Vergiss die Toten nicht - Mary Higgins Clark - E-Book

Vergiss die Toten nicht E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

In einem Netz von Lügen

Als die Journalistin und angehende Politikerin Nell MacDermott erfährt, dass ihr Mann, ein erfolgreicher Architekt, bei einer Explosion ums Leben kam, glaubt sie nicht an einen Unfall. Sie begibt sich auf eigene Faust auf die Suche nach der Wahrheit. Doch bei ihren Nachforschungen gerät sie schon bald in ein Netz gefährlicher Intrigen …

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Inhaltsverzeichnis

WidmungPROLOGSiebzehn Jahre später Donnerstag, 8. Juni
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3
Freitag, 9. Juni
Kapitel 4Kapitel 5
Copyright

Für Michael V. Korda, meinen lieben Freund und wundervollen Lektor, mit großem Dank für fünfundzwanzig schöne Jahre

PROLOG

Die fünfzehnjährige Nell MacDermott machte kehrt und schickte sich an, zum Ufer zurückzuschwimmen. Ihr Körper prickelte vor jugendlicher Begeisterung, als sie sich umsah und die strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel und die schaumgekrönten Wellen betrachtete. Obwohl sie erst vor einer Stunde in Maui angekommen war, fand sie bereits, dass es hier viel schöner war als in der Karibik, wo die Familie in den letzten Jahren die Weihnachtsferien mit dem Großvater verbracht hatte.

Allerdings war der Begriff »Familie« ein wenig übertrieben, denn diese bestand seit vier Jahren nur noch aus Großvater und Nell selbst. Damals hatte man Cornelius MacDermott, den allseits bekannten New Yorker Kongressabgeordneten, mitten aus einer Sitzung des Repräsentantenhauses geholt, um ihm eine schreckliche Mitteilung zu machen: Sein Sohn und seine Schwiegertochter, beide Anthropologen, die sich gerade auf einer Forschungsreise im brasilianischen Dschungel aufhielten, waren beim Absturz ihrer kleinen Chartermaschine ums Leben gekommen.

Mr. MacDermott war sofort auf schnellstem Wege nach New York geflogen, um Nell von der Schule abzuholen, denn er wollte, dass sie die Hiobsbotschaft von ihm erfuhr. Bei seiner Ankunft traf er seine Enkelin weinend im Zimmer der Schulkrankenschwester an.

»Heute Morgen nach der Pause hatte ich plötzlich das Gefühl, Mama und Papa wären bei mir, um sich von mir zu verabschieden«, sagte sie, während er sie in den Armen hielt. »Sehen konnte ich sie zwar nicht, aber ich spürte, wie Mama mich küsste und wie Papa mir übers Haar strich.«

Noch am selben Tag übersiedelten Nell und die Haushälterin, die sich um sie kümmerte, wenn ihre Eltern auf Reisen waren, in das Backsteinhaus in der 79. Straße an der Ostseite von Manhattan, wo schon ihr Großvater und ihr Vater aufgewachsen waren.

Kurz kamen Nell diese Erinnerungen in den Sinn, als sie in Richtung Strand schwamm. Ihr Großvater saß dort in einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm. Nur widerwillig hatte er ihr erlaubt, vor dem Auspacken noch kurz ins Wasser zu gehen.

»Aber schwimm nicht zu weit raus«, hatte er sie ermahnt und sein Buch aufgeschlagen. »Es ist schon sechs Uhr, und der Bademeister macht gleich Feierabend.«

Gerne wäre Nell noch länger im Wasser geblieben, doch sie bemerkte, dass der Strand inzwischen fast menschenleer war. Außerdem würde ihr Großvater sicher bald Hunger bekommen und ungeduldig werden, und sie hatten noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt. Vor vielen Jahren hatte ihre Mutter sie gewarnt, dass man am besten einen großen Bogen um Cornelius MacDermott machte, wenn ihm der Magen knurrte oder wenn er ein Nickerchen brauchte.

Selbst aus dieser Entfernung erkannte Nell, dass er noch in sein Buch vertieft war. Allerdings wusste sie, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Also gut, sagte sie sich und schwamm ein wenig schneller, dann legen wir eben ein bisschen Tempo vor.

Plötzlich jedoch hatte sie das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Es war, als zöge sie etwas gewaltsam in die entgegengesetzte Richtung. Was mochte das sein?

Der Strand verschwand aus ihrem Blickfeld, als sie hin-und hergerissen und unter Wasser gezerrt wurde. Erschrocken öffnete sie den Mund, um zu schreien, und schluckte dabei eine ordentliche Portion Salzwasser. Hustend und keuchend rang sie nach Atem und versuchte, sich über Wasser zu halten.

Eine Springtide! Während ihr Großvater sich an der Rezeption anmeldete, hatte sie gehört, wie zwei Hotelpagen sich darüber unterhielten. Einer von ihnen hatte von einer Springtide auf der anderen Seite der Insel erzählt, bei der vergangene Woche zwei Männer ertrunken waren. Seinen Worten zufolge waren sie gestorben, weil sie gegen den Sog angekämpft hatten, anstatt sich einfach aus der Gefahrenzone treiben zu lassen.

Eine Springtide entsteht durch das Zusammentreffen zweier entgegengesetzter Strömungen. Während Nell mit den Armen ruderte, fiel ihr diese Definition ein, die sie im National Geographic gelesen hatte.

Trotzdem konnte sie sich nicht entspannen, da die heftigen Wellen sie unbarmherzig nach unten und fort vom Ufer zogen.

Ich darf nicht aufs offene Meer abgetrieben werden, dachte sie in Todesangst. Das darf nicht passieren! Dann schaffe ich es nie wieder zurück. Kurz gelang es ihr, einen Blick auf den Strand und den bunt gestreiften Sonnenschirm zu erhaschen.

»Hilfe!«, stöhnte sie leise. Schreien war unmöglich, denn sobald sie den Mund öffnete, raubte ihr ein Schwall Salzwasser den Atem. Und die Strömung, die sie immer weiter hinauszog, war so stark, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte.

In ihrer Verzweiflung drehte sie sich auf den Rücken und ließ die Arme schlaff herabhängen. Doch schon kurz darauf begann sie wieder, sich gegen den schrecklichen Sog zu wehren, der ihren Körper immer weiter fort von der Küste trug, wo niemand ihr würde helfen können.

Ich will nicht sterben, sagte sie sich. Ich will nicht sterben. Eine Welle hob sie empor und spülte sie weiter hinaus. »Hilfe!«, wimmerte sie wieder und brach dann in Tränen aus.

