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Deine Liebe kann tödlich sein
Die Innenarchitektin Lane Harmon, alleinerziehende Mutter der vierjährigen Katie, erhält einen großen neuen Auftrag: Sie soll das Stadthaus der Bennetts neu ausstatten. Diese Familie hat – wie Lane bald herausfindet – eine dunkle Geschichte: Der Senior, Peter, verschwand vor zwei Jahren bei einem Segelausflug spurlos – und nur wenig später kam heraus, dass aus dem von ihm gemanagten Fonds fünf Milliarden Dollar veruntreut wurden. War es Selbstmord? Oder hat er sein Verschwinden inszeniert? Nur seine Familie glaubt fest an seine Unschuld. Und Lane ist zusehends hin- und hergerissen, denn sie hat sich in den attraktiven Sohn des Hauses verliebt. Sie ahnt nicht, wie sehr sie sich und ihre kleine Tochter dadurch in Gefahr bringt ...
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Seitenzahl: 340
ZUM BUCH
Vor fünf Jahren traf Lane ein harter Schicksalsschlag: Ihr Ehemann Ken starb bei einem Unfall, die wenig später geborene Tochter Katie muss sie nun alleine großziehen. Als aufstrebende Innenausstatterin arbeitet sie bei Glady Harper, die nur Aufträge der ganz Reichen und Berühmten annimmt. Doch der neue Auftrag ist besonders: Lane soll die bescheidene Stadtwohnung von Anne Bennett in New Jersey einrichten. Annes Mann Parker war ein steinreicher Fondsmanager – der fünf Milliarden Dollar veruntreut haben soll und bei einem Segeltörn spurlos verschwand. Lane verspürt Mitleid mit Anne, die fast allen Besitz verloren hat, und ist gerührt von ihrem ungebrochenen Glauben an Parkers Unschuld. Außerdem fühlt sie sich zu Eric, dem charmanten Sohn des Hauses, hingezogen, der ebenfalls bis zuletzt um den guten Ruf seines Vaters kämpfen will. Aber durch ihre Nähe zu den Bennetts bringt sie sich und die vierjährige Katie unwissentlich in größte Gefahr.
ZUM AUTOR
Mary Higgins Clark, geboren in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Mit ihren Büchern führt Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den begehrten Edgar Award. Zuletzt bei Heyne erschienen: »In der Stunde deines Todes«.
MARY
HIGGINS CLARK
WENN DU NOCH LEBST
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE MELODY LINGERS ON bei Simon & Schuster, New York
Copyright © 2015 by Mary Higgins Clark
All rights reserved. Published by arrangement
with the original publisher, Simon & Schuster Inc.
Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»The Song Is Ended« by Irving Berlin © Copyright 1927
by Irving Berlin. © Copyright Renewed.
International Copyright Secured. All Rights Reserved.
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik.Design, München,
unter Verwendung eines Fotos von
Hollandse Hoogte/plainpicture
Redaktion: Claudia Alt
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-15911-5
www.heyne-verlag.de
Zur Erinnerung an June Crabtree,
geschätzte Freundin seit unserer gemeinsamen Zeit
an der Villa Maria Academy.
In Liebe.
1
Mit schnellen Schritten ging die dreißigjährige Elaine Marsha Harmon von ihrer Wohnung in der East Thirty-Second Street in Manhattan zum fünfzehn Block entfernten Flatiron Building an der Ecke Twenty-Third Street und Fifth Avenue. Dort lag das Büro, in dem sie als Innenausstatterin arbeitete. Sie trug einen warmen Mantel, aber keine Handschuhe, obwohl es an diesem Morgen Anfang November schon empfindlich kühl war.
Die kastanienbraunen Haare waren im Nacken zusammengebunden, nur einige Strähnen hatten sich gelöst und wehten ihr ins Gesicht. Sie war groß wie ihr Vater und schlank wie ihre Mutter. Nach dem College-Abschluss, als ihr klar wurde, dass sie sich vielleicht doch nicht zur Lehrerin berufen fühlte, hatte sie sich am Fashion Institute of Technology eingeschrieben, und nach der Ausbildung dort war sie von Glady Harper eingestellt worden, der Innenausstatterin, um die sich seit Jahren all diejenigen rissen, die nicht nur reich waren, sondern auch einen gewissen gesellschaftlichen Ehrgeiz pflegten.
Elaine war nach ihrer Großtante väterlicherseits benannt worden, wie sie allen erzählte, einer kinderlosen Witwe, die als außergewöhnlich wohlhabend galt. Allerdings war Tante Elaine Marsha auch eine große Tierliebhaberin gewesen und hatte den Hauptteil ihres Vermögens diversen Tierschutzorganisationen und nur sehr wenig ihren Verwandten vermacht.
»Eigentlich ist Elaine ein ganz hübscher Name«, sagte Lane immer, »und Marsha ist ja auch nicht so übel, aber ich habe mich nie als Elaine Marsha gefühlt.« Als Kind hatte sie das Problem gelöst, indem sie ihren Namen kurzerhand zu »Lane« verballhornt hatte – und der war ihr geblieben.
