Wenn wir uns wiedersehen - Mary Higgins Clark - E-Book

Wenn wir uns wiedersehen E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Als Molly Lash nach sechs Jahren Gefängnis entlassen wird, ist sie fest entschlossen, den wahren Täter des Verbrechens zu finden, für das sie verurteilt wurde - den Mörder ihres Mannes. Gemeinsam mit ihrer Freundin Fran Simmons macht sie sich auf die Suche und gerät in einen fast ausweglosen Albtraum...
«Die Bücher der «Königin der Spannung» sind meisterhaft ausgeklügelte Thriller.»
HAMBURGER ABENDBLATT

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Seitenzahl: 479

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Das Buch

Der angesehene Arzt Gary Lasch wird im Arbeitszimmer seines Hauses erschlagen aufgefunden. Alle Indizien weisen auf seine Frau als Täterin, die auch als einzige ein Motiv zu haben scheint: Molly Lasch war rasend wütend über die Affäre ihres Mannes mit einer jungen Krankenschwester, die auch noch ein Kind von ihm erwartete. Und Molly hat diesem Verdacht nichts entgegenzusetzen, denn was die Mordnacht angeht, leidet sie unter einem kompletten Gedächtnisausfall. Nach sechs Jahren Gefängnis wird Molly auf Bewährung entlassen. Fest entschlossen, Klarheit über die Ereignisse in jener schrecklichen Nacht zu erlangen, bittet sie ihre alte Freundin, die Journalistin Fran Simmons, um Hilfe bei den Nachforschungen. Fran ist zunächst skeptisch, stößt aber schon bald auf neue Verdachtsmomente und ungeklärte Spuren. Doch dann unternimmt Molly einen verhängnisvollen Schritt: Sie trifft sich mit der ehemaligen Geliebten ihres Mannes – wenige Stunden danach wird die junge Frau ermordet aufgefunden. Fran und Molly ahnen, daß eine ungeheure Verschwörung im Gang ist.

Die Autorin

Mary Higgins Clark wurde 1928 geboren. Mit ihren Spannungsromanen hat sie weltweit Millionen von Leserinnen und Lesern gewonnen, und mit jedem neuen Roman erobert sie die Bestsellerlisten. Beinamen wie »Königin der Spannung« und »Meisterin des sanften Schreckens« zeugen von ihrer großen Popularität. Mary Higgins Clark lebt in Saddle River, New Jersey.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungPrologFünfeinhalb Jahre später
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Copyright

Für Marilyn,meine Erstgeborene,in Liebe

Prolog

Der Staat Connecticut wird beweisen, daß Molly Carpenter Lasch den Tod ihres Mannes, Dr. Gary Lasch, vorsätzlich herbeigeführt hat. Daß sie ihm, als er am Schreibtisch saß und ihr den Rücken zuwandte, mit einer schweren Bronzeskulptur den Schädel einschlug und ihn verbluten ließ. Sie selbst ging hinauf ins Schlafzimmer, legte sich zu Bett und schlief ein …«

Die Reporter, die hinter der Angeklagten saßen, schrieben eifrig mit. Wenn sie es vor Redaktionsschluß noch schaffen wollten, mußten die Artikel in wenigen Stunden fertig sein. Die altgediente Kolumnistin der Women’s News Weekly schwelgte in ihrem üblichen blumigen Stil: »Der Prozeß gegen Molly Carpenter Lasch, die des Mordes an ihrem Mann Gary beschuldigt wird, wurde heute morgen in der würdigen und gediegenen Atmosphäre des Gerichtssaals im historischen Stamford, Connecticut, eröffnet.«

Journalisten aus dem ganzen Land waren gekommen, um den Prozeß zu beobachten. Der Reporter der New York Post beschrieb Mollys Äußeres, wobei er vor allem ihre Kleidung am ersten Prozeßtag hervorhob. Eine ausgesprochen attraktive Frau, dachte er. Dieser Mischung aus Schönheit und Eleganz begegnete man nur selten, vor allem nicht bei mutmaßlichen Mörderinnen. Auch ihre aufrechte, ja, fast majestätische Haltung, die manche vielleicht als trotzig bezeichnet hätten, fiel ihm auf. Er wußte, daß sie sechsundzwanzig war. Sie war schlank und hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar. Zu einem blauen Kostüm trug sie kleine goldene Ohrringe. Als er den Hals reckte, um besser sehen zu können, bemerkte er, daß sie noch ihren Ehering am Finger hatte, was er notierte.

Währenddessen drehte Molly Lasch sich um und suchte den Gerichtssaal nach bekannten Gesichtern ab. Dabei trafen sich kurz ihre Blicke – sie hatte blaue Augen und lange, dichte Wimpern.

Auch der Reporter des Observer hielt seine Eindrücke von der Angeklagten und dem Prozeß fest. Da sein Blatt nur einmal wöchentlich erschien, hatte er für seinen Artikel ein wenig mehr Zeit. »Molly Carpenter Lasch würde besser in einen Country Club als in einen Gerichtssaal passen«, schrieb er. Er spähte zu Gary Laschs Familie hinüber, die auf der anderen Seite des Ganges saß.

Mollys Schwiegermutter, Witwe des legendären Dr. Jonathan Lasch, war mit ihrer Schwester und ihrem Bruder gekommen. Sie war eine magere Frau über sechzig, die streng und unnachgiebig wirkte. Wahrscheinlich würde sie Molly am liebsten eigenhändig die Todesspritze verabreichen, dachte der Reporter vom Observer.

Er wandte sich um. Mollys Eltern, ein sympathisch aussehendes Paar Ende Fünfzig, machten einen angespannten, besorgten und erschütterten Eindruck. Er kritzelte die drei Adjektive auf seinen Block.

Um halb elf begann die Verteidigung mit dem Eröffnungsplädoyer.

»Der Herr Staatsanwalt hat Ihnen soeben angekündigt, meine Damen und Herren, daß er Indizien für Molly Laschs Schuld vorlegen will, die über alle vernünftigen Zweifel erhaben sind. Ich hingegen werde Ihnen Beweise präsentieren, welche belegen, daß Molly Lasch keine Mörderin ist, sondern ebenso wie ihr Mann Opfer einer schrecklichen Tragödie.

Aufgrund meiner Ausführungen werden Sie zu dem Schluß gelangen, daß Molly Carpenter Lasch am Sonntag abend des 8. April kurz nach zwanzig Uhr von einem einwöchigen Aufenthalt in ihrem Ferienhaus in Cape Cod zurückkehrte und ihren Mann Gary über dem Schreibtisch liegend vorfand. Sie versuchte, ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben, hörte sein letztes Röcheln, stellte seinen Tod fest und ging – unter Schock – nach oben, wo sie bewußtlos auf dem Bett zusammenbrach.«

Molly saß aufmerksam lauschend am Tisch der Verteidigung. Sie spürte die neugierigen und verurteilenden Blicke. Vorhin hatten einige ihrer guten, langjährigen Bekannten sie draußen auf dem Flur auf die Wange geküßt und ihr die Hand gedrückt. Zu ihnen gehörte auch Jenna Whitehall, ihre beste Freundin seit den Highschooltagen an der Cranden Academy. Inzwischen war Jenna Anwältin für Wirtschaftsrecht. Cal, ihr Mann, gehörte dem Direktorium der Lasch-Klinik und auch des Remington-Gesundheitsdienstes  – einer privaten Krankenversicherung mit eigenen Vertragsärzten – an, den Gary gemeinsam mit Dr. Peter Black ins Leben gerufen hatte.

Jenna und Cal waren mir eine große Hilfe, dachte Molly. Da sie ein wenig Abstand gebraucht hatte, hatte sie in den letzten Monaten viel Zeit bei Jen in New York verbracht und sich dort gut erholt. Die Whitehalls wohnten zwar in Greenwich, aber während der Woche übernachtete Jenna häufig in ihrer Wohnung in Manhattan, ganz in der Nähe der Vereinten Nationen.