Und dann, so plötzlich, wie es angefangen hatte, war es auch wieder vorbei. Von einem Moment auf den anderen gaben die unsichtbaren Ketten sie frei, und sie musste die Arme bewegen, um nicht unterzugehen. Offenbar war es das, was die Hotelpagen gemeint hatten, dachte sie. Sie war über die Springtide hinausgetrieben worden.

Du darfst nicht wieder hineingeraten, nahm sie sich vor. Schwimm darum herum.

Aber sie war so entsetzlich müde. Das Ufer war zu weit entfernt. Nell blickte zur Küste hinüber. Niemals würde sie dort ankommen. Die Augen fielen ihr zu. Das Wasser fühlte sich so warm an wie eine Decke. Sie wurde schläfrig.

Schwimm, Nell, du schaffst es!

Das war die Stimme ihrer Mutter, die sie anflehte, nicht aufzugeben.

Los, Nell!

Der strenge Befehl ihres Vaters rüttelte sie auf und riss sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Gehorsam paddelte Nell noch ein Stückchen hinaus und umschwamm dann die Springtide in einem großen Bogen. Obwohl sie bei jedem Atemzug aufschluchzte und ihre Arme bleischwer waren, hielt sie durch.

Quälende Minuten später ließ sie sich erschöpft von einer großen Woge in Richtung Ufer tragen. Die Welle schwoll an, brach in sich zusammen und spülte Nell an den harten, feuchten Strand.

Zitternd und bebend rappelte sie sich auf. Sie spürte, wie kräftige Hände sie auf die Füße zogen. »Ich wollte dich gerade rufen«, sagte Cornelius MacDermott gereizt. »Für heute ist Schluss mit Schwimmen, junges Fräulein. Gerade wurde die rote Flagge gehisst. Offenbar gibt es hier in der Nähe Springtiden.«

Nell, die keinen Ton herausbrachte, konnte nur noch nicken.

Mit besorgter Miene zog MacDermott seinen Bademantel aus und legte ihn Nell um die Schultern. »Du bist ja ganz ausgekühlt, Nell. Du hättest nicht so lange im Wasser bleiben sollen.«

»Danke, Opa, alles in Ordnung.« Nell beschloss, ihrem geliebten Großvater ihr Abenteuer zu verschweigen. Außerdem brauchte er nicht zu erfahren, dass sie wieder einmal mit ihren Eltern in Kontakt getreten war. Denn der ausgesprochen pragmatische MacDermott hätte das nur barsch als die Hirngespinste eines jungen Mädchens abgetan.

Siebzehn Jahre später Donnerstag, 8. Juni

1

Eilig machte sich Nell auf den Weg von ihrer Wohnung an der Ecke Park Avenue und 73. Straße zum Büro ihres Großvaters, Ecke 72. Straße und York Street. Da er sie so dringend zu sich beordert und auf ihr pünktliches Erscheinen um drei Uhr gepocht hatte, vermutete sie, dass sich die Krise um Bob Gorman zugespitzt hatte. Und deshalb freute sie sich nicht unbedingt auf die bevorstehende Sitzung.

Da sie tief in Gedanken versunken war, bemerkte sie die bewundernden Blicke nicht, die einige Passanten ihr zuwarfen. Schließlich waren sie und Adam glücklich verheiratet. Allerdings wusste Nell, dass viele Menschen sie attraktiv fanden. Sie war hoch gewachsen, schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar wellte sich in der feuchten Luft, ihre Augen waren dunkelblau, und sie hatte einen hübsch geschwungenen Mund. Als junges Mädchen hatte Nell ihren Großvater häufig auf Empfänge begleitet, doch zu ihrem Kummer hatten die Medien sie immer nur als »aparte Erscheinung« bezeichnet.

»Apart – das ist so, als würde mir ein Mann sagen, dass es ohnehin nur auf die inneren Werte ankommt. Es klingt so gönnerhaft. Nur einmal möchte ich, dass man mich ›schön‹, ›elegant‹, ›hinreißend‹ oder einfach nur ›chic‹ nennt«, hatte sie mit zwanzig geklagt.

Und ihr Großvater hatte wie immer darauf erwidert: »Sei um Himmels willen nicht so albern. Du solltest dich freuen, dass du Verstand mitbekommen hast und weißt, wie man ihn einsetzt.«

Leider wusste Nell genau, worüber ihr Großvater heute mit ihr sprechen wollte, denn er würde von ihr verlangen, dass sie besagten Verstand in seinem Sinne benutzte. Seine Pläne mit ihr und Adams Einwände dagegen würden garantiert auch ein Thema sein.

Cornelius MacDermott war inzwischen zweiundachtzig Jahre alt, hatte aber kaum etwas von der Durchsetzungsfähigkeit eingebüßt, dank derer er nun schon seit vielen Jahrzehnten einer der beliebtesten Kongressabgeordneten der Vereinigten Staaten war. Mit dreißig war er zum Vertreter seines Wahlkreises in Manhattan gewählt worden, in dem er auch seine Kindheit verbracht hatte. Fünfzig Jahre lang hatte er diesen Posten innegehabt und jeder Versuchung widerstanden, sich für den Senat zu bewerben. An seinem achtzigsten Geburtstag hatte er jedoch beschlossen, nicht mehr zu kandidieren. »Ich habe nicht vor, Strom Thurmonds Rekord zu brechen und der Abgeordnete mit der längsten Amtszeit Washingtons zu werden«, verkündete er.

Doch anstatt sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, hatte MacDermott ein Beraterbüro eröffnet, um dafür zu sorgen, dass der Staat und die Stadt New York auch weiterhin auf dem Kurs seiner Partei blieben. Wenn er einen neuen Kandidaten empfahl, kam das für den Betreffenden einem Ritterschlag gleich. Vor einigen Jahren hatte er den berühmtesten Wahlwerbespot seiner Partei entwickelt. Nach der Frage »Was haben die anderen schon groß für euch getan?« wurden schweigende Menschen mit verdatterten Mienen eingeblendet. MacDermott wurde überall auf der Straße erkannt und freundlich und respektvoll begrüßt.

»Ich kann nicht mal den Fuß vor die Tür setzen, ohne in eine Kamera grinsen zu müssen«, pflegte er sich bei Nell über die Folgen seines Prominentenstatus zu beschweren.

»Wenn die Leute dich übersehen würden, würdest du eingehen wie eine Primel, das weißt du ganz genau«, lautete Nells Standardantwort.

