Denn niemand hört dein Rufen - Mary Higgins Clark - E-Book

Denn niemand hört dein Rufen E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Ein mörderisches Vermächtnis

Eine berühmte Schauspielerin wird brutal ermordet. Die junge Staatsanwältin Emily Wallace soll das Anklageverfahren gegen den Hauptverdächtigen übernehmen. Immer tiefer gräbt sie sich in den Fall – ohne zu erkennen, dass es eine unheimliche Verbindung zwischen ihr und der Toten gibt. Schon längst ist sie selbst in tödlicher Gefahr.

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DAS BUCH

Die Juristin Emily Wallace bekommt den Fall ihres Lebens übertragen: Sie darf die Anklage gegen Gregg Aldrich führen, der unter Mordverdacht steht. Seine Frau, eine berühmte Schauspielerin, wollte sich von ihm trennen. Heimlich begann er sie zu verfolgen. Als sie ermordet aufgefunden wird, weisen die Umstände eindeutig auf Aldrich, doch kann lange kein letztgültiger Beweis für seine Tat vorgelegt werden.

Emily ist überzeugt von seiner Schuld – und sie hat einen Trumpf im ärmel: Ein Zeuge ist aufgetaucht, der gegen ihn aussagen will. Mit seiner Hilfe baut Emily die perfekte Anklage auf, sie arbeitet Tag undNacht andemFall. Dabei merkt sie gar nicht, dass jemand sie überwacht. Dass jemand heimlich in ihrer Wohnung ein und aus geht und dort ein Mikrofon installiert hat. Und dass es eine Verbindung zwischen ihr und der Toten gibt. Nun ist sie selbst in höchster Gefahr.

»In ihren raffiniert konstruierten Psychothrillern legt Mary Higgins Clark immer neue Fährten – bis zum völlig überraschenden Ende.« Süddeutsche Zeitung

DIE AUTORIN

Mary Higgins Clark, geboren in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke sind ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führt Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten »Edgar Award«. Zuletzt bei Heyne erschienen: Warte, bis du schläfst.

Bitte beachten Sie das Werkverzeichnis am Buchende.

Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Copyright

Für John Conheeney,den großartigen Ehegatten,undfür unsere wunderbaren Kinder und Enkelin Liebe

1

Nicht der kalte Nor’easter, sondern das hartnäckige Gefühl eines drohenden Unheils hatte Natalie veranlasst, an diesem Montag in aller Herrgottsfrühe von Cape Cod zurück nach New Jersey zu flüchten. Sie hatte gehofft, dass sie sich in dem gemütlichen Haus, das einst ihrer Großmutter und jetzt ihr gehörte, etwas geborgener fühlen würde, doch der eisige Schneeregen, der gegen die Fenster schlug, hatte ihre innere Unruhe und Angst nur noch verstärkt. Als dann auch noch ein Stromausfall das Haus in Dunkelheit hüllte, hatte sie wachgelegen und bei jedem Geräusch geglaubt, jemand sei ins Haus eingedrungen.

Nach fünfzehn Jahren hatte sie plötzlich, durch einen puren Zufall, Gewissheit darüber erlangt, wer ihre Mitbewohnerin Jamie erdrosselt hatte, damals, als sie beide noch junge, um Erfolg ringende Schauspielerinnen gewesen waren. Und er weiß, dass ich es weiß, dachte sie – ich habe es an seinem Blick gesehen.

Am letzten Freitagabend war er mit einer Gruppe von Bekannten zur Schlussvorstellung von Endstation Sehnsucht ins Omega Playhouse gekommen. Sie hatte die Blanche DuBois gespielt, die anspruchsvollste und befriedigendste Rolle in ihrer bisherigen Karriere. Sie hatte nur lobende Kritiken bekommen, doch die Rolle hatte sie seelisch ziemlich beansprucht. Deshalb hatte sie zuerst gar nicht öffnen wollen, als nach der Vorstellung an die Tür ihrer Garderobe geklopft wurde. Schließlich waren doch alle hineingeströmt, um ihr zu gratulieren, und aus dem Nichts heraus hatte sie ihn wiedererkannt. Er war mittlerweile Ende vierzig, sein Gesicht war etwas fülliger geworden, doch es war ohne Zweifel der Mann, dessen Bild in Jamies Geldbeutel fehlte, als man ihre Leiche fand. Jamie hatte immer ein großes Geheimnis um ihn gemacht und von ihm nur als »Jess« gesprochen, »mein Kosename für ihn«, wie sie ihr erklärt hatte.

Ich war so geschockt, dass ich ihn spontan »Jess« genannt habe, als wir einander vorgestellt wurden, erinnerte sich Natalie. Alle haben so viel durcheinandergeredet, dass ganz sicher niemand sonst es mitbekommen hat. Aber er hat es gehört.

Wem soll ich davon erzählen? Wer würde mir glauben? Mein Wort gegen seines? Meine Erinnerung an ein kleines Foto, das Jamie in ihrem Geldbeutel versteckt hatte? Ich war nur darauf gestoßen, weil ich ihr meine Kreditkarte geliehen hatte und sie wieder brauchte. Sie war gerade unter der Dusche gewesen und hatte mir zugerufen, ich solle sie aus ihrem Geldbeutel herausnehmen. Und da habe ich das Bild gesehen, es steckte hinter einer Scheckkarte in einem der Fächer.

Jamie hat mir nicht mehr über ihn erzählt, als dass er sich angeblich als Schauspieler versucht hätte, am Ende aber nicht gut genug gewesen sein soll, und außerdem sei er gerade im Begriff, sich scheiden zu lassen. Ich habe ihr noch gesagt, das sei doch die älteste Geschichte der Welt, dachte Natalie, doch sie wollte nichts davon wissen. Jamie und sie hatten zusammen in einer Wohnung in der West Side gewohnt, bis zu jenem schrecklichen Tag, an dem Jamie bei ihrem frühmorgendlichen Jogging im Central Park erdrosselt wurde. Ihr Geldbeutel lag auf dem Boden, ihr Geld und ihre Uhr fehlten. Und eben dieses Bild von »Jess«. Ich habe das alles der Polizei erzählt, dachte sie, aber sie haben es nicht ernst genommen. Es hatte vorher ein paar Raubüberfälle am frühen Morgen im Park gegeben, und sie waren überzeugt davon, dass Jamie nur ein weiteres Opfer war, das einzige, das dabei zu Tode kam, wie sich herausstellte.

Auf der Strecke durch Rhode Island und Connecticut hatte es die ganze Zeit geschüttet, doch nachdem Natalie den Palisades Parkway erreicht hatte, hörte der Regen nach und nach auf. Und als sie weiter südwärts fuhr, sah sie, dass die Straßen bereits wieder trockneten.

Würde sie sich zu Hause sicher fühlen? Sie wusste es nicht. Vor zwanzig Jahren war ihre Mutter froh gewesen, das Haus zu verkaufen, nachdem sie Witwe geworden war. Sie, die in Manhattan geboren und aufgewachsen war, hatte sich eine kleine Wohnung in der Nähe des Lincoln Center gekauft. Und letztes Jahr hatte Natalie gehört, dass das bescheidene Haus im Norden von New Jersey wieder zum Verkauf angeboten wurde, gerade als sie und Gregg sich getrennt hatten.

