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Die Ostsee hat doch Meer zu bieten!
Sonne, Strand und Meeresrauschen: Sulzhagen an der Ostsee ist eigentlich der perfekte Ort für eine kleine Auszeit. Doch Opernsängerin Viola aus Dresden landet eher unfreiwillig in dem maritimen Städtchen. Und jetzt steht sie auch noch vor einer schier unmöglichen Aufgabe: Sie soll den neu gegründeten Frauenchor leiten und ihm zu einem Auftritt verhelfen. Zum Glück steht ihr eine alte Schulfreundin dabei tapfer zur Seite. Und als Viola auf den Pianisten Frederik trifft, beginnt ein traumhafter Sommer mit Herzklopfen und ganz vielen Schmetterlingen im Bauch. Doch wie wird sich Viola entscheiden, wenn ihre Zeit am Meer sich dem Ende entgegenneigt?
Ob im Strandkorb, Freibad oder auf dem Balkon: Der neue Sommerroman der Erfolgsautorin von »Der Sommer hat doch Meer zu bieten« und »Strandkorbsommer« ist die perfekte Sommerlektüre für alle Ostseefans.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitat
Prolog
Gut elf Jahre später ...
Bin wieder da
Was Passendes anziehen
Von wegen Mega-Party
Dafür sind Freundinnen da
Versöhnungsrosen
Jeder hat eine zweite Chance verdient
Ist Marcus noch derselbe?
Dock 19
Die Anzeige wird nicht zurückgezogen
Ein guter Vorschlag
Fast vier Monate später ...
Willkommen in Sulzhagen
Tante Doris
Gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Probe
Und nun ...?
Werbung und Eisbecher
Interview
Strandspaziergang
So könnte es gehen
Markttag in Sulzhagen
Ein Frauen-Popchor
Die Weichen stellen
Am Yachthafen
Gespräch unter Geschwistern
Grillabend
Gefühle
Eine Einladung
Kein ernsthaftes Date
Ein interessanter Mann?
Die Küstenfrauen
Projekt Nordstern
Tote Tante
Mit dem Segen der Schwester
Nur sechsundzwanzig
Ich war eine Chor-Nixe
Mareike
Der letzte freie Ort der Welt
Kimono-Blusen
Kulturfest
Abreisetag
Mein Herz will Meer
Ab und zu ein paar Geigen
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Viel Freude beim Lesen und Verlieben!
Sonne, Strand und Meeresrauschen: Sulzhagen an der Ostsee ist der perfekte Ort für eine kleine Auszeit. Doch Opernsängerin Viola aus Dresden landet eher unfreiwillig in dem maritimen Städtchen. Und jetzt steht sie auch noch vor einer schier unmöglichen Aufgabe: Sie soll den neu gegründeten Frauenchor leiten und ihm zu einem Auftritt verhelfen. Zum Glück steht ihr eine alte Schulfreundin dabei tapfer zur Seite. Und als Viola auf den Pianisten Frederik trifft, beginnt ein traumhafter Sommer mit Herzklopfen und ganz vielen Schmetterlingen im Bauch. Doch wie wird sich Viola entscheiden, wenn sich ihre Zeit am Meer dem Ende entgegenneigt?
Für Clarissa
Eine bessere Lektorin
kann man sich nicht wünschen!
Denn was mir fehlt, sind ab und zu ein paar Geigen
Die mir das, was schön ist, zeigen
Damit ich's nicht überseh.
Oliver Gies
Kiefern.
Mit der leichten Sommerbrise wehte der würzige Duft von sonnenwarmen Kiefern zu ihr herüber. Herrlich!
Viola lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Badetuch. Mit den Fingern strich sie über den feinen Sand, der sich von der Nachmittagssonne aufgeheizt hatte. Langsam ließ sie den Sand durch die Finger rinnen, eine andere Aufgabe hatte sie gerade nicht. Sie fühlte sich rundum glücklich.
Im Geiste fing sie an, eine ihrer Hitlisten zusammenzustellen.
Die Top Five von Viola Fischer, warum das ein super Sommerurlaub wird.