Als Nell in der Firma ihres Großvaters ankam, winkte sie der Empfangsdame zu und marschierte schnurstracks in sein Privatbüro. »Welche Laune hat er denn heute?«, erkundigte sie sich bei Liz Hanley, MacDermotts langjähriger Sekretärin.

Liz, eine attraktive Sechzigjährige mit dunkelbraunem Haar, war der Inbegriff der Tüchtigkeit. Sie verdrehte die Augen. »Es war eine dunkle und stürmische Nacht«, erwiderte sie.

»Ach du meine Güte, so schlimm?«, seufzte Nell. Sie klopfte an die Bürotür und trat ein. »Einen schönen Tag, Herr Kongressabgeordneter.«

»Du kommst zu spät, Nell«, polterte Cornelius MacDermott und drehte sich in seinem Bürostuhl zu ihr um.

»Nach meiner Uhr nicht. Es ist Punkt drei.«

»Ich habe gesagt, du sollst gegen drei hier sein.«

»Ich musste noch eine Kolumne abgeben, und mein Redakteur ist leider genau so ein Pünktlichkeitsfanatiker wie du. Wo bleibt denn das Siegerlächeln, mit dem du sonst die Herzen deiner Wähler eroberst?«

»Das fällt heute flach. Setz dich, Nell.« MacDermott wies auf das Sofa neben dem Eckfenster, durch das man den östlichen und nördlichen Teil der Stadt erkennen konnte. Dieses Büro hatte er sich wegen der Aussicht auf seinen langjährigen Wahlkreis ausgesucht.

Nell nannte ihn sein Lehnsgut.

Also ließ sie sich auf dem Sofa nieder und sah ihren Großvater erwartungsvoll an. Seine blauen Augen waren ungewöhnlich müde, und auch das aufmerksame Funkeln in seinem Blick suchte man heute vergebens. Obwohl er dank seiner aufrechten Haltung für gewöhnlich selbst im Sitzen größer wirkte, als er eigentlich war, machte es nun den Eindruck, als wäre er geschrumpft. Selbst sein berühmter weißer Haarschopf schien schütter geworden zu sein. Nell bemerkte, dass er die Hände ineinander krampfte und immer wieder die Achseln zuckte, als wolle er sich von einer unsichtbaren Last befreien. Bestürzt stellte sie fest, dass man ihrem Großvater zum ersten Mal, seit sie denken konnte, sein wahres Alter ansah.

Lange starrte er in die Ferne, dann stand er auf und setzte sich in einen bequemen Sessel neben dem Sofa.

»Nell, wir stecken in einer Krise, und du musst uns helfen. Dieser Mistkerl, Bob Gorman, ist für eine zweite Amtszeit nominiert und will jetzt plötzlich nicht mehr kandidieren. Man hat ihm einen lukrativen Job als Geschäftsführer in einer dieser neuen Internetfirmen angeboten. Er ist zwar bereit, noch bis zur Wahl im Amt zu bleiben, aber angeblich kann er von seinen Abgeordnetendiäten nicht leben. Natürlich habe ich ihn darauf hingewiesen, dass er vor zwei Jahren, als ich ihm die Nominierung verschaffte, von nichts anderem gesprochen hat als von seiner Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung.«

Nell wartete ab. Sie wusste, dass ihrem Großvater in der vergangenen Woche Gerüchte zu Ohren gekommen waren, Gorman wolle nicht mehr für eine zweite Amtsperiode kandidieren. Offenbar hatten sich diese inzwischen bestätigt.

»Nell, es gibt da einen Menschen – und meiner Ansicht nach nur einen einzigen –, der ihn ersetzen und dafür sorgen könnte, dass unsere Partei diesen Sitz behält.« MacDermott runzelte die Stirn. »Du hättest es schon vor zwei Jahren tun sollen, als ich mich aus der Politik zurückzog, das weißt du ganz genau.« Er hielt inne. »Es liegt dir doch im Blut. Anfangs warst du ja auch Feuer und Flamme, aber Adam hat es dir ausgeredet. Das darf nicht wieder vorkommen.«

»Mac, bitte hack nicht ständig auf Adam herum.«

»Ich hacke auf niemandem herum, Nell, ich sage dir nur, dass ich dich kenne. Du bist die geborene Politikerin. Seit deiner Jugend habe ich dich als meine Nachfolgerin herangezogen. Zugegeben, ich war über deine Ehe mit Adam Cauliff alles andere als erfreut. Doch vergiss nicht, dass ich ihm den Start in New York erst ermöglicht habe, indem ich ihn an Walters und Arsdale weiterempfahl, ausgezeichnete Architekten und außerdem meine besten Parteifreunde.«

Mac presste die Lippen zusammen. »Ich stand ganz schön dumm da, als Adam nach weniger als drei Jahren den Bettel hingeworfen, ihnen ihre Chefsekretärin abgeworben und sein eigenes Büro eröffnet hat. Meinetwegen, in der Geschäftswelt mag so etwas üblich sein. Allerdings kannte Adam meine Pläne für dich und deine Karriereabsichten von Anfang an. Warum hat er seine Meinung geändert? Du solltest für meinen Sitz kandidieren, als ich in den Ruhestand ging, und das wusste er. Schon damals hatte er kein Recht, es dir madig zu machen, und dasselbe gilt auch heute noch.«

»Mac, ich bin gerne Journalistin. Auch wenn es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, bekomme ich ziemlich großes Feedback.«

»Ich gebe zu, dass du verdammt gute politische Kolumnen schreibst. Aber du weißt selbst, dass der Job nicht genug für dich ist.«

»Hör zu, mein Zögern hat nicht nur damit zu tun, dass Adam mich gebeten hat, auf eine Kandidatur zu verzichten.«

»Nein? Womit dann?«

»Wir beide wünschen uns Kinder, das weißt du doch. Deshalb hat er mir vorgeschlagen, mit einer politischen Karriere noch zu warten. In zehn Jahren bin ich erst zweiundvierzig. Das ist doch ein gutes Alter, um in die Politik einzusteigen.«

Verärgert stand ihr Großvater auf. »Nell, in zehn Jahren ist der Zug für dich abgefahren. Die Welt verändert sich zu schnell, als dass man sich so viel Zeit lassen könnte. Gib es zu, du brennst doch geradezu darauf, deinen Hut in den Ring zu werfen. Erinnerst du dich noch, was du zu mir gesagt hast, als du meintest, du würdest mich von nun an Mac nennen?«

Nell beugte sich vor, verschränkte die Hände ineinander und stützte das Kinn darauf. Sie wusste es noch ganz genau. Damals war sie im ersten Semester in Georgetown gewesen, und sie hatte sich gegen seinen anfänglichen Widerstand durchgesetzt. »Du hast mich immer als deine beste Freundin bezeichnet, und alle deine Freunde nennen dich Mac«, hatte sie verkündet. »Wenn ich dich weiter mit Opa anspreche, bleibe ich für immer ein Kind. Aber in der Öffentlichkeit möchte ich deine Assistentin sein.«

»Was soll das heißen?«, hatte er erwidert.

