Du entkommst mir nicht - Mary Higgins Clark - E-Book

Du entkommst mir nicht E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Als die Strafverteidigerin Emily Graham in das Haus ihrer Urgroßmutter zieht, ahnt sie nichts von den schrecklichen Funden, die man auf dem Grundstück machen wird: die sterblichen Überreste zweier Frauen, die im Abstand von über 100 Jahren spurlos verschwanden. Emily forscht nach. Sie kommt der Wahrheit gefährlich nahe – und einem Killer, der keine Gnade kennt.

»Hoch spannend bis zum letzten Kapitel.«
DER STERN

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Seitenzahl: 458

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Das Buch:

Nach der Scheidung von ihrem Mann beschließt Emily Graham, einen völligen Neubeginn zu wagen, fernab der Umgebung, in der sie alles an ihr früheres Leben erinnert. In dem friedlichen kleinen Badeort Spring Lake erwirbt die junge Strafverteidigerin das Haus, in dem einst ihre Urgroßmutter aufgewachsen war.

Doch die Idylle trügt. Bald muss Emily feststellen, dass ihr Traum von einem unbeschwerten Neuanfang sich nicht erfüllen wird: Kurz nach ihrem Einzug wird bei Aushebungsarbeiten im Garten das Skelett einer jungen Frau gefunden. In deren Hand findet sich der Fingerknochen einer weiteren Frau, an dem noch ein Ring steckt ...

Mit Hilfe der Polizei gelingt es, die Toten zwei Mordfällen zuzuordnen, die über einhundert Jahre auseinander liegen – doch die Hintergründe bleiben unklar. Emily will die Wahrheit ans Licht bringen und tastet sich an lang gehütete Familiengeheimnisse heran. Damit wird sie jedoch zur Bedrohung für einen äußerst hinterhältigen und kaltblütigen Killer, der sie zu seinem nächsten Opfer bestimmt …

Die Autorin:

Mary Higgins Clark, geboren 1928 in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Beinamen wie die „Königin der Spannung“ und die „Meisterin des sanften Schreckens“ zeugen von ihrer großen Popularität. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, auch den begehrten „Edgar Award“.

Im Heyne Verlag sind sämtliche Romane erschienen, u.a.: Dass du ewig denkst an mich – Das fremde Gesicht – Das Haus auf den Klippen – Schwesterlein, komm tanz mit mir – Vergiss die Toten nicht – Wenn wir uns wiedersehen – Und morgen in das kühle Grab – Die Gnadenfrist  – Denn vergeben wird dir nie – Das Anastasia-Syndrom – Und hinter dir die Finsternis – Mondlicht steht dir gut – Stille Nacht – Der Weihnachtsdieb – Der verlorene Engel – Warte, bist du schläfst – Schrei in der Nacht – In einer Winternacht – Denn bereuen sollst du nie – Ein Gesicht so schön und kalt – Wo waren Sie, Dr. Highley? – Mein ist die Stunde der Nacht – Das Haus am Potomac – Hab acht auf meine Schritte – Wintersturm – Schlangen im Paradies – Schlaf wohl, mein süßes Kind – Weil deine Augen ihn nicht sehen.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungDienstag, 20. März
EinsZwei
Mittwoch, 21. März
DreiVierFünfSechsSiebenAchtNeun
Donnerstag, 22. März
ZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzig
Freitag, 23. März
EinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzig
Samstag, 24. März
SechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißig
Sonntag, 25. März
Fünfunddreißig
Montag, 26. März
SechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzig
Dienstag, 27. März
Sechsundvierzig
Mittwoch, 28. März
SiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzig
Donnerstag, 29. März
SechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzig
Freitag, 30. März
FünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigSiebzigEinundsiebzigZweiundsiebzigDreiundsiebzigVierundsiebzigFünfundsiebzigSechsundsiebzigSiebenundsiebzig
Samstag, 31. März
AchtundsiebzigNeunundsiebzigAchtzigEinundachtzigZweiundachtzigDreiundachtzigVierundachtzigFünfundachtzigSechsundachtzigSiebenundachtzigAchtundachtzig
Sonntag, 1. April
Neunundachtzig
DanksagungCopyright

Für meinen Liebsten und Besten – John Conheeney – außergewöhnlicher Ehemann

Die Clark-Kinder – Marilyn, Warren und Sharon, David, Carol und Pat

Die Clark-Enkel – Liz, Andrew, Courtney, David, Justin und Jerry

Die Conheeney-Kinder – John und Debby, Barbara und Glenn,Trish, Nancy & David

Die Conheeney-Enkel – Robert, Ashley, Lauren, Megan, David,Kelly, Courtney, Johnny und Thomas

Ihr seid eine tolle Sippe, und ich liebe euch alle.

