaf geweint und dann wieder aufgehört, überlegte Trish, während sie sich durch die Dunkelheit tastete. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Es ist nicht nur das Licht im Flur. Ich hatte die Tür zu ihrem Zimmer offen gelassen, damit ich mitbekomme, wenn eine der beiden aufwacht. Man müsste den Schein des Nachtlichts in ihrem Zimmer sehen. Die Tür ist zu. Aber gerade eben muss sie noch offen gewesen sein, sonst hätte ich unmöglich hören können, dass eine der beiden geweint hat.

Mit einem Mal hatte sie Angst und horchte angestrengt in die Stille. Was war das für ein Geräusch? Plötzlich, mit namenlosem Schrecken, erkannte sie, was es war: leise Schritte. Dazu, kaum vernehmlich, leise Atemzüge. Der säuerliche Geruch von Schweiß. Jemand befand sich hinter ihr.

Trish wollte schreien, doch nur ein schwaches Stöhnen kam über ihre Lippen. Sie wollte wegrennen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie spürte, wie eine Hand in ihre Haare griff und ihren Kopf nach hinten riss. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass ihr die Kehle zugedrückt wurde.

Der Angreifer löste seinen Griff und ließ Trish zu Boden sinken. Zufrieden stellte er fest, wie schnell und schmerzlos sie bewusstlos geworden war, knipste seine Taschenlampe an, fesselte und knebelte sie und verband ihr die Augen. Dann ließ er sie liegen, richtete den Strahl zu Boden, lief eilig den Flur entlang und öffnete die Tür zum Schlafzimmer der Zwillinge.

Kathy und Kelly lagen mit weit aufgerissenen Augen in dem großen Kinderbett, in dem sie gemeinsam schliefen. Kathys rechte Hand hielt Kellys linke umklammert, mit der jeweils anderen Hand versuchten sie die Tücher wegzuziehen, mit denen man ihnen den Mund verbunden hatte.

Der Mann, der die Einzelheiten der Entführung geplant hatte, stand neben dem Bett. »Bist du sicher, dass sie dich nicht gesehen hat, Harry?«, fragte er scharf.

»Hundertprozentig. Und damit meine ich hundertprozentig, Bert«, antwortete der andere. Beide achteten sie darauf, jene Namen zu benutzen, die sie sich für diesen Job ausgedacht hatten: »Bert« und »Harry«, nach den Comicfiguren einer Bierwerbung aus den Sechzigerjahren.

Bert hob Kathy aus dem Bett und befahl Harry: »Nimm du die andere. Wickel sie in eine Decke. Es ist kalt draußen.«

Nervös hasteten die beiden Männer die hintere Treppe hinunter, durchquerten die Küche und huschten zum Hintereingang hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Beim Transporter angekommen, hockte sich Harry auf den Boden vor der Hinterbank, beide Zwillinge fest in seine fleischigen Arme geschlossen. Bert setzte sich ans Steuer und startete. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern tauchte der Wagen aus dem dunklen Schatten der Eingangsveranda hervor.

Zwanzig Minuten später kamen sie beim Häuschen an, wo Angie Ames auf sie wartete. »Die sind ja richtig süß«, rief sie aus, als die Männer die Kinder hereintrugen und sie in das weiße Gitterbett legten, das für sie vorbereitet worden war. Mit flinken Bewegungen löste Angie die Knebel, mit denen sie die kleinen Mädchen bis dahin ruhig gestellt hatten.

Die Zwillinge klammerten sich aneinander und heulten los. »Mommy … Mommy«, schrien sie unisono.

»Pssst, psssst, ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte Angie beschwichtigend, während sie das Seitenteil des Bettes hinaufklappte. Es war zu hoch, als dass sie darüber hätte reichen können, daher steckte sie die Arme durch die Gitterstäbe und tätschelte die dunkelblonden Lockenköpfchen. »Es ist alles in Ordnung«, säuselte sie, »ihr könnt jetzt weiterschlafen. Kathy, Kelly, kommt, schlaft jetzt. Mona wird auf euch aufpassen. Mona hat euch lieb.«

»Mona« war der Name, den sie benutzen sollte, wenn die Zwillinge in der Nähe waren. »Ich kann diesen Namen nicht ausstehen«, hatte sie sich beschwert, als sie ihr das mitgeteilt hatten. »Warum muss es unbedingt Mona sein?«

»Weil es so ähnlich klingt wie ›Momma‹. Außerdem – wenn wir das Geld haben und die Zwillinge wieder zu Hause sind, wäre es nicht so gut, wenn sie allen erzählen, dass eine Frau namens Angie auf sie aufgepasst hat«, hatte sie der Mann, der sich Bert nannte, angeherrscht.

»Sorg dafür, dass sie still sind«, befahl er jetzt. »Sie machen zu viel Lärm.«

»Entspann dich, Bert. Hier kann sie keiner hören«, beruhigte ihn Harry.

Er hat Recht, dachte Lucas Wohl, wie »Bert« mit richtigem Namen hieß. Einer der Gründe, weshalb er, nach reiflicher Überlegung, Clint Downes – wie »Harry« richtig hieß – mit ins Boot geholt hatte, war, dass Clint neun Monate im Jahr als Hausmeister in dem Häuschen auf dem Gelände des Danbury Country Club wohnte. Von Labor Day bis 31. Mai machte der Club Winterpause, die Zugänge waren abgesperrt. Von der Diensteinfahrt aus, durch die Clint auf das Gelände gelangte, war das Häuschen nicht einmal zu sehen, und er musste einen Code eingeben, um das Tor zu öffnen.

Es war der ideale Ort, um die Zwillinge versteckt zu halten, und dazu kam noch die Tatsache, dass Clints Freundin Angie öfter als Babysitterin arbeitete.

»Die werden schon aufhören zu weinen«, sagte Angie. »Ich kenne mich mit kleinen Kindern aus. Irgendwann werden sie schon wieder einschlafen.« Sie strich ihnen über den Rücken und sang ziemlich falsch dazu: »Zwei kleine Mädchen, in ihren blauen Kleidchen …«

Lucas stieß einen leisen Fluch aus, zwängte sich durch den schmalen Gang, der zwischen Doppelbett und Kinderbett blieb, und verließ das Schlafzimmer, durchquerte das Wohnzimmer und betrat die Küche des Landhäuschens. Erst jetzt zogen er und Clint ihre Kapuzenjacken aus und streiften die Handschuhe ab. Eine volle Flasche Scotch und zwei Gläser standen schon auf dem Tisch bereit, um auf den erfolgreichen Abschluss der Unternehmung anzustoßen.

Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber und musterten sich schweigend. Lucas starrte seinen Kumpan voller Verachtung an. Wieder einmal dachte er, dass wohl kaum ein größerer Unterschied zwischen zwei Menschen denkbar war, und zwar sowohl, was ihr Äußeres betraf, als auch ihr Wesen. In Bezug auf sein eigenes Aussehen gab er sich keinen großen Illusionen hin. Wenn er als Augenzeuge hätte auftreten müssen, hätte er sich selbst folgendermaßen beschrieben: etwa fünfzig Jahre alt, schmächtig gebaut, durchschnittliche Größe, stark gelichtetes Haar, schmales Gesicht, eng zusammenstehende Augen. Er arbeitete als selbstständiger Mietchauffeur, und als solcher hatte er sich die äußere Erscheinung eines servilen Angestellten angeeignet, stets darauf bedacht, dem Kunden alles recht zu machen, eine Haltung, die er automatisch annahm, wenn er seine schwarze Chauffeuruniform anlegte.