»Natalie«, hatte ihre Mutter sie gewarnt, »du machst einen großen Fehler. Ich finde es verrückt von dir, dass du nicht versuchst, deine Ehe wieder in Ordnung zu bringen. Sich nach Hause zu flüchten, ist noch nie eine Lösung gewesen. Man kann die Vergangenheit nicht wieder lebendig machen.«

Ihre Mutter wollte einfach nicht wahrhaben, dass es ihr nie gelingen würde, die Art von Ehefrau zu sein, die sich Gregg wünschte und die er brauchte. »Ich bin nicht fair zu Gregg gewesen, als ich ihn geheiratet habe«, hatte sie geantwortet. »Er hat eine Frau gesucht, die Katie eine richtige Mutter sein würde. Ich bin dazu nicht in der Lage. Im letzten Jahr war ich insgesamt sechs Monate nicht zu Hause. Es hat einfach nicht funktioniert. Ich glaube, wenn ich aus Manhattan wegziehe, wird er verstehen, dass es mit unserer Ehe endgültig aus ist.«

»Aber du liebst ihn doch immer noch«, hatte ihre Mutter beharrt. »Und er dich auch.«

»Das bedeutet noch lange nicht, dass wir füreinander geschaffen sind.«

Ich weiß, dass ich Recht habe, dachte Natalie und schluckte. Immer wenn sie an Gregg dachte, bekam sie einen Kloß im Hals. Sie wünschte, sie könnte mit ihm über das reden, was am Freitagabend geschehen war. Was würde sie sagen? »Gregg, was soll ich tun – ich weiß mit absoluter Sicherheit, wer meine Freundin Jamie ermordet hat, aber ich habe nicht den geringsten Beweis in der Hand«? Aber sie konnte ihn nicht fragen. Das Risiko war zu groß, dass sie am Ende seinen Bitten, es noch einmal zu versuchen, nicht widerstehen könnte. Obwohl sie gelogen und behauptet hatte, dass es einen anderen Mann gebe, hatte Gregg sie weiterhin angerufen.

Als sie den Parkway verließ und wenig später in die Walnut Street einbog, bekam Natalie Lust auf eine Tasse Kaffee. Sie war ohne Pause durchgefahren, und mittlerweile war es Viertel vor acht. An einem normalen Tag hätte sie um diese Uhrzeit schon mindestens zwei Tassen getrunken.

Die meisten Häuser in der Walnut Street in Closter waren abgerissen worden, um für neue, luxuriösere Platz zu machen. Sie pflegte immer zu scherzen, dass sie mit den gut zwei Meter hohen Hecken zu beiden Seiten jetzt endlich ihr abgeschirmtes Privatleben habe. Damals, vor vielen Jahren, hatten die Keenes auf der einen und die Foleys auf der anderen Seite gewohnt. Heute kannte sie ihre Nachbarn so gut wie gar nicht.

Als sie in die Auffahrt bog und auf die Fernbedienung für das Garagentor drückte, beschlich sie ein ungutes Gefühl, als lauere irgendwo Gefahr. Als sich das Tor langsam öffnete, schüttelte sie den Kopf. Gregg hatte Recht gehabt mit seiner Behauptung, sie werde immer zu der Figur, die sie gerade spiele. Schon bevor die Begegnung mit Jess sie bis ins Mark getroffen hatte, war sie mit den Nerven ziemlich am Ende gewesen, genau wie Blanche DuBois.

Sie fuhr in die Garage und schaltete den Motor aus, doch aus irgendeinem Grund drückte sie nicht sofort auf die Fernbedienung, um das Tor hinter sich zu schließen. Stattdessen stieg sie aus dem Wagen, öffnete die Tür zur Küche und ging ins Haus.

Sie spürte, wie mit Handschuhen geschützte Hände sie packten, herumwirbelten und zu Boden warfen. Als sie mit dem Kopf auf den Parkettboden aufschlug, blitzte ein rasender Schmerz durch ihren Schädel, doch sie konnte noch sehen, dass der Mann einen Plastikregenumhang trug und Plastikhüllen über die Schuhe gestreift hatte.

»Bitte«, flehte sie, »bitte!« Sie hob die Hände, um sich vor der Pistole zu schützen, die er auf ihre Brust richtete.

Das leise Klicken, als er die Waffe entsicherte, war seine Antwort auf ihr Flehen.

2

Um zehn vor acht, pünktlich wie immer, bog Suzie Walsh von der Route 9W ab und fuhr zum Haus ihrer langjährigen Arbeitgeberin Catherine Banks. Sie arbeitete schon seit dreißig Jahren als Haushälterin bei der fünfundsiebzigjährigen Witwe, kam an jedem Wochentag um acht Uhr in der Früh und ging wieder um ein Uhr nach dem Mittagessen.

Als leidenschaftliche Theaterliebhaberin war Suzie begeistert, dass die berühmte Schauspielerin Natalie Raines im letzten Jahr das Nachbarhaus von Mrs Banks gekauft hatte. Natalie war Suzies absolute Lieblingsschauspielerin. Erst vor zwei Wochen hatte sie eine Aufführung von Endstation Sehnsucht besucht und war danach der festen Meinung, dass noch niemand vor ihr die Rolle der labilen Hauptfigur Blanche DuBois so gut gespielt hätte, selbst Vivien Leigh im Film nicht. Mit ihren feinen Gesichtszügen, der schlanken Figur und den langen hellblonden Haaren verkörperte sie geradezu das Idealbild der Blanche.

Bislang war Suzie der Schauspielerin noch nie direkt begegnet. Sie hoffte immer, dass sie irgendwann im Supermarkt auf sie treffen würde, aber das war bisher noch nicht passiert. Außerdem war es ihr zur festen Angewohnheit geworden, jedes Mal, wenn sie morgens ankam oder nachmittags nach Hause fuhr, langsam an Raines’ Haus vorbeizufahren, auch wenn das bedeutete, dass sie am Nachmittag einen Umweg um den Block fahren musste, um auf den Highway zu gelangen.

An diesem Montagmorgen war Suzie ihrem Wunschtraum, Natalie Raines einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, schon relativ nahe gekommen. Als sie an ihrem Haus vorbeifuhr, stieg Raines gerade aus ihrem Wagen. Suzie seufzte. Allein schon dieser kurze, flüchtige Anblick ihres Idols brachte so etwas wie einen Funken Glück in ihren Tag.

Nachdem sie sich herzlich von Mrs Banks verabschiedet und die Einkaufsliste für den nächsten Morgen eingesteckt hatte, stieg Suzie um ein Uhr nachmittags in ihren Wagen und fuhr rückwärts aus der Ausfahrt. Sie zögerte kurz. Die Chance, dass sie Natalie Raines zwei Mal an einem Tag sehen würde, stand eins zu einer Million, und außerdem war sie müde. Doch die Gewohnheit setzte sich durch, und so wendete sie den Wagen nach links und fuhr im Schritttempo am Nachbarhaus vorbei.

Im nächsten Augenblick hielt sie abrupt an. Das Tor zu Raines’ Garage stand offen, ebenso die Fahrertür ihres Wagens  – alles war noch genau so, wie sie es am Morgen gesehen hatte. Natalie Raines ließ das Garagentor nie geöffnet, und ganz bestimmt gehörte sie nicht zu den Menschen, die ihre Wagentür den ganzen Tag offen stehen lassen. Vielleicht sollte ich mich besser um meinen eigenen Kram kümmern, dachte Suzie, aber in diesem Fall geht das nicht.

Sie bog in die Einfahrt ein, stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Mit zaghaften Schritten ging sie in die Garage. Es war eng dort drinnen, und sie musste die Fahrertür von Raines’ Wagen anlehnen, um zur Küchentür zu gelangen. Mittlerweile war sie überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Mit einem kurzen Blick in das Wageninnere hatte sie gesehen, dass eine Handtasche auf dem Beifahrersitz lag und ein Koffer auf dem Boden vor der Rückbank stand.

Als keine Reaktion auf ihr Klopfen erfolgte, zögerte sie zunächst einen Augenblick, doch dann, unfähig, einfach wieder wegzugehen, drehte sie den Türknopf. Die Tür war nicht verschlossen. Plötzlich hatte sie Angst, sie könnte wegen Eindringens in ein fremdes Haus verhaftet werden, doch etwas trieb sie dennoch dazu, die Tür zu öffnen und die Küche zu betreten.

Dann begann sie zu schreien.

Natalie Raines lag zusammengekrümmt auf dem Boden, ihr weißer Wollpullover war voller Blut. Ihre Augen waren geschlossen, doch ein leises Wimmern drang zwischen ihren Lippen hervor.