Daran musste sie denken, als sie von der Second zur Fifth Avenue und dann runter zur Twenty-Third Street ging. Ich bin gern in dieser Stadt, dachte sie, gerade jetzt. Ich liebe New York und kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Jedenfalls möchte ich es nicht. Trotzdem trug sie sich mit dem Gedanken, vielleicht bald einmal in einen Vorort zu ziehen. Katie würde im September nächsten Jahres in die Vorschule kommen, und Privatschulen in Manhattan überstiegen ihre finanziellen Möglichkeiten.
Bei diesen Gedanken stellte sich auch wieder der vertraute Schmerz ein. Ken, dachte sie. O Ken, wenn du doch bloß noch am Leben wärst. Dann verdrängte sie die Erinnerung, betrat das Flatiron Building und nahm den Aufzug in den dritten Stock.
Es war erst zwanzig vor neun, trotzdem war Glady Harper – wie nicht anders zu erwarten – bereits da. Die beiden anderen Angestellten, die Rezeptionistin und der Buchhalter, kamen erst zwei Minuten vor neun. Unpünktlichkeit verzieh Glady nicht.
Lane blieb vor der Tür zu Gladys Büro stehen. »Hallo, Glady.«
Ihre Chefin blickte auf. Wie immer sahen ihre stahlgrauen Haare aus, als hätte sie sich nicht mal die Mühe gemacht, sie zu bürsten. Ihr drahtiger Körper steckte in einem schwarzen Sweater und einer schwarzen Freizeithose. Lane wusste, dass Glady einen ganzen Schrank mit exakt diesem Outfit hatte; ihre Leidenschaft für Farben und Formen war ausschließlich der Inneneinrichtung von Privatwohnungen und Büros vorbehalten. Sie war sechzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren geschieden und wurde von Freunden und Angestellten nur »Glady« gerufen. Einer ihrer Stofflieferanten hatte sich einmal den Kommentar erlaubt, »Feldmarschall« würde doch viel besser zu ihr passen. Eine Bemerkung, die ihn prompt um einen lukrativen Auftrag gebracht hatte.
Glady verschwendete keine Zeit mit einer Begrüßung. »Komm rein, Lane«, sagte sie. »Ich möchte mit dir was besprechen.«
Hab ich was falsch gemacht?, ging es Lane augenblicklich durch den Kopf, während sie der Aufforderung nachkam, ins Büro trat und auf einem der antiken Windsor-Stühle vor Gladys Schreibtisch Platz nahm.
»Ich hab eine Anfrage von einem neuen … oder, besser gesagt, von einem alten Kunden bekommen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darauf einlassen soll.«
Lane runzelte die Stirn. »Glady, das sagst du immer, wenn du das Gefühl hast, dass der Kunde schwierig oder der Auftrag nicht der Mühe wert ist.« Wobei du selbst ja auch nicht gerade einfach bist, dachte sie sich im Stillen. Wenn Glady einen neuen Kunden annahm, ging sie als Erstes dessen Wohnung durch und entsorgte hemmungslos alles, was ihrer Meinung nach nichts anderes als Müll war.
»Hier liegt der Fall anders«, sagte Glady. »Vor zehn Jahren habe ich im Auftrag von Parker Bennett sein Herrenhaus in Greenwich eingerichtet.«
»Parker Bennett!« Lane erinnerte sich an die Schlagzeilen über den Fondsmanager, der seine Kunden um Milliarden Dollar geprellt hatte. Kurz bevor der Betrug aufflog, war er auf seinem Segelboot spurlos verschwunden. Man nahm an, dass er Selbstmord begangen hatte, die Leiche allerdings war nie gefunden worden.