Auch Peter Black hatte Molly draußen auf dem Flur entdeckt. Dr. Peter Black war immer so nett zu ihr gewesen, doch nun zeigte er ihr ebenso wie Garys Mutter die kalte Schulter. Er und Gary kannten sich schon seit dem Medizinstudium. Molly fragte sich, ob Peter es wohl schaffen würde, Garys Aufgaben in der Klinik und beim Gesundheitsdienst zu übernehmen. Kurz nach Garys Tod hatte man ihn zum Chefarzt ernannt. Cal Whitehall war Direktoriumsvorsitzender geworden.

Wie benommen saß Molly im Gerichtssaal. Als der Staatsanwalt einige Zeugen aufrief, nahm sie nur ein verschwommenes Meer von Stimmen und Gesichtern wahr. Dann trat Edna Barry, ihre mollige, sechzigjährige Haushälterin, in den Zeugenstand. »Am Montag morgen kam ich wie immer um acht zur Arbeit«, sagte sie.

»Auch am Montag, dem 9. April?«

»Ja.«

»Wie lange arbeiten Sie schon bei Gary und Molly Lasch?«

»Seit vier Jahren. Aber ich war schon bei Mollys Mutter angestellt, als Molly noch ein kleines Mädchen war. Sie war so ein liebes Kind.«

Molly fing Mrs. Barrys anteilnehmenden Blick auf. Sie will mir nicht schaden, dachte sie, aber sie wird aussagen müssen, wie sie mich gefunden hat, und sie weiß, welchen Eindruck das machen wird.

»Ich war erstaunt, weil im Haus Licht brannte«, erklärte Mrs. Barry. »Da Mollys Reisetasche im Flur stand, wußte ich, daß sie aus Cape Cod zurück war.«

»Bitte beschreiben Sie uns den Grundriß des Erdgeschosses, Mrs. Barry.«

»Die Diele ist ziemlich geräumig, eher wie eine Vorhalle. Bei großen Partys werden dort vor dem Essen die Cocktails serviert. Gleich dahinter, gegenüber der Eingangstür, liegt das Wohnzimmer. Wenn man links den Flur weitergeht, befindet sich neben der Hausbar das Eßzimmer. Die Küche und ein zweites Wohnzimmer sind auch in diesem Flügel des Hauses untergebracht. Die Bibliothek und Dr. Laschs Arbeitszimmer sind rechts von der Eingangstür.«

Ich bin früh nach Hause gekommen, dachte Molly. Es war kaum Verkehr auf der I-95, und deshalb hat die Fahrt nicht so lange gedauert wie erwartet. Ich hatte nur die eine Tasche dabei. Ich trug sie ins Haus und stellte sie ab. Dann schloß ich die Tür, rief Garys Namen und ging direkt in sein Arbeitszimmer, um nachzusehen, wo er steckte.

»Als ich in die Küche kam«, berichtete Mrs. Barry dem Staatsanwalt, »standen Weingläser und ein Teller mit Crackern und Käse auf der Anrichte.«

»War das ungewöhnlich?«

»Ja. Molly räumte immer alles weg, wenn sie Besuch gehabt hatten.«

»Dr. Lasch auch?« fragte der Staatsanwalt. Edna Barry lächelte nachsichtig. »Sie wissen ja, wie die Männer sind. Mit der Ordnung hatte er es nicht so.« Stirnrunzelnd hielt sie inne. »Aber in diesem Moment ahnte ich, daß etwas nicht stimmte. Ich dachte, Molly wäre hiergewesen und wieder weggegangen.«

»Warum hätte sie das tun sollen?«

Molly bemerkte, daß Mrs. Barry zögerte und wieder zu ihr hinübersah. Mutter fand es immer unpassend, daß Mrs. Barry mich Molly nennt, während ich sie mit ihrem Familiennamen anspreche, dachte sie. Doch schließlich kennt sie mich schon seit meiner Kindheit.

»Als ich am Freitag kam, war Molly nicht zu Hause. Am Montag zuvor war sie nach Cape Cod gefahren. Sie schien ziemlich aufgewühlt zu sein.«

»Was meinen sie mit aufgewühlt?«

Die Frage kam abrupt und klang barsch. Molly war klar, daß der Staatsanwalt ihr nicht wohlgesonnen war, aber seltsamerweise beunruhigte sie das nicht weiter.

»Sie weinte, als sie ihre Tasche packte, und ich merkte ihr an, daß sie schrecklich wütend war. Molly ist ein fröhlicher Mensch, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen läßt. In all den Jahren, die ich nun schon für sie arbeite, hatte ich sie noch nie so erlebt. ›Wie konnte er nur?‹ wiederholte sie immer wieder. Ich fragte sie, ob sie Hilfe brauchte.«

»Und was antwortete sie?«

»Sie sagte: ›Sie können meinen Mann für mich umbringen. ‹«

»Sie können meinen Mann für mich umbringen?«

»Ich wußte, daß sie das nicht so meinte, und glaubte, sie hätten sich gestritten. Wahrscheinlich ist sie nach Cape Cod gefahren, um sich zu beruhigen.«

»Ist sie öfter so überstürzt verreist?«

»Molly gefällt es in Cape Cod. Sie sagt immer, dort würde sie wieder einen klaren Kopf bekommen. Aber diesmal war es anders. Ich habe sie nie so aufgebracht wegfahren sehen.« Sie bedachte Molly mit einem mitfühlenden Blick.

»Gut, Mrs. Barry, kehren wir wieder zum Morgen des 9. April zurück. Was taten Sie, nachdem Sie in der Küche gewesen waren?«

»Ich ging ins Arbeitszimmer, um mit Mr. Lasch etwas zu besprechen. Die Tür war geschlossen. Ich klopfte an, aber niemand antwortete. Als ich den Türknauf umdrehte, fühlte er sich klebrig an. Ich machte die Tür auf, und da sah ich ihn.« Edna Barrys Stimme zitterte. »Er saß zusammengesackt in seinem Sessel am Schreibtisch. Sein Kopf war blutverkrustet. Überall war Blut, auf seinen Kleidern, dem Sessel und dem Teppich. Ich wußte sofort, daß er tot war.«

Während Molly der Aussage ihrer Haushälterin zuhörte, erinnerte sie sich wieder an jenen Sonntag abend. Ich kam nach Hause, schloß die Haustür auf und hinter mir wieder ab und ging dann ins Arbeitszimmer. Ich war sicher, daß Gary dort war. Die Tür war zu, ich machte sie auf… Was dann geschah, weiß ich nicht mehr.

»Was taten Sie danach, Mrs. Barry?« erkundigte sich der Staatsanwalt.

»Ich habe sofort die Polizei angerufen. Da ich befürchtete, Molly könnte auch etwas zugestoßen sein, lief ich nach oben ins Schlafzimmer. Als ich sie dort auf dem Bett fand, glaubte ich zunächst, sie wäre ebenfalls tot.«

»Warum?«

»Weil ihr Gesicht voller Blut war. Dann aber schlug sie die Augen auf, lächelte und sagte: ›Hallo, Mrs. Barry, ich habe wohl verschlafen.‹«

Ich bin zu mir gekommen, dachte Molly, und dann merkte ich, daß ich noch vollständig angezogen war. Zuerst befürchtete ich, ich hätte einen Unfall gehabt. Meine Kleider waren schmutzig und meine Hände ganz klebrig. Außerdem fühlte ich mich müde und benommen, und ich fragte mich, ob ich vielleicht im Krankenhaus war anstatt in meinem Zimmer. Im nächsten Moment schoß mir durch den Kopf, daß Gary möglicherweise auch verletzt war. Dann klopfte es unten laut an die Tür, und die Polizei kam.

So vergingen die Prozeßtage, die Molly wahrnahm wie durch einen Nebelschleier. Leute kamen und gingen und machten im Zeugenstand ihre Aussage.

Auch Cal, Peter Black und Jenna sagten aus. Cal und Peter gaben zu Protokoll, sie hätten Gary am Samstag nachmittag angerufen und sich bei ihm eingeladen, da sie wußten, daß er ein Problem hatte.