Suzie kniete sich neben sie, holte hastig ihr Handy aus der Tasche und gab die Notrufnummer ein. »Walnut Street 80 in Closter«, schrie sie die Telefonistin an. »Natalie Raines. Ich glaube, sie wurde erschossen. Schnell, beeilen Sie sich. Sie stirbt.«

Dann legte sie das Handy beiseite. Sie streichelte Natalies Kopf und sagte mit begütigender Stimme: »Mrs Raines, es wird alles gut werden, das versprech ich Ihnen. Sie schicken einen Krankenwagen. Er muss jeden Moment da sein.«

Der klagende Laut aus Natalies Mund erstarb. Einen Augenblick später blieb ihr Herz stehen.

Ihr letzter Gedanke war der Satz, den Blanche DuBois am Ende des Stückes sagt: »Ich war immer abhängig vom guten Willen fremder Leute.«

3

Sie hatte letzte Nacht wieder von Mark geträumt, es war einer dieser verschwommenen, unbefriedigenden Träume, in denen sie seine Stimme hören konnte und auf der Suche nach ihm in einem dunklen, höhlenartigen Haus herumirrte. Emily Kelly Wallace wachte mit dem ihr schon vertrauten Gefühl auf, eine schwere Last auf dem Herzen zu tragen. Es stellte sich immer nach dieser Art von Träumen ein, doch sie war an diesem Tag fest entschlossen, sich nicht davon niederdrücken zu lassen.

Sie schaute hinüber zu Bess, der vier Kilo schweren Malteserdame, die ihr Bruder Jack ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Bess schlief tief und fest auf dem anderen Kissen, und beim Anblick ihres Hündchens hob sich ihre Stimmung sofort. Emily schlüpfte aus dem Bett, griff zu ihrem warmen Morgenmantel, der in dem kalten Schlafzimmer immer in Reichweite lag, nahm die widerstrebend aufwachende Bess in den Arm und stieg die Treppe ihres Hauses in Glen Rock, New Jersey, hinunter, in dem sie die meisten ihrer zweiunddreißig Lebensjahre verbracht hatte.

Als Mark vor drei Jahren im Irak von einer Straßenbombe getötet wurde, wollte sie nicht mehr in ihrer gemeinsamen Wohnung bleiben. Etwa ein Jahr später, als sie sich gerade von ihrer Operation erholte, hatte ihr Vater Sean Kelly ihr dieses bescheidene Haus im Kolonialstil überschrieben. Nachdem er lange Zeit Witwer gewesen war, wollte er jetzt wieder heiraten und nach Florida ziehen. »Em, es ist einfach vernünftig«, hatte er gesagt. »Keine Hypothek. Steuern erträglich. Du kennst die meisten Nachbarn. Probier es doch einfach. Und wenn du nach einiger Zeit lieber etwas anderes willst, dann verkaufst du es wieder und hast gleich eine Anzahlung auf etwas Neues parat.«

Aber es stellte sich dann heraus, dass es genau das Richtige war, dachte Emily, als sie mit Bess unter dem Arm in die Küche eilte. Es ist wunderbar, hier zu wohnen. Der Kaffeeautomat, auf sieben Uhr eingestellt, kündigte piepsend an, dass der Kaffee bereits fertig war. Ihr Frühstück bestand aus frisch gepresstem Orangensaft, einem gerösteten englischen Muffin und zwei Tassen Kaffee. Mit der zweiten Tasse in der Hand eilte Emily wieder nach oben, um zu duschen und sich anzuziehen.

Ein neues knallrotes Top fügte dem anthrazitfarbenen Hosenanzug vom letzten Jahr eine fröhliche Note hinzu. Durchaus angemessen fürs Gericht, fand sie, außerdem ein gutes Gegengift gegen diesen grauen Märzmorgen und den Traum von Mark. Sie überlegte eine Zeit lang, ob sie ihre glatten braunen Haare lose auf die Schultern fallen lassen sollte, entschied sich aber dann doch, sie hochzustecken. Etwas Wimperntusche und Lippenstift zur Abrundung des Ganzen. Als sie ihre kleinen silbernen Ohrringe ansteckte, ging ihr durch den Kopf, dass sie nie mehr Rouge auftrug. Als sie krank gewesen war, hatte sie niemals ohne das Haus verlassen.

Wieder im Erdgeschoss, ließ sie Bess noch einmal kurz in den Garten, dann strich sie ihr ein letztes Mal über das Köpfchen und sperrte sie in ihre Hundebox.

Zwanzig Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des Gerichtsgebäudes von Bergen County. Obwohl es erst Viertel nach acht war, war der Parkplatz wie immer bereits halb voll. Seit sechs Jahren war Emily jetzt Assistenzstaatsanwältin, und sobald sie aus dem Auto stieg und über den Asphalt zum Gerichtsgebäude ging, fühlte sie sich so richtig in ihrem Element. Hochgewachsen und schlank wie sie war, fiel sie durchaus auf, doch sie war sich gar nicht bewusst, wie viele bewundernde Blicke ihr folgten, als sie mit raschen Schritten an den ankommenden Autos vorbeieilte. In Gedanken war sie bereits bei dem Beschluss, den die Grand Jury heute verkünden sollte.

In den vergangenen Tagen hatte die Anhörung vor der Grand Jury im Fall des Mordes an Natalie Raines stattgefunden, der Broadway-Schauspielerin, die vor fast zwei Jahren in ihrem Haus erschossen worden war. Obwohl er von Anfang an verdächtigt wurde, war ihr von ihr getrennt lebender Ehemann Gregg Aldrich erst vor drei Wochen verhaftet worden, nachdem ein mutmaßlicher Komplize sich gemeldet hatte. Es wurde erwartet, dass die Grand Jury in Kürze formell Anklage erheben würde.

Er war es, sagte sich Emily mit Nachdruck, als sie das Gerichtsgebäude betrat und die hohe Eingangshalle durchquerte. Sie ließ den Fahrstuhl links liegen und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ich würde alles darum geben, diesen Fall vor Gericht zu vertreten, ging ihr durch den Kopf.

Zur Abteilung der Staatsanwaltschaft, im Westflügel des Gebäudes, gehörten vierzig Assistenzstaatsanwälte, siebzig Ermittler und fünfundzwanzig Sekretärinnen. Sie gab den Sicherheitscode an der Tür ein, drückte sie auf, winkte der Telefonistin zu, dann schlüpfte sie aus ihrem Mantel, noch bevor sie den kleinen fensterlosen Raum erreichte, der ihr als Büro zugeteilt worden war. Eine Garderobenleiste, zwei graue Aktenregale aus Stahl, zwei nicht zueinanderpassende Stühle für Zeugenbefragungen, ein fünfzig Jahre alter Schreibtisch und ihr Drehstuhl, das war in etwa die ganze Einrichtung. Zierpflanzen auf den Regalen und auf einer Ecke ihres Schreibtischs waren, wie Emily es nannte, ihr Beitrag zur Begrünung Amerikas.

Sie hängte ihren Mantel an die wackelige Garderobe, setzte sich auf ihren Stuhl und nahm sich die Akte vor, die sie am Abend zuvor studiert hatte. Der Fall Lopez, ein banaler Ehestreit, der mit einem Totschlag geendet hatte. Zwei kleine Kinder, von nun an mutterlos, und ein Vater im Bezirksgefängnis. Und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass er drin bleibt, dachte Emily, als sie den Ordner aufklappte. Der Prozess war auf die kommende Woche angesetzt.

Um Viertel nach elf klingelte ihr Telefon. Ted Wesley, der Staatsanwalt, meldete sich. »Emily, könnte ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte er. Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Der fünfzigjährige Edward »Ted« Scott Wesley, Staatsanwalt von Bergen County, war zweifellos das, was man einen gut aussehenden Mann nennt. Einen Meter fünfundachtzig groß, hatte er eine tadellose Haltung, die ihn nicht nur noch größer erscheinen ließ, sein Auftreten strahlte auch eine Autorität aus, die, wie ein Reporter einmal geschrieben hatte, »auf die guten Menschen beruhigend wirkt und diejenigen in Unruhe versetzt, die aus gutem Grund nachts nicht schlafen können«. Seine dunkelblauen Augen und seine dichten dunklen Haare, in denen sich erste graue Fäden eingenistet hatten, vervollständigten das Bild einer imponierenden Führungspersönlichkeit.