Dienstag, 20. März

Eins

Als er die Strandpromenade erreichte, schlug ihm ein heftiger, böiger Wind vom Meer entgegen. Nach einem Blick auf die Wolken, die am Himmel trieben, war er sicher, dass es später noch ein Schneegestöber geben würde – und das, obwohl morgen Frühlingsanfang war. Der Winter hatte sich eine Ewigkeit hingezogen, und alle wiederholten ständig, wie sehr sie sich auf das warme Wetter freuten. Ganz im Gegensatz zu ihm.

Ihm gefiel es im Spätherbst am besten in Spring Lake, wenn die Sommerfrischler ihre Ferienhäuser abschlossen und man auch an den Wochenenden von ihnen verschont blieb. Er bedauerte, dass jedes Jahr mehr Leute ihre Häuser in der Stadt verkauften und ganz hierher zogen. Offenbar störte es sie nicht, jeden Morgen über hundert Kilometer zur Arbeit nach New York zu fahren, solange sie dafür den Tag in diesem hübschen, friedlichen Städtchen an der Küste von New Jersey beginnen und beenden konnten.

Dank seiner viktorianischen Häuser wirkte Spring Lake, als wäre die Zeit dort seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts stehen geblieben. Und das sei, wie die Zugezogenen sagten, die lästige Pendelei wert.

Und alle waren sich einig, dass man sich in Spring Lake, wo stets eine frische Meeresbrise wehte, am besten erholen konnte.

Von Spring Lakes drei Kilometer langer Strandpromenade aus konnte man den prächtig silbrig schimmernden Atlantik bewundern. Das Städtchen war ein echtes Schmuckstück, daran gab es für die Einwohner nichts zu rütteln.

Die Menschen hier – die Sommergäste und auch die Alteingesessenen – kannten einander gut. Doch niemand ahnte etwas von seinem Geheimnis. Wenn er die Hayes Avenue entlang schlenderte, malte er sich aus, wie Madeline Shapley an jenem Spätnachmittag des 7. September 1891 ausgesehen hatte. Sie saß, ihren breitkrempigen Sonnenhut neben sich, auf dem Rattansofa ihrer Veranda, die rund um das ganze Haus verlief. Damals war sie neunzehn Jahre alt, hatte braune Augen und dunkelbraunes Haar und war in ihrem gestärkten weißen Leinenkleid eine schlichte Schönheit.

Nur er allein wusste, warum sie eine Stunde später hatte sterben müssen.

Die St. Hilda Avenue mit ihren mächtigen Eichen, die am 5. August 1893 nur Schösslinge gewesen waren, rief andere Bilder in ihm wach. Die achtzehnjährige Letitia Gregg war nicht nach Hause gekommen. Sie war vor Angst wie erstarrt gewesen. Anders als Madeline, die um ihr Leben gekämpft hatte, hatte Letitia um Gnade gefleht.

Die dritte im Bunde war Ellen Swain gewesen, ein zierliches, ruhiges, aber viel zu neugieriges Mädchen, das darauf gebrannt hatte, mehr über Letitias letzte Stunden zu erfahren.

Und wegen dieser Neugier war sie ihrer Freundin am 31. März 1896 ins Grab gefolgt.

Er kannte jede Einzelheit und wusste ganz genau, was mit ihr und den anderen geschehen war.

Während einer Periode kühlen Schmuddelwetters, wie es manchmal im Sommer vorkommt, hatte er das Tagebuch gefunden. Aus reiner Langeweile war er in die alte Remise gegangen, die heute als Garage diente. Er war die wackelige Leiter zum muffigen, staubigen Speicher hinaufgestiegen und hatte dort in den Kisten herumgewühlt.

Die erste enthielt nutzlosen Krimskrams: verrostete alte Lampen, ausgeblichene, unmoderne Kleidung, Töpfe, Pfannen, ein Waschbrett, abgestoßene Schminkkästen mit zerbrochenen oder blinden Spiegeln. Es handelte sich um die Sorte von Dingen, die man in der Absicht, sie zu reparieren oder zu verschenken, beiseite räumt und dann vergisst.