Gary sei ziemlich verzweifelt gewesen, denn Molly hatte von seiner Affäre mit Annamarie Scalli erfahren.

Seinem Freund Cal hatte Gary erzählt, Molly hielte sich schon die ganze Woche in ihrem Ferienhaus in Cape Cod auf und knalle einfach den Hörer hin, wenn er anrief.

»Wie haben Sie reagiert, als Dr. Lasch Ihnen sein außereheliches Verhältnis beichtete?« fragte der Staatsanwalt.

Cal erwiderte, er und Peter hätten sich um die Ehe ihres Freundes Sorgen gemacht. Außerdem hätten sie befürchtet, ein Skandal um Dr. Lasch und die junge Krankenschwester könne dem Krankenhaus schaden. Gary habe ihnen versichert, daß es keinen Skandal geben würde. Annamarie, die ein Kind erwartete, sei bereit, die Stadt zu verlassen und das Baby zur Adoption freizugeben. Sein Anwalt habe ihr eine Abfindung von fünfundsiebzigtausend Dollar angeboten und sie ein Abkommen unterzeichnen lassen, das sie zum Stillschweigen verpflichtete.

Annamarie Scalli, dachte Molly, die hübsche, dunkelhaarige, sexy Krankenschwester, die sie einmal in der Klinik kennengelernt hatte. War Gary in sie verliebt gewesen, oder hatte es sich nur um eine belanglose Affäre gehandelt, die erst dann Kreise zog, als Annamarie schwanger wurde? Nun würde sie es nie erfahren. Es gab so viele offene Fragen. Hat Gary mich wirklich geliebt? überlegte sie. Oder haben wir einander nur etwas vorgemacht? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie durfte sich nicht mit solchen Grübeleien quälen.

Dann trat Jenna in den Zeugenstand. Ich weiß, wie schwer es ihr fällt auszusagen, schoß es Molly durch den Kopf. Aber der Staatsanwalt hat sie vorgeladen, ihr bleibt nichts anderes übrig.

»Ja«, gab Jenna mit leiser, zögernder Stimme zu. »Ich habe Molly an Garys Todestag im Ferienhaus angerufen. Sie erzählte mir, er habe ein Verhältnis mit Annamarie gehabt, die nun schwanger sei. Molly war am Boden zerstört.« Molly hatte Mühe, sich auf das Verhör zu konzentrieren. Der Staatsanwalt erkundigte sich, ob Molly wütend gewesen sei, und Jenna entgegnete, nein, eher traurig. Schließlich jedoch mußte sie einräumen, Molly sei auch sehr ärgerlich auf Gary gewesen.

»Molly, stehen Sie auf, der Richter verläßt den Saal.«

Philip Matthews, ihr Anwalt, zog sie am Ellenbogen hoch und führte sie hinaus. Draußen wurde sie von Blitzlichtern geblendet. Matthews bugsierte sie rasch durch die Menschenmenge und verfrachtete sie in das wartende Auto. »Ihre Eltern sind schon zu Hause«, sagte er beim Anfahren.

Mollys Eltern waren eigens aus Florida angereist, um ihr beizustehen. Sie hatten sie überreden wollen, aus dem Haus auszuziehen, in dem Gary gestorben war, doch Molly brachte das nicht über sich. Schließlich war es ein Geschenk ihrer Großmutter, und sie hing sehr daran. Aber auf Drängen ihres Vaters hatte sie wenigstens das Arbeitszimmer neu eingerichtet. Alle Möbel wurden weggegeben und der gesamte Raum umgestaltet. Molly ließ die schwere Mahagonitäfelung entfernen und löste die Sammlung antiker Möbelstücke und Kunstwerke auf, an der Gary so gehangen hatte. Seine Gemälde, Skulpturen, Teppiche, Öllampen, der massive Schreibtisch, das mit rotbraunem Leder bezogene Sofa und die Sessel mußten einer bunten Chintzcouch, einem passenden Zweisitzer und Tischen aus heller Eiche weichen. Dennoch blieb die Tür zum Arbeitszimmer stets geschlossen.

Das wertvollste Stück der Sammlung, eine siebzig Zentimeter hohe Bronzefigur, ein Original von Remington, das ein Pferd mit Reiter darstellte, befand sich noch in der Obhut der Staatsanwaltschaft – denn damit hatte Molly Gary angeblich den Schädel eingeschlagen.

Manchmal, wenn Molly sicher war, daß ihre Eltern schliefen, schlich sie nach unten, stand auf der Schwelle zum Arbeitszimmer und versuchte, sich in allen Einzelheiten daran zu erinnern, wie sie Gary aufgefunden hatte.

Doch so sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, sie wußte nicht mehr, ob sie ihn an jenem Abend angesprochen hatte oder auf ihn zugegangen war, als er am Schreibtisch saß. Und sie konnte auch nicht sagen, ob sie nach der Skulptur gegriffen, die Vorderbeine des Pferdes gepackt und so kräftig ausgeholt hatte, daß der Schwung genügte, um Gary den Schädel zu zerschmettern. Aber Polizei und Staatsanwalt behaupteten, so hätte es sich abgespielt.

Als sie nun nach einem erneuten Verhandlungstag nach Hause kam, bemerkte sie die wachsende Besorgnis ihrer Eltern. An ihrer Umarmung spürte Molly, daß sie sie beschützen wollten, aber sie war wie erstarrt.

Ja, ihre Eltern waren ein hübsches Paar, das sagten alle. Molly wußte, daß sie ihrer Mutter Ann sehr ähnelte. Walter Carpenter, ihr Vater, überragte sie beide. Inzwischen war sein früher blondes Haar, das er von seiner dänischen Großmutter geerbt hatte, ergraut.

»Jetzt könnten wir einen Cocktail sicher gut gebrauchen«, meinte er nun und ging zur Hausbar.

Molly und ihre Mutter tranken Wein, Philip bat um einen Martini. »Wie sehr hat uns Blacks Aussage heute geschadet, Philip?« fragte Walter, als er ihm das Glas reichte.

Molly merkte Philip Matthews an, daß er sich ungemein bemühte, Zuversicht zu verbreiten. »Ich glaube, ich kann noch einiges retten, wenn ich ihn mir erst mal vorknöpfe.«

Der achtunddreißigjährige Verteidiger Philip Matthews war inzwischen eine Art Medienstar geworden. Mollys Vater hatte seiner Tochter versprochen, ihr den besten Anwalt zu besorgen, den man für Geld bekommen konnte. Und Matthews entsprach trotz seiner Jugend genau seinen Vorstellungen. Hatte er es nicht geschafft, daß das Verfahren gegen einen Medienmogul wegen Mordes an seiner Frau eingestellt wurde? Ja, dachte Molly, aber schließlich hatte man den Mann nicht von Kopf bis Fuß blutverschmiert aufgefunden.

Sie spürte, wie sich ihre Benommenheit ein wenig legte, obwohl sie mittlerweile aus Erfahrung wußte, daß dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Allerdings war ihr klar, wie die Dinge auf die Menschen im Gerichtssaal, vor allem auf die Geschworenen, wirken mußten. »Wie lange dauert der Prozeß noch?« fragte sie.

»Ungefähr drei Wochen«, erwiderte Matthews.