Nachdem sie an die halb offen stehende Tür geklopft und sein Büro betreten hatte, bemerkte Emily zu ihrer Überraschung, dass ihr Chef sie aufmerksam musterte.

Schließlich sagte er knapp: »Hallo, Emily, Sie sehen toll aus. Geht es Ihnen gut?«

Die Frage war nicht einfach nur nebenher gestellt. »Ich habe mich nie besser gefühlt.« Sie versuchte, beiläufig zu klingen, sogar etwas wegwerfend, als wundere sie sich, dass er überhaupt danach fragte.

»Es ist wichtig, dass Sie sich gut fühlen. Die Grand Jury hat Anklage gegen Gregg Aldrich erhoben.«

»Wirklich?« Sie spürte einen Adrenalinstoß. Obwohl sie sicher gewesen war, dass es so kommen würde, war ihr dennoch bewusst, dass sich der Fall zu einem beträchtlichen Teil auf Indizienbeweise stützte und der Prozess mit Sicherheit kein Selbstläufer sein würde. »Es war schwer zu ertragen, wie dieser widerliche Kerl die ganze Zeit die Klatschspalten beherrscht hat und ständig in aller Munde war, und gleichzeitig zu wissen, dass er seine Frau einfach hat verbluten lassen. Natalie Raines war eine so wunderbare Schauspielerin. Immer wenn sie die Bühne betrat, war es reine Magie.«

»Regen Sie sich nicht zu sehr über Aldrichs Gesellschaftsleben auf«, sagte Wesley begütigend. »Sorgen Sie einfach nur dafür, dass er hinter Schloss und Riegel kommt. Der Fall gehört Ihnen.«

Es war genau das, was sie gehofft hatte. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis sie es begriff. Dies war die Art von Prozess, die ein Staatsanwalt wie Ted Wesley normalerweise für sich reservierte. Er würde mit Sicherheit die Schlagzeilen beherrschen, und Ted Wesley liebte Schlagzeilen.

Er lächelte über ihre Verblüffung. »Emily, was ich Ihnen jetzt sage, muss unter uns bleiben, aber es wurde bei mir vorgefühlt wegen eines höheren Postens, der im Herbst mit der neuen Regierung frei wird. Ich bin daran interessiert, und Nan würde liebend gern nach Washington ziehen. Wie Sie wissen, ist sie dort aufgewachsen. Ich würde ungern mitten in einem Prozess stecken, wenn sich diese Situation ergibt. Deshalb gehört Aldrich Ihnen.«

Aldrich gehört mir. Aldrich gehört mir. Das war die große Herausforderung, auf die sie gewartet hatte, bevor sie vor zwei Jahren aus der Bahn geworfen worden war. Zurück in ihrem Büro, überlegte Emily, ob sie ihren Vater anrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Er würde sie nur ermahnen, nicht zu viel zu arbeiten. Und das war auch genau das, was ihr Bruder Jack, ein Informatiker, der im Silicon Valley arbeitete, ihr sagen würde, dachte sie, und außerdem war Jack jetzt vermutlich gerade auf dem Weg zur Arbeit. In Kalifornien war es erst halb neun.

Mark, Mark, du wärst so stolz auf mich gewesen …

Sie schloss für einen Moment die Augen, während eine Woge von Sehnsucht sie erfasste, dann schüttelte sie den Kopf und nahm die Lopez-Akte in die Hand. Noch einmal ging sie Zeile für Zeile durch. Beide vierundzwanzig Jahre alt; zwei Kinder; getrennt; er ging zu ihr, um sie zu einem Neuanfang zu überreden; sie stürmte aus der Wohnung und versuchte, auf der Treppe an ihm vorbeizukommen, die Marmorstufen waren reichlich abgetreten in dem alten Gebäude. Er behauptet, sie sei gestürzt. Die Babysitterin, die ihnen gefolgt war, schwört Stein und Bein, er habe sie gestoßen. Aber die Sicht war ihr versperrt, dachte Emily, als sie sich die Bilder von dem Treppenhaus genauer ansah.

Das Telefon klingelte. Joe Lyons war dran, der Pflichtverteidiger, der Lopez zugeteilt worden war. »Emily, ich würde gern vorbeikommen und über den Fall Lopez reden. Ihre Leute sind auf dem Holzweg. Er hat sie nicht gestoßen, sie ist gestolpert. Es war ein Unfall.«

»Die Babysitterin sagt etwas anderes«, entgegnete Emily. »Aber lassen Sie uns darüber reden. Drei Uhr wäre mir recht.«

Als sie aufgelegt hatte, fiel Emilys Blick auf die Akte und das Bild des weinenden Angeklagten bei der Anklageerhebung. Ein störendes Gefühl der Unsicherheit begann an ihr zu nagen. Sie gestand sich ein, dass sie ihre Zweifel bei diesem Fall hatte. Vielleicht war seine Frau wirklich gestürzt. Vielleicht war es wirklich ein Unfall.

Früher hat mir das alles nicht so viel ausgemacht, seufzte sie.

Allmählich fange ich an zu glauben, dass ich doch besser Verteidigerin geworden wäre.

4

Durch die schrägen Schlitze der altmodischen Jalousien an seinem Küchenfenster hatte Zachary Lanning an diesem Morgen wieder beobachtet, wie Emily ihr schnelles Frühstück in ihrer Küche eingenommen hatte. Vor ihrem Einzug hatte ein Handwerker einmal die Tür unverschlossen gelassen, und da hatte er heimlich am Regal über dem Kühlschrank ein Mikrofon angebracht. Dieses hatte nun die zwanglos dahingesprochenen Worte aufgenommen, die sie an ihr Hündchen gerichtet hatte, das die ganze Zeit auf ihrem Schoß saß.

Es war, als ob sie zu mir gesprochen hätte, dachte Zach zufrieden, während er in dem Lagerhaus an der Route 46, in dem er arbeitete, Kartons aufeinanderstapelte. Mit dem Auto waren es nur zwanzig Minuten von dem gemieteten Haus, in dem er unter einem neuen Namen wohnte, seit er aus Iowa abgehauen war. Seine Arbeit begann um halb neun und endete um halb sechs, eine Schicht, die seinen Bedürfnissen perfekt entgegenkam. Er konnte Emily früh am Morgen beobachten und dann zur Arbeit fahren. Wenn sie am Abend nach Hause kam und sich ihr Essen zubereitete, konnte er wieder mit ihr zusammen sein. Bisweilen hatte sie jedoch Gesellschaft, und das machte ihn jedes Mal wütend. Sie gehörte ihm und niemandem sonst.

Eines wusste er sicher: Es gab keinen Mann in ihrem Leben. Er wusste, dass sie Witwe war. Wenn sie sich zufällig draußen auf der Straße begegneten, war sie freundlich, aber distanziert. Er hatte ihr gesagt, dass er sich mit handwerklichen Dingen auskenne, falls mal etwas bei ihr repariert werden müsse, doch er hatte sofort an ihrer Reaktion erkannt, dass sie ihn nie deswegen anrufen würde. Wie all die anderen, die er in seinem Leben angesprochen hatte, hatte sie ihn nur mit einem kurzen Blick abgefertigt. Sie wollte einfach nicht begreifen, dass er über sie wachte, dass er sie beschützte. Sie wollte einfach nicht begreifen, dass sie füreinander geschaffen waren.

Aber das würde sich bald ändern.

Mit seiner schmächtigen Figur, seiner durchschnittlichen Größe, den dünnen dunkelblonden Haaren und kleinen braunen Augen war Zach, der auf die fünfzig zuging, die Art von unauffälligem Typ, an den sich die meisten Leute nach einer flüchtigen Begegnung nicht erinnern würden.