In einer anderen Kiste lagen dicke Alben mit mürben Seiten. Die Fotos darauf zeigten ernste Menschen in steifen Posen, die sich weigerten, vor der Kamera ihre Gefühle preiszugeben.

In einer dritten Kiste entdeckte er Bücher, staubig, aufgequollen von der Feuchtigkeit und mit verblassten Buchstaben. Er hatte schon immer viel gelesen, und obwohl er damals erst vierzehn gewesen war, konnte er die Bände nach einem raschen Blick einschätzen und beiseite legen. Es waren keine verschollenen Meisterwerke dabei.

Der Inhalt von einem Dutzend weiterer Kisten erwies sich ebenfalls als wertloser Kram.

Als er die herausgeräumten Gegenstände wieder verstaute, stieß er auf eine zerschrammte Ledermappe, die offenbar in einem der Fotoalben gesteckt hatte. Als er sie öffnete, stellte er fest, dass sich unzählige beschriebene Seiten darin befanden.

Die erste Eintragung war auf den 7. September 1891 datiert. Sie begann mit den Worten: Madeline ist durch meine Hand gestorben.

Er hatte das Tagebuch mitgenommen und niemandem davon erzählt. Im Laufe der Jahre hatte er fast täglich darin gelesen, bis ihm war, als hätte er das Geschilderte selbst erlebt. Irgendwann wuchs seine Gewissheit, dass er eins mit dem Verfasser geworden war und dessen Überlegenheitsgefühl gegenüber den Opfern teilte. Wenn der Autor beschrieb, wie er den Angehörigen Trauer vorgespielt hatte, amüsierte er sich königlich.

Was anfangs nur Neugier gewesen war, verwandelte sich nach einiger Zeit in eine fixe Idee – in den Drang, die in diesem Tagebuch aufgezeichnete Todesreise selbst anzutreten. Sie nur aus zweiter Hand zu erleben, genügte ihm nicht mehr.

Und vor viereinhalb Jahren hatte er zum ersten Mal getötet.

Es war das Pech der einundzwanzigjährigen Martha gewesen, dass sie das jährliche Sommerfest ihrer Großeltern besucht hatte. Die Lawrences waren eine alt eingesessene und angesehene Familie in Spring Lake. Auch er hatte zu den Gästen gehört und Martha dort kennen gelernt. Am nächsten Tag, dem 7. September, ging Martha am frühen Morgen auf der Strandpromenade zum Joggen. Sie kehrte nie nach Hause zurück.

Selbst jetzt, über vier Jahre später, wurde immer noch nach ihr gesucht. Erst kürzlich hatte der Oberstaatsanwalt von Monmouth County bei einer Sitzung geschworen, er werde nicht eher ruhen, bis man wisse, was wirklich mit Martha Lawrence geschehen sei. Während er den leeren Versprechungen lauschte, kicherte er in sich hinein.

Sein größtes Vergnügen war es, sich an den ernsten Gesprächen über Marthas Schicksal zu beteiligen, die hin und wieder beim Abendessen aufkamen.

Ich könnte es euch in allen Einzelheiten erzählen, sagte er sich. Und auch, was mit Carla Harper passiert ist. Vor zwei Jahren war er am Hotel Warren vorbeigeschlendert, als sie gerade die Treppe herunterkam. Wie Madeline im Tagebuch trug sie ein weißes Kleid, obwohl ihres eher einem Unterrock ähnelte. Es war ärmellos, und ihr schlanker junger Körper zeichnete sich darunter ab. Er hatte sich an ihre Fersen geheftet.

Als Carla drei Tage später verschwand, nahm jeder an, sie sei auf dem Heimweg nach Philadelphia verschleppt worden. Nicht einmal der Staatsanwalt, der so fest entschlossen war, das Geheimnis um Marthas Verschwinden zu lüften, schöpfte den Verdacht, dass Carla Spring Lake nie verlassen hatte.

Während er sich noch im Gefühl seiner Allwissenheit sonnte, schloss er sich beschwingt den spätnachmittäglichen Spaziergängern auf der Strandpromenade an, begrüßte freundlich ein paar gute Bekannte und stimmte der allgemeinen Auffassung zu, dass der Winter sich wohl mit einem letzten kalten Sturm verabschieden würde.