»Na ja, es geht nicht unbedingt um ihn«, erwiderte Glady. »Eric, Bennetts Sohn, hat mich angerufen. Die Behörden holen sich jeden Cent von Parker Bennetts Vermögen zurück. Daher muss jetzt das Haus verkauft werden. Da die Möbel kaum noch was wert sind, billigt man Bennetts Frau Anne zu, alles mitzunehmen, was sie für die Einrichtung ihres neuen Hauses gebrauchen kann. Eric sagte mir, seiner Mutter sei das alles völlig gleichgültig, daher hat er mich gebeten, diese Aufgabe für sie zu übernehmen.«
»Kann er sich das denn leisten?«
»Er hat aus seiner Situation keinen Hehl gemacht. Er hat irgendwo gelesen, dass das höchste Honorar, das ich jemals erhalten habe, von seinem Vater stammte. Der hat damals keine Kosten gescheut. Daher bittet er mich, es umsonst zu machen.«
»Und? Machst du es?«
»Was würdest du tun, Lane?«
Lane zögerte, beschloss aber, sich nicht vor einer klaren Antwort zu drücken. »Ich habe Fotos von der armen Frau gesehen. Anne Bennett sieht mindestens zwanzig Jahre älter aus als vor dem Skandal. Ich an deiner Stelle würde es tun.«
Harper kniff die Lippen zusammen und sah zur Decke. Eine typische Reaktion, wenn sie sich konzentrieren musste, egal, ob es um den exakten Farbton eines Besatzes oder um eine Entscheidung wie diese ging. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie. »Außerdem … kann ja nicht so lange dauern, ein paar Möbel für eine Wohnung zusammenzustellen. Soweit ich weiß, geht es um den Neubau eines Stadthauses in Montclair, New Jersey. Das ist nicht weit von der George Washington Bridge, an die vierzig Minuten Fahrzeit. Zumindest das hält sich also in Grenzen.«
Sie riss eine Seite aus ihrem Notizblock und schob das Blatt Lane hin. »Hier ist Eric Bennetts Telefonnummer. Irgendein Börsenmakler scheint ihm eine Stelle verschafft zu haben, wo er sich einigermaßen bedeckt halten kann. Er war schon im Begriff, bei Morgan Stanley Karriere zu machen, hat dann aber kündigen müssen, nachdem die Machenschaften des lieben Vaters öffentlich wurden. Vereinbare mit ihm einen Termin.«
Lane ging mit der Notiz in ihr Büro, setzte sich an den Schreibtisch und wählte die Nummer. Beim ersten Klingeln meldete sich eine feste, wohltönende Stimme.
»Eric Bennett.«
2
Eine Woche darauf waren Lane und Glady auf dem Merritt Parkway Richtung Norden unterwegs und steuerten über die Ausfahrt Round Hill Road den exklusivsten Abschnitt im exklusiven Greenwich, Connecticut, an. Auf der Route 95 wären sie schneller vorangekommen, aber Glady wollte unbedingt die idyllische Landschaft zu beiden Seiten der Straße genießen. Lane saß am Steuer von Gladys Mercedes. Ihre Chefin war der Meinung gewesen, dass Lanes Mini Cooper nicht unbedingt das angemessene Gefährt sei, um am Bennett-Anwesen vorzufahren.
Glady hatte fast während der gesamten Fahrt geschwiegen, was Lane zu schätzen wusste. Wenn ihre Chefin reden wollte, würde sie schon das Wort ergreifen. Lane musste dabei an Queen Elizabeth denken, von der sie gehört hatte, dass man sie keinesfalls ansprechen dürfe, solange sie nicht selbst das Gespräch begann.
An der Ausfahrt sagte Glady jetzt: »Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal hierherkam. Parker Bennett hatte das riesige Haus gekauft, weil der ursprüngliche Bauherr darüber pleitegegangen war, noch bevor er einziehen konnte. Das Gebäude war ein Ausbund an schlechtem Geschmack. Ich habe einen Architekten mit dazunehmen müssen, und zusammen haben wir sämtliche Innenräume neu gestaltet. Mein Gott, in der Küche gab es eine Arbeitstheke in Form eines Sarkophags. Und das Speisezimmer war wie die Sixtinische Kapelle gestaltet. Michelangelo hätte sich im Grab umgedreht.«
»Das muss ein Vermögen gekostet haben, wenn du nicht nur für die Inneneinrichtung zuständig gewesen bist, sondern auch noch architektonische Veränderungen vorgenommen hast«, sagte Lane.
»Ja, es hat eine Riesensumme gekostet, aber Parker Bennett war das alles egal. Warum sich auch Sorgen machen? Das ganze Geld war ja sowieso das von anderen.«
Das Bennett-Anwesen lag am Long Island Sound. Das große rote Backsteinhaus mit seinen weißen Fenstern und Fensterläden war schon von der Straße aus zu sehen. Als sie in die Anfahrt bogen, fiel Lane auf, dass die Sträucher schon lange nicht mehr gestutzt worden waren und Laub auf den Rasenflächen lag.
Glady bemerkte es ebenfalls. »Der Gärtner war wahrscheinlich einer der Ersten, der gehen musste«, sagte sie trocken.
Lane parkte in der geschwungenen Anfahrt. Zusammen stiegen sie die wenigen Stufen zur schweren Eichentür hinauf. Kaum hatte Lane den Klingelknopf berührt, als auch schon geöffnet wurde.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte Eric Bennett sie.
Während Glady die Begrüßung erwiderte, musterte Lane ihr Gegenüber. Eric Bennett, dessen Stimme sie so beeindruckt hatte, war von mittlerer Größe. Mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen war sie kaum kleiner als er. Er hatte volles blondes Haar, durch das sich allerdings schon einige graue Strähnen zogen, und haselnussbraune Augen. Sie hatte sich ausführlich über den Fall Bennett kundig gemacht und musste jetzt feststellen, dass Eric die jüngere Ausgabe seines Vaters war, eines vornehmen, attraktiven Mannes, der unzählige Menschen um ihre Ersparnisse gebracht hatte.