»Und dann werde ich schuldig gesprochen«, stellte sie ruhig fest. »Halten Sie mich nicht auch für die Täterin? Jedenfalls glaubt offenbar alle Welt, ich hätte Gary aus Wut getötet.« Sie seufzte erschöpft. »Neunzig Prozent der Geschworenen denken, ich lüge, wenn ich erkläre, daß ich mich an nichts erinnern kann. Und der Rest vermutet, daß bei mir eine Schraube locker ist.«

Gefolgt von den anderen, ging sie den Flur entlang zum Arbeitszimmer und öffnete die Tür. Wieder kam sie sich vor, wie in einem Traum. »Vielleicht war ich es wirklich«, murmelte sie mit tonloser Stimme. »Ich weiß noch, wie ich in dieser Woche in Cape Cod am Strand spazierengegangen bin und das alles so gemein fand. Ich war fünf Jahre lang verheiratet, hatte eine Fehlgeburt und bin endlich wieder schwanger geworden. Doch auch dieses Kind habe ich nach vier Monaten verloren. Erinnert ihr euch? Ihr seid sogar aus Florida gekommen, weil ihr euch solche Sorgen um mich machtet. Ich war am Ende. Und dann, nur einen Monat nach der zweiten Fehlgeburt, hebe ich das Telefon ab und höre Annamarie Scalli mit Gary sprechen. Und alles, was ich verstand, war, daß sie schwanger von ihm war. Ich war so wütend und so gekränkt, und ich dachte, Gott hat die Falsche bestraft, als er mir mein Baby genommen hat.«

Ann Carpenter legte den Arm um sie, und diesmal ließ Molly es geschehen. »Ich habe solche Angst«, flüsterte sie. »Ich habe solche Angst.«

Philip Matthews nahm Walter Carpenter beiseite. »Setzen wir uns in die Bibliothek«, schlug er vor. »Ich glaube, wir müssen der Wirklichkeit ins Auge sehen und versuchen, eine Abmachung mit der Staatsanwaltschaft zu treffen.«

Molly stand vor dem Richter und bemühte sich, den Worten des Staatsanwalts zu folgen. Philip Matthews hatte ihr erklärt, der Staatsanwalt sei nach einigem Zureden mit einer Anklage wegen Totschlags einverstanden gewesen, ein Delikt, das mit zehn Jahren Haft bestraft wurde. Denn der Schwachpunkt in seiner Darstellung des Falls war Annamarie Scalli, Gary Laschs schwangere Geliebte, die noch nicht ausgesagt hatte. Der Polizei gegenüber hatte sie behauptet, am Sonntag abend allein zu Hause gewesen zu sein.

»Der Staatsanwalt weiß, daß ich den Verdacht auf Annamarie lenken werde«, sagte Matthews zu Molly. »Auch sie hatte allen Grund, wütend auf Gary zu sein. Möglicherweise schaffen wir es, daß die Geschworenen sich nicht auf ein Urteil einigen können, aber falls Sie dennoch verurteilt werden, droht Ihnen lebenslänglich. Wenn Sie sich jedoch des Totschlags schuldig bekennen, sind Sie sicher schon in fünf Jahren wieder draußen.«

Nun war sie an der Reihe, das auszusprechen, was von ihr erwartet wurde. »Euer Ehren, ich kann mich zwar nicht mehr an diese schreckliche Nacht erinnern, doch ich muß gestehen, daß die Beweise der Staatsanwaltschaft schlüssig sind und auf mich als Täterin hindeuten. Ich gebe zu, die vorgelegten Beweise zeigen, daß ich meinen Mann getötet habe.« Das ist bestimmt nur ein Alptraum, dachte Molly. Gleich wache ich auf und bin wohlbehalten wieder zu Hause.

Fünfzehn Minuten später hatte der Richter sie zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie wurde in Handschellen zu dem Transporter geführt, der sie ins Niantic-Gefängnis bringen sollte, die staatliche Justizvollzugsanstalt für Frauen.

Fünfeinhalb Jahre später

1

Gus Brandt, der Produzent des Kabelsenders NAF, sah von seinem Schreibtisch im Gebäude Rockefeller Plaza Nummer 30 in Manhattan auf. Fran Simmons, seine neue Reporterin für die Sechs-Uhr-Nachrichten, war gerade hereingekommen. Fran hatte außerdem die Aufgabe, regelmäßig Beiträge für die beliebte Sendereihe mit dem Titel Wahre Verbrechen zu liefern, die seit kurzem ausgestrahlt wurde.

»Ich habe es eben erfahren«, sagte Gus aufgeregt. »Molly Carpenter wird auf Bewährung freigelassen. Nächste Woche ist es soweit.«

»Sie hat endlich Bewährung gekriegt!« rief Fran. »Das freut mich aber.«

»Ich war nicht sicher, ob Sie sich noch an den Fall erinnern. Vor sechs Jahren lebten Sie schließlich in Kalifornien. Wissen Sie viel darüber?«

»Eigentlich alles. Vergessen Sie nicht, daß ich mit Molly auf der Cranden Academy in Greenwich war. Während des Prozesses habe ich mir die Lokalzeitungen schicken lassen.«

»Sie sind zusammen zur Schule gegangen? Das ist ja großartig. Ich möchte so bald wie möglich eine Reportage über sie bringen.«

»Klar. Aber Molly und ich stehen uns nicht sehr nah, Gus«, warnte ihn Fran. »Seit wir unseren Abschluß gemacht haben, habe ich sie nicht gesehen, und das war vor vierzehn Jahren. Als ich an der University of California zu studieren begann, ist meine Mutter nach Santa Barbara gezogen, und ich habe fast alle meine früheren Freunde aus Greenwich aus den Augen verloren.«

Für den Umzug nach Kalifornien hatten Fran und ihre Mutter eine Reihe von Gründen gehabt, sie wollten Connecticut so weit wie möglich hinter sich lassen. Am Tag von Frans Schulabschluß hatte ihr Vater sie und ihre Mutter festlich zum Essen ausgeführt, und sie hatten darauf angestoßen, daß Fran nun an seiner alten Alma mater zu studieren anfangen würde. Dann war er unter dem Vorwand, er habe seine Brieftasche im Auto liegenlassen, hinaus auf den Parkplatz gegangen und hatte sich dort erschossen. In den nächsten Tagen kam das Motiv für seinen Selbstmord ans Licht. Eine Untersuchungskomission kam ziemlich schnell zu dem Ergebnis, daß er vierhunderttausend Dollar unterschlagen hatte, und zwar aus der Kasse des Vereins zur Einrichtung einer neuen Bibliothek in Greenwich, dessen Vorsitz er ehrenamtlich führte.

Natürlich kannte Gus Brandt diese Geschichte. Er hatte Fran darauf angesprochen, als er nach Los Angeles gekommen war, um ihr die Stelle bei NAF-TV anzubieten. »Das ist lange her«, sagte er. »Sie brauchen sich also nicht mehr in Kalifornien zu verkriechen. Außerdem können Sie bei uns Karriere machen. Wer es in dieser Branche zu etwas bringen will, muß öfter den Wohnort wechseln. Unsere Sechs-Uhr-Nachrichten haben bessere Einschaltquoten als die der Lokalsender, und die Serie Wahre Verbrechen gehört zu den zehn beliebtesten im ganzen Land. Außerdem können Sie ruhig zugeben, daß Sie New York vermissen.«

Fran hatte nur noch auf den alten Spruch gewartet, außerhalb von New York gebe es ohnehin nichts weiter als finsterste Provinz, doch so weit war Gus nicht gegangen. Wegen seines schütteren, grauen Haars und der hängenden Schultern sah man Gus jedes einzelne seiner fünfundfünfzig Jahre an, und er machte stets ein Gesicht wie ein Mann, der in einer verschneiten Nacht den letzten Bus verpaßt hat.

Allerdings täuschte dieser Eindruck, und das wußte Fran ganz genau. Gus verfügte über einen messerscharfen Verstand, einen Riecher für erfolgreiche Sendungen und ein Händchen fürs Geschäftliche, in seiner Branche konnten ihm nur wenige das Wasser reichen. Also hatte sie sein Angebot angenommen, ohne lange zu überlegen. Wer für Gus arbeitete, führte ein Leben auf der Überholspur.

»Sie haben also nach Ihrem Abschluß nichts mehr von Molly gehört?« fragte er nun.