Doch selbst beim Plaudern mit seinen Freunden spürte er, wie sich der Trieb in ihm regte. Es war der Drang, ein drittes Opfer zu finden. Der Jahrestag rückte näher, und er hatte noch keines ausgesucht.

In der Stadt hieß es, dass Emily Graham, die das Shapley-Haus  – wie man es noch immer nannte – gekauft hatte, eine Nachfahrin der ursprünglichen Besitzer war.

Er wusste alles über sie aus dem Internet: zweiunddreißig Jahre alt, geschieden und Strafverteidigerin. Sie war zu Geld gekommen, nachdem ihr der dankbare Besitzer einer aufstrebenden Computerfirma, den sie kostenlos und erfolgreich verteidigt hatte, ein paar Unternehmensanteile überließ. Als die Firma an die Börse gegangen war, hatte Emily Graham die Aktien verkauft und damit ein Vermögen gemacht.

Er erfuhr auch, dass Emily Graham vom Sohn eines Mordopfers belästigt worden war, nachdem sie einen Freispruch für den Angeklagten erwirkt hatte. Der Sohn, der seine Unschuld beteuerte, befand sich mittlerweile in einer psychiatrischen Einrichtung. Sehr interessant.

Noch interessanter jedoch war, dass Emily dem Foto ihrer Urgroßtante Madeline Shapley erstaunlich ähnelte. Sie hatte die gleichen weit auseinander stehenden braunen Augen und langen, dichten Wimpern. Das gleiche dunkelbraune Haar mit rötlichem Schimmer. Den gleichen reizenden Mund. Die gleiche hoch gewachsene, schlanke Figur.

Natürlich gab es auch Unterschiede. Madeline war unschuldig, vertrauensselig, unerfahren und romantisch gewesen. Emily Graham hingegen war offenbar eine weltgewandte, kluge Frau. Sie würde eine größere Herausforderung darstellen als die anderen. Aber das erhöhte nur den Reiz. Vielleicht würde sie ja sein Trio vervollständigen.

Die Vorstellung hatte etwas so Zwingendes und Folgerichtiges, dass er freudig erschauderte.

Zwei

Als Emily das Ortsschild passierte, atmete sie erleichtert auf. Endlich war sie in Spring Lake angekommen. »Geschafft!«, rief sie aus. »Hallelujah!«

Die Fahrt von Albany hierher hatte fast acht Stunden gedauert. Bei ihrem Aufbruch hatte der Wetterbericht leichten Schneefall angekündigt. Allerdings hatte sich dieser als ausgewachsener Schneesturm entpuppt, der erst nachließ, als sie Rockland County hinter sich hatte. Die vielen Auffahrunfälle, an denen sie unterwegs vorbeikam, erinnerten sie an die Autoscooter, die sie als Kind so geliebt hatte.

Als die Straße einigermaßen frei war, beschleunigte sie. Doch kurz darauf wurde sie Zeugin eines Beinaheunfalls. Einen schrecklichen Moment lang schien es, als würden zwei Autos frontal zusammenstoßen. Das Unglück wurde nur dadurch vermieden, dass es dem Fahrer des einen Wagens irgendwie gelang, sein Fahrzeug unter Kontolle zu bekommen und im allerletzten Moment nach rechts zu lenken.

Das ist fast wie mein Leben in den vergangenen Jahren, dachte Emily, während sie den Fuß vom Gas nahm. Ständig auf der Überholspur und manchmal nur um Haaresbreite an einer Kollision vorbei. Ich habe Luftveränderung und Ruhe bitter nötig.

»Emily, nimm die Stelle in New York an«, hatte ihre Großmutter gesagt. »Ich hätte ein sehr viel besseres Gefühl, wenn du ein paar hundert Kilometer entfernt wohnst. Ein fieser Ex-Mann und außerdem noch dieser Verrückte, der dich verfolgt – das ist ein bisschen zu viel für meinen Geschmack.«

Und wie vorauszusehen gewesen war, fuhr Großmutter fort: »Wenn ich offen sein darf, hättest du Gary White nie heiraten sollen. Dass er den Nerv hatte, dich drei Jahre nach der Scheidung zu verklagen, weil du jetzt vermögend bist, beweist ja, wie richtig ich ihn eingeschätzt habe.«

Emily schmunzelte unwillkürlich, als sie an die Worte ihrer Großmutter dachte. Langsam fuhr sie durch die dunklen Straßen und warf einen Blick auf die Anzeige am Armaturenbrett. Die Außentemperatur betrug frostige vier Grad. Der Asphalt war feucht – offenbar hatte der Sturm hier nur Regen gebracht –, und die Windschutzscheibe begann zu beschlagen. An den schwankenden Baumwipfeln erkannte sie, dass immer noch heftige Böen vom Meer heranwehten.