Glady stellte sie vor. »Meine Assistentin, Lane Harmon.«
»Eric Bennett, aber das wird Sie kaum überraschen.« Ein ironischer Unterton schwang in seiner Stimme mit, und er lächelte verhalten.
Wie immer kam Glady sofort auf den Punkt. »Ist Ihre Mutter da, Eric?«
»Ja. Sie wird gleich runterkommen. Ihre Friseurin ist noch bei ihr.«
Lane erinnerte sich, dass Anne Bennett in dem Friseursalon, in dem sie langjährige Kundin gewesen war, nicht mehr gern gesehen wurde. Zu viele der anderen Kunden wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben, nachdem sie oder ihre Familien Parker Bennetts Betrug zum Opfer gefallen waren.
Das große Eingangsfoyer machte einen trostlosen Eindruck. Die beiden geschwungenen Treppen führten hinauf zu einer Galerie, auf der ein ganzes Orchester Platz gefunden hätte. In den Wänden klafften Löcher.
»Die Tapisserien sind fort, wie ich sehe«, bemerkte Glady.
»Ah, ja. Seitdem wir sie hatten, ist ihr Wert um zwanzig Prozent gestiegen. Der Schätzer freute sich auch sehr über die Gemälde, die Sie für meinen Vater erworben haben. Sie haben ein gutes Auge, Glady.«
»Natürlich hab ich das. Ich habe mir den virtuellen Rundgang durch das Stadthaus in New Jersey angesehen, das Sie für Ihre Mutter erworben haben, Eric. Es ist gar nicht so schlecht. Wir können etwas sehr Reizendes daraus machen.«
Ganz offensichtlich hatte Glady in der Zeit, in der sie im Herrenhaus beschäftigt gewesen war, eine recht herzliche Beziehung zu Eric Bennett aufgebaut. Resolut wie immer streifte sie nun durch das Erdgeschoss.
Der hohe Raum links von ihnen war anscheinend das, was die meisten als Wohnzimmer bezeichnen würden, für Glady aber war es der »Salon«. Elegante Rundfenster gaben den Blick frei auf das weite Anwesen. In der Ferne war ein Poolhaus zu erkennen, eine Miniatur des Herrenhauses, dazu ein abgedeckter Swimmingpool. Das muss ja ein 50-Meter-Becken sein, dachte Lane. Und ich möchte darauf wetten, dass es ein Salzwasserpool ist.
»Ich sehe, sämtliche Antiquitäten und handgefertigten Möbelstücke sind mitgenommen worden«, kam es von ihrer Chefin.
»Auch etwas, was wir Ihrem guten Geschmack zu verdanken haben, Glady.« Diesmal glaubte Lane eine Spur von Verbitterung in Bennetts Ton herauszuhören.
Glady ging auf das indirekte Kompliment nicht ein. »Na ja, die Möbel im kleinen Aufenthaltszimmer sollten sich sowieso besser für das neue Stadthaus eignen. Sehen wir uns den Raum doch mal an.«
Sie kamen an einem Speisezimmer von herrschaftlichen Ausmaßen vorbei. Wie der Salon waren auch hier alle Möbel entfernt worden. Es folgte ein Raum, in dem offensichtlich die Bibliothek untergebracht gewesen war. Nun aber standen darin nur noch leere Mahagoni-Regale. »Ich erinnere mich noch an die kostbaren Raritäten Ihres Vaters.«
»Ja, er hat diese Bücher schon gesammelt, lange bevor er seinen eigenen Investmentfonds ins Leben gerufen hat«, kam es nun wieder ganz sachlich von Bennett. »Offen gesagt, wenn ich ein Buch lese, möchte ich es in den Händen halten und mir keinen Kopf darüber machen, ob ich das Papier oder die Illustrationen beschädigen könnte.« Er sah zu Lane. »Meinen Sie nicht auch?«
»Das sehe ich ganz genauso«, antwortete Lane mit Nachdruck.
Glady hatte ihr Fotos vom ursprünglichen Zustand der Räume gezeigt, die aufgenommen wurden, nachdem sie ihre Arbeit abgeschlossen hatte. Jeder Raum war in einem ganz eigenen Farbschema eingerichtet, was ihm Charme und Wärme verliehen hatte.
Jetzt war an dem Haus nichts mehr, was Charme und Wärme versprühen konnte. Alles fühlte sich heruntergekommen, fast trostlos an. Auf den Bücherregalen lag eine dünne Staubschicht.
Sie gingen weiter. Links folgte ein helles Zimmer, das noch mit einer bequemen Couch und ebensolchen Stühlen, einem runden Glastisch und dazu passenden Mahagoni-Beistelltischen mit herunterklappbaren Seitenteilen eingerichtet war. Geblümte Wandbehänge nahmen das Stoffmuster des Sofas wieder auf. Gerahmte Monet-Drucke an den Wänden und ein Teppich in einem weichen Grünton trugen zur einladenden Wirkung bei.