»Nein. Während des Prozesses habe ich ihr geschrieben und ihr meine Hilfe angeboten. Doch ich erhielt als Antwort nur einen höflich-distanzierten Brief von ihrem Anwalt. Darin stand, Molly wisse meine Besorgnis zwar zu schätzen, sei aber nicht in der Lage zu korrespondieren. Das war vor mehr als fünfeinhalb Jahren.«

»Wie war sie denn so als junges Mädchen?«

Fran schob sich eine Strähne ihres hellbraunen Haars hinters Ohr, eine unbewußte Geste, die bedeutete, daß sie angestrengt nachdachte. Kurz sah sie die sechzehnjährige Molly vor ihrem geistigen Auge. »Molly war immer etwas Besonderes«, meinte sie nach einer Weile. »Sie haben die Fotos ja gesehen. Schon damals war sie eine Schönheit, und während wir anderen noch über unsere eigenen Füße stolperten, drehten sich nach ihr bereits die Männer um. Sie hatte unglaublich strahlende blaue Augen, dazu einen Teint, für den jedes Model einen Mord begehen würde, und glänzendes blondes Haar. Doch am meisten hat mich immer ihre Gelassenheit beeindruckt. Damals dachte ich, wenn sie dem Papst und der Königin von England auf der gleichen Party begegnet wäre, hätte sie sie seelenruhig begrüßt, und das auch noch in der richtigen Reihenfolge. Trotzdem hatte ich seltsamerweise immer den Verdacht, daß sie in ihrem tiefsten Inneren schüchtern war. Bei all ihrer bemerkenswerten Ruhe hatte sie etwas Zögerliches an sich. Wie ein wunderschöner Vogel, der auf einem Ast sitzt, die Flügel ausbreitet und sich nicht loszufliegen traut.«

Sie schien durchs Zimmer zu schweben, dachte Fran und erinnerte sich daran, daß sie Molly einmal in einem eleganten Abendkleid erlebt hatte. Und wegen ihrer kerzengeraden Haltung wirkte sie sogar noch größer als eins siebzig.

»Waren Sie beide eng befreundet?« fragte Gus.

»Nein, ich verkehrte nicht in denselben Kreisen. Molly war wohlhabend und gehörte zur Country-Club-Clique. Ich hingegen hatte ein Faible für Sport und habe mich mehr für Wettkämpfe als für Bälle interessiert. Leider hat bei mir nicht jeden Freitag abend pausenlos das Telefon geklingelt.«

»Ein anständiges Mädchen, wie meine Mutter gesagt hätte«, spöttelte Gus.

Ich habe mich an der Schule nie wohlgefühlt, überlegte Fran. In Greenwich gab es zwar viele Familien, die der Mittelschicht angehörten, doch Dad wollte höher hinaus. Ständig versuchte er, sich bei reichen Leuten lieb Kind zu machen. Und er verlangte von mir, daß ich mich mit Mädchen anfreundete, deren Eltern Geld oder gute Beziehungen hatten.

»Und wie war Molly, abgesehen von ihrem Äußeren?«

»Sehr nett«, erwiderte Fran. »Als mein Vater starb und es bekannt wurde, was er getan hatte – der Selbstmord und die Unterschlagung –, zog ich mich völlig zurück. Molly wußte, daß ich täglich zum Joggen ging, und eines Morgens wartete sie auf mich. Sie sagte, sie wolle mir einfach eine Weile Gesellschaft leisten. Da ihr Vater dem Bibliotheksverein riesige Summen gespendet hatte, können Sie sich sicher vorstellen, wieviel diese freundschaftliche Geste für mich bedeutete.«

»Sie brauchten sich doch nicht dafür zu schämen, daß Ihr Vater einen Fehler gemacht hat«, tadelte Gus.

»Ich habe mich nicht für ihn geschämt«, entgegnete Fran barsch. »Er tat mir nur leid, und wahrscheinlich war ich auch wütend. Warum glaubte er, meine Mutter und mich mit Geld überschütten zu müssen? Nach seinem Tod wurde uns klar, was er in den letzten Tagen durchgemacht hatte, denn im Bibliotheksverein sollte eine Buchprüfung stattfinden, und er wußte, daß man ihm auf die Schliche kommen würde.« Sie hielt inne und fügte dann leise hinzu: »Natürlich hat er falsch gehandelt. Er hätte das Geld nicht nehmen und auch nicht denken sollen, daß wir es brauchten. Aber er war schwach. Inzwischen ist mir klar, wie entsetzlich unsicher er gewesen sein muß. Und dennoch war er ein sehr lieber Mensch.«

»Dr. Gary Lasch vermutlich auch. Außerdem hatte er ein Gespür fürs Finanzielle. Die Lasch-Klinik genießt einen ausgezeichneten Ruf, und vom Remington-Gesundheitsdienst könnte sich so manche vergleichbare Organisation eine Scheibe abschneiden.« Gus lächelte. »Aber da Sie und Molly zusammen in der Schule waren, müssen Sie sie doch besser kennen. Glauben Sie, daß sie es war?«

»Daran besteht kein Zweifel«, antwortete Fran wie aus der Pistole geschossen. »Die Beweislast gegen sie war erdrückend. Und ich habe schon genügend Mordprozesse beobachtet, um zu wissen, wie viele Menschen, denen man es eigentlich gar nicht zutraut, ihr Leben ruinieren, weil sie nur für einen Sekundenbruchteil die Beherrschung verlieren. Allerdings müßte Molly sich seit unserer letzten Begegnung sehr verändert haben. Denn eigentlich fällt es mir schwer, sie mir als Mörderin vorzustellen. Vielleicht hat sie die Tat ja verdrängt, weil sie so gar nicht zu ihr paßt.«

»Deshalb eignet sich dieser Fall ja so gut für unsere Sendung«, meinte Gus. »Machen Sie sich an die Arbeit. Wenn Molly Lasch nächste Woche aus dem Niantic-Gefängnis entlassen wird, werden Sie zum Empfangskomitee gehören.«

2

Eine Woche später wartete Fran inmitten einer großen Gruppe von Reportern vor dem Gefängnistor. Da es ein kühler Märztag war, hatte sie den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in die Taschen gesteckt und ihre liebste Skimütze aufgesetzt. Ed Ahearn, ihr Kameramann, war mit von der Partie.

Wie immer murrten die Reporter über das miserable Wetter und die unchristliche Stunde. Windböen trieben eisige Schneeregenschauer vor sich her. Natürlich erörterten viele der Anwesenden noch einmal die Einzelheiten des Falles, der vor fünfeinhalb Jahren im ganzen Land Schlagzeilen gemacht hatte.

Fran hatte, das Gefängnis im Hintergrund, bereits einige Berichte in die Kamera gesprochen. Schon am frühen Morgen hatte der Sender ihre Live-Reportage gebracht: »Wir stehen hier vor dem Tor des Niantic-Gefängnisses in Connecticut, aus dem Molly Carpenter Lasch in wenigen Minuten entlassen werden wird. Sie hat eine Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren verbüßt, nachdem sie sich dazu bekannt hat, ihren Mann Gary Lasch im Affekt erschlagen zu haben.«

Während Fran auf Mollys Erscheinen wartete, lauschte sie den Gesprächen der Umstehenden. Nach allgemeiner Auffassung war Molly eindeutig schuldig und hatte es nur ihrem Glück zu verdanken, daß sie schon nach fünfeinhalb Jahren wieder auf freien Fuß kam. Niemand glaubte ihr, daß sie sich an die Tat nicht erinnern konnte.

Als Fran eine dunkelblaue Limousine hinter dem Hauptgebäude des Gefängnisses auftauchen sah, gab sie sofort ihrem Sender Bescheid. »Philip Matthews’ Wagen fährt los«, sagte sie. Mollys Anwalt war vor einer halben Stunde eingetroffen, um seine Mandantin abzuholen.

Ahearn schaltete die Kamera ein.