Er hatte Clint kennen gelernt, als sie zusammen im Gefängnis saßen, und im Lauf der letzten Jahre hatte er mit ihm eine Reihe von Einbrüchen verübt. Sie waren nie erwischt worden, weil Lucas stets vorsichtig geblieben war. So hatten sie keines ihrer Verbrechen in Connecticut begangen, weil Lucas nichts davon hielt, das eigene Nest zu beschmutzen. Die Geschichte, an der sie jetzt dran waren, erwies sich zwar als äußerst riskant, war allerdings ein zu großes Ding, als dass man sie sich hätte entgehen lassen können, und so hatte er gegen seine eiserne Regel verstoßen.

Er sah zu, wie Clint die Flasche öffnete und die Gläser bis zum Rand füllte. »Auf nächste Woche, wenn wir in St. Kitts in einem Boot herumschippern werden, die Taschen voller Kohle«, sagte Clint, während er Lucas mit einem hoffnungsvollen Lächeln in die Augen sah.

Wieder warf Lucas einen abschätzigen Blick auf seinen Kumpan. Clint war Anfang vierzig und hoffnungslos aus dem Leim gegangen. Fünfzig Pfund zu viel auf den Rippen – dabei war er schon von Natur aus ziemlich kurz geraten – ließen ihn schnell ins Schwitzen kommen, selbst in einer Märznacht wie dieser, in der es empfindlich kühl geworden war. Der tonnenförmige Brustkorb und die dicken Arme standen in einem merkwürdigen Missverhältnis zu seinem jungenhaften Gesicht und dem langen Pferdeschwanz, den er sich hatte wachsen lassen, weil seine langjährige Freundin Angie auch einen hatte.

Angie. Dünn und ausgemergelt wie eine Dörrzwetschge, dachte Lucas verächtlich. Ein Gesicht wie eine Leiche. Genau wie Clint wirkte sie immer schlampig angezogen, in ihrem ausgeleierten T-Shirt und ihren ausgefransten Jeans. In Lucas’ Augen war das einzig Gute an ihr, dass sie viel Erfahrung als Babysitterin besaß. Nichts durfte den beiden Kindern zustoßen, bevor sich das Lösegeld in ihren Händen befand und sie die beiden irgendwo wieder loswerden konnten. Immerhin fiel Lucas doch noch etwas ein, was für Angie sprach. Sie war gierig. Sie war scharf auf das Geld. Sie wollte unbedingt auf einem Boot in der Karibik leben.

Lucas setzte das Glas an die Lippen. Der Chivas Regal fühlte sich weich an auf der Zunge, und seine Wärme war wohltuend, als er die Kehle hinunterrann. »So weit, so gut«, sagte er teilnahmslos. »Ich hau jetzt ab. Hast du das Handy griffbereit, das ich dir gegeben habe?«

»Ja.«

»Wenn der Boss sich meldet, sag ihm, ich muss morgen um fünf Uhr in der Früh jemanden abholen. Ich werde mein Handy abschalten. Ich brauche ein bisschen Schlaf.«

»Wann kriegt man den eigentlich mal zu sehen?«

»Gar nicht.« Lucas kippte den Rest Scotch hinunter und rückte den Stuhl vom Tisch. Aus dem Schlafzimmer war Angie zu hören, die immer noch an die Zwillinge hinsang.

»Sie waren Schwestern, und wir waren Brüder, und beide liebten wir sie …«

2

DAS GERÄUSCH QUIETSCHENDER Bremsen vor dem Haus war für Captain Robert »Marty« Martinson von der Polizei Ridgefield das Zeichen, dass die Eltern der entführten Zwillinge zurückgekehrt waren.

Nur wenige Minuten nach Eingang des 911-Notrufs hatten sie sich telefonisch bei der Polizeiwache gemeldet. »Ich bin Margaret Frawley«, hatte die Frau mit vor Angst bebender Stimme gesagt. »Wir wohnen in der Old Woods Road Nr. 10. Wir können unsere Babysitterin nicht erreichen, weder auf unserem Hausanschluss noch auf ihrem Handy. Sie sollte eigentlich da sein und unsere drei Jahre alten Zwillinge hüten. Vielleicht ist etwas passiert. Wir befinden uns auf dem Rückweg von New York.«

»Wir werden sofort rüberfahren und nach dem Rechten sehen«, hatte ihr Marty versprochen. Weil die Eltern auf dem Highway unterwegs waren und sich offensichtlich bereits große Sorgen machten, hatte er keinen Sinn darin gesehen, ihnen zu sagen, dass tatsächlich etwas Schlimmes passiert war. Kurz vorher hatte der Vater der Babysitterin aus dem Haus Nr. 10 in der Old Woods Road angerufen: »Ich habe meine Tochter gefesselt und geknebelt aufgefunden. Die Zwillinge, die sie gehütet hat, sind spurlos verschwunden. Im Schlafzimmer liegt ein Zettel mit einer Lösegeldforderung.«

Eine Stunde war seitdem vergangen, und inzwischen waren das gesamte Grundstück und die Auffahrt bereits mit Bändern abgesperrt worden, und die Spezialisten der Spurensicherung mussten jeden Augenblick eintreffen. Marty hätte gerne verhindert, dass die Medien frühzeitig von der Entführung Wind bekamen, doch das war ein aussichtsloses Unterfangen. Er hatte bereits erfahren, dass die Eltern von Trish Logan in der Notaufnahme, in die man sie zur Untersuchung gebracht hatte, so gut wie jedem vom Verschwinden der Zwillinge erzählt hatten. Jeden Moment konnten die ersten Reporter auftauchen. Das FBI war auch verständigt worden, die Agenten waren bereits unterwegs.

Als sich die Küchentür öffnete und die Eltern der entführten Zwillinge hereinstürzten, war Martys Aufmerksamkeit aufs Äußerste gespannt. Seit seinem ersten Tag als frischgebackener einundzwanzigjähriger Polizist hatte er sich darin geübt, seinen ersten Eindruck von den Personen festzuhalten, die mit einem Verbrechen in Beziehung standen, seien sie nun Opfer, Täter oder Augenzeugen. Später hielt er diese ersten Eindrücke auch schriftlich fest. In Kollegenkreisen hatte er deswegen den Spitznamen »der Beobachter« abbekommen.

Beide Anfang dreißig, dachte er, als Margaret und Steve Frawley mit raschen Schritten auf ihn zugingen. Ein gut aussehendes Paar, beide in Abendkleidung. Die Mutter trug ihr braunes, schulterlanges Haar offen. Sie war sehr schlank, doch ihre nervös zusammengeballten Hände wirkten stark. Die Fingernägel waren kurz geschnitten und farblos lackiert. Wahrscheinlich eine gute Sportlerin, dachte sich Marty. Ihre dunkelblauen Augen erschienen fast schwarz, als er ihrem durchdringenden Blick begegnete.