Nell erinnerte sich, wie sie das Wörterbuch hochgehalten hatte. »Hör dir die Definition an. Ein Assistent ist ein untergeordneter, vertrauter Helfer. Und das bin ich doch zurzeit für dich.«

»Zurzeit?«

»Bis du in den Ruhestand gehst und ich für deinen Sitz kandidiere.«

»Erinnerst du dich, Nell?«, riss Cornelius MacDermotts Stimme sie aus ihren Gedanken. »Damals warst du eine aufmüpfige Studentin, aber du hast es ernst gemeint.«

»Ich weiß«, entgegnete sie.

Er baute sich vor ihr auf, beugte sich vor und hielt sein Gesicht ganz nah an ihres. »Nutze die Gelegenheit, Nell. Sonst wirst du es einmal bereuen. Wenn Gorman bestätigt, dass er nicht kandidiert, werden sich alle um die Nominierung reißen. Ich will, dass der Parteivorstand dich von Anfang an ganz oben auf die Liste setzt.«

»Und wann soll es losgehen?«, fragte sie zögernd.

»Beim Jahresempfang am dreißigsten. Du und Adam seid eingeladen. Gorman wird ankündigen, dass er sich nach dem Ende seiner Amtszeit zurückzieht. Er wird ein paar Tränen vergießen und schluchzen, wie schwer ihm die Entscheidung gefallen sei. Doch eines habe ihm den Schritt erleichtert. Dann wird er sich die Augen abtupfen, sich die Nase putzen, auf dich zeigen und ausrufen, dass du, Cornelia MacDermott Cauliff, dich um den Sitz bewirbst, den dein Großvater fünfzig Jahre lang innegehabt hat. Cornelia tritt in die Fußstapfen von Cornelius. Der Anfang eines dritten Jahrtausends.«

Offenbar zufrieden mit sich und dieser Zukunftsvision, lächelte er. »Nell, alle werden begeistert sein.«

Reumütig erinnerte sich Nell an ihre quälende Ungeduld vor zwei Jahren, als Bob Gorman für Macs Sitz kandidiert hatte. Alles in ihr hatte gedrängt, seinen Platz einzunehmen. Mac hatte Recht. Sie war die geborene Politikerin. Wenn sie jetzt nicht in den Ring stieg, würde es zu spät sein – zumindest für eine Kandidatur für diesen Sitz, mit dem sie eigentlich ihre politische Karriere beginnen wollte.

»Was stört Adam denn daran, Nell? Früher hat er sich doch auch nicht in deine Angelegenheiten eingemischt.«

»Stimmt.«

»Habt ihr Probleme miteinander?«

»Nein.« Sie bemühte sich, diese Andeutung mit einem beiläufigen Lächeln als absurd abzutun. Seit wann ging das jetzt schon so?, fragte sie sich. Wie lange war Adam schon geistesabwesend und zog sich von ihr zurück? Anfangs war er ihren besorgten Fragen mit einem Scherz ausgewichen. In letzter Zeit jedoch reagierte er zunehmend gereizt. Erst vor kurzem hatte sie ihm geradeheraus gesagt, sie wolle es wissen, falls mit ihrer Ehe irgendetwas im Argen lag. »Egal, was es ist, du musst es mir erzählen, Adam. Die Ungewissheit ist das Allerschlimmste.«

»Wo ist Adam überhaupt?«, erkundigte sich ihr Großvater jetzt.

»In Philadelphia.«

»Seit wann?«

»Seit gestern. Er hält einen Vortrag bei einer Tagung für Architekten und Innenarchitekten. Morgen kommt er zurück.«

»Ich erwarte, dass er am dreißigsten mit dir bei dem Empfang erscheint und dir zu deiner Entscheidung gratuliert. In Ordnung?«

»Ich bezweifle, dass er mir dafür Beifall klatschen wird«, sagte sie ein wenig niedergeschlagen.

»Bei eurer Hochzeit war er ganz begeistert davon, Ehemann einer zukünfigten Politikerin zu werden. Weshalb hat er es sich anders überlegt?«

Du bist der Grund, dachte Nell. Adam ist eifersüchtig, weil du so viel von meiner Zeit in Anspruch genommen hast.

Am Anfang ihrer Ehe war Adam froh gewesen, dass sie auch weiterhin als Macs Assistentin arbeitete. Doch als ihr Großvater in den Ruhestand ging, hatte sich das schlagartig geändert.

»Nell, jetzt können wir endlich ein Leben führen, in dem sich nicht alles um den allmächtigen Cornelius MacDermott dreht«, hatte Adam gemeint. »Ich habe es satt, dass du ständig nach seiner Pfeife tanzt. Glaubst du, das wird besser, wenn du für seinen früheren Sitz kandidierst? Dann will ich dir mal etwas sagen: Er wird dir keine Chance zum Atmen lassen und dich weiter herumkommandieren.«

Der erhoffte Nachwuchs blieb aus, aber Adam redete immer weiter von Kindern. »Du hast bis jetzt nur für die Politik gelebt«, flehte er. »Gönn dir ein wenig Ruhe, Nell. Das Journal möchte, dass du eine regelmäßige Kolumne schreibst. Vielleicht tut dir die Freiheit gut.«

Sein Bitten hatte sie in dem Entschluss bestärkt, auf eine Kandidatur zu verzichten. Doch als Nell nun die Argumente ihres Großvaters überdachte und sich überlegte, wie er sie auf die ihm eigene Weise gelenkt und ermutigt hatte, musste sie sich ehrlicherweise eingestehen: Es genügte ihr nicht, die Politik von außen zu kommentieren. Sie wollte dabei sein.