Auch die anderen hatten das Auto entdeckt. »Ich wette, wir vergeuden hier nur unsere Zeit«, bemerkte der Reporter von der Post. »Zehn zu eins, daß sie sich sofort aus dem Staub machen, sobald das Tor aufgeht. Halt, Moment mal!«

Währenddessen sprach Fran leise in ihr Mikrophon: »Der Wagen mit Molly Carpenter Lasch hat gerade die Fahrt in die Freiheit begonnen.«

Dann jedoch starrte sie entgeistert die schlanke Gestalt an, die neben dem dunkelblauen Auto marschierte. »Charley«, wandte sie sich an den Nachrichtensprecher im Studio. »Molly Lasch sitzt nicht im Auto, sondern geht zu Fuß. Offenbar hat sie uns etwas zu sagen.«

Blitzlichter leuchteten auf, Kameras liefen und Mikrophone richteten sich auf Molly Carpenter Lasch, als sie am Tor stehenblieb und darauf wartete, daß es sich öffnete. Ihre Miene war die eines Kindes, das zum erstenmal ein mechanisches Spielzeug sieht. »Es ist, als traue Molly ihren Augen nicht«, sprach Fran ins Mikrophon.

Kaum war Molly auf die Straße getreten, als sie schon von Reportern umringt und mit Fragen bestürmt wurde. »Wie fühlen Sie sich in der Freiheit? … Haben Sie sich diesen Moment so vorgestellt? … Werden Sie Garys Familie besuchen? … Glauben Sie, daß Sie sich später einmal an jene Nacht erinnern können?«

Fran zückte zwar wie ihre Kollegen das Mikrophon, hielt sich aber bewußt ein wenig abseits. Sie war sicher, daß ihre Chancen auf ein Interview gleich Null sein würden, wenn sie Molly jetzt verärgerte.

Molly brachte die Reporter mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Bitte, lassen Sie mich etwas sagen«, meinte sie leise.

Sie ist so blaß und mager, dachte Fran. So, als wäre sie krank gewesen. Daß sie sich so verändert hat, liegt nicht nur daran, daß sie älter geworden ist. Mollys früher goldblondes Haar war nun so dunkel wie ihre Brauen und Wimpern. Außerdem trug sie es länger als in ihrer Schulzeit und hatte es im Nacken mit einer Spange zusammengefaßt. Ihre ohnehin helle Haut war heute so weiß wie Alabaster. Und die Lippen, die damals so oft gelächelt hatten, waren ernst zusammengepreßt. Wahrscheinlich hatte sie schon lange keinen Grund zur Freude mehr gehabt.

Allmählich verstummten die Fragen. Es herrschte Totenstille.

Philip Matthews war ausgestiegen und baute sich neben Molly auf. »Molly, lassen Sie das lieber. Dem Bewährungsausschuß wird das gar nicht gefallen«, warnte er sie, doch sie achtete nicht auf ihn.

Neugierig betrachtete Fran den Anwalt. Er wird sicher einmal so berühmt werden wie der Verteidiger von O. J. Simpson, überlegte sie. Mich interessiert, was für ein Mensch er ist. Matthews war durchschnittlich groß, hellblond, hager und wachsam. Er erinnerte Fran an einen Tiger, der sein Junges beschützt, und es hätte sie nicht gewundert, wenn er Molly gewaltsam ins Auto gezerrt hätte.

Molly blickte direkt in die Kameras und sprach laut und deutlich in die Mikrophone. »Ich bin dankbar dafür, daß ich nach Hause darf. Um Bewährung zu bekommen, mußte ich zugeben, daß ich allein die Schuld am Tod meines Mannes trage. Ich mußte gestehen, daß die Beweislast erdrückend war. Dennoch möchte ich Ihnen allen sagen, daß ich trotz all dieser Beweise nie einem Menschen das Leben nehmen könnte. Davon bin ich in meinem tiefsten Inneren überzeugt. Ich weiß, daß meine Unschuld vielleicht nie bewiesen werden kann. Aber ich hoffe, daß ich die vollständige Erinnerung an diesen schrecklichen Abend möglicherweise wiederfinde, wenn erst einmal ein wenig Frieden in mein Leben einkehrt. Erst an diesem Tag werde ich zur Ruhe kommen und wieder an die Zukunft denken können.«

Sie hielt inne. Als sie weiter sprach, klang ihre Stimme entschlossener. »Inzwischen ist mir ein kleiner Teil dessen eingefallen, was sich an jenem Abend ereignet hat. Ich erinnere mich, daß ich Gary sterbend in seinem Arbeitszimmer entdeckte. Und seit kurzem weiß ich noch etwas: Ich bin absolut sicher, daß sich bei meiner Ankunft eine dritte Person im Haus aufhielt; und ich glaube, daß dieser Unbekannte meinen Mann getötet hat. Ich bin überzeugt, daß dieser Mensch nicht nur ein Produkt meiner Fantasie ist, sondern daß es ihn wirklich gibt. Ich werde ihn aufspüren, denn er muß dafür bezahlen, daß er Gary ermordet und mein Leben zerstört hat.«

Ohne auf die Fragen zu achten, die nach ihrer Ansprache auf sie niederprasselten, drehte Molly sich um und stieg in den Wagen. Nachdem Matthews die Beifahrertür hinter ihr geschlossen hatte, eilte er um das Auto herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Molly schloß die Augen und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze, während Matthews sich hupend einen Weg durch die Reporter und Fotografen bahnte.

»Haben Sie das gehört, Charley?« sagte Fran ins Mikrophon. »Molly beteuert weiterhin ihre Unschuld.«

»Ein überraschendes Statement«, entgegnete der Nachrichtensprecher. »Wir werden die Story weiterverfolgen, vielleicht gibt es ja noch weitere neue Entwicklungen. Vielen Dank.«

»Okay, Fran, Sie sind nicht mehr auf Sendung«, teilte die Regie ihr mit.

»Was halten Sie von Mollys Ansprache, Fran?« wollte Joe Hutnik, ein alter erfahrener Kriminalreporter von der Greenwich Time, wissen.

Bevor Fran Gelegenheit zu einer Antwort hatte, lachte Paul Reilly vom Observer höhnisch auf. »Die Dame ist nicht auf den Kopf gefallen. Wahrscheinlich will sie ein Buch über ihren Fall schreiben, und niemand würde Verständnis dafür haben, wenn eine Mörderin von ihrer Tat auch noch profitierte. Nun werden unsere sentimentalen Mitbürger glauben, daß Gary Lasch von jemand anderem umgebracht wurde und daß Molly ebenfalls ein Opfer ist.«

Joe Hutnik zog die Augenbraue hoch. »Kann sein. Molly Laschs nächster Ehemann sollte aufpassen, daß er ihr nicht den Rücken zukehrt, wenn sie wütend auf ihn wird. Was meinen Sie, Fran?«

Ärgerlich sah Fran ihre beiden Kollegen an. »Kein Kommentar«, zischte sie.

3

Auf dem Heimweg vom Gefängnis betrachtete Molly gedankenverloren die vorüberziehenden Straßenschilder. An der Ausfahrt Lake Avenue verließen sie den Merritt Parkway. Natürlich kenne ich die Gegend, aber an die Fahrt in die Strafanstalt erinnere ich mich kaum noch, dachte sie. Ich weiß nur noch, wie schwer die Ketten waren und daß die Handschellen in meine Handgelenke einschnitten. Obwohl sie starr geradeaus sah, spürte sie Philip Matthews Blicke auf sich.