Steve Frawley, der Vater, war groß, ungefähr eins neunzig, mit dunkelblondem Haar und hellblauen Augen. Er war breitschultrig und hatte starke Arme, seine zu knapp geschnittene Smokingjacke spannte an den Nähten. Müsste sich gelegentlich mal eine neue zulegen, dachte Mary.

»Ist unseren Töchtern etwas zugestoßen?«, fragte Frawley atemlos.

Marty sah zu, wie Frawley seine Hände auf die Arme seiner Frau legte, als ob er sie gegen eine möglicherweise schreckliche Nachricht wappnen wolle.

Es gab keine schonende Art, den Eltern mitzuteilen, dass Unbekannte ihre Kinder entführt und auf dem Bett eine Lösegeldforderung über acht Millionen Dollar hinterlegt hatten. Der Ausdruck fassungsloser Ungläubigkeit, der sich in den Mienen des jungen Paares abzeichnete, schien echt zu sein, überlegte Marty, ein Eindruck, den er später in seinem Notizbuch festhalten würde, wenn auch mit einem Fragezeichen versehen.

»Acht Millionen Dollar! Acht Millionen Dollar! Warum nicht gleich achtzig Millionen?«, rief Steve Frawley mit kreidebleichem Gesicht. »Wir haben alles, was wir besaßen, zusammengekratzt, um dieses Haus zu kaufen. Im Moment haben wir vielleicht fünfzehnhundert Dollar auf dem Konto, mehr nicht.«

»Besitzt einer von Ihnen vielleicht vermögende Verwandte?« , fragte Marty.

Die Frawleys brachen in Lachen aus, ein kreischendes, fast hysterisches Lachen. Marty sah zu, wie Steve seine Frau an sich zog und umarmte. Das Lachen erstarb, sie klammerten sich aneinander. Sein Körper bebte unter lautlosen Schluchzern, während sie aufheulte: »Das ist nicht wahr. Das kann einfach nicht wahr sein.«

3

UM ELF UHR KLINGELTE das besondere Handy. Clint nahm es aus der Tasche. »Hallo, Sir«, meldete er sich.

»Kater Karlo hier.«

Dieser Typ, wer auch immer er ist, versucht, seine Stimme zu verstellen, dachte Clint, während er durch das kleine Wohnzimmer lief, um sich so weit wie möglich von Angie zu entfernen, die noch immer die Zwillinge in den Schlaf sang. So ein Schwachsinn, die Kleinen schlafen sowieso längst, ärgerte er sich. Kann sie denn nicht endlich Ruhe geben?

»Was ist das für ein Geräusch im Hintergrund?«, fragte Kater Karlo scharf.

»Meine Freundin singt den Kindern, die sie hütet, noch ein Lied vor.« Clint war klar, dass Kater Karlo genau diese Information gewünscht hatte. Lucas und er waren also erfolgreich gewesen.

»Ich habe Bert nicht erreicht.«

»Ich soll Ihnen von ihm ausrichten, dass er um fünf Uhr in der Früh jemanden zum Kennedy Airport bringen muss. Er ist nach Hause gefahren, um ein bisschen zu schlafen, deshalb hat er sein Handy ausgeschaltet. Ich hoffe, es …«

»Harry, schalten Sie den Fernseher ein«, unterbrach Kater Karlo. »Es gibt gerade eine Sondersendung über die Entführung. Ich melde mich morgen früh wieder.«

Clint griff nach der Fernbedienung und drückte auf den Knopf. Auf dem Bildschirm erschien das Haus an der Old Woods Road. Obwohl der Nachthimmel bedeckt war, konnte man im Licht der Eingangsveranda die abblätternde Farbe und die schief hängenden Fensterläden erkennen. Die gesamte Vorderfront war mit gelbem Plastikband abgeriegelt, um Presse und Schaulustige vom Tatort fern zu halten.

»Die neuen Eigentümer, Stephen und Margaret Frawley, sind erst vor ein paar Monaten hierher gezogen«, sagte der Reporter. »Nachbarn haben uns erzählt, sie hätten geglaubt, das Haus sollte abgerissen werden, doch dann hätten sie erfahren, dass die Frawleys beabsichtigten, das alte Haus nach und nach instand zu setzen. Am heutigen Nachmittag waren einige der Nachbarskinder auf der Geburtstagsfeier der entführten Zwillinge zu Gast. Dies ist ein Bild, das erst vor wenigen Stunden auf der Party aufgenommen wurde.«

Plötzlich tauchten auf dem Bildschirm die Gesichter der eineiigen Zwillinge auf, die mit großen Augen auf ihre Geburtstagstorte blickten. Auf jeder Hälfte steckten drei Kerzen, in der Mitte befand sich eine größere Kerze. »Die Nachbarin erzählte uns, dass die Kerze in der Mitte für das neue Lebensjahr stehe. Die Zwillinge seien sich so ähnlich, dass die Mutter im Scherz sagte, zwei Kerzen in der Mitte wären reine Verschwendung gewesen.«

Clint wechselte das Programm. Hier wurde ein anderes Foto der Zwillinge in ihren blauen Samtkleidchen gezeigt. Sie hielten sich an der Hand.

»Ach Clint, schau doch, wie süß sie sind! Die sind einfach hinreißend.« Er zuckte zusammen, als Angies Stimme direkt hinter seinem Kopf ertönte. »Sogar im Schlaf halten sie sich noch an der Hand. Ist das nicht goldig?«

Er hatte sie nicht kommen hören. Jetzt schlang sie die Arme um seinen Hals. »Ich wollte immer ein Kind haben, aber mir wurde gesagt, ich könnte keins kriegen«, sagte sie und schmiegte sich an seine Wange.

»Ich weiß, Angie, Schatz«, sagte er geduldig. Die Geschichte war ihm nicht ganz neu.

»Damals waren wir lange Zeit getrennt.«

»Ja, du musstest damals in diese Spezialklinik, Schatz. Du hattest jemanden ziemlich schwer verletzt.«

»Aber jetzt werden wir bald eine Menge Geld haben, und dann werden wir auf einem Boot in der Karibik leben.«

»Das war immer das, wovon wir geträumt haben. Bald werden wir uns das leisten können.«

»Ich habe eine Idee. Wir nehmen die beiden kleinen Mädchen einfach mit.«

Clint schaltete den Fernseher ab und sprang auf. Er wirbelte herum und packte sie bei den Handgelenken. »Angie, sag, warum sind diese Kinder hier?«

Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schluckte nervös. »Wir haben sie entführt.«

»Und warum?«

»Damit wir eine Menge Geld kriegen und auf einem Boot leben können.«

»Statt wie die Zigeuner leben zu müssen und jeden Sommer rausgeschmissen zu werden, wenn dieser verdammte Golf-Profi hier wohnen will. Was würde mit uns passieren, wenn die Bullen uns erwischen?«

»Dann würden wir für lange, lange Zeit ins Gefängnis wandern.«

»Und was hast du versprochen?«

»Mich um die Kinder zu kümmern, mit ihnen zu spielen, sie zu füttern und anzuziehen.«

»Und ist das nicht genau das, was du auch tun wirst?«

»Ja. Ja. Entschuldige, Clint. Ich liebe dich. Du kannst mich auch Mona nennen. Ich mag diesen Namen nicht, aber es geht in Ordnung, wenn du meinst, dass ich mich so nennen soll.«

»Wir dürfen auf keinen Fall unsere richtigen Namen verwenden, wenn die Zwillinge dabei sind. In ein paar Tagen werden wir sie wieder abliefern und unser Geld bekommen.«

»Clint, vielleicht könnten wir …« Angie brach ab. Er würde doch nur sauer werden, wenn sie jetzt vorschlüge, wenigstens eines der Mädchen zu behalten. Doch insgeheim schwor sie sich, genau das zu tun. Und sie wusste auch schon genau, wie sie es anstellen wollte. Lucas hält sich für besonders schlau, dachte sie. Aber so schlau wie ich ist er noch lange nicht.