»Mac, ich werde meine Karten offen auf den Tisch legen«, sagte sie schließlich. »Adam ist mein Mann, und ich liebe ihn. Du hingegen kannst ihn nicht einmal leiden.«

»Das stimmt nicht.«

»Dann lass es mich anders ausdrücken. Seit Adam seine eigene Firma aufgemacht hat, suchst du ständig ein Haar in der Suppe. Falls ich für diesen Posten kandidiere, wird es wieder sein wie früher. Du und ich werden den Großteil des Tages zusammen verbringen. Damit das klappt, musst du mir versprechen, dass du Adam genauso behandeln wirst, wie du es im umgekehrten Fall von ihm erwarten würdest.«

»Kandidierst du, wenn ich schwöre, ihn liebevoll an meine Brust zu drücken?«

Als Nell eine Stunde später Cornelius MacDermotts Büro verließ, hatte sie ihm die Zusage gegeben, sich um Bob Gormans Sitz im Kongress zu bewerben.

2

Zum dritten Mal ging Jed Kaplan nun schon an dem im Parterre gelegenen Architekturbüro Cauliff und Partner vorbei. Das umgebaute Backsteinhaus an der Ecke 27. Straße und Seventh Avenue verfügte über ein Schaufenster, dessen Inhalt ihn magisch anzog. Es handelte sich um das Modell eines modernen, vierzigstöckigen Wohn-und Bürokomplexes, überragt von einem Turm mit goldener Kuppel. Die postmoderne Fassade aus Kalkstein bildete einen interessanten Kontrast zu dem warmen Farbton des Backsteinturms, der leuchtete, während sich die Kuppel stetig drehte.

Jed schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und beugte sich vor, bis sein Gesicht fast das Fenster berührte. Einem unbeteiligten Beobachter wäre er wohl nicht weiter aufgefallen. Er war durchschnittlich groß, hellblond und schlank.

Allerdings täuschte dieser Eindruck. Denn Jeds Körper unter dem ausgeblichenen Sweatshirt war hart und muskulös, und er verfügte trotz seiner Magerkeit über erstaunliche Kräfte. Bei näherer Betrachtung hätte man bemerkt, dass seine Haut durch zu viel Sonne und Wind ledrig geworden war. Und wer ihm in die Augen blickte, wurde in den meisten Fällen spontan von einem beklommenen Gefühl ergriffen.

Jed war achtundreißig Jahre alt und hatte sich bisher überwiegend allein in der Welt herumgetrieben. Als er nach fünf in Australien verbrachten Jahren zurückgekommen war, um seiner verwitweten Mutter einen seiner seltenen Besuche abzustatten, hatte er erfahren, dass sie das kleine Grundstück in Manhattan verkauft hatte, das sich seit vier Generationen im Familienbesitz befand. Früher hatte das Haus ein Pelzgeschäft beherbergt, das einst sehr erfolgreich war, aber nun kaum noch etwas abwarf. Die Wohnungen über dem Laden waren vermietet.

Als Jed von dem Verkauf erfuhr, war er in die Luft gegangen und hatte sich heftig mit seiner Mutter gestritten.

»Was hätte ich anderes tun sollen?«, jammerte die Mutter. »Das Haus ist baufällig, die Versicherung wird immer teurer, die Steuern steigen, die Mieter ziehen aus. Das Pelzgeschäft steht kurz vor der Pleite. Falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest: Heutzutage ist es verpönt, Pelz zu tragen.«

»Vater wollte, dass ich das Haus einmal erbe!«, schimpfte Jed. »Du hattest kein Recht, es zu verkaufen.«

»Dein Vater wollte auch, dass du mir ein guter Sohn bist, heiratest, eine Familie gründest, Kinder hast und einer anständigen Arbeit nachgehst. Aber du bist nicht einmal nach Hause gekommen, als ich dir schrieb, dass er im Sterben liegt.« Sie brach in Tränen aus. »Wann hast du das letzte Mal ein Foto von Königin Elizabeth oder Hillary Clinton in einem Pelzmantel gesehen? Adam Cauliff hat mir einen ordentlichen Preis für das Haus bezahlt. Jetzt habe ich Geld auf der Bank und kann für den Rest meines Lebens ruhig schlafen, ohne mir Sorgen wegen der Rechnungen machen zu müssen.«

Jeds Verdruss wuchs, als er das Modell des Neubaus betrachtete. Verbittert las er die Inschrift unter dem Turm: »Ein Signal der Ästhetik, das den Stil des neuesten, faszinierendsten Wohnviertels von Manhattan prägen wird.«

Der Turm sollte auf dem Grundstück gebaut werden, das seine Mutter an Adam Cauliff verkauft hatte.

Dieser Grund war ein Vermögen wert. Doch Cauliff hatte seiner Mutter eingeredet, dass nicht viel damit anzufangen sei, da gleich daneben eine denkmalgeschützte Ruine, die alte Vandermeer-Villa, stand. Und Jed wusste genau, dass seine Mutter auch nicht im Traum an einen Verkauf gedacht hätte, hätte Cauliff sie nicht beschwatzt.

Ja, er hatte ihr einen angemessenen Preis dafür bezahlt. Aber dann war die Villa abgebrannt. Ein Baulöwe namens Peter Lang hatte sich das Anwesen sofort unter den Nagel gerissen und plante, es mit der ehemaligen Parzelle der Kaplans zusammenzulegen. Auf diese Weise würde ein Filetstück entstehen, das um einiges mehr wert war als die beiden einzelnen Grundstücke zuvor.

Jed hatte gehört, dass eine Obdachlose, die in der Vandermeer-Villa kampierte, ein Feuer angezündet hatte, um sich zu wärmen. Warum hat die Alte das verdammte Baudenkmal nicht abgefackelt, bevor Cauliff meiner Mutter unser Haus abgeluchst hat?, schimpfte Jed in sich hinein. Hass und Zorn stiegen in ihm auf. Ich werde mir diesen Cauliff vorknöpfen, schwor er sich. Gott ist mein Zeuge, den kaufe ich mir. Da die Bruchbude nicht mehr unter Denkmalschutz steht, wäre unser Grundstück nun mehrere Millionen wert.

Unwirsch wandte er sich vom Fenster ab. Der Anblick des Modells verursachte ihm Übelkeit. Er ging zur Seventh Avenue, wo er eine Weile unentschlossen stehen blieb. Dann wandte er sich nach Süden. Um sieben stand er am Hafen vor dem World Financial Center und betrachtete neidisch die kleinen, schnittigen Jachten, die auf den Wellen auf und nieder tanzten.

Besonders stach ihm ein offenbar nagelneuer, zwölf Meter langer Kabinenkreuzer ins Auge. Gotische Buchstaben am Heck verkündeten, dass das Schiff Cornelia II hieß.