»Ich fühle mich seltsam«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Nein … leer, würde es besser ausdrücken.«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, war es ein Fehler, das Haus zu behalten. Und es ist noch ein größerer, dorthin zurückzukehren«, meinte er. »Außerdem hätten Sie das Angebot Ihrer Eltern annehmen sollen, die herkommen und Ihnen helfen wollten.«

Molly sah weiter geradeaus. Die Scheibenwischer waren machtlos gegen den dichten Schneeregen. »Was ich vorhin den Reportern gesagt habe, war mein voller Ernst. Ich spüre, daß ich mein Gedächtnis an diese Nacht wiederfinden werde, da nun alles vorbei ist und ich zurück nach Hause kann, Philip. Ich habe Gary nicht getötet, zu so etwas wäre ich nie fähig. Mir ist klar, daß die Psychiater denken, ich hätte die Tat verdrängt, aber sie irren sich. Aber selbst wenn sie recht haben, werde ich einen Weg finden, mit dieser Schuld weiterzuleben. Das schlimmste ist diese Ungewißheit.«

»Nehmen wir einmal an, daß Ihre Version der Dinge stimmt, Molly: Gary war verletzt und blutete. Sie haben einen Schock erlitten, und Ihr Gedächtnis wird irgendwann wiederkehren. Ist Ihnen klar, daß Sie in diesem Fall für den tatsächlichen Mörder eine Bedrohung darstellen? Und da Sie nun öffentlich kundgetan haben, Sie würden sich zu Hause vielleicht besser an jenen Abend erinnern, könnte der Mörder auf den Gedanken kommen, Sie ebenfalls zu beseitigen.«

Sie schwieg eine Weile. Warum, glaubst du, habe ich meine Eltern gebeten, in Florida zu bleiben? Wenn ich falsch liege, wird mich niemand belästigen. Habe ich allerdings recht, hat der Täter nun einen Grund, sich mit mir zu befassen.

Sie sah Matthews an. »Philip, mein Vater hat mich einmal zur Entenjagd mitgenommen, als ich noch ein kleines Mädchen war«, begann sie. »Das hat mir überhaupt nicht gefallen. Es war noch früh am Tag und eiskalt, und es regnete. Die ganze Zeit wünschte ich, ich könnte nach Hause ins Bett. Aber eines habe ich an diesem Morgen gelernt: Wenn man Beute machen will, braucht man einen Köder. Sie sind wie der Rest der Welt der Ansicht, daß ich Gary im Affekt getötet habe. Streiten Sie das bloß nicht ab. Ich habe gehört, wie Sie und mein Vater darüber sprachen, daß Sie nicht mehr hofften, eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen, indem Sie den Verdacht auf Annamarie Scalli lenkten. Vielmehr rechneten Sie sich höhere Chancen aus, wenn Sie auf Totschlag aus Leidenschaft plädierten, denn die Geschworenen würden uns sicher abnehmen, daß ich Gary in einem Wutanfall getötet hätte. Außerdem sagten Sie, es gäbe keine Garantie, daß ich nicht doch wegen Mordes schuldig gesprochen würde. Und deshalb sollte ich einen Totschlag gestehen, sofern der Staatsanwalt das zuließe. Sie haben doch mit meinem Vater darüber geredet.«

»Ja«, räumte Matthews ein.

»Und falls ich Gary wirklich getötet habe, hatte ich großes Glück, mit einer so geringen Strafe davonzukommen. Wenn Sie und alle anderen – auch meine Eltern – recht haben, kann ich also gefahrlos behaupten, ich hätte in der fraglichen Nacht eine dritte Person im Haus bemerkt. Denn da es diese dritte Person nach allgemeiner Auffassung ja nicht gibt, wird mich auch niemand bedrohen. Richtig?«

»Richtig«, entgegnete Matthews zögernd.

»Deshalb braucht sich niemand Sorgen um mich zu machen. Wenn meine Annahme hingegen stimmt, habe ich den wirklichen Täter damit aufgescheucht und riskiere mein Leben. Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber genau das möchte ich erreichen. Denn wenn ich tot aufgefunden werde, wird vielleicht endlich jemand eine Untersuchung einleiten, die nicht automatisch davon ausgeht, daß ich die Mörderin meines Mannes bin.«

Philip Matthews schwieg.

»Das trifft doch zu, oder, Philip?« fragte Molly fast vergnügt. »Wenn ich sterbe, wird wegen des Mordes an Gary noch einmal gründlich ermittelt werden. Und dann kriegen sie den wirklichen Mörder.«

4

Schön, wieder in New York zu sein, dachte Fran, als sie aus ihrem Bürofenster auf das Rockefeller Center blickte. Auf den trüben, regnerischen Morgen war ein kalter, grauer Nachmittag gefolgt. Doch sie genoß die Aussicht trotzdem. Es machte ihr Spaß, die Schlittschuhläufer zu beobachten, von denen einige anmutig über das Eis glitten. Andere hingegen konnten sich kaum auf den Beinen halten. Auch hier gibt es Talente und Stümper wie überall, schoß es ihr durch den Kopf. Sie sah zum Kaufhaus Saks hinüber, das hinter der Eislaufbahn lag. Die Schaufenster an der Fifth Avenue schimmerten im dunstigen Märzlicht.

Die Menschenmassen, die aus den Bürohäusern strömten, waren ein Zeichen dafür, daß der Arbeitstag sich dem Ende zuneigte. Wie auf der ganzen Welt wollten auch New Yorks Berufstätige so schnell wie möglich nach Hause.

Ich würde am liebsten für heute auch Schluß machen, sagte sie sich und griff nach ihrer Jacke. Es war ein langer Tag gewesen, und sie hatte noch viel zu tun. Um zwanzig vor sieben mußte sie noch einmal auf Sendung, um das Neueste über Molly Laschs Haftentlassung zu vermelden. Danach hatte sie endlich Feierabend. Sie hatte ihre Wohnung Ecke Second Avenue und 56. Straße, von der aus man die Midtown-Wolkenkratzer und den East River sehen konnte, schon ins Herz geschlossen. Nur der Anblick der Kisten und Kartons, die ausgepackt und sortiert werden wollten, dämpfte ihre Freude immer wieder.

Wenigstens im Büro ist es aufgeräumt, dachte sie erleichtert. Ihre Bücher standen schon in Reichweite hinter ihr im Regal. Und die Pflanzen verliehen den gesichtslosen Büromöbeln, die man ihr zugeteilt hatte, eine persönliche Note. An den langweilig beigen Wänden hingen bunte Drucke impressionistischer Gemälde.

Als sie mit Ed Ahearn am Morgen in den Sender zurückgekehrt war, hatte sie sich zuerst bei Gus Brandt gemeldet. »Ich werde ein oder zwei Wochen verstreichen lassen und dann mit Molly einen Termin vereinbaren«, erklärte sie, nachdem sie Molly Laschs unerwartete Mitteilung an die Presse besprochen hatten.

Gus kaute heftig auf seinem Nikotinkaugummi, der ihm bei seinem Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, leider nicht viel weiterhalf. »Wie hoch stehen die Chancen, daß sie mit Ihnen redet?« fragte er.

»Keine Ahnung. Ich habe mich zwar ein wenig abseits gehalten, als Molly mit den Reportern sprach, doch sie hat mich sicher gesehen. Natürlich weiß ich nicht, ob sie mich erkannt hat. Es wäre wunderbar, wenn wir sie zur Mitarbeit bewegen könnten. Ansonsten müssen wir ohne ein Interview auskommen.«

»Was halten Sie von ihrer Ansprache?«

»Ich persönlich fand, daß sie ziemlich überzeugend klang, als sie meinte, in jener Nacht sei eine dritte Person im Haus gewesen. Aber ich glaube, sie stellt nur Vermutungen an. Natürlich werden ihr einige Leute auch glauben. Vielleicht will sie auch nur Verwirrung stiften. Ob sie zu einem Interview mit mir bereit ist, kann ich noch nicht sagen.«

Doch ich kann es wenigstens hoffen, dachte Fran, als sie die Unterhaltung noch einmal Revue passieren ließ. Dann lief sie eilig den Gang entlang in die Maske.

Cara, die Maskenbildnerin, legte ihr einen Frisierumhang um, während Betts, die Friseurin, ihr das Haar ausbürstete. »Es ist zum Verzweifeln mit dir, Fran. Hast du gestern etwa mit deiner Skimütze geschlafen?«

Fran grinste. »Nein, aber ich hatte sie heute morgen auf. Ihr beide müßt also ein Wunder vollbringen.«

Während Cara Make-up auftrug und Betts den Lockenstab vorheizte, schloß Fran die Augen und überlegte sich ihren Einleitungssatz. »Um sieben Uhr dreißig heute morgen öffneten sich die Türen des Niantic-Gefängnisses. Molly Carpenter Lasch kam zu Fuß heraus und hielt eine kurze, aber überraschende Ansprache.«

Cara und Betts arbeiteten mit atemberaubender Geschwindigkeit, und nur wenige Minuten später war Fran bereit für die Kamera.