Ganz bestimmt würden die meisten Leute niemals auf den Gedanken kommen, dass er im ganzen Land zur Fahndung ausgeschrieben war, nachdem er vor anderthalb Jahren in Iowa kaltblütig seine Frau, ihre Kinder und ihre Mutter ermordet hatte.

5

Gregg, ich habe es Ihnen schon gesagt, und ich werde es sicherlich in den nächsten Monaten noch ein paarmal wiederholen.« Rechtsanwalt Richard Moore blickte seinen neben ihm sitzenden Mandanten nicht an, während sein Fahrer den Wagen langsam durch das Knäuel von Medienleuten auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes von Bergen County manövrierte, die ihnen immer noch Fragen zuriefen und Kameras auf sie richteten. »Dieser Fall stützt sich allein auf die Zeugenaussage eines Lügners, eines Berufskriminellen«, fuhr Moore fort. »Es ist geradezu lächerlich.« Erst am Tag zuvor hatte die Grand Jury die Anklage bestätigt. Die Staatsanwaltschaft hatte Moore verständigt, und man war übereingekommen, dass Aldrich heute vor Gericht erscheinen würde.

Sie hatten soeben den Gerichtssaal von Richter Calvin Stevens verlassen, wo Gregg formell wegen Mordes angeklagt worden war. Der Richter hatte die Kaution auf eine Million Dollar festgesetzt, die sofort überwiesen worden war.

»Warum hat sich dann die Grand Jury für die Anklageerhebung ausgesprochen?«, fragte Gregg Aldrich mit monotoner Stimme.

»Es gibt einen Spruch unter Anwälten, wonach ein Staatsanwalt auch gegen ein Schinkensandwich Anklage erheben kann, wenn ihm danach ist. Es ist ein Kinderspiel, eine Anklageerhebung zu erreichen, besonders in einem Fall, der große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt. Die Anklageerhebung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass genügend Beweise vorhanden sind, die dem Staatsanwalt gestatten, die Sache voranzutreiben. Die Presse hat diesen Fall die ganze Zeit hochgejubelt. Natalie war ein Star, und jede Notiz über sie lässt die Auflage steigen. Und jetzt kommt dieser einschlägig bekannte Gauner Jimmy Easton daher, der gerade erst bei einem Einbruch auf frischer Tat ertappt wurde, und behauptet, Sie hätten ihn bezahlt, damit er Ihre Frau umbringt. Aber wenn es zum Prozess kommt und Sie freigesprochen werden, dann wird die Öffentlichkeit schnell das Interesse an der Sache verlieren.«

»So, wie sie das Interesse an O. J. Simpson verloren hat, nachdem er vom Vorwurf, seine Frau ermordet zu haben, freigesprochen wurde?«, fragte Aldrich mit spöttischem Unterton. »Richard, Sie und ich wissen doch genau: Selbst wenn die Geschworenen auf nicht schuldig entscheiden  – und Sie sind viel optimistischer als ich, was das anbelangt  –, selbst dann wird dieser Fall nie abgeschlossen sein, es sei denn, der Kerl, der Natalie umgebracht hat, klopft eines Tages freiwillig an die Tür des Staatsanwalts und macht reinen Tisch. In der Zwischenzeit bin ich auf Kaution frei und muss meinen Pass abgeben, was wiederum bedeutet, dass ich das Land nicht verlassen kann, was für jemanden in meiner Branche eine Katastrophe ist. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich eine vierzehn Jahre alte Tochter habe, deren Vater für unabsehbare Zeit im Mittelpunkt der Schlagzeilen, im Fernsehen und im Internet stehen wird.«

Richard Moore ersparte sich weitere Beschwichtigungsversuche. Gregg Aldrich, ein sehr intelligenter Realist, gehörte nicht zu der Sorte von Mandanten, die sich davon beeindrucken ließen. Auf der einen Seite wusste Moore, dass die Staatsanwaltschaft keinen leichten Stand haben würde und von einem Zeugen abhängig war, den er im Kreuzverhör gehörig in die Mangel nehmen konnte. Auf der anderen Seite hatte Aldrich Recht. Nachdem er formell des Mordes an seiner Frau angeklagt war, würde er in den Augen vieler Leute immer unter dem Verdacht stehen, ein Mörder zu sein, gleichgültig, wie der Urteilsspruch ausfiel. Dennoch, befand Moore leicht sarkastisch, lieber wäre es mir, er hätte mit dieser Situation zu kämpfen, als dass er nach einer Verurteilung lebenslang ins Gefängnis müsste.

Und war er nicht doch der Mörder? Es gab da etwas, was ihm Gregg Aldrich bisher verheimlichte. Dessen war sich Moore sicher. Er erwartete nichts von Aldrich, was einem Geständnis gleichkäme, und dennoch fragte er sich bereits einen Tag nach der Anklageerhebung, ob nicht irgendeine Information, die Aldrich bisher zurückgehalten hatte, beim Prozess bekanntwerden und ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

Moore blickte aus dem Seitenfenster. Es war ein hundsmiserabler Märztag, passend zur Stimmung im Wagen. Ben Smith, der seit fünfundzwanzig Jahren als Privatdetektiv und gelegentlich auch als Fahrer für ihn arbeitete, saß am Steuer. An seiner leicht geneigten Kopfhaltung konnte Moore erkennen, dass ihm kein Wort von dem entging, was zwischen ihm und Aldrich gesagt wurde. Bens ausgezeichnetes Gehör war für Moore von großem Vorteil, und er holte oft hinterher dessen Meinung ein, wenn er mit einem Mandanten Gespräche im Fond des Wagens geführt hatte.

Vierzig Minuten lang fiel kein einziges Wort. Dann hielten sie vor dem Gebäude an der Park Avenue in Manhattan, in dem Gregg Aldrich wohnte. »Tja, das war’s wohl, zumindest für den Augenblick«, sagte Aldrich, als er die Wagentür öffnete. »Richard, es war sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie mich abgeholt und wieder zurückgebracht haben. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, hätte ich Sie auch irgendwo treffen können und Ihnen damit die Mühe erspart, hin und zurück über die Brücke fahren zu müssen.«

»Nicht der Rede wert, und außerdem arbeite ich den restlichen Tag in meinem New Yorker Büro«, antwortete Moore. Er reichte ihm die Hand. »Gregg, denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Ich habe es mir hinter die Ohren geschrieben«, antwortete Aldrich trocken.

Der Portier eilte über den Bürgersteig, um ihm die Wagentür aufzuhalten. Als Gregg Aldrich einen Dank murmelte, sah er dem Mann in die Augen und erblickte dort die kaum verhüllte Aufregung, von der manche Leute ergriffen werden, wenn sie zu Zaungästen bei einer sensationellen Kriminalgeschichte werden. Ich hoffe, du amüsierst dich gut, dachte er bitter.

Im Fahrstuhl zu seiner Wohnung im vierzehnten Stock fragte er sich: Wie konnte das alles passieren? Und warum war er Natalie nach Cape Cod hinterhergefahren? Und war er an jenem Montagmorgen tatsächlich nach New Jersey gefahren? Er war so durcheinander, müde und wütend gewesen, als er nach Hause gekommen war, dass er gleich zu seiner üblichen Joggingrunde im Central Park aufgebrochen war und später schockiert festgestellt hatte, dass er fast zweieinhalb Stunden unterwegs gewesen war.

Aber hatte er auch tatsächlich so lange gejoggt?

Blanke Angst packte ihn, als ihm klarwurde, dass er sich dessen nicht mehr so sicher war.

6

Emily war sich im Klaren darüber, dass das Zusammenwirken von Marks Tod und ihrer plötzlichen Krankheit sie ungeheuer schwer getroffen hatte. Dazu kamen noch die Heirat ihres Vaters, sein geplanter Umzug nach Florida und die Tatsache, dass ihr Bruder Jack einen Job in Kalifornien angenommen hatte – lauter schwere Schläge, die sie zusätzlich mitgenommen hatten.