4

MARGARET FRAWLEY SCHLOSS die Hände um die dampfende Tasse Tee. Sie fror. Steve hatte eine Decke von der Couch im Wohnzimmer gebracht und sie ihr um die Schultern gelegt, aber gegen das Zittern, das ihr durch den ganzen Körper lief, hatte sie nicht geholfen.

Die Zwillinge waren weg. Kathy und Kelly waren weg. Jemand hatte sie entführt und einen Zettel mit einer Lösegeldforderung hinterlassen. Es ergab keinen Sinn. Unablässig hämmerten die Worte in ihrem Kopf: Die Zwillinge sind weg. Kathy und Kelly sind weg.

Die Polizei hatte ihnen nicht gestattet, das Schlafzimmer der Mädchen zu betreten. »Unsere Aufgabe ist es, sie heil zurückzubringen«, hatte ihnen Captain Martinson erklärt. »Es ist äußerst wichtig, dass der Tatort nicht durcheinander gebracht wird und uns keine Fingerabdrücke oder DNS-Spuren entgehen.«

Auch der gesamte Flur im oberen Stockwerk, in dem die Babysitterin überfallen worden war, gehörte zum gesperrten Bereich. Trish ging es soweit ganz gut. Sie war noch im Krankenhaus und hatte der Polizei alles erzählt, woran sie sich erinnern konnte. Sie sagte, sie habe gerade auf ihrem Handy mit ihrem Freund telefoniert, als sie meinte, eines der beiden Mädchen weinen zu hören. Sie sei dann nach oben gegangen und habe sofort gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, weil sie den Schein des Nachtlichts aus dem Zimmer der Zwillinge nicht sehen konnte, und im gleichen Moment habe sie bemerkt, dass sich jemand hinter ihrem Rücken befand. Danach könne sie sich an gar nichts mehr erinnern.

Hatte es noch jemanden gegeben, fragte sich Margaret, jemanden, der sich im Zimmer der Mädchen aufhielt? Kelly wacht leichter auf, aber Kathy könnte auch unruhig geschlafen haben. Ich glaube, sie ist gerade dabei, sich zu erkälten.

Und wenn nun eines der Mädchen angefangen hat zu weinen  – hat jemand sie vielleicht zum Schweigen gebracht?

Margaret ließ die Tasse fallen und zuckte zusammen, als heißer Tee auf Bluse und Rock spritzte, die sie für den heutigen Anlass, ein offizielles Dinner der Firma im Waldorf, in einem Discount-Laden gekauft hatte.

Obwohl die Kleider höchstens ein Drittel der Summe gekostet hatten, die sie dafür an der Fifth Avenue hingelegt hätte, war es angesichts ihres knappen Budgets immer noch zu viel.

Steve hat mich gedrängt, es zu kaufen, dachte sie matt. Es war einer der wichtigen offiziellen Anlässe innerhalb der Firma. Außerdem hatte ich selbst Lust, mich heute Abend schick anzuziehen. Es ist bestimmt schon über ein Jahr her, dass wir zuletzt auf so einem offiziellen Dinner waren.

Steve war zu ihr geeilt und tupfte ihre Kleider mit einem Handtuch ab. »Marg, bist du in Ordnung? Hast du dich verbrannt?«

Ich muss nach oben, dachte Margaret. Vielleicht haben sich die Zwillinge ja im Schrank versteckt. Das haben sie schon einmal gemacht. Ich habe so getan, als ob ich sie suchte. Dann hab ich gehört, wie sie gekichert haben, als ich nach ihnen gerufen habe.

»Kathy … Kelly … Kathy … Kelly … wo seid ihr? …«

In diesem Augenblick kam Steve nach Hause. Und ich habe hinuntergerufen: »Steve … Steve … die Zwillinge sind weg.«

Wieder war zu hören, wie im Schrank gekichert wurde.

Steve hat sofort gemerkt, dass ich nur Spaß machte. Er stieg die Treppe hinauf und kam in ihr Zimmer. Ich zeigte stumm auf den Schrank. Er ging darauf zu und rief laut: »Vielleicht sind Kathy und Kelly weggelaufen. Vielleicht haben sie uns nicht mehr lieb. Na ja, hat wohl keinen Sinn, weiter zu suchen. Komm, wir gehen irgendwo was essen.«

Bruchteile von Sekunden später war die Schranktür aufgeflogen. »Wir haben euch lieb, wir haben euch lieb«, hatten sie unisono losgeheult.

Margaret erinnerte sich, wie ängstlich sie geschaut hatten. Was für eine Angst müssen sie erst gehabt haben, als sie jemand gepackt und einfach mitgenommen hat, dachte sie. Und dieser Jemand hält sie jetzt irgendwo versteckt.

Das kann einfach nicht sein. as muss ein Albtraum sein, gleich werde ich aufwachen. Das ist einfach nicht wahr. Warum tut mir der Arm weh? Warum drückt Steve etwas Kaltes darauf?

Margaret schloss die Augen. Undeutlich bekam sie mit, dass Captain Martinson mit jemandem sprach.

»Mrs. Frawley.«

Sie sah auf. Ein unbekannter Mann war ins Wohnzimmer getreten.

»Mrs. Frawley, mein Name ist Walter Carlson, ich bin vom FBI. Ich habe selbst drei Kinder, und ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen müssen. Wir werden alles daransetzen, dass Sie Ihre Kinder zurückbekommen, aber dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Sind Sie in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«

Walter Carlsons Blick war mitfühlend. Er schien nicht viel älter als Mitte vierzig zu sein, es war anzunehmen, dass seine Kinder noch im Teenager-Alter waren. »Warum sollte jemand unsere kleinen Töchter entführen?«, fragte ihn Margaret.

»Das werden wir herausfinden, Mrs. Frawley.«

Carlson machte einen Ausfallschritt und fing Margaret noch rechtzeitig auf, als sie aus dem Sessel glitt.

5

FRANKLIN BAILEY, Leiter der Finanzabteilung einer Lebensmittelhandelskette, war die Person, die Lucas um fünf Uhr morgens abholen sollte. Er reiste häufig über Nacht die Ostküste rauf und wieder runter und war ein regelmäßiger Kunde. An manchen Tagen, so auch heute, fuhr ihn Lucas nach Manhattan zu einer Sitzung; er wartete dann auf ihn und fuhr ihn anschließend wieder zurück.