»Das war das Aufenthaltszimmer der Bediensteten, Lane«, sagte Eric Bennett. »Es hat seinen eigenen Zugang zur Küche. Bis letztes Jahr hatten wir sechs Hausangestellte.«
»Diese Möbel werden wir mit ins neue Stadthaus nehmen«, sagte Glady. »Sie sind ja noch ansprechender, als ich sie in Erinnerung hatte, und sie werden wunderbar in das Erdgeschosszimmer passen. Außerdem dürften sich die Möbel im Zimmer Ihrer Mutter im ersten Stock hier perfekt für das neue Wohnzimmer eignen. Dazu nehmen wir ein Bett aus einem der Gästeschlafzimmer. Das Bett im Master-Schlafzimmer ist zu groß für das Stadthaus. Genauso verfahren wir mit den anderen beiden Schlafzimmern. Laut meinen Unterlagen können wir das neue Speisezimmer mit dem Tisch und den Stühlen und der Anrichte des Frühstückszimmers bestücken. Also, kommt Ihre Mutter nun herunter, oder können wir nach oben?«
Eins lässt sich über Glady mit Gewissheit sagen, dachte Lane, sie kann wirklich sehr bestimmend sein. Gut, dass sie noch nach oben will, ich habe schon befürchtet, sie würde ausschließlich nach ihren Fotos arbeiten. Außerdem würde ich doch allzu gern noch die übrigen Räume sehen.
»Ich glaube, ich höre meine Mutter bereits«, sagte Bennett und machte abrupt kehrt. Glady und Lane folgten ihm und gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Lane hatte Fotos von Anne Nelson Bennett im Internet gefunden. Aber die in früheren Jahren so bezaubernde blonde Dame, die den obersten Gesellschaftsschichten angehört hatte und deren Lieblingsdesigner kein Geringerer als Oscar de la Renta gewesen war, war kaum noch zu erkennen. Sie wirkte abgemagert, ihre Hände zitterten leicht, und sie geriet ins Stocken, als sie sich an Glady wandte: »Ms. Harper, wie schön, dass Sie gekommen sind. Leider unter etwas anderen Umständen als das letzte Mal.«
»Mrs. Bennett, ich weiß, wie schwierig das alles für Sie war.«
»Danke. Und wer ist diese liebenswürdige junge Frau?«
»Meine Assistentin, Lane Harmon.«
Lane ergriff die ausgestreckte Hand. Anne Bennetts Händedruck war so schwach, als hätte sie keinerlei Kraft mehr in den Fingern.
»Mrs. Bennett, ich werde mein Bestes tun, um Ihr neues Heim präsentabel und bequem zu machen. Sollen wir nach oben, damit ich Ihnen zeigen kann, welche Möbelstücke ich für Sie ausgewählt habe?«, fragte Glady.
»Ja, natürlich. Mir sind nur noch die Stücke geblieben, denen bloß ein geringer Wert zugeschrieben wird. Ist das nicht großzügig? Aber jemand anderes hat das Geld gestohlen. Ist es nicht so, Eric?«
»Wir werden seine Unschuld beweisen, Mutter«, sagte Eric Bennett entschieden. »Lassen Sie uns alle nach oben gehen.«
Vierzig Minuten später befanden sich Glady und Lane auf dem Rückweg nach Manhattan. »Es ist fast zwei Jahre her, dass der Skandal publik wurde«, sagte Glady. »Die arme Frau, sie sieht aus, als würde sie immer noch unter Schock stehen. Und, was hältst du von dem Porträt des großen Betrügers, auf dem er den Betrachter so mildtätig anlächelt? Die Farbe war damals noch nicht trocken gewesen, als er verschwunden ist.«
»Es ist ein sehr gutes Gemälde.«
»Das sollte es auch sein. Stuart Cannon war der Künstler, und der ist, glaub mir, nicht billig. Bei der Auktion wollte es aber niemand kaufen, also durfte sie es behalten.«
»Ist es nicht trotzdem denkbar, dass Parker Bennett selbst hintergangen wurde?«
»Unsinn.«
»Und über den Verbleib der fünf Milliarden Dollar ist nichts bekannt?«
»Nein. Weiß der Himmel, wo Bennett sie versteckt hat. Auch wenn es ihm nicht viel hilft. Zumindest nicht, wenn er tot ist.«
»Meinst du, seine Frau und sein Sohn wissen, wo er sich aufhält – falls er tatsächlich noch am Leben sein sollte?«
»Keine Ahnung. Aber von einem kannst du ausgehen: Falls sie wirklich Zugang zu dem Geld haben, werden sie es niemals ausgeben können. Die Behörden wachen mit Argusaugen über jeden Cent, den sie für den Rest ihres Lebens unters Volk bringen.«
Lane erwiderte nichts darauf. Der Verkehr auf dem Merritt Parkway nahm zu, und sie tat so, als müsste sie sich darauf konzentrieren.
Glady, die so sehr damit beschäftigt gewesen war, sich von Anne Bennett zu verabschieden, hatte gar nicht mehr mitbekommen, dass Eric Bennett Lane gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Essen gehen wolle.