»Ich erkenne mich kaum wieder«, stellte sie fest, als sie in den Spiegel sah. »Ihr habt es wie immer geschafft.«

»Das bist wirklich du, Fran. Das Problem ist nur, daß Haut und Haare bei dir zu wenig Kontrast haben und durch Akzente hervorgehoben werden müssen«, erklärte Cara geduldig.

Hervorgehoben werden, dachte Fran. Genau das habe ich immer zu vermeiden versucht. Immer bin ich aufgefallen. Die Kleinste im Kindergarten und in der Grundschule. Der Winzling. Erst in der Highschool hatte sie endlich einen Wachstumsschub gehabt und maß nun einen Meter zweiundsechzig.

Cara nahm ihr den Frisierumhang ab. »Du siehst spitze aus«, verkündete sie. »Du wirst sie alle umhauen.«

Tom Ryan, ein erfahrener Nachrichtensprecher, und Lee Manners, eine attraktive, fröhliche Frau, die früher für den Wetterbericht zuständig gewesen war, führten durch die Sechs-Uhr-Nachrichten. Als sie nach der Sendung ihre Mikrophone abnahmen und aufstanden, sagte Ryan: »Ihr Bericht über Molly Lasch war große Klasse, Fran.«

»Anruf für Sie, Fran, Leitung vier«, ertönte eine Stimme aus der Regie.

Zu Frans Erstaunen war Molly Lasch am Apparat. »Fran, ich habe dich doch schon heute morgen vor dem Gefängnis gesehen. Ich bin froh, daß du gekommen bist. Danke für deinen Bericht. Wenigstens du scheinst, was Garys Tod angeht, keine vorgefaßte Meinung zu haben.«

»Ich möchte dir sehr gerne glauben, Molly.« Fran bemerkte, daß sie sich unwillkürlich selbst die Daumen gedrückt hatte.

Mollys Tonfall wurde unschlüssig. »Ich habe mich gefragt, ob du Interesse daran hättest, wegen des Mordes an Gary zu recherchieren. Als Gegenleistung wäre ich einverstanden, daß du für deinen Sender eine Reportage über mich machst. Mein Anwalt erzählt, fast alle Fernsehstationen hätten angerufen, aber ich möchte lieber mit jemandem sprechen, den ich kenne und dem ich vertraue.«

»Natürlich bin ich interessiert, Molly«, erwiderte Fran. »Ich wollte mich deshalb sowieso bei dir melden.«

Sie verabredeten sich für den kommenden Vormittag in Mollys Haus in Greenwich. Nachdem Fran aufgelegt hatte, sah sie Tom Ryan mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Morgen habe ich Klassentreffen«, meinte sie. »Könnte sehr aufschlußreich werden.«

5

Die Verwaltung des Remington-Gesundheitsdienstes befand sich auf dem Gelände der Lasch-Klinik in Greenwich. Dr. Peter Black, der Geschäftsführer, traf jeden Morgen um Punkt sieben im Büro ein, denn seiner Ansicht nach waren die zwei Stunden, bevor seine Mitarbeiter eintrudelten, die produktivsten des Tages.

An diesem Dienstag vormittag hatte Black den Fernsehsender NAF eingeschaltet, was er sonst nie tat.

Von seiner langjährigen Sekretärin wußte er, daß Fran Simmons vor kurzem bei NAF angefangen hatte, und sie hatte ihn auch an Frans Vergangenheit erinnert. Dennoch war Black überrascht, daß ausgerechnet Fran Simmons über Mollys Haftentlassung berichtete. Nur wenige Wochen nach dem Selbstmord von Frans Vater hatte Black Gary Laschs Angebot angenommen, Teilhaber der Klinik zu werden. Monatelang hatte die ganze Stadt über den Simmons-Skandal gesprochen, und Black bezweifelte, daß einer der damaligen Bewohner die Angelegenheit vergessen hatte.

Peter Black sah sich die Sendung an, weil er neugierig auf die Witwe seines früheren Geschäftspartners war.

Da er ohnehin immer wieder den Kopf hob, um den Bericht ja nicht zu verpassen, legte er schließlich den Stift weg und nahm die Lesebrille ab. Black hatte dichtes, dunkelbraunes Haar, das an den Schläfen frühzeitig ergraut war, und große graue Augen. Neue Mitarbeiter ließen sich meist von seiner wohlwollenden Art täuschen – solange sie nicht den Fehler machten, ihm zu widersprechen.

Um sieben Uhr zweiunddreißig begann der erwartete Bericht. Aufmerksam beobachtete Black, wie Molly neben dem Wagen ihres Anwalts zum Gefängnistor ging. Als sie zu sprechen anfing, rutschte er mit seinem Stuhl näher an den Fernseher heran, beugte sich aufmerksam vor und ließ ihre Stimme und ihre Mimik auf sich wirken.

Obwohl er jedes Wort deutlich verstehen konnte, drehte er den Ton lauter. Nachdem sie fertig war, lehnte er sich zurück und faltete die Hände. Schließlich griff er zum Telefon und wählte eine Nummer.

»Bei Whitehall.«

Wie immer ging der leicht britische Akzent des Dienstmädchens Black auf die Nerven. »Verbinden Sie mich bitte mit Mr. Whitehall, Rita.« Er nannte absichtlich seinen Namen nicht, doch das war überflüssig, da sie seine Stimme kannte. Er hörte, wie das Telefon abgehoben wurde.

Calvin vergeudete keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln. »Ich habe die Sendung auch gesehen. Wenigstens bestreitet sie immer noch, Gary umgebracht zu haben.«

»Das ist es nicht, was mir Sorgen bereitet.«

»Ich weiß. Mir gefällt es auch nicht, daß diese Simmons an der Story beteiligt ist. Wenn nötig, müssen wir uns um sie kümmern«, meinte Whitehall und hielt dann inne. »Also dann bis zehn.«

Peter legte auf, ohne sich zu verabschieden. Er wurde das Gefühl nicht los, daß etwas faul war. Den restlichen Tag verbrachte er auf Vorstandssitzungen, in denen die anstehende Übernahme von vier weiteren Gesundheitsdiensten erörtert wurde. Wenn alles glattging, würde Remington einer der wichtigsten Akteure auf dem profitträchtigen Gesundheitsmarkt werden.

6

Eigentlich wollte Philip Matthews Molly ins Haus begleiten, aber sie lehnte ab. »Bitte, Philip, stellen Sie mir einfach meine Tasche vor die Tür«, sagte sie. Dann fügte sie spöttisch hinzu: »Sie kennen ja den alten Satz von Greta Garbo: ›Ich möchte allein sein.‹ Und genauso fühle ich mich jetzt.«

Wie sie so auf der Veranda des Hauses stand, in dem sie mit Gary Lasch gelebt hatte, sah sie mager und zerbrechlich aus. In den beiden Jahren seit der unvermeidbaren Scheidung von seiner Frau hatte Philip Matthews, wie er zugeben mußte, dem Gefängnis mehr Besuche abgestattet, als aus beruflicher Sicht nötig gewesen wären.

»Molly, haben Sie sich darum gekümmert, daß jemand für Sie einkauft?« fragte er. »Ist etwas Eßbares im Haus?«

»Mrs. Barry wollte das erledigen.«

»Mrs. Barry!« Er bemerkte, daß seine Stimme lauter wurde. »Was hat sie damit zu tun?«

Die Originalausgabe WE’LL MEET AGAIN erschien bei Simon & Schuster, New York

10. Auflage

Taschenbucherstausgabe 3/2001

Copyright © 1999 by Mary Higgins Clark

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House

Umschlagillustration: photonica/Brad Wilson Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

eISBN 978-3-641-10069-8

http://www.heyne.de

www.randomhouse.de

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