Zu keinem Zeitpunkt war Lucas der Gedanke gekommen, seinen Termin an diesem Morgen abzusagen. Er wusste, dass die Bullen ihre Untersuchungen damit beginnen würden, alle Handwerker, die in der Nähe von Frawleys Haus beschäftigt waren, zu überprüfen. Gut möglich, dass sie ihn auf ihrer Liste haben würden, weil Bailey in der High Ridge Road wohnte, nur zwei Häuserblocks von der Old Woods entfernt.

Aber die Bullen werden keinen Grund haben, mich genauer unter die Lupe zu nehmen, sagte er sich. Seit zwanzig Jahren fahr ich die Leute aus dieser Gegend herum, und ich bin nie irgendwie aufgefallen. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass seine Nachbarn im nahen Danbury, wo er wohnte, ihn als einen ruhigen Einzelgänger ansahen, dessen Hobby darin bestand, vom Flughafen Danbury aus gelegentlich eine Runde in einem Sportflugzeug zu drehen. Ansonsten hatte es ihn immer amüsiert, den Leuten von seiner Liebe zum Wandern vorzuschwärmen. Das war regelmäßig seine Erklärung, wenn er einen Auftrag absagte und einen Ersatzfahrer schickte. In der Gegend, in der er angeblich zum Wandern unterwegs war, befand sich natürlich meistens ein Haus, das er sich für einen Einbruch ausgesucht hatte.

Als er an diesem Morgen zu Bailey unterwegs war, widerstand er der Versuchung, am Haus der Frawleys vorbeizufahren. Das wäre ziemlich verrückt gewesen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was dort inzwischen los sein musste. Er fragte sich, ob das FBI schon eingeschaltet worden war. Was hatten sie wohl bisher herausgefunden? Er musste unwillkürlich grinsen. Dass man das Schloss an der Hintertür mit einer Scheckkarte aufbekam? Dass man sich leicht hinter dem wild wuchernden Gebüsch verbergen und von dort beobachten konnte, dass die Babysitterin sich auf der Couch fläzte und stundenlang in ihr Handy quatschte? Dass man nur einen Blick durch das Küchenfenster werfen musste, um festzustellen, dass man über die Hintertreppe in den oberen Stock gelangen konnte, ohne dass die Babysitterin etwas davon mitbekam? Dass mindestens zwei Personen beteiligt gewesen sein mussten, eine, um die Babysitterin auszuschalten, eine andere, um die Kinder ruhig zu halten?

Fünf Minuten vor fünf bog er in die Auffahrt von Franklin Bailey ein, ließ den Motor laufen, damit es im Wagen auch schön warm für den Herrn Oberbuchhalter blieb, und nahm einstweilen damit vorlieb, sich den großen Haufen Geld vorzustellen, den er als seinen Anteil an der Lösegeldsumme erhalten würde.

Die Haustür der schmucken Villa im Tudor-Stil ging auf. Lucas sprang aus dem Wagen und beeilte sich, die rechte Hintertür für seinen Kunden zu öffnen. Eine seiner kleinen Aufmerksamkeiten bestand darin, dass der rechte Vordersitz immer so weit wie möglich nach vorne geschoben war, damit auf der Rückbank möglichst viel Platz für die Beine blieb.

Bailey hatte silbergraues Haar und ging auf die Siebzig zu. Mit abwesendem Blick murmelte er einen kurzen Gruß. Doch als sich der Wagen in Bewegung setzte, sagte er: »Lucas, fahren Sie bitte durch die Old Woods Road. Ich möchte mich vergewissern, ob die Polizei noch da ist.«

Lucas spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Welchen Grund hatte Bailey, dort vorbeizuschauen? Sensationsgier wohl kaum. Er musste seine Gründe haben. Natürlich war Bailey in der Stadt ein hohes Tier. Schließlich war er eine Zeit lang Bürgermeister gewesen. Einerseits würde die Tatsache, dass er dort aufkreuzte, die Aufmerksamkeit von dem Wagen ablenken, in dem er gefahren wurde. Andererseits verließ sich Lucas immer auf das eisige Schaudern, das ihn stets dann überkam, wenn er sich dem wachsamen Auge des Gesetzes näherte, und genau dieses Schaudern spürte er auch jetzt.

»Ganz wie Sie wünschen, Mr. Bailey. Aber warum sollte die Polizei in der Old Woods Road sein?«

»Sie haben wohl die Nachrichten nicht gesehen, Lucas. In der vergangenen Nacht wurden die dreijährigen Zwillinge des Ehepaares, das vor kurzem in das alte Cunningham-Haus eingezogen ist, gekidnappt.«

»Gekidnappt! Das gibt’s doch nicht!«

»Ich fürchte, doch«, sagte Franklin Bailey grimmig. »Aber wer hätte gedacht, dass so etwas bei uns in Ridgefield geschehen könnte! Ich bin den Frawleys schon bei mehreren Gelegenheiten begegnet, und ich schätze sie sehr.«

Lucas passierte zwei Seitenstraßen und bog in die Old Woods Road ein. Vor dem Haus der Frawleys, in das er acht Stunden zuvor eingedrungen war, um die beiden Kleinen zu entführen, hatte die Polizei jetzt Sperrgitter errichtet. Obwohl er sich äußerst unbehaglich fühlte und diesen Ort am liebsten so schnell wie möglich wieder verlassen hätte, tönte eine selbstgefällige innere Stimme: Wenn ihr wüsstet, ihr Idioten!

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen die Medienfahrzeuge in einer Reihe geparkt. Zwei Polizeibeamte hielten vor dem Absperrgitter Wache, um zu verhindern, dass jemand in die Einfahrt fuhr. Lucas sah, dass sie Notizbücher in der Hand hielten.

Franklin Bailey ließ das hintere Seitenfenster herunter und wurde vom diensthabenden Beamten erkannt, der sich sofort dafür entschuldigte, dass er ihn dort nicht parken lassen dürfe.