Doch die Häuser, zum Großteil sanierte viktorianische Gebäude, wirkten solide und friedlich. Morgen werde ich offiziell Hausbesitzerin in dieser Stadt sein, überlegte Emily. Am 21. März, der Tagundnachtgleiche, an dem es gleich lang hell und dunkel ist und die Welt sich im Gleichgewicht befindet.

Es war ein beruhigender Gedanke, denn sie hatte in letzter Zeit genug Trubel gehabt und sehnte sich jetzt nach absoluter Ruhe. Obwohl sie einerseits einen erstaunlichen Glückstreffer gelandet hatte, waren gleichzeitig ununterbrochen Sorgen und Probleme auf sie eingeprasselt wie ein Meteoritenhagel. Doch nicht umsonst hieß es ja in einem alten Sprichwort, dass das Leben ein ständiges Auf und Ab sei. Der Himmel allein wusste, dass sie der lebende Beweis dafür war.

Emily spielte mit dem Gedanken, an ihrem Haus vorbeizufahren, verwarf ihn jedoch wieder. Die Vorstellung, dass das Haus in wenigen Stunden ihr gehören sollte, hatte noch immer etwas Unwirkliches. Vor drei Monaten hatte sie es zum ersten Mal gesehen, aber in ihrer kindlichen Phantasie war es stets lebhaft präsent gewesen  – halb real, halb wie ein Märchenschloss. Als sie über die Schwelle getreten war, hatte sie sofort das Gefühl gehabt, endlich zu Hause angekommen zu sein. Die Immobilienmaklerin hatte sie darauf hingewiesen, dass man das Anwesen immer noch Shapley-Haus nannte.

Für heute bin ich genug Auto gefahren, sagte sich Emily. Sie hatte einen langen Tag hinter sich. Eigentlich hätte die Umzugsfirma aus Albany um acht Uhr erscheinen sollen. Die meisten Möbel, die Emily behalten wollte, befanden sich bereits in ihrem neuen Apartment in New York. Doch als Großmutter vor kurzem eine kleinere Wohnung bezog, hatte sie ihrer Enkelin einige hübsche antike Stücke geschenkt, und so war doch noch einiges umzuziehen gewesen.

»Ihre Sachen sind als erste dran«, hatte der Mann von der Umzugsfirma beteuert. »Auf mich können Sie sich verlassen.«

Allerdings war der Möbelwagen erst gegen Mittag eingetroffen. Und deshalb war Emily viel später als geplant aufgebrochen. Inzwischen war es fast halb elf Uhr nachts.

Ich fahre zuerst ins Hotel, beschloss sie und dachte voller Vorfreude an eine heiße Dusche, die Elf-Uhr-Nachrichten und ein weiches Bett.

Als sie Spring Lake zum ersten Mal besucht und spontan die Anzahlung auf das Haus geleistet hatte, hatte sie einige Tage lang im Candlelight Inn gewohnt, um gründlich darüber nachzudenken, ob ihre Entscheidung auch richtig gewesen war. Mit Carrie Roberts, der über siebzig Jahre alten Besitzerin der Pension, hatte sie sich auf Anhieb verstanden. Emily hatte sie von unterwegs bereits angerufen, um ihr Bescheid zu geben, dass sie später kommen würde. Und Carrie hatte ihr versichert, es mache ihr überhaupt keine Umstände.

An der Ocean Avenue bog Emily rechts ab und fuhr dann noch vier Häuserblocks weiter. Ein wenig später stellte sie mit einem erleichterten Seufzer den Motor ab und nahm den Koffer, den sie für die Nacht brauchte, vom Rücksitz.