Sie hatte sich sehr tapfer gegeben, als ihr Vater und ihr Bruder sich besorgt äußerten, sie ausgerechnet in dieser Lebenskrise allein zu lassen. Sie wusste, dass ihr Vater ein wenig sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, als er ihr unter Jacks aufrichtiger Zustimmung das Haus überschrieben hatte.

Aber sie sollten sich gar nicht schuldig fühlen, dachte sie. Mom ist vor zwölf Jahren gestorben. Dad und Joan kennen sich seit fünf Jahren. Sie gehen beide auf die siebzig zu. Sie sind begeisterte Segler, und dort unten können sie das ganze Jahr über ihrer Leidenschaft frönen. Und natürlich konnte sich Jack diesen Job nicht entgehen lassen. Er muss auch an Helen und seine beiden kleinen Kinder denken.

All dies war Emily bewusst, und dennoch hatte die Tatsache, dass sie nun nicht mehr regelmäßigen Umgang mit ihrem Vater, ihrem Bruder und dessen Familie pflegen konnte, es ihr noch schwerer gemacht, sich an ein Leben ohne Mark zu gewöhnen. Natürlich war es wunderbar, wieder in diesem Haus zu sein – es hatte etwas von einer »Rückkehr in Mutters Schoß« an sich, die tröstend und heilend wirkte. Andererseits waren die Nachbarn, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte, im Alter ihrer Eltern. Und für diejenigen, die ihre Häuser verkauft hatten, waren Familien mit jungen Kindern gekommen. Die einzige Ausnahme war dieser stille, kleingewachsene Typ, der das Haus nebenan gemietet und der ihr schüchtern mitgeteilt hatte, dass er handwerklich sehr geschickt sei, falls mal etwas bei ihr repariert werden müsse.

Ihr erster Impuls war gewesen, ihn rundheraus abzuweisen. Ein direkter Nachbar, der sich unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft an sie heranmachen wollte, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Doch als die Monate vorübergingen und sie Zach Lanning nur zu Gesicht bekam, wenn sie zufällig zur gleichen Zeit wegfuhren oder nach Hause kamen, schwächte sich Emilys Misstrauen allmählich ab.

In den ersten Wochen, nachdem ihr der Aldrich-Prozess zugewiesen worden war, hatte sie lange Stunden damit zugebracht, die Akte zu studieren und sich die Fakten anzueignen. Von Anfang an kam sie nicht umhin, das Büro um fünf Uhr zu verlassen, nach Hause zu rasen, um Bess zu füttern und auszuführen, und dann wieder ins Büro zurückzukehren und bis neun oder zehn Uhr weiterzuarbeiten.

Es gefiel ihr, dass ihr Beruf sie so forderte. So hatte sie weniger Zeit, über ihren eigenen Kummer nachzudenken. Und je mehr sie über Natalie erfuhr, desto mehr empfand sie eine gewisse Seelenverwandtschaft mit ihr. Sie waren beide in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt, Natalie wegen einer zerbrochenen Ehe, Emily wegen eines gebrochenen Herzens. Emily hatte haufenweise Informationen über Natalies Leben und Karriere gesammelt. Sie hatte immer gedacht, Natalie sei von Natur aus blond gewesen, doch aus dem Hintergrundmaterial war hervorgegangen, dass sie ihre Haarfarbe mit Anfang zwanzig geändert hatte. Als sie ältere Bilder von ihr sah, stellte sie zu ihrer Verblüffung fest, dass es eine unbestreitbare äußere Ähnlichkeit zwischen ihnen gab. Die Tatsache, dass Natalies Großeltern aus demselben County in Irland stammten, in dem auch ihre Großeltern geboren wurden, brachte Emily auf den Gedanken, ob sie nicht vor vier oder fünf Generationen als »sich küssende Kusinen« betrachtet worden wären, ein irischer Ausdruck für entfernte Verwandte.

Obwohl sie die Arbeit an der Vorbereitung eines neuen Falles liebte und die Überstunden ihr nichts ausmachten, musste Emily sich schon bald eingestehen, dass es einfach zu zeitaufwendig war, zwischen Büro und Haus hin und her zu hetzen, um sich um Bess zu kümmern. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, den kleinen Hund jeden Tag so lange allein zu lassen.

Jemand anders hatte das auch bemerkt. Zach Lanning war gerade dabei, seinen Vorgarten für die Frühlingsbepflanzung vorzubereiten. An einem späten Nachmittag passte er den Moment ab, als sie Bess wieder ins Haus gebracht hatte. »Mrs Wallace«, begann er, den Blick leicht abgewendet, »mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit anscheinend in großer Eile nach Hause kommen wegen des Hundes. Und ich sehe, dass Sie schon wieder wegfahren müssen. Ich habe in der Zeitung über den großen Fall gelesen, mit dem Sie befasst sind. Ich kann mir vorstellen, dass Sie viel Arbeit haben. Was ich sagen will, ist Folgendes: Ich liebe Hunde, doch mein Vermieter ist allergisch und erlaubt mir nicht, in seinem Haus einen zu halten. Es wäre mir wirklich eine Freude, mich ein bisschen um Ihren Hund – ich habe gehört, dass Sie ihn Bess nennen – zu kümmern, wenn ich von der Arbeit komme. Wenn Ihr Haus genau wie dieses ist, dann ist Ihre hintere Veranda verglast und geheizt. Wenn Sie also die Box dort hineinstellen und mir nur den Schlüssel zur Veranda geben, dann könnte ich Bess rauslassen, sie füttern und auf einen schönen langen Spaziergang mitnehmen. Mein Garten ist umzäunt, und sie kann auch dort ein bisschen herumlaufen, während ich im Garten arbeite. Danach würde ich sie in die Veranda zurückbringen und die Tür hinter mir abschließen. Auf diese Weise brauchen Sie sich keine Sorgen um Bess zu machen. Ich bin sicher, dass wir beide großartig miteinander auskommen.«

»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Zach. Lassen Sie mich einfach noch einmal darüber nachdenken. Im Augenblick habe ich es wirklich sehr eilig. Ich rufe Sie morgen oder in den nächsten Tagen an. Steht Ihre Telefonnummer im Verzeichnis?«

»Ich habe nur ein Handy«, antwortete er. »Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Nummer auf.«

Als er zusah, wie Emily aus ihrer Einfahrt zurücksetzte und dann zum Büro davonbrauste, konnte Zach seine Aufregung kaum im Zaum halten. Wenn er einmal den Schlüssel zur Veranda hätte, würde es ein Leichtes sein, einen Wachsabdruck von dem Schloss an der Tür anzufertigen, die zum restlichen Haus führte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie sein Angebot annehmen würde. Sie liebt dieses kläffende Stück Fell wirklich, dachte er. Und wenn ich einmal im Haus bin, werde ich mir mal ihr Schlafzimmer angucken und nachsehen, was sie so in ihren Schubladen hat.

Ich möchte alles anfassen, was sie auf der Haut trägt.

7

Der Gedanke, vor Gericht als Zeugin auftreten zu müssen, machte Alice Mills große Angst. Der Verlust ihres einzigen Kindes Natalie Raines hatte sie weniger verbittert als vielmehr zutiefst erschüttert und verwirrt zurückgelassen. Wie konnte er ihr das nur antun? Das war die Frage, die sie sich jeden Tag immer und immer wieder stellte und die sie auch in der Nacht heimsuchte. In ihrem wiederkehrenden Traum versuchte sie immer, Natalie zu erreichen. Sie musste sie warnen. Ihr drohte etwas Schreckliches zuzustoßen.

Doch dann war der Traum zum Alptraum geworden: Darin rannte sie blindlings durch die Finsternis, stolperte und stürzte. Ein Hauch von Natalies Parfüm stieg ihr in die Nase. Und ohne sie zu sehen, wusste sie, dass sie über Natalies Leichnam gestolpert war.