Bailey fiel ihm ins Wort. »Ned, ich habe gar nicht die Absicht, hier zu parken. Aber vielleicht kann ich behilflich sein. Ich habe um sieben Uhr einen Termin in New York und werde gegen elf Uhr zurück sein. Wer ist da drinnen, Marty Martinson?«

»Ja, Sir. Und das FBI.«

»Ja, ja, ich weiß, wie das bei solchen Sachen läuft. Geben Sie Marty meine Karte. Ich habe die halbe Nacht Nachrichten gesehen. Die Frawleys sind neu hier, und sie scheinen keine nahen Verwandten in der Nähe zu haben, die ihnen helfen könnten. Sagen Sie Marty, dass ich, wenn ihnen das weiterhilft, bereit bin, als Kontaktperson für die Kidnapper zu dienen. Sagen Sie ihm, ich könne mich erinnern, dass damals beim Lindbergh-Fall ein Professor, der sich als Kontaktperson zur Verfügung gestellt hatte, derjenige war, an den sich die Kidnapper gewandt haben.«

»Ich werde es ihm ausrichten, Sir.« Sergeant Ned Barker nahm die Visitenkarte entgegen und machte sich eine Notiz in seinem Büchlein. Dann sagte er in leicht entschuldigendem Tonfall: »Ich muss die persönlichen Daten von jedem aufnehmen, der hier vorbeifährt, Sir. Sicherlich haben Sie dafür Verständnis.«

»Natürlich.«

Barker blickte Lucas an. »Kann ich mal Ihren Führerschein sehen, Sir?«

Lucas lächelte sein beflissenes, diensteifriges Lächeln. »Selbstverständlich, Sergeant, selbstverständlich.«

»Für Lucas kann ich mich verbürgen«, sagte Franklin Bailey. »Er fährt mich schon seit Jahren.«

»Ich habe meine Anweisungen, Mr. Bailey. Ich bin sicher, Sie haben dafür Verständnis.«

Der Beamte musterte den Führerschein, dann ließ er den Blick über Lucas’ Gesicht gleiten. Kommentarlos reichte er ihm den Führerschein zurück und schrieb etwas in sein Notizbuch.

Franklin Bailey ließ das Fenster wieder hochfahren und lehnte sich zurück. »Gut, Lucas. Dann wollen wir mal. Vermutlich war das alles ja völlig umsonst, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, es zu tun.«

»Ich finde, das war eine großartige Geste von Ihnen, Sir. Ich habe keine Kinder, aber man kann sich ja vorstellen, wie es den armen Eltern in diesem Augenblick gehen muss.« Ich hoffe nur, es geht ihnen dreckig genug, damit sie die acht Millionen lockermachen, dachte er mit einem stillen Lächeln.

6

ZWEI KINDERSTIMMEN, die hartnäckig »Mommy« riefen, rissen Clint aus einem schweren, Chivas-Regal-getränkten Schlaf. Nachdem sie nicht beachtet wurden, versuchten die Zwillinge jetzt, über das hohe Seitenteil des Kinderbetts zu klettern, in dem sie geschlafen hatten.

Angie lag neben ihm und schnarchte vor sich hin, ungeachtet der Rufe der Kinder und des Lärms, den das klappernde Kinderbett verursachte. Er fragte sich, wie viel sie wohl noch getrunken hatte, nachdem er ins Bett gegangen war. Angie blieb oft die halbe Nacht auf und guckte sich alte Filme an, immer eine Flasche Wein in Reichweite. Charlie Chaplin, Greer Garson, Marilyn Monroe, Clark Gable – sie liebte sie alle. »Das waren noch richtige Schauspieler«, schwärmte sie dann mit schwerer Zunge. »Heute sehen die doch alle gleich aus. Blond. Hübsches Gesicht. Botox. Geliftet. Lippen aufgespritzt. Aber vom Schauspielen null Ahnung.«

Erst vor kurzem, nach all den Jahren, die er nun schon mit ihr zusammen war, hatte Clint begriffen, dass Angie neidisch war. Sie wollte auch schön sein. Diese Erkenntnis hatte er später benutzt, um sie zu überreden, bei der Entführung mitzumachen und auf die Kinder aufzupassen. »Wir werden so viel Geld haben, dass du dir alles leisten kannst. Du kannst eine Kur machen, oder du lässt deine Haarfarbe verändern, oder du gehst zu einem renommierten Schönheitschirurgen, alles kein Problem. Du musst nicht mehr tun, als dich ein paar Tage oder eine Woche um die beiden zu kümmern.«

Er stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Wach auf.«

Sie vergrub den Kopf im Kissen.

Er rüttelte an ihrer Schulter. »Ich hab gesagt, wach auf!«, raunzte er.

Widerstrebend hob sie den Kopf und blickte zum Kinderbett.

»Legt euch wieder hin, ihr zwei! Ihr sollt schlafen!«, zischte sie.

Kathy und Kelly blickten ängstlich in ihr wütendes Gesicht und fingen an zu weinen. »Mommy … Daddy.«

»Hört sofort auf! Aufhören, hab ich gesagt!«

Wimmernd legten sich die beiden Zwillinge wieder hin und klammerten sich aneinander. Nur noch das leise Geräusch ihrer unterdrückten Schluchzer drang aus dem Kinderbett.

»Ruhe, hab ich gesagt!«

Die Schluchzer verebbten. Jetzt war nur noch leises Schniefen zu hören.

Angie stupste Clint in die Seite. »Um Punkt neun Uhr wird Mona sie wieder lieb haben. Keine Minute früher.«

7

MARGARET UND STEVE saßen die ganze Nacht mit Marty Martinson und Carlson zusammen. Nach ihrem Ohnmachtsanfall hatte sich Margaret hartnäckig geweigert, in ein Krankenhaus gebracht zu werden. »Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie meine Hilfe brauchen«, hielt sie dem FBI-Agenten entgegen.

Gemeinsam mit Steve beantwortete sie Carlsons Fragen. Noch einmal bekräftigten sie, dass sie keine nennenswerte Geldsumme zusammenbringen könnten, geschweige denn mehrere Millionen Dollar.

»Mein Vater ist gestorben, als ich fünfzehn war«, erklärte Margaret. »Meine Mutter lebt zusammen mit ihrer Schwester in Florida. Sie arbeitet als Sekretärin in einer Arztpraxis. Ich selbst habe noch Schulden von meinem Studiendarlehen, die ich noch weitere zehn Jahre abbezahlen muss.«

»Mein Vater war bei der New Yorker Feuerwehr«, sagte Steve. »Er ist mittlerweile im Ruhestand und lebt mit meiner Mutter in einer Eigentumswohnung in North Carolina. Sie haben sie schon vor einiger Zeit gekauft, bevor die Preise in die Höhe geschossen sind.«

Als sie nach weiteren Verwandten gefragt wurden, gab Steve zu, dass er sich mit seinem Halbbruder Richie nicht besonders gut verstand. »Er ist sechsunddreißig, fünf Jahre älter als ich. Meine Mutter war eine junge Witwe, als sie meinen Vater kennen lernte. Richie war schon als Kind ziemlich wild. Wir standen uns nie besonders nahe. Und dann kam noch hinzu, dass er Margaret schon kannte, bevor ich sie kennen gelernt habe.«

»Wir waren nicht befreundet«, sagte Margaret schnell. »Wir haben uns auf einer Hochzeit kennen gelernt und ein paarmal miteinander getanzt. Er hat mir zwar einige Tage später eine Nachricht auf Band gesprochen, aber ich habe ihn nicht zurückgerufen. Es war reiner Zufall, dass ich Steve rund einen Monat später an der Universität begegnet bin.«

»Was macht Richie jetzt?«, wandte sich Carlson an Steve.