Platz fünf: Vor mir liegen drei lange Wochen Ferien am Meer.
Platz vier: Ich wohne in einem großen Ferienhaus mitten im Kiefernwald, keine zweihundert Meter vom Ostseestrand entfernt.
Platz drei: Ich habe fest vor, neue Jungen kennenzulernen.
Platz zwei: Hier wird niemand an mir herumnörgeln.
Und –Trommelwirbel –Platz Nummer eins: Ich werde die Ferien mit Nicki verbringen. Drei Wochen mit meiner besten Freundin.
Viola seufzte zufrieden. Drei Wochen Nichtstun. Drei Wochen Lesen, Faulenzen, Cello spielen und vor allem Spaß mit Nicki haben. Was für ein wundervoller Gedanke.
Als Nicki ihr angeboten hatte, mit Nickis Familie nach Sulzhagen zu fahren, hatte sie zuerst gezögert. Sie wollte sich nicht aufdrängen, aber die Lingens sahen sie sowieso schon als ihre zweite Tochter an, und das Angebot mitzufahren, war von Herzen gekommen. Und so wurden in dem VW-Bus der Familie Lingen Violas geliebtes Cello, ein Rucksack voller Bücher und ihre Reisetasche verstaut. Nickis Vater war wirklich cool. Es sprach für Jürgen Lingen, dass der Familienvater bei Violas Frage, ob sie das Cello mitnehmen dürfe, nicht mal mit der Wimper gezuckt hatte. Er war wahrscheinlich Kummer gewöhnt, denn Frederik, Nickis älterer Bruder, war ein absoluter Computer-Freak, der ohne seinen Laptop und zwei Monitore nirgendwo länger als einen Tag hinfuhr.
Viola räkelte sich und legte sich noch bequemer auf ihrem Handtuch zurecht. Die Sonne zauberte kleine Lichtblitze unter ihre geschlossenen Augenlider. Lange würde sie so nicht mehr in der Sonne liegen können, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Aber sie war fest entschlossen, nach diesem Strandurlaub als sonnengebräunte Blondine in der elften Klasse weiterzumachen. Ein ehrgeiziger Plan, denn auf ihrer hellen Haut machten sich mehr Sommersprossen breit, als ihr lieb war. Das Goldbraun, das ihr vorschwebte, würde noch lange auf sich warten lassen. Egal, sie würde das durchziehen.
Für einen kurzen Moment war sie sogar in Versuchung gewesen, an diesem einsamen Strandabschnitt das Oberteil ihres neuen Bikinis abzulegen, hatte sich dann aber doch nicht getraut.
»Na, schon gut durch?«
Neben ihr ließ sich jemand in den Sand fallen. Viola öffnete blinzelnd ein Auge und schielte zur Seite. Nicki war vom Schwimmen zurück.
»Meinst du, ich werde in drei Wochen braun genug sein?«, fragte Viola.
»Braun genug für was?«
»Frag besser, für wen. Auf dem Schulhof sehe ich Leon immer nur von Weitem. Ich wünschte, er würde endlich auf mich aufmerksam werden.«
»Süße, wenn er dich in diesem Bikini sehen würde, wäre dir seine ungeteilte Aufmerksamkeit sicher. Da könnte deine Haut auch grün oder schlumpfblau sein.«
»Den Bikini hat mir meine Mutter spendiert. War richtig teuer. Der muss auch einen Unterschied machen.«
»Ja, sie hat gezahlt, aber weiß sie auch, wie wenig Stoff sie für ihr Geld bekommen hat?«
Viola nahm eine kleine Handvoll Sand und warf sie in Richtung ihrer Freundin. »Bäh, wie gemein. Zum Glück hat Mama nicht darauf bestanden, ihren bezahlten Kauf noch zu begutachten. Und nach dem Urlaub ist es zu spät für einen Umtausch.« Viola kicherte.