3
Am Tag nach ihrem Besuch bei den Bennetts teilte Glady auf ihre übliche Art und Weise ihre Entscheidungen mit. Nach ihrer herrschaftlichen Urteilsverkündung, welche Möbelstücke im Einzelnen aus dem Herrenhaus der Bennetts mitzunehmen seien, überließ sie es Lane, sich um den Rest zu kümmern.
»Wir können zwar auf den virtuellen Rundgang durch das Stadthaus in New Jersey zurückgreifen«, sagte sie, »aber ich möchte, dass du da mal hinfährst, damit du ein Gefühl für die Räume bekommst. Wie gesagt, vor zehn Jahren, als ich das Herrenhaus eingerichtet habe, sagte Anne Bennett, dass das Zimmer für die Bediensteten der charmanteste Raum im ganzen Haus sei. Es müsste ihr also gefallen, wenn wir die Möbel dort übernehmen. Ich habe Farbmuster für sämtliche Räume zusammengestellt, trotzdem möchte ich wissen, was du davon hältst und ob die jeweiligen Farben auch wirklich funktionieren. Vielleicht müssen wir selbst was zusammenmischen, damit wir die Töne so hinbekommen, wie sie mir vorschweben.«
Glady hatte eine Fahrt zum Herrenhaus der Bennetts auf sich genommen, dachte Lane schmunzelnd, war aber keinesfalls gewillt, auch nur eine weitere Minute ihrer kostbaren Zeit in dieses Projekt zu investieren, schon gar nicht, wenn alles unentgeltlich vonstattengehen sollte.
Außerdem musste Lane sich eingestehen, dass der Auftrag sie über das übliche Maß hinaus interessierte. Wie jeder andere auch hatte sie so ziemlich alles über Parker Bennett gelesen, was in den Medien über ihn berichtet wurde, angefangen von den Schlagzeilen über die verschwundenen fünf Milliarden Dollar aus dem Vermögen des angesehenen Bennett-Investmentfonds. Neben einigen wohlhabenden Kunden hatten vor allem kleinere Geschäftsleute, Angestellte und Arbeiter aus der Mittelschicht in den Fonds investiert. Das machte den Betrug noch niederträchtiger. Ältere Anteilseigner waren zum Teil sogar gezwungen gewesen, ihre Häuser oder die als Altersvorsorge gedachten Eigentumswohnungen zu verkaufen. Andere, die zum Lebensunterhalt auf die Auszahlungen des Fonds angewiesen waren, mussten wieder bei ihren Kindern unterkommen; die daraus resultierenden Spannungen hatten in mehr als einem Fall dazu geführt, dass bis dahin enge Familienbande zerstört wurden. Vier Selbstmorde waren direkt auf die finanzielle Katastrophe zurückzuführen.
»Worauf wartest du noch?«, scheuchte Glady sie auf. »Du musst um zwölf auf jeden Fall wieder hier sein. Gräfin Sylvie de la Marco hat mich letzten Abend angerufen. Du weißt schon, Sally Chico. So hat sie geheißen, als sie noch auf Staten Island gewohnt hat und bevor sie ihren altersschwachen Grafen zur Hochzeit überreden konnte. Na ja, vor drei Jahren ist er gestorben, jetzt scheint die Trauerphase wohl beendet … wenn es denn je eine gegeben hat. Sie will jedenfalls ihre Wohnung renovieren. Wir haben um halb eins einen Termin bei ihr. Das wird eine lange Sitzung. Und wahrscheinlich werde ich versuchen müssen, sie von dem abzubringen, was sie sich so unter gutem Geschmack vorstellt. Sie hat mir ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass sie ein frühes Mittagessen zu sich nimmt, das heißt, wir werden von ihr nichts bekommen. Am besten holst du dir also auf dem Rückweg in irgendeinem Imbiss einen Hamburger und verdrückst ihn im Auto.«
Damit vertiefte sich Glady wieder in ihre Papiere auf dem Schreibtisch. Für Lane das unmissverständliche Zeichen, sofort nach New Jersey aufzubrechen. Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 4000 Dollar ein, dachte sie in Erinnerung an das Lieblingsspiel ihrer Kindheit und verließ Gladys Büro. Sie eilte durch die noch immer im Dunkeln liegende Rezeption und hinaus in den Gang. Im Aufzug zum Erdgeschoss war sie die Einzige, aber unten wimmelte es von Menschen auf dem Weg zur Arbeit.
Gladys Rezeptionistin Vivian Hall stand als Erste in der Schlange zum Aufzug. Sie war zweiundsechzig Jahre alt und seit nunmehr zehn Jahren bei Glady beschäftigt, so lange wie sonst keiner der übrigen Angestellten. Sie sprach zwar ständig davon, dass sie mal unbedingt abnehmen müsse, war aber so wohlproportioniert wie eh und je und gefiel sich augenscheinlich mit ihrer Konfektionsgröße 44 und ihren hellbraunen Haaren.