»Er arbeitet beim Gepäckdienst im Flughafen von Newark. Er hat zwei geschiedene Ehen hinter sich. Sein Studium hat er abgebrochen, gleichzeitig kann er nur schwer ertragen, dass ich meinerseits College und Jurastudium abgeschlossen habe.« Er zögerte. »Ich kann es Ihnen genauso gut gleich sagen. Er hat ein paar Einträge im Jugendstrafregister, und er hat fünf Jahre im Gefängnis gesessen, weil er sich an irgendeiner krummen Geldwäsche-Geschichte beteiligt hat. Aber so etwas wie das hier würde er niemals tun.«

»Mag sein, trotzdem werden wir ihn überprüfen«, entgegnete Carlson. »Doch jetzt überlegen Sie noch einmal genau, ob es vielleicht noch andere Personen gibt, die irgendeinen Groll gegen Sie hegen, oder die vielleicht Kontakt zu den Zwillingen hatten und auf die Idee gekommen sein könnten, sie zu entführen. Waren vielleicht Handwerker in Ihrem Haus, seit Sie hier eingezogen sind?«

»Nein. Mein Vater hat immer alles selbst repariert, und er hat uns alles beigebracht«, erklärte Steve, dessen Stimme müde klang. »Ich habe hier schon etliche Abende und Wochenenden damit zugebracht, die allernötigsten Instandsetzungsarbeiten vorzunehmen. Vermutlich bin ich zur Zeit der beste Kunde beim hiesigen Baumarkt.«

»Was ist mit der Firma, die Sie mit dem Umzug beauftragt haben?«, fragte Carlson als Nächstes.

»Das waren Polizisten, die das als Nebenjob außerhalb ihrer Dienstzeit machen«, antwortete Steve und musste beinahe lächeln. »Die haben alle Kinder. Sie haben mir sogar Fotos gezeigt. Einige von ihnen sind im gleichen Alter wie die Zwillinge.«

»Und was ist mit den Leuten, mit denen Sie zusammenarbeiten?«

»Ich bin erst seit drei Monaten bei der Firma. C.F.G.&Y. ist eine Investmentgesellschaft, die sich auf Rentenfonds spezialisiert hat.«

Als Nächstes griff Carlson die Information auf, dass Margaret vor der Geburt der Zwillinge als Pflichtverteidigerin in Manhattan gearbeitet hatte. »Mrs. Frawley, könnte es sein, dass eine der Personen, die Sie verteidigt haben, etwas gegen Sie hat?«

»Das glaube ich nicht.« Doch dann stockte sie. »Na ja, es hat da einen Mann gegeben, der am Ende lebenslänglich bekam. Ich habe ihn bekniet, sich auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einzulassen, aber er hat abgelehnt. Als er dann schuldig gesprochen wurde, hat ihm der Richter die Höchststrafe verpasst. Seine Verwandten haben mir Obszönitäten an den Kopf geworfen, als er abgeführt wurde.«

Komisch, dachte sie, während sie zuschaute, wie Carlson sich den Namen des verurteilten Mandanten notierte. Im Moment empfinde ich überhaupt nichts. Es fühlt sich einfach nur taub an.

Um sieben Uhr, als das erste Licht hinter den heruntergelassenen Jalousien durchschimmerte, erhob sich Carlson. »Ich bitte Sie, sich jetzt etwas schlafen zu legen. Sie brauchen einen klaren Kopf, um uns richtig weiterhelfen zu können. Ich werde hier bleiben. Ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen sofort Bescheid geben, falls die Kidnapper Kontakt zu uns aufnehmen, und später am Tag werden wir Sie vielleicht bitten, eine Erklärung gegenüber den Medien abzugeben. Sie können Ihr Schlafzimmer betreten, aber bitte gehen Sie nicht in die Nähe des Zimmers der Mädchen. Die Leute von der Spurensicherung sind dort immer noch zugange.«

Steve und Margaret nickten stumm. Sie wirkten äußerst erschöpft, als sie aufstanden und durch das Wohnzimmer gingen, um sich nach oben zu begeben.

»Sie machen uns nichts vor«, sagte Carlson zu Martinson. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie haben das Geld nicht. Weshalb ich mich frage, ob diese Lösegeldforderung nicht ein Ablenkungsmanöver ist. Vielleicht hat es jemand nur auf die Kinder abgesehen und versucht, uns in die Irre zu führen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, stimmte Martinson zu. »Ist es nicht so, dass in den allermeisten Fällen die Eltern ausdrücklich davor gewarnt werden, die Polizei einzuschalten?«

»So ist es. Ich kann nur beten, dass die beiden Mädchen, während wir hier reden, nicht in einem Flugzeug nach Südamerika unterwegs sind.«

8

AM FREITAGMORGEN WAR die Entführung der Frawley-Zwillinge an der gesamten Ostküste in den Schlagzeilen, und bis zum frühen Nachmittag entwickelte sie sich zu einem nationalen Medienereignis. Im ganzen Land wurde das Geburtstagsfoto der bezaubernden Mädchen mit ihren Engelsgesichtchen, den langen blonden Haaren und ihren blauen Samtkleidchen in den Nachrichtensendungen gezeigt und in den Zeitungen abgedruckt.

Im Wohnzimmer des Hauses an der Old Woods Road wurde eine Kommandozentrale eingerichtet. Um fünf Uhr nachmittags erschienen Steve und Margaret im Fernsehen. Vor ihrem Haus stehend baten sie die Entführer, die Mädchen gut zu behandeln und sie unversehrt freizugeben. »Wir haben kein Geld«, sagte Margaret mit flehender Stimme. »Aber unsere Freunde haben den ganzen Tag telefoniert. Sie wollen für uns sammeln. Sie haben jetzt schon fast zweihunderttausend Dollar beisammen. Bitte begreifen Sie doch, Sie müssen sich geirrt haben, als Sie meinten, wir könnten acht Millionen Dollar aufbringen. Das schaffen wir einfach nicht. Nur, bitte tun Sie unseren Kindern nichts an. Geben Sie sie uns zurück. Ich verspreche Ihnen, dass wir zweihunderttausend Dollar zusammenbekommen werden.«

Steve hatte seinen Arm um Margaret gelegt und fügte hinzu: »Wir bitten Sie, mit uns Kontakt aufzunehmen. Wir müssen wissen, ob unsere Töchter noch am Leben sind.«

Im Anschluss erschien Captain Martinson auf dem Bildschirm. »Wir geben Ihnen jetzt zusätzlich die Telefon- und die Faxnummer von Franklin Bailey durch, dem ehemaligen Bürgermeister dieser Stadt. Falls Sie Bedenken haben, direkt bei den Frawleys anzurufen, bitten wir Sie, mit ihm Kontakt aufzunehmen.«

Doch Freitagabend, der ganze Samstag und auch der ganze Sonntag vergingen, ohne dass die Kidnapper das geringste Zeichen von sich gegeben hätten.