»Ich glaube, selbst Fred würde seine Festplatte und jeden Programmcode vergessen, wenn er jetzt hier am Strand wäre. Guck nicht so erschrocken. Ich vermute mal, wir werden meinen lieben Bruder selten zu Gesicht bekommen. Bis der sich von seinem Rechner loseist, muss schon mehr geboten werden als nur strahlend blauer Himmel, ein milder Sommerwind und Meer.«
»Fürs Protokoll: Er hasst es, wenn du ihn Fred nennst, Nicki, und er ist leider so gar nicht mein Typ.«
»Er ist von niemandem der Typ. Ich habe ihm schon tausend Mal gesagt, dass er diese blöde Hornbrille und die Schlabberpullis abschaffen soll. Das, und er soll endlich zum Friseur gehen und sich einen ordentlichen Haarschnitt verpassen lassen. Aber hört er auf seine kleine Schwester? Natürlich nicht. Er spielt eher die Karte ›Du-hast-mir-nix-zu-sagen-ich-bin-achtzehn-Monate-älter‹ aus. Ich bin nicht mal sicher, ob er schon mitbekommen hat, dass außer seiner Schwester noch ein weiteres Mädchen mit im Ferienhaus wohnt. Echt, wenn er nicht ab und zu mal diesen coolen Blues auf dem Klavier spielen würde, ich würde mir Sorgen machen.«
»Stimmt, er spielt super Klavier. Wie ein Profi.«
Nicki grinste. »Wahrscheinlich denkt Papa ernsthaft über einen Vaterschaftstest nach, schließlich gibt es im ganzen Stammbaum der Familie Lingen keinen einzigen bekannten Fall von Hochbegabung – außer bei Fred. Weder musikalisch noch sonst irgendwie. Mir dagegen graut es schon vor der Oberstufe und dem Abi.«
»Sei bloß still. Jetzt haben wir Sommerferien.«
»Ach komm. Ich hab doch gehört, wie du heute früh schon Cello geübt hast.«
»Das war nur zum Spaß. Nichts für die Schule.«
»Also, Spaß sieht für mich anders aus. Ungefähr so: schwarzhaarig, etwa einen Meter neunzig groß, schlank und mit Sixpack, zwischen siebzehn und achtzehn Jahre alt und bereit, mehr als einen Cocktail auszugeben.«
»Hach, glaubst du wirklich, so was läuft hier frei herum?«
»Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben und bis dahin unser Glück in Erdbeereis suchen. Im Dorf gibt es am Marktplatz eine Eisdiele. Mit ein bisschen Glück treibt sich dort die Dorfjugend herum und wir checken schon mal den Bestand.«
»Eis klingt super. Und wie kommen wir ins Dorf?«
»Vertrau auf die Spürnase deiner Freundin. Im Schuppen neben dem Haus habe ich eben Fahrräder entdeckt.«
Viola setzte sich auf. »Cool, dann los.«
»Ähm ... vielleicht ziehst du dir besser noch ein T-Shirt an?«
***
»Boah, schau dir das an. Kann man schockverliebt in ein Haus sein?«
Nicki bremste mit ihrem Rad auf dem Waldweg und zeigte auf ein einsames, weiß verputztes Haus.
Mit Schwung rollte Viola neben sie, schaute hoch und ließ das Fahrrad ins Gras fallen. Das reetgedeckte Haus duckte sich zwischen zwei Windschutzhecken. Es lag direkt am Rand der Steilküste. Vor dem Haus war auf dem kurz gemähten Rasen eine Wäscheleine zwischen zwei Pfosten gespannt. Mehrere bunte Handtücher flatterten im Wind. Die Fassade reflektierte das helle Sonnenlicht. Die Fenster im Erdgeschoss waren weit geöffnet, und auf einer Seite wehte ab und zu eine kleine Spitzengardine nach draußen. Die hellblauen Fensterläden glänzten in der Nachmittagssonne. Rund um das Haus blühten Stockrosen in allen Farben, die fast bis zur Dachrinne ragten. Von drinnen hatte man bestimmt einen irrsinnigen Blick aufs Meer.
»Ja, das ist echt schön«, stimmte Viola zu.
»Sei mal kurz leise«, unterbrach Nicki sie. »Hörst du das auch?«
Beide lauschten. Ein eigenartiges, knusperndes Geräusch war zu hören.