»Na, wie ist der Drachen heute drauf?«, sprach sie Lane an, als sie sie entdeckte.
»Wie üblich.« Lane lächelte. »Ich muss nach New Jersey und mir Mrs. Bennetts neue Wohnung ansehen, und dann ganz schnell zurück, um Glady noch zu Gräfin de la Marco zu begleiten.«
»Die gute alte Glady.« Vivian schüttelte den Kopf. »In acht Stunden packt sie dir einen Zehn-Stunden-Tag hinein. Aber du scheinst ja alles ganz gut im Griff zu haben. Übrigens, dieser Blauton, den du heute trägst, steht dir ganz fantastisch.«
Ken hatte sie ebenfalls immer gern in diesem Farbton gesehen. Traurigkeit überkam Lane. Morgen war sein Geburtstag. Sechsunddreißig, so alt wäre er geworden. Es war jetzt fünf Jahre her, dass ein Betrunkener auf dem Henry Hudson Parkway in sie hineingerast war. Ihr Wagen war von der Straße abgekommen und hatte sich mehrmals überschlagen. Ken hatte sich das Genick gebrochen und war auf der Stelle tot gewesen. Damals waren sie erst ein Jahr verheiratet, und sie war im zweiten Monat schwanger gewesen. Und natürlich war der andere Fahrer nicht versichert gewesen.
Und immer, wenn diese Traurigkeit sie überkam, musste sie an ihre vierjährige Tochter Katie denken, die sie an jenem schrecklichen Tag so leicht hätte verlieren können.
Zehn Minuten später fuhr Lane in den Lincoln Tunnel ein. Eine halbe Stunde später näherte sie sich dem Neubauprojekt, wo Anne Bennett bald wohnen würde. Nette Gegend, dachte sie, als sie sich durch die gewundenen Straßen schlängelte und schließlich in den Cedar Drive einbog. Vor der Hausnummer einundzwanzig hielt sie an. Bei dem Neubauprojekt handelte es sich um mehrere Häuser mit einander ähnlichen Kalksteinfassaden. Wohlwollend registrierte sie das große Fenster zur Straße hin, während sie den Schlüssel aus der Tasche zog, den Glady am Tag zuvor bekommen hatte.
Bevor sie aufschließen konnte, trat plötzlich ein Mann aus der Tür nebenan. »Hallo«, rief er und eilte über die gemeinsame Anfahrt. »Sind Sie die neue Eigentümerin?«, fragte er. »In diesem Fall wären wir nämlich Nachbarn. Ich habe hier ebenfalls gekauft.« Er streckte ihr die Hand hin. »Anthony Russo, die meisten nennen mich aber nur Tony.«
»Lane Harmon.« Sie betrachtete ihn. Er war gut eins neunzig groß, hatte blaugrüne Augen, blonde Haare, ein freundliches Lächeln und die dunkle Sonnenbräune eines Mannes, der sich viel im Freien aufhielt. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig.
»Ich bin nicht die neue Eigentümerin«, sagte sie. »Ich arbeite nur für die Innenausstatterin, die das Haus einrichtet.«
Er lächelte.»Die könnte ich wahrscheinlich auch gebrauchen.«
Aber nicht deren Preise, dachte sich Lane. Außer du schwimmst im Geld.
»Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte er. »Aber wer zieht denn hier nun ein?«
»Der Name unserer Kundin lautet Bennett«, antwortete Lane. Sie hatte bereits den Schlüssel umgedreht. »Jetzt muss ich aber an die Arbeit. Schön, Sie kennengelernt zu haben.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stieß sie die Tür auf und drückte sie fest hinter sich zu. Und ohne wirklich zu wissen, warum, sperrte sie auch gleich noch ab.
Sie kannte die Räume bereits durch den virtuellen Rundgang am Computer, aber jetzt, an Ort und Stelle, konnte sie erfreut feststellen, dass in alle Räume das Sonnenlicht fiel. Weiter hinten im Eingangsflur führte eine Treppe zum ersten Stock. Rechts von ihr lagen die Türen zur Küche und zum Frühstückszimmer. In der Küche, stellte sie fest, hatte man einen direkten Blick über die Anfahrt und ins Frühstückszimmer von Tony Russo. Er stand gerade darin und packte die auf dem Tisch gestapelten Kartons aus.
Aus Angst, von ihm bemerkt zu werden, wandte sie schnell den Blick ab. Das Erste, was sie besorgen und hier einbauen lassen würde, wäre ein Rollo für das Fenster.
4
Ranger Cole saß am Bett seiner Frau Judy und hielt ihr die Hand. Reglos lag sie mit geschlossenen Augen da, Sauerstoffschläuche führten in ihre Nase. Er wusste, dass sie nach ihrem zweiten Schlaganfall bald sterben würde. Viel zu früh. Sie war doch erst sechsundsechzig. Der Altersunterschied zu ihm betrug nur ein halbes Jahr, wobei sie die Ältere war – immer hatte er herumgealbert, dass er sie, die ältere Frau, nur wegen ihres Geldes geheiratet habe.