Am Montagmorgen geschah es dann, dass sich Katie Couric während ihrer Live-Sendung Today unterbrach, als sie gerade einen pensionierten FBI-Agenten über die Entführung befragte. Mitten im Satz hielt sie plötzlich inne, fasste an ihren Kopfhörer, lauschte aufmerksam und sagte dann: »Es könnte sich um einen üblen Scherz handeln, aber vielleicht ist es auch von größter Wichtigkeit. Wir haben hier jemanden in der Telefonleitung, der behauptet, der Entführer der Frawley-Zwillinge zu sein. Auf seinen Wunsch werden unsere Techniker jetzt den Anrufer direkt zu uns ins Studio schalten.«

Eine raue, offensichtlich verstellte Stimme krächzte in barschem Ton: »Sagen Sie den Frawleys, die Zeit läuft ab. Wir haben gesagt: acht Millionen, und dabei bleibt es auch. Und jetzt hören Sie sich die Kinder an.«

Zwei Kinderstimmen riefen verängstigt: »Mommy und Daddy, wir haben euch lieb.« Und dann platzte es aus einem der Mädchen heraus: »Wir wollen nach Hause!«

Fünf Minuten später wurde die fragliche Passage aus der Sendung Steve und Margaret vorgespielt. Martinson und Carlson brauchten nicht erst nachzufragen, ob die Frawleys den Anruf für authentisch hielten. Ihr Gesichtsausdruck sagte genug. Endlich war der Kontakt zu den Kidnappern hergestellt worden.

9

EIN ZUNEHMEND NERVÖSER Lucas war sowohl am Samstag- als auch am Sonntagabend kurz zum Hausmeisterhäuschen gefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Sich das Geschrei der Zwillinge anzuhören, war das Letzte, worauf er Lust hatte, daher hatte er seinen Besuch auf neun Uhr gelegt, weil er annahm, dass sie zu dieser Zeit schlafen würden.

Am Samstagabend versuchte er sich noch einzureden, dass alles wie geplant lief. Clint versicherte prahlerisch, dass Angie großartig mit den beiden Kleinen zurechtkomme. »Sie haben wirklich brav gegessen, und dann hat sie mit ihnen gespielt. Den Nachmittag über hat sie sie auch mal schlafen gelegt. Sie ist ganz hin und weg von ihnen. Sie wollte ja immer Kinder haben. Aber ich kann dir sagen, es ist fast unheimlich, den beiden zuzuschauen. Das ist, als ob du einen Menschen in zweifacher Ausführung vor dir hast.«

»Hast du sie auf Band aufgenommen?«, fragte Lucas ungerührt.

»Ja, klar. Wir haben sie dazu gebracht, zusammen den Satz aufzusagen: ›Mommy und Daddy, wir haben euch lieb.‹ Sie hören sich richtig gut an. Dann hat eine von beiden angefangen zu plärren: ›Wir wollen nach Hause‹, und Angie ist richtig sauer geworden. Sie hat drohend die Hand gehoben, als ob sie ihr eine runterhauen wollte, und dann haben sie beide zu weinen angefangen. Das haben wir auch alles auf dem Band.«

Wenigstens das hast du zur Abwechslung einigermaßen hingekriegt, dachte sich Lucas, als er die Kassette einsteckte und sich wieder auf den Weg machte. Wie vorher mit dem Boss vereinbart, fuhr er zu Clancy’s Pub an der Route 7 und kam dort gegen halb elf an. Er folgte den Anweisungen, ließ den Wagen auf dem gut gefüllten Parkplatz unverschlossen stehen, hinterließ die Tonbandkassette auf dem Vordersitz und ging in das Lokal, um ein Bier zu trinken. Als er zum Wagen zurückkehrte, war das Band verschwunden.

Am Sonntagabend konnte er feststellen, dass Angie langsam die Geduld verlor. »Der verdammte Trockner hat den Geist aufgegeben, und natürlich können wir niemanden kommen lassen, um ihn zu reparieren. Du brauchst nicht zu glauben, dass ›Harry‹ sich mit so etwas auskennt«, stieß sie verächtlich aus, während sie zwei identische langärmelige T-Shirts und Latzhosen aus der Waschmaschine holte und sie über einen Wäscheständer hängte. »Ein paar Tage, hast du gesagt. Wie lange soll ich das denn noch aushalten, bitte schön? Jetzt sind es schon drei Tage.«

»Kater Karlo wird uns mitteilen, wo und wann wir die Kinder zurückgeben«, knurrte Lucas sie an, der ihr am liebsten gesagt hätte, sie solle sich zum Teufel scheren.

»Und wie können wir sicher sein, dass er nicht Schiss bekommt und einfach verschwindet und wir am Ende mit den beiden Gören am Hals dastehen?«

Lucas hatte nicht die Absicht gehabt, Angie und Clint in die Einzelheiten von Kater Karlos Plan einzuweihen, doch er hielt es jetzt für notwendig, Angie zu beruhigen. »Da kannst du ganz sicher sein. Er wird morgen früh zwischen acht und neun Uhr in der Today-Sendung mit einer neuen Lösegeldforderung auftreten.«

Das hatte ihr erst mal den Mund gestopft. Ziemlich clever ausgedacht, das muss man dem Boss lassen, dachte Lucas am folgenden Morgen, als er sich die Sendung anschaute und Zeuge der dramatischen Reaktionen auf den Anruf von Kater Karlo wurde. Wahrscheinlich will jetzt die ganze Welt Geld spenden, damit die beiden Kleinen heil wieder nach Hause kommen.

Aber wir sind diejenigen, die das gesamte Risiko tragen müssen, überlegte er ein paar Stunden später, nachdem er sich im Fernsehen eine Weile das endlose Geschwätz der Kommentatoren über die Entführung angehört hatte. Wir haben die Kinder gekidnappt. Wir verstecken sie. Wir sind diejenigen, die das Geld abholen werden, wenn sie es zusammengekratzt haben. Ich weiß, wer der Boss ist, aber es gibt nichts, was ihn mit mir in Verbindung bringen würde. Angenommen, sie schnappen uns, und ich sage aus, er sei der Anstifter gewesen, würde er mich einfach für verrückt erklären.

Bis zum nächsten Morgen, dem Dienstag, hatte Lucas keine Aufträge mehr. Gegen zwei Uhr konnte er es nicht mehr ertragen, untätig in seiner Wohnung zu sitzen und zu warten. Kater Karlo hatte ihm eingeschärft, sich unbedingt die Abendnachrichten von CBS anzusehen, weil es dann eine neue Nachricht von ihm geben werde.

Er rechnete aus, dass ihm noch genug Zeit für einen Flug blieb. Kurz entschlossen fuhr er zum Flughafen Danbury, in dessen Fliegerklub er Mitglied war. Dort angekommen, mietete er eine der einmotorigen Maschinen und startete zu einer kleinen Runde. Seine Lieblingstour verlief zunächst entlang der Küste von Connecticut bis Rhode Island und dann ein Stückchen über den Atlantik. In sechshundert Meter Höhe über der Erde zu schweben, verlieh ihm das Gefühl, alles vollkommen unter Kontrolle zu haben, und dieses Gefühl brauchte er jetzt.

Es war ein kalter Tag, der Wind wehte schwach, und nur im Westen gab es ein paar Wolken: gutes Flugwetter. Doch obwohl Lucas versuchte, sich zu entspannen und das

Die Originalausgabe TWO LITTLE GIRLS IN BLUE erschien bei Simon & Schuster Inc., New York

2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 01/2008

Copyright © 2006 by Mary Higgins Clark Copyright © 2008 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration und Umschlaggestaltung: © Eisele Grafik Design, München unter Verwendung eines Fotos von © William Radcliffe/Science Faction/getty images

eISBN 978-3-641-10071-1

www.heyne.de

www.randomhouse.de

Leseprobe