In diesem Augenblick schreckte sie jedes Mal auf, saß senkrecht im Bett und rief verzweifelt: »Wie konnte er ihr das antun?«

Nachdem ein Jahr vergangen war, suchte sie der Alptraum seltener heim, doch das änderte sich wieder, als Gregg formell angeklagt wurde und die Medienhysterie ihren Anfang nahm. Als dann Mitte April Staatsanwältin Emily Wallace anrief und sie bat, am nächsten Vormittag zu einem Gespräch in ihr Büro zu kommen, ging sie in der Nacht davor nicht zu Bett, sondern setzte sich in ihren Sessel, in dem sie oft beim Fernsehen einnickte. Sie hatte die Hoffnung, dass sie auf diese Weise nur in einen leichten Schlummer fallen würde, der verhinderte, dass der schreckliche Alptraum wiederkehrte.

Dieser Plan ging jedoch nicht auf. Nur rief sie diesmal Natalie bei ihrem Namen, als sie erwachte. Die restliche Nacht blieb Alice wach und erging sich ununterbrochen in Erinnerungen an ihre Tochter, grübelte darüber nach, dass Natalie drei Wochen zu früh zur Welt gekommen war, genau an ihrem dreißigsten Geburtstag. Nachdem ihre Ehe zuvor acht Jahre lang kinderlos geblieben war, hatten sie und ihr Mann Natalie als wahres Geschenk des Himmels angesehen.

Dann dachte Alice auch an den Abend vor wenigen Wochen, an dem ihre Schwestern darauf bestanden hatten, sie anlässlich ihres siebzigsten Geburtstags zum Essen auszuführen. Sie hatten die Gläser auf mein Wohl erhoben, waren aber davor zurückgeschreckt, Natalie zu erwähnen, erinnerte sich Alice, doch ich habe darauf bestanden, dass wir auch ihrer gedenken. Wir sind sogar so weit gegangen, Scherze darüber zu machen. »Glaubt mir, Natalie hätte niemals zugelassen, dass man ihren vierzigsten Geburtstag feiert«, hatte sie gesagt. »Ihr wisst doch, sie hat immer darauf hingewiesen, dass man im Showbusiness dazu verpflichtet sei, ewig jung zu bleiben.«

Und jetzt ist sie tatsächlich bis in alle Ewigkeit jung, dachte Alice seufzend, als sie sich um sieben Uhr aus ihrem Sessel erhob und sich bückte, um ihre Hausschuhe überzustreifen. Morgens machten ihr ihre arthritischen Knie stets mehr zu schaffen als sonst. Sie verzog das Gesicht, als sie aufstand, dann öffnete sie die Fenster im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung an der West Sixty-fifth Street und zog die Jalousien hoch. Wie immer wurde ihr beim Anblick des Hudson etwas leichter ums Herz.

Natalie hatte ihre Liebe zum Wasser geerbt. Deshalb war sie so oft nach Cape Cod gefahren, und wenn es auch nur für ein, zwei Tage war.

Alice zog den Kragen ihres weichen Frotteebademantels enger zusammen. Sie liebte frische Luft, doch in der Nacht war die Temperatur gefallen, und jetzt war es im Wohnzimmer empfindlich kalt. Sie stellte den Thermostat höher und ging in die kleine Küche. Der Kaffeeautomat war auf 6:55 Uhr eingestellt, der Kaffee war fertig aufgebrüht, die Tasse stand daneben bereit.

Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie wenigstens eine Scheibe Toast essen sollte, doch sie hatte einfach keine Lust darauf. Sie überlegte, was die Staatsanwältin sie wohl fragen würde, als sie die Tasse zur Essecke trug und sich an den Tisch auf den Platz setzte, der die beste Aussicht auf den Fluss gewährte. Und was könnte ich dem hinzufügen, was ich bereits vor mehr als zwei Jahren den Ermittlern gesagt habe? Dass Gregg eine Versöhnung wollte und er Natalie drängte, zu ihm zurückzukehren?

Dass ich Gregg sehr gern hatte?

Dass ich ihn jetzt verachte?

Dass ich nie verstehen werde, wie er ihr das antun konnte?

Alice beschloss, einen schwarzen Hosenanzug mit einer weißen Bluse anzuziehen. Ihre Schwester hatte ihn für sie gekauft, für Natalies Beerdigung. Sie hatte in den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, ein bisschen Gewicht verloren und wusste, dass er ziemlich lose an ihr herunterhängen würde, doch das war ihr letztlich gleichgültig. Sie tönte ihre Haare nicht mehr, die mittlerweile schneeweiß geworden waren, dafür aber natürliche Wellen besaßen, die ihr manchen Gang zum Friseur ersparten. Durch den Gewichtsverlust waren die Falten in ihrem Gesicht tiefer geworden, und sie hatte nicht mehr die Energie, sich den regelmäßigen Gesichtsbehandlungen zu unterziehen, zu denen sie Natalie immer überredet hatte.

Das Treffen war auf zehn Uhr festgesetzt. Um acht fuhr Alice nach unten, ging zu Fuß bis zur Station einen Häuserblock hinter dem Lincoln Center und nahm eine U-Bahn, die am riesigen zentralen Busbahnhof der Hafenbehörde hielt. Auf der kurzen Fahrt musste sie an das Haus in Closter denken. Ein Makler hatte ihr dringend geraten, es nicht zu verkaufen, solange noch täglich in den Zeitungen etwas über Natalie zu lesen war. »Warten Sie eine Weile«, hatte er ihr vorgeschlagen. »Dann lassen Sie alle Wände weiß streichen. Das wird dem Haus eine angenehme saubere und frische Ausstrahlung verleihen. Und erst dann werden wir es zum Verkauf anbieten.«

Alice war natürlich klar, dass der Mann nicht unhöflich oder unsensibel hatte erscheinen wollen. Es war einfach nur der Gedanke, dass Natalies Tod auf irgendeine Art und Weise weggewaschen werden musste, der ihr einen schmerzhaften Stich versetzt hatte. Als sein Exklusivrecht auf den Verkauf des Hauses erlosch, hatte sie es nicht erneuert.

Als sie den Busbahnhof erreichte, wimmelte es dort wie immer von Menschen, die in das Gebäude hinein- und aus ihm herausströmten, die zu den Gates eilten, um ihren Bus zu erreichen, oder in die entgegengesetzte Richtung hasteten, um ein Taxi heranzuwinken. Auch dieser Ort, wie alle anderen, rief sofort Erinnerungen wach. Sie sah sich noch, wie sie mit Natalie durch dieses Gebäude eilte, um zu irgendwelchen Vorsprechterminen für Fernsehwerbespots zu gehen, sogar schon zu der Zeit, als sie noch im Kindergarten war.

Schon damals blieben die Leute stehen, um sie anzuschauen, erinnerte sich Alice, während sie in der Schlange wartete, um eine Fahrkarte nach Hackensack, New Jersey, zu kaufen, wo sich das Gerichtsgebäude befand. Während alle anderen Mädchen ihre Haare lang trugen, hatte Natalie eine Pagenfrisur mit Pony. Sie war ein hübsches Kind, und sie stach aus der Menge hervor.

Aber es war noch mehr als das. Sie war von Anfang an dazu ausersehen, ein Star zu werden.

Selbst nach all den Jahren wäre ihr der Weg zum Gate 210, wo der Bus nach Closter abfuhr, noch völlig vertraut vorgekommen, doch Alice ging schweren Herzens zum Gate 232 und wartete auf den Bus nach Hackensack.

Eine Stunde später stieg sie die Eingangsstufen zum Gerichtsgebäude von Bergen County hinauf, und während ihre Handtasche an der Sicherheitsschleuse durchleuchtet wurde, erkundigte sie sich schüchtern, wo sich der Fahrstuhl befinde, der sie in den ersten Stock zum Büro der Staatsanwältin bringen würde.