Seit sechsundvierzig Jahren waren sie jetzt verheiratet. Zwanzigjährige Kinder waren sie damals gewesen, aber so sehr ineinander verliebt, dass es sich angefühlt hatte, als würden sie mit einer Privatlimousine in die Flitterwochen brausen, während sie doch bloß mit dem Bus nach Florida gefahren waren. Aber die ganze Strecke hatten sie Händchen gehalten. Keiner von ihnen hatte das College besucht; sie arbeitete als Verkäuferin bei Macy’s, er auf dem Bau.
Ihre Mutter wollte nicht, dass sie mich heiratet, dachte er. In der Schule habe ich mich ja immer mit den anderen geprügelt; ständig habe ich mich provozieren lassen und zu schnell zugeschlagen. Und immer war ich reizbar. Ihre Mutter hatte schon recht, aber mit Judy bin ich ruhiger geworden. Nie war ich wütend auf sie, keine Sekunde lang. Wenn ich losbrüllte, weil mich zum Beispiel ein anderer mit dem Auto geschnitten hatte, sagte sie nur, ich solle mich beruhigen. Mich nicht so kindisch benehmen.
Zu ihrer beider Bedauern hatten sie keine Kinder bekommen.
Zärtlich strich Ranger ihr mit seinen schwieligen Fingern über die Stirn. Du warst immer so viel klüger als ich, dachte er. Du hast mir gesagt, ich soll mich um eine Arbeit bei der Stadt umsehen, denn die Stellen auf dem Bau waren ja nichts Festes. Du warst der Grund, warum ich schließlich eine Anstellung bei der Long Island Rail Road gefunden habe. Ich habe auf der ganzen Insel gearbeitet. Und du hast gesagt, das passt zu meinem Spitznamen. Mein Vater hat mich, als ich noch klein war, Ranger genannt, weil ich immer durch die Gegend gestreift bin und nie dort war, wo ich eigentlich hätte sein sollen.
Judy sagte ihm auch immer, wie gut er aussehe. Der Witz des Jahrhunderts, dachte er. Er war klein, stämmig, hatte Segelohren und buschige Augenbrauen, trotz seiner emsigen Bemühungen, sie zu stutzen.
Judy. Judy.
Ranger spürte, wie sich die Wut in ihm aufstaute, wenn er an Judys ersten Schlaganfall dachte, damals vor zwei Jahren, als sie erfahren hatten, dass ihr gesamtes in den Bennett-Fonds investiertes Geld verschwunden war. Zweihundertfünfzehntausend Dollar; damit hatten sie eine Wohnung in Florida kaufen wollen. Geld, das sie sich jahrelang zusammengespart hatten. Die von ihnen bereits ins Auge gefasste Wohnung war ein richtiges Schnäppchen. Die Besitzerin, eine ältere Dame, war gestorben, und die Familie wollte die Wohnung möbliert abgeben.
Judy war von der Einrichtung begeistert gewesen. »Viel schöner, als ich mir jemals hätte vorstellen können«, hatte sie gesagt. »Wir werden unsere ganzen Möbel hergeben. Es lohnt sich kaum, eine Spedition zu beauftragen. O Ranger, ich kann es kaum erwarten, hier zu kündigen und nach Florida zu ziehen und in der Sonne zu sein. Dabei müssen wir noch nicht mal eine Hypothek aufnehmen, wir haben beide unsere Rente und die Sozialversicherung, und wenn wir sparsam leben, müssen wir uns ums Geld keine Gedanken mehr machen.«
Und genau zu diesem Zeitpunkt waren die Einlagen in den Bennett-Fonds verschwunden, und damit hatte es sich dann mit dem Wohnungskauf. Ein paar Wochen später hatte Judy ihren ersten Schlaganfall, und seitdem musste er mitansehen, wie sie bis zur Erschöpfung ihre Übungen machte, um den linken Arm und das linke Bein wieder zu kräftigen. Sie versuchte vor ihm zu verbergen, dass sie jede Nacht weinte, aber natürlich hörte er sie.
Parker Bennett hatte ihrer beider Leben zerstört. Es gab nicht viele, die glaubten, dass er auf seinem schicken Segelboot wirklich Selbstmord begangen hatte. Auch Ranger glaubte nicht, dass der Mistkerl ins Meer gesprungen war. Nach seinem Verschwinden hatte Ranger in einer Zeitung ein Foto von ihm gesehen; auf diesem Bild saß er in seinem Büro an einem antiken, verschnörkelten Schreibtisch. Wenn sich einer wie Bennett wirklich umbrachte, dann in seinen vornehmen Klamotten hinter diesem Schreibtisch, wo er sich erst mit Single Malt Scotch betrank, bevor er sich eine Kugel in den Kopf jagte.
ENDE DER LESEPROBE