»Es kommt von da drüben«, wisperte Viola. »Hinter der Hecke. Lass uns nachsehen, was da ist.«
Sie schlichen ein paar Meter weiter, und dort, hinter der niedrigen Hecke, sahen sie es. Eine kleine Schafherde weidete auf einer eingezäunten Wiese. Sobald die Mädchen sichtbar wurden, stürzten die Tiere im Galopp laut blökend an den Zaun. Die größeren unter ihnen drängten die anderen zur Seite.
Viola rief: »Oh, Nicki, wie süß! Guck mal, da sind auch Lämmer dabei. Ganz jung sind die aber nicht mehr.«
»Was für lustige Sprünge die machen. Ich könnte ewig hier stehen bleiben und zusehen.«
»Man könnte überhaupt hier leben. Für immer am Meer«, sagte Viola.
»Oh, ja. Stell dir vor: Ich werde eine erfolgreiche Schriftstellerin, sitze da in meinem Arbeitszimmer, schaue aufs Meer und schreibe meinen nächsten Bestseller.«
»Äh, Nicki?«
»Ja, was?«
»Du hasst doch jede Art von Schreiben aus tiefster Seele. Bei jedem Aufsatz in Deutsch kriegst du die Krise.«
»Schon, aber als Besitzerin dieses Hauses würde ich natürlich zu meiner wahren Berufung finden.«
»Du hast einen Knall. Ich sag dir, was wirklich passiert: Ich werde eine berühmte Musikerin, kaufe dieses Haus und verbringe meine freie Zeit zwischen den erfolgreichen Welttourneen hier am Meer.«
Nicki lachte auf. »Na klar, träum weiter. Du bist doch total schüchtern. Also, das mit der Musik könnte schon klappen; wenn du Cello spielst, klingt das toll. Und im Schulchor bist du schon immer der Star gewesen. Aber eine Welttournee? Dafür müsstest du erst noch die Rampensau in dir wecken. Schon vergessen, wie es dir beim letzten Schulkonzert ging? Als die Lehmann einen Solopart von dir verlangt hat?«
»Erinnere mich nicht daran.« Es hatte nicht viel gefehlt, und Viola hätte sich vor lauter Aufregung hinter den Kulissen mit einem Schwall auf den Fußboden übergeben. Ihr hübsches langes Kleid hätte sie danach vergessen können. Einzig und allein Nickis Geistesgegenwart hatte sie in letzter Minute gerettet, der Putzeimer, den Nicki in einer Ecke erspäht hatte, war gerade noch rechtzeitig gekommen. Ebenso wie das Glas Wasser und die Pfefferminzpastille. Anschließend war Viola so weit wiederhergestellt gewesen, dass sie ihren Auftritt mit Bravour hinter sich gebracht hatte. Viola schüttelte sich. Dieses Erlebnis gehörte nicht gerade zu ihren liebsten Erinnerungen. »Komm, wir fahren weiter. Ich brauch jetzt ganz dringend das Eis.«
***
»Hey, hast du die hier gesehen? Die sind ja total süß.«
Nicki hielt in der einen Hand ihre Waffel mit drei Eiskugeln und zeigte mit der anderen auf ein paar Schlüsselanhänger, die vor einem Souvenirladen am Marktplatz an einem Ständer hingen.
Die Anhänger waren aus Metall, ungefähr sechs Zentimeter lang und zeigten einen cremefarbenen Leuchtturm. In geschwungener Schrift stand unter dem Leuchtturm Sulzer Feuer.
»Wow, ganz schön scharfkantig.« Nicki strich mit einem Finger über die Kante des Metallanhängers. »Aber echt hübsch.«
»Hältst du mal kurz mein Eis?«. Kurz entschlossen nahm Viola zwei Anhänger und verschwand im Laden. Eine Eiskugel später kam sie wieder heraus und hielt Nicki eine kleine Papiertüte hin. »Da, Nicki, ein Andenken an unseren legendären Urlaub.«
»Legendär? Wir sind doch erst einen Tag hier.«
»Vertrau meinem Bauchgefühl – er wird legendär.«
»Wenn du das sagst. Du, ich hab auch eine Idee. Jetzt bist du dran mit Eis festhalten.« Nicki holte aus ihrem Rucksack ihr Handy, an das sie zwei kleine Boxen angeschlossen hatte, die in den Außentaschen des Rucksacks verstaut waren.