8

Als Alice Mills aus dem Bus stieg, einen Häuserblock vom Gerichtsgebäude entfernt, ging Emily gerade ihre Notizen für die Befragung mit Billy Tryon und Jake Rosen durch, den beiden Ermittlungsbeamten, die von Anfang an den Mordfall Natalie Raines bearbeitet hatten. Sie hatten zu dem Team der Staatsanwaltschaft gehört, das von der Polizei von Closter verständigt worden war, nachdem man Natalies Leiche gefunden hatte.

Tryon und Rosen hatten es sich auf den Stühlen vor Emilys Schreibtisch bequem gemacht. Wie immer, wenn Emily die beiden Männer vor sich hatte, stellte sie betroffen fest, wie unterschiedlich die Gefühle waren, mit denen sie ihnen begegnete. Jake Rosen, einunddreißig Jahre alt, einen Meter achtzig groß, schlank, mit kurzgeschnittenen blonden Haaren und einem tadellosen Auftreten, war ein kluger und gewissenhafter Ermittler. Sie hatte bereits einige Jahre zuvor mit ihm zusammengearbeitet, als sie beide der Jugendstrafkammer zugeteilt waren, und sie waren gut miteinander ausgekommen. Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen, Billy Tryon eingeschlossen, schien es ihm nie etwas ausgemacht zu haben, dass sein Boss eine Frau war.

Tryon jedoch schien aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein. Emily und andere Frauen im Büro hatten von Anfang an eine gewisse, kaum verhüllte Feindseligkeit bei ihm gespürt. Außerdem ärgerten sich alle über die Tatsache, dass bislang keine einzige Beschwerde gegen ihn, wie begründet auch immer, irgendwelche Folgen gezeitigt hatte, und das allein aus dem Grund, weil er ein Cousin des Staatsanwalts Ted Wesley war.

Er war ein guter Ermittler, das konnte Emily nicht bestreiten. Aber es war allgemein bekannt, dass er bei der Wahl seiner Methoden, um eine Anklageerhebung zu erreichen, nicht nur bis an die Grenzen ging, sondern diese bisweilen auch überschritt. Im Lauf der Jahre hatte es immer wieder Anschuldigungen von Angeklagten gegeben, die kategorisch abstritten, die belastenden Aussagen jemals gemacht zu haben, die er bei seinen Auftritten vor Gericht bezeugte. Sie wusste zwar, dass vermutlich alle Ermittler es irgendwann mit dieser Art von Beschwerde zu tun bekamen, doch zweifellos ging dies bei Tryon weit über das gewöhnliche Maß hinaus.

Er war auch der Ermittler gewesen, der als Erster nach der Verhaftung Eastons auf dessen Bitte reagiert hatte, mit jemandem von der Staatsanwaltschaft zu reden.

Emily hoffte, dass man ihr ihre Abneigung nicht anmerkte, als sie ihn anblickte, wie er so auf seinen Stuhl gelümmelt vor ihr saß. Mit seinem wettergegerbten Gesicht, seinem ausgefransten Haarschnitt und den stets halb geschlossenen Augen sah er älter aus als seine zweiundfünfzig Jahre. Er war geschieden und hielt sich selbst für einen Mann, auf den die Frauen flogen, und tatsächlich gab es außerhalb des Büros wohl auch Frauen, die ihn attraktiv fanden. Emilys Abneigung hatte sich noch vertieft, seit ihr zu Ohren gekommen war, dass er gegenüber anderen über sie gesprochen hatte. Dabei hatte er angedeutet, er hielte sie für nicht durchsetzungsfähig genug, um diesen Fall vor Gericht auszufechten. Nachdem sie jedoch die Akte studiert hatte, musste sie einräumen, dass er und Rosen gründliche Arbeit geleistet hatten, was die Untersuchung des Tatorts und die Zeugenbefragungen anging.

Sie verschwendete keine Zeit mit Vorgeplänkel. Sie öffnete den Aktendeckel, der zuoberst auf dem Stapel auf ihrem Schreibtisch lag. »Natalie Raines’ Mutter wird gleich hier sein«, sagte sie knapp. »Ich habe Ihre Berichte durchgelesen, dazu die erste Aussage der Mutter an dem Tag, an dem Natalie ermordet wurde, und ihre spätere schriftliche Aussage.«

Sie blickte zu den beiden Männern auf. »Ich entnehme der Akte, dass die Mutter sich bei ihrer ersten Reaktion noch kategorisch geweigert hat, zu glauben, dass Gregg Aldrich etwas damit zu tun haben könnte.«

»Das ist richtig«, bestätigte Rosen. »Mrs Mills sagte, sie liebe Gregg wie einen Sohn und habe Natalie angefleht, zu ihm zurückzukehren. Sie fand, dass Natalie zu viel arbeitete, und hatte sie gedrängt, mehr Zeit auf ihr Privatleben zu verwenden.«

»Man sollte eigentlich meinen, dass sie ihn am liebsten umbringen würde«, bemerkte Tryon bissig. »Stattdessen macht sie sich furchtbare Sorgen um ihn und seine Tochter.«

»Ich denke, sie hatte Verständnis dafür, dass Aldrich zunehmend frustriert war«, sagte Rosen, indem er sich Emily zuwandte. »Die Freundinnen, die wir befragt haben, beschrieben Natalie einhellig als Workaholic. Ironischerweise könnte ausgerechnet das, was ihn zu dem Mord trieb, bei den Geschworenen Mitleid hervorrufen. Selbst seine Schwiegermutter hatte Mitleid mit ihm. Sie wollte nicht glauben, dass er es getan hat.«

»Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«, fragte Emily.

»Wir haben sie angerufen, kurz bevor Eastons Aussage in den Zeitungen veröffentlicht wurde. Wir wollten nicht, dass sie zuerst aus den Medien davon erfährt. Sie war äußerst geschockt. Davor hat sie ein paarmal telefonisch nachgefragt, ob sich etwas Neues bei den Ermittlungen ergeben hätte«, antwortete Rosen.

»Die alte Dame brauchte jemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte«, warf Tryon mit gleichgültiger Miene ein, »also haben wir uns mit ihr unterhalten.«

»Wie reizend von Ihnen«, sagte Emily scharf. »Ich lese in ihrer Aussage, dass Mrs Mills auch über Natalies Mitbewohnerin Jamie Evans gesprochen hat, die fünfzehn Jahre vor Natalies Tod im Central Park ermordet wurde. Haben Sie sie gefragt, ob sie eine Verbindung zwischen den beiden Morden für möglich hält?«

»Sie meinte, das sei unmöglich«, antwortete Tryon. »Sie sagte uns, Natalie hätte den Freund ihrer Mitbewohnerin nie kennengelernt. Sie wusste nur, dass er verheiratet war und sich angeblich scheiden lassen wollte. Natalie hat ihre Mitbewohnerin gedrängt, sich von ihm zu trennen, weil ihr klar war, dass er ihr etwas vormachte. Natalie sagte, sie hätte einmal ein Bild von ihm gesehen, und als dieses nach dem Mord im Geldbeutel ihrer Mitbewohnerin fehlte, hätte sie geglaubt, dass da ein Zusammenhang bestehen könnte. Aber die in dem Fall zuständigen Ermittler haben ihr das nicht abgenommen. Es hatte in dieser Zeit eine Serie von Raubüberfällen im Park gegeben. Jamie Evans’ Geldbeutel lag auf dem Boden, ihr Geld und ihre Kreditkarten waren weg, ebenso ihre Uhr und ihre Ohrringe. Die Polizei ging davon aus, dass sie sich gewehrt hat und dabei

Die Originalausgabe JUST TAKE MY HEART erschien bei Simon & Schuster, New York

3. Auflage

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 03/2011

Copyright © 2009 by Mary Higgins Clark

Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Übersetzung: Andreas Gressmann S. 1 bis 336 und S. 415 bis 416, Karl-Heinz Ebnet S. 337 bis 413

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung der Fotos von © Sophia Madelung; © Alexander Potapov/Shutterstock

eISBN 978-3-641-10061-2

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