Carries Begrüßung fiel herzlich, aber knapp aus. »Sie sehen erschöpft aus, Emily. Das Bett ist schon aufgedeckt. Da Sie, wie Sie sagten, schon zu Abend gegessen haben, habe ich Ihnen eine Thermosflasche mit heißem Kakao und ein paar Kekse aufs Nachtkästchen gestellt. Bis morgen früh also.«

Eine heiße Dusche. Ein Nachthemd und ihren alten Lieblingsbademantel. Emily trank den Kakao, sah sich die Nachrichten an und spürte, wie sich ihre verkrampften Muskeln allmählich lockerten.

Gerade hatte sie den Fernseher abgeschaltet, als ihr Handy läutete. Da sie ahnte, wer es war, nahm sie das Gespräch an.

»Hallo, Emily.«

Sie musste schmunzeln, als sie die besorgte Stimme Eric Baileys hörte, des schüchternen Genies, dem sie es zu verdanken hatte, dass sie nun in Spring Lake war.

Während sie ihm versicherte, sie habe die Fahrt unbeschadet und ohne größere Zwischenfälle überstanden, erinnerte sie sich an den Tag ihrer ersten Begegnung. Er hatte das winzige Büro neben ihrem bezogen. Sie waren gleich alt und ihre Geburtstage fielen in dieselbe Woche. Bald hatten sie sich miteinander angefreundet, und Emily erkannte, dass sich hinter seiner zurückhaltenden, schuljungenhaften Art ein hochintelligenter Kopf verbarg.

Als ihr eines Tages auffiel, wie niedergeschlagen er wirkte, fragte sie ihn nach dem Grund. Es stellte sich heraus, dass seine aufstrebende Internetfirma von einem großen Softwarehersteller verklagt worden war, der wusste, dass Eric sich keinen teuren Prozess leisten konnte.

Emily übernahm den Fall, ohne ein Honorar zu verlangen. Sie ging nicht davon aus, dass sie etwas daran verdienen würde, und witzelte, sie werde die Wände ihres Büros mit den Aktien tapezieren, die Eric ihr versprochen hatte.

Dann gewann sie den Prozess. Erics Firma ging an die Börse, und die Aktien stiegen rasch. Als Emilys Anteile zehn Millionen Dollar wert waren, verkaufte sie sie.

Inzwischen stand Erics Name außen an einem repräsentativen neuen Bürogebäude. Da er ein Faible für Pferderennen hatte, hatte er ein hübsches altes Anwesen in Saratoga erworben und pendelte von dort aus nach Albany zur Arbeit. Emily und Eric waren weiter Freunde geblieben, und er war ihr während der Zeit, als sie von einem Verrückten verfolgt wurde, eine große Hilfe gewesen. Er ließ sogar eine hochmoderne Überwachungskamera in ihrem Haus installieren, mithilfe derer der Täter auf frischer Tat ertappt worden war.

»Ich wollte mich nur erkundigen, ob du gut angekommen bist. Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.«

Sie plauderten eine Weile und verabredeten, bald wieder miteinander zu telefonieren. Nachdem Emily aufgelegt hatte, ging sie zum Fenster und öffnete es einen Spalt weit. Der kalte, salzige Wind ließ sie nach Luft schnappen. Trotzdem atmete sie langsam ein. Es ist sicher nur Spinnerei, dachte sie, aber im Moment habe ich das Gefühl, als hätte mir der Geruch des Meeres mein Leben lang gefehlt.

Sie vergewisserte sich, dass die Tür auch wirklich zweimal abgeschlossen war. Hör auf damit, schalt sie sich. Du hast doch schon vor dem Duschen nachgesehen.

Ein Jahr war sie verfolgt worden, und je länger es gedauert hatte, desto ängstlicher und nervöser war sie geworden. Es hatte nichts genützt, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass ihr Verfolger schon genügend Gelegenheiten gehabt hätte, sie anzugreifen, falls er das wirklich beabsichtigte.

Von Carrie wusste sie, dass sie der einzige Gast in der Pension war. »Am Wochenende bin ich ausgebucht«, hatte die Wirtin gesagt. »Alle sechs Zimmer. Am Samstag findet im Country Club nämlich eine Hochzeit statt. Und nach dem Memorial Day kann man es sowieso vergessen. Dann ist bei mir kein Besenschrank mehr frei.«

Sobald ich wusste, dass wir beide allein im Haus sind, habe ich mich gefragt, ob alle Türen verschlossen sind und die Alarmanlage eingeschaltet ist, schoss es Emily durch den Kopf. Wieder einmal war sie wütend auf sich selbst, weil sie sich so von ihren Ängsten beherrschen ließ.