Cauliffs Boot, dachte Jed.

Seit seiner Rückkehr nach New York hatte Jed eingehende Erkundigungen über Adam Cauliff eingezogen. Inzwischen kam er häufig zum Hafen, und immer stellte er sich dieselbe Frage: Was mache ich mit diesem Stinktier und seinem Boot?

3

Nach der letzten Sitzung des Architekturkongresses in Philadelphia aß Adam mit zwei seiner Kollegen zu Abend, checkte dann rasch aus seinem Hotel aus und fuhr mit dem Auto zurück nach New York.

Da er erst um halb elf Uhr abends aufgebrochen war, herrschte auf der Autobahn kaum Verkehr.

Beim Abendessen hatte Ward Battle ihm das Gerücht bestätigt, dass man inzwischen gegen Walters und Arsdale – die Firma, bei der Adam gearbeitet hatte, bevor er sich selbstständig machte – wegen illegaler Preisabsprachen und Bestechlichkeit ermittelte.

»Soweit ich gehört habe, ist das nur die Spitze des Eisberges, Adam. Und das bedeutet, dass man Ihnen als ehemaligem Mitarbeiter vermutlich eine Menge Fragen stellen wird. Ich fand, Sie sollten das wissen. Vielleicht kann MacDermott ja dafür sorgen, dass man Sie in Ruhe lässt.«

Mac und etwas für mich tun, dachte Adam höhnisch. Wohl kaum. Wenn er glaubt, dass ich in eine Schmiergeldaffäre verwickelt bin, wird er für die noch das Pech kochen, um mich zu teeren und zu federn.

Beim Essen hatte er sich jedoch nichts anmerken lassen.

»Ich brauche mir keine Sorgen zu machen«, sagte er zu Battle. »Bei Walters und Arsdale war ich nur ein kleines Licht.«

Er hatte nicht mit dieser Enthüllung gerechnet und daher eigentlich geplant, in Philadelphia zu übernachten. Deshalb erwartete ihn Nell erst für den kommenden Tag. Als Adam den Lincoln Tunnel verließ, überlegte er, ob er nach links abbiegen und nach Hause fahren sollte. Doch stattdessen nahm er den Weg nach rechts, und fünf Minuten später stellte er seinen Wagen in einem Parkhaus in der 27. Straße ab.

Den Koffer in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, ging er zu Fuß zu seinem einen halben Häuserblock entfernten Büro. Obwohl sich die Schaufensterbeleuchtung automatisch abgeschaltet hatte, konnte man den eleganten Umriss des Modells vom Vandermeer Tower im Schein der Straßenlaternen sehen.

Adam blieb stehen und betrachtete ihn, ohne das Gewicht des Koffers in der linken Hand zu spüren. Er bemerkte auch nicht, dass er nervös an seinem Schlüssel herumnestelte.

Kurz nach ihrer ersten Begegung hatte Cornelius MacDermott lachend zu ihm gesagt: »Adam, Sie sind das perfekte Beispiel dafür, wie Schein und Sein sich unterscheiden können. Obwohl Sie aus einem kleinen Kaff in North Dakota stammen, sehen Sie aus wie ein Elitestudent aus Yale und sprechen auch so. Wie schaffen Sie das bloß?«

»Indem ich nicht vorgebe, etwas zu sein, das ich nicht bin. Oder sollte ich Ihrer Ansicht nach einen Blaumann tragen und mit einem Rechen über der Schulter herumlaufen?« , hatte Adam gekränkt entgegnet.

»Seien Sie doch nicht so empfindlich«, hatte Mac gebrummt. »Das sollte ein Kompliment sein.«

»Schon gut.«

Mac hätte es sicher besser gefallen, wenn Nell einen Elitestudenten aus Yale geheiratet hätte, dachte Adam. Einen reichen Schnösel, dessen Vater es mithilfe seiner Ellenbogen in New York weit gebracht hatte. Nun, Mac mag ein wichtiger Mann im Kongress gewesen sein, doch sein Wissen über North Dakota hat er aus einem Westernvideo, sagte sich Adam und beschloss, sich nicht weiter den Kopf über den Großvater seiner Frau zu zerbrechen.

In diesem Moment bemerkte er, dass sich am Ende der menschenleeren Straße etwas bewegte. Als er sich umblickte, sah er einen Mann, der sich in einem Hauseingang herumdrückte. Rasch eilte er zur Bürotür und drehte den Schlüssel um. Heute Nacht überfallen zu werden, hätte ihm gerade noch gefehlt.

Erst als er wohlbehalten in seinem Büro angekommen war und die Tür hinter sich abgesperrt hatte, legte sich seine Aufregung. Der hübsche Eichenschrank enthielt einen Fernseher und eine Hausbar. Adam riss die Schranktür auf und schenkte sich ein ordentliches Glas Chivas Regal ein. Dann setzte er sich aufs Sofa und trank genüsslich den Scotch. Oberflächlich betrachtet, machte er den Eindruck eines Mannes, der sich nach einem langen Arbeitstag entspannte.

Adam war kein Mensch, der in der Masse unterging. Dank seiner kerzengeraden Haltung wirkte er größer als einen Meter achtzig. Außerdem sorgte er durch ständige sportliche Betätigung dafür, dass er schlank und fit blieb. In seinem schmalen Gesicht fielen einem zuerst die hellbraunen Augen und das einnehmende Lächeln auf. Er war froh darüber, dass sich inzwischen einige graue Strähnen durch sein dunkelbraunes Haar zogen; denn er wusste, dass er sonst einen zu jungenhaften Eindruck gemacht hätte.

Adam schlüpfte aus seinem Sakko, lockerte die Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Das Mobiltelefon steckte in seiner Hemdtasche. Er holte es heraus und legte es auf den Tisch neben das Glas. Ganz bestimmt würde Nell heute nicht mehr im Hotel anrufen und erfahren, dass er abgereist war. Wenn sie ihn überhaupt erreichen wollte, würde sie seine Mobilfunknummer wählen. Doch auch das war unwahrscheinlich, denn schließlich hatten sie erst heute Nachmittag vor ihrem Termin mit ihrem Großvater miteinander gesprochen. Adam vermutete, dass sie einen geeigneten Moment abwarten würde, um das Ergebnis dieses Treffens mit ihm zu erörtern.

Also gehört dieser Abend ganz allein mir, dachte Adam. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich könnte sogar das Modell aus dem Fenster nehmen, mein Entwurf wurde sowieso abgelehnt. Wahrscheinlich wird Mac nicht traurig darüber sein, überlegte er bitter. Aber nachdem er eine Stunde lang die verschiedenen Möglichkeiten Schritt für Schritt gegeneinander abgewogen hatte, beschloss er, nach Hause zu fahren. Er fühlte sich im Büro beengt und hatte nur wenig Lust, hier auf der Klappcouch zu übernachten.

Es war fast zwei Uhr, als er sich auf Zehenspitzen in seine Wohnung schlich und das Flurlicht anknipste. Im Gästebad duschte er, zog sich um und legte dann seine Kleider für den nächsten Tag ordentlich zurecht. Dann ging er leise ins Schlafzimmer und schlüpfte ins Bett. Nells regelmäßiger Atem sagte ihm, dass es ihm gelungen war, sie nicht zu wecken. Er war erleichtert. Denn er wusste, dass sie stundenlang nicht würde einschlafen können, wenn sie erst einmal aufgewacht war.

Er hingegen litt nicht unter derartigen Schwierigkeiten. Die Müdigkeit übermannte ihn schlagartig, und ihm fielen die Augen zu.

Freitag, 9. Juni

4

Lisa Ryan wachte auf, lange bevor ihr Wecker um fünf Uhr klingelte. Jimmy hatte wieder eine unruhige Nacht gehabt, sich herumgewälzt und im Schlaf geredet. Drei- oder viermal hatte sie ihm beschwichtigend den Rücken getätschelt.

Endlich, vor wenigen Stunden, war er tief eingeschlafen. Und sie wusste, dass sie ihn jetzt wachrütteln musste. Sie selbst hätte eigentlich noch im Bett bleiben können, und sie hoffte, nachdem er gegangen war, noch ein wenig dösen zu können, bevor sie die Kinder weckte.

Ich bin so müde, dachte Lisa. Ich habe kaum ein Auge zugetan, und heute wird ein langer Arbeitstag. Sie war Maniküre und von neun bis um sechs durchgehend ausgebucht.

Früher war ihr Leben nicht so anstrengend gewesen. Doch als Jimmy seine Arbeit verloren hatte, war es ziemlich schnell bergab gegangen. Fast zwei Jahre lang hatte seine Arbeitslosigkeit gedauert, bis ihm Cauliff und Partner seine jetzige Stelle vermittelt hatten. Die Familie hatte sich zwar ab und zu etwas dazuverdienen können, aber sie zahlte immer noch Rechnungen, die sich während der Arbeitslosigkeit angehäuft hatten.

Leider hatten die Umstände von Jimmys Kündigung nicht unbedingt dazu beigetragen, seine Lage zu verbessern. Sein Chef hatte ihn gefeuert, weil er eine Unterhaltung zwischen Jimmy und einem Kollegen mitgehört hatte. Jimmy hatte den Verdacht geäußert, dass jemand in der Firma in die eigene Tasche wirtschaftete. Diese Vermutung hatte er deshalb, weil der verwendete Beton nicht annähernd der im Leistungsverzeichnis aufgeführten Qualität entsprach.

Nach diesem Vorfall erhielt Jimmy auf jede seiner Bewerbungen dieselbe Antwort: »Tut uns leid, wir brauchen Sie nicht.«

Und die Erkenntnis, dass es naiv, dumm und sinnlos von ihm gewesen war, diese Bemerkung überhaupt zu machen, hatte Jimmy sehr verändert. Lisa war sicher, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, als überraschend der Anruf von Adam Cauliffs Sekretärin kam. Jimmys Bewerbung sei an die Baufirma Krause weitergeleitet worden, und zu seiner großen Erleichterung war er kurz darauf eingestellt worden.

Doch anders als erwartet besserte sich Jimmys Gemütszustand nach dem Arbeitsantritt nicht. Lisa hatte sogar mit einem Psychologen gesprochen, der sie gewarnt hatte, Jimmy leide offenbar an einer Depression, die er wahrscheinlich nicht allein überwinden könne. Aber als sie Jimmy vorschlug, eine Therapie zu machen, hatte dieser sich wütend geweigert.

Seit einigen Monaten fühlte sich Lisa viel älter als dreiunddreißig. Der Mann, der nun neben ihr im Bett lag, war nicht mehr ihr Sandkastenfreund, der immer gewitzelt hatte, er habe sie schon im Laufstall geliebt. Inzwischen verhielt Jimmy sich unberechenbar. Er brüllte sie und die Kinder an und entschuldigte sich im nächsten Moment unter Tränen. Außerdem hatte er zu trinken angefangen und genehmigte sich nun jeden Abend zwei oder drei Gläser Scotch, die er nicht sehr gut vertrug.

Lisa war sicher, dass diese Veränderung nicht mit einer Affäre zusammenhing. Inzwischen verbrachte Jimmy jeden Abend zu Hause und hatte sogar das Interesse an den gelegentlichen Baseballabenden mit seinen Freunden verloren. Selbst seine Schwäche für manchmal riskante Pferde- und Baseballwetten hatte sich gelegt. Am Zahltag überreichte er seiner Frau den uneingelösten Gehaltsscheck und die Lohnabrechnung.

Lisa hatte versucht, ihm zu erklären, dass er sich keine finanziellen Sorgen mehr zu machen brauchte. Die Schulden auf ihrer Kreditkarte, die sich während seiner Arbeitslosigkeit angesammelt hatten, waren fast abbezahlt. Doch das schien ihn nicht zu kümmern. Eigentlich war ihm mittlerweile alles egal.

Sie wohnten noch immer in dem kleinen Häuschen in Little Neck, einem Stadtteil von Queens, das bei ihrer Hochzeit vor dreizehn Jahren eigentlich als Übergangslösung gedacht gewesen war. Doch obwohl in den ersten sieben Jahren drei Kinder gekommen waren, hatten sie anstelle eines neuen Hauses Stockbetten angeschafft. Früher hatte Lisa darüber gewitzelt, aber inzwischen ließ sie es lieber, weil sie Jimmy nicht kränken wollte.

Als der Wecker schließlich klingelte, stellte sie ihn ab und drehte sich seufzend zu ihrem Mann um. »Jimmy!« Sie rüttelte ihn an der Schulter. »Jimmy!«, rief sie wieder, diesmal ein wenig lauter, versuchte aber, sich ihre Besorgnis nicht ansehen zu lassen.