Sie schlüpfte aus ihrem Bademantel. Denk jetzt nicht daran, hielt sie sich vor.

Doch ihre Hände waren plötzlich feucht, als sie sich daran erinnerte, wie sie damals beim Nachhausekommen bemerkt hatte, dass der Mann im Haus gewesen war. An der Nachttischlampe lehnte ein Foto von ihr, auf dem sie, eine Kaffeetasse in der Hand, im Nachthemd in der Küche stand. Sie hatte dieses Foto noch nie zuvor gesehen. Noch am selben Tag ließ sie die Schlösser auswechseln und am Küchenfenster eine Jalousie anbringen.

Danach hatte sie noch mehr Fotos erhalten, die sie zu Hause, auf der Straße oder im Büro zeigten. Ab und zu rief der Verfolger an und beschrieb mit seidenweicher Stimme die Kleidung, die sie an diesem Tag trug. »Du hast heute Morgen beim Joggen niedlich ausgesehen, Emily …« »Ich hätte nicht gedacht, dass dir mit deinen dunklen Haaren Schwarz so gut steht. Aber ich habe mich geirrt …« »Die roten Shorts gefallen mir besonders gut. Du hast echt tolle Beine …«

Jedes Mal war kurz darauf ein Schnappschuss eingetroffen, auf dem sie in besagter Kleidung abgebildet war. Die Fotos steckten in ihrem Briefkasten, unter dem Scheibenwischer ihres Autos oder in der Morgenzeitung, die auf der Vortreppe lag.

Die Polizei hatte eine Fangschaltung eingerichtet, aber die Anrufe waren alle von verschiedenen Telefonzellen aus geführt worden. Auch die Suche nach Fingerabdrücken auf den Gegenständen, die der Täter ihr geschickt hatte, blieb ergebnislos.

Mehr als ein Jahr lang war es der Polizei nicht gelungen, den Mann zu fassen. »Sie haben ein paar Leute freigekriegt, die wegen eines Gewaltverbrechens angeklagt waren, Ms. Graham«, erklärte Marty Browski, der leitende Detective. »Es könnte ein Angehöriger eines der Opfer sein. Oder jemand, der Sie in einem Restaurant gesehen hat und Ihnen nach Hause gefolgt ist. Vielleicht auch ein Mensch, der erfahren hat, dass Sie zu Geld gekommen sind, und der Ihnen jetzt keine Ruhe mehr lässt.«

Dann jedoch hatte man Ned Koehler geschnappt, den Sohn einer Frau, deren angeblichen Mörder Emily erfolgreich verteidigt hatte. Koehler hatte sich vor ihrem Haus herumgetrieben. Er ist nicht mehr auf freiem Fuß, sagte sich Emily. Du brauchst also keine Angst mehr vor ihm zu haben. Er bekommt jetzt die Hilfe, die er braucht.

Ned Koehler saß inzwischen in einer geschlossenen Anstalt im Bundesstaat New York. Außerdem befand sie sich jetzt in Spring Lake, nicht in Albany. Aus den Augen, aus dem Sinn, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie legte sich ins Bett, deckte sich zu und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.

Auf der anderen Seite der Ocean Avenue stand ein Mann jenseits der verlassenen Promenade auf dem dunklen Strand. Der Wind zerzauste sein Haar, während er beobachtete, wie das Licht im Zimmer ausging.

»Schlaf gut, Emily«, flüsterte er mit sanfter Stimme.

Mittwoch, 21. März

Drei

Die Aktenmappe unter dem Arm, marschierte Will Stafford mit langen, raschen Schritten von der Seitentür seines Hauses zu der umgebauten Remise, die, wie meistens in Spring Lake, inzwischen als Garage diente. Irgendwann während der Nacht hatte der Regen aufgehört und der Wind nachgelassen. Dennoch war die Luft an diesem ersten Frühlingstag beißend kalt, und Will bedauerte kurz, dass er seinen Mantel nicht übergezogen hatte.

So sieht das also aus, wenn der letzte Geburtstag in den Dreißigern kurz bevorsteht, überlegte er bedrückt. Wenn das so weitergeht, brauche ich im Juli noch meine Ohrenschützer.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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