Endlich gelang es ihr, ihn zu wecken. »Danke, Schatz«, murmelte er benommen und verschwand im Bad. Lisa stand auf, ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Es versprach ein sonniger Tag zu werden. Nachdem sie sich das hellbraune Haar zu einem Knoten aufgesteckt hatte, griff sie nach ihrem Morgenmantel. Da sie auf einmal nicht mehr schläfrig war, beschloss sie, mit Jimmy zu frühstücken.

Als er zehn Minuten später in die Küche kam, schien er erstaunt, sie dort vorzufinden. Er hat gar nicht mitgekriegt, dass ich aufgestanden bin, dachte Lisa traurig.

Sie beobachtete ihn gründlich, achtete allerdings darauf, dass er ihren forschenden Blick nicht bemerkte. Heute Morgen wirkt er so schrecklich hilflos, sagte sie sich. Bestimmt glaubt er, ich würde wieder mit dem Thema Therapie anfangen.

»Der Tag ist viel zu schön, um im Bett zu bleiben«, verkündete sie deshalb bemüht fröhlich. »Ich dachte, ich setze mich auf ein Tässchen Kaffee zu dir und schaue mir später draußen an, wie die Vögel aufwachen.«

Jimmy war ein kräftiger Mann. Sein früher feuerrotes Haar hatte inzwischen einen Kupferton angenommen, und durch das Arbeiten im Freien war seine Haut tief gebräunt. Lisa stellte fest, dass seine Falten tiefer geworden waren.

»Das freut mich aber, Lissy.«

Er trank seinen Kaffee im Stehen und lehnte den Toast und die Cornflakes ab, die Lisa ihm anbot.

»Mit dem Abendessen brauchst du nicht auf mich zu warten«, meinte er. »Die hohen Tiere halten heute eine ihrer Fünf-Uhr-Besprechungen auf Cauliffs schicker Jacht ab. Vielleicht will er mich ja in stilvollem Rahmen rausschmeißen.«

»Warum sollte er dich denn rausschmeißen?«, fragte Lisa und hoffte, dass man ihr ihren Schreck nicht anhörte.

»War nur ein Witz. Aber vielleicht würde er mir sogar einen Gefallen damit tun. Wie läuft das Fingernagelgeschäft? Könntest du uns damit durchfüttern?«

Lisa umarmte ihren Mann. »Ich glaube, dir würde es viel besser gehen, wenn du mir erzählst, was dich bedrückt.«

»Jeder hat ein Recht auf seine Meinung.« Jimmy Ryan nahm seine Frau fest in seine kräftigen Arme. »Ich liebe dich, Lissy. Das darfst du nie vergessen.«

»Das weiß ich. Und…«

»Mit Dank zurück.« Kurz grinste er wegen der Floskel, über die sie sich als Teenager stets vor Lachen ausgeschüttet hatten.

Dann wandte er sich um und ging zur Tür. Während sie sich hinter ihm schloss, glaubte Lisa zu hören, wie er »Es tut mir leid« flüsterte. Aber sie war sich nicht sicher.

5

An diesem Morgen beschloss Nell, Adam ein ganz besonderes Frühstück zu bereiten. Allerdings ärgerte sie sich schon im nächsten Moment über ihre Idee, ihn mit etwas Essbarem dazu zu bewegen, ihre Karrierepläne zu billigen, obwohl das doch ganz allein ihre Entscheidung war. Aber diese Erkenntnis hinderte sie nicht daran, ihr Vorhaben dennoch in die Tat umzusetzen. Mit einem reumütigen Lächeln erinnerte sie sich an das Kochbuch ihrer Großmutter mütterlicherseits. »Der Weg zum Herzen eines Mannes führt durch den Magen«, stand auf dem Einband. Ihre Mutter, Anthropologin und eine schauderhafte Köchin, hatte ihren Vater häufig mit diesem Motto aufgezogen.

Beim Aufstehen hatte Nell gehört, dass Adam bereits duschte. Sie war zwar aufgewacht, als er in der vergangenen Nacht nach Hause gekommen war, hatte jedoch beschlossen, sich schlafend zu stellen. Ja, sie mussten dringend miteinander reden, aber zwei Uhr morgens schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, das nachmittägliche Gespräch mit ihrem Großvater zu erörtern.

Sie würde wohl nicht darum herumkommen, das Thema beim Frühstück anzuschneiden. Denn heute Abend hatte sie eine Verabredung mit Mac, und bis dahin wollte sie alles geklärt haben. Am Vorabend hatte Mac angerufen und sie an das Essen erinnert, das anlässlich des fünfundsiebzigsten Geburtstages seiner Schwester stattfand. Nells Großtante Gerti würde im Restaurant des Four Seasons feiern.

»Mac, glaubst du allen Ernstes, wir hätten das vergessen?« , fragte Nell ihren Großvater. »Natürlich kommen wir.« Allerdings verkniff sie sich die Bemerkung, dass sie ihre mögliche Kandidatur lieber nicht bei Tisch diskutieren wollte. Das war zwecklos, denn natürlich würde Mac darauf zu sprechen kommen. Und deshalb musste sie Adam heute Morgen eröffnen, dass sie beschlossen hatte, sich um den Posten zu bewerben. Er würde ihr nie verzeihen, wenn er es zuerst von Mac hörte.

Meistens fuhr Adam gegen halb acht Uhr morgens ins Büro. Nell versuchte, spätestens um acht an ihrem Schreibtisch zu sitzen und an der nächsten Kolumne zu arbeiten. Davor frühstückten sie zwar stets zusammen, jedoch schweigend und in die Morgenzeitung versunken.

Wäre es nicht schön, wenn Adam begreifen würde, wie wichtig es mir ist, Macs Sitz im Kongress zu gewinnen und in diesem aufregenden Wahljahr an vorderster Front dabei zu sein?, dachte sie, während sie den Eierkarton aus dem Kühlschrank holte. Und wie angenehm wäre es, wenn ich nicht ständig zwischen den beiden Männern hin- und hergerissen wäre, die mir auf dieser Welt am meisten bedeuten. Warum nur betrachtet Adam meine politischen Ambitionen als Bedrohung für sich und unsere Ehe?

Früher hat er mich verstanden, überlegte sie weiter, als sie den Tisch deckte, frisch gepressten Orangensaft einschenkte und nach der Kaffeekanne griff. Er sagte, er freue

Die Originalausgabe BEFORE I SAY GOOD-BYE erschien bei Simon & Schuster, New York

Vollständige deutsche Taschenbuchneuausgabe 10/2012

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