Augenblicke später schlenderten die beiden Mädchen mit ihrem Eis in der Hand über den Marktplatz von Sulzhagen, lautstark begleitet von Adeles Rolling in the Deep.
Einige Passanten blieben stehen, und eine Gruppe von Jungen schaute neugierig zu den beiden Mädchen herüber. Nicki sah das und kicherte glücklich. »Ja, Viola Fischer, du hast recht. Sulzhagen aufgepasst, dieser Urlaub wird legendär.«
»Orchester – noch einmal zurück zu Takt 75. Die Geigen ein wenig zurückhaltender. Und die Bässe, ich möchte hier mehr Bässe hören. Takt 75 – und bitte.«
Die Musiker im Orchestergraben setzten an der gewünschten Stelle ein. Ein paar Takte später winkte der Dirigent Leopold Sawern ab. »Sehr gut, genau so, ganz wunderbar. Und jetzt bitte der Chor. Wir gehen zu Takt 218. Daa, dadda, daaa. Und bitte.«
Achtzig Sängerinnen und Sänger des Opernchors stürmten zum Bühnenrand. Jedes einzelne Mitglied im Chor wusste genau, wo es zu stehen hatte und was in diesem einen Moment von ihm erwartet wurde. Aus vielen einzelnen Künstlern war ein einziger großer Klangkörper mit vielen Gliedern geworden.
Viola spürte die Energie der einzelnen Stimmen tief in ihrem Innersten. Sie war an ihrer Position angekommen und ließ sich auf die Knie fallen, genau wie die beiden Sängerinnen rechts und links von ihr. Flehend streckte sie beide Arme aus, die Handflächen nach oben. Da, ihr Einsatz. Die verschiedenen Stimmen gingen in einem einzigen großen Klang auf, der den hohen Zuschauerraum der Semperoper ausfüllte.
»Danke!«
Helmut Grain, der Regisseur des neuen Stückes, stand hinter seinem Tisch inmitten des abgedunkelten Zuschauerraums und hob den Arm. Augenblicke später erstarb der Chorgesang. Sawern schaute über den Rand der Balustrade, die den Orchestergraben vom Zuschauerraum trennte, in Richtung Regie. »Zufrieden, Helmut?«
»Ja, das wird großartig. Der Chor muss nur noch schneller nach vorne stürmen, denkt daran, ihr seid verzweifelt, aufgebracht, wütend. Die Wut muss fassbar werden, bedrohlich. Bitte noch einmal die gleiche Stelle.«
»O Mann, noch ein paar Wiederholungen und ich besorg mir Knieschützer, wie damals die Solosänger im Don Carlo«, raunte Susanne Viola zu.
»Ja, noch ein paarmal, und wir bitten wirklich um Erbarmen. Aber keine Sorge, gleich ist ja erst mal Pause.«
Viola hatte den Ablaufplan im Kopf. Bei der heutigen Bühnen- und Orchesterprobe standen nach dem Chor einige Soloparts auf dem Tagesprogramm. Für die Sängerinnen und Sänger des Chores hieß das – durchatmen. Ja, durchatmen hatte sie dringend nötig. Anders als die vielen altgedienten Mitglieder des Chors hatte sie, die erst seit einem halben Jahr offiziell dabei war, immer noch Nachholbedarf bei fast allen Opern, die aufgeführt wurden. Morgen Abend zum Beispiel stand Verdis Otello auf dem Spielplan. Für viele, die das Stück schon in den zurückliegenden Spielzeiten einstudiert hatten, waren nur ein paar Auffrischungsproben nötig gewesen, um die Oper wieder auswendig präsent zu haben. Viola dagegen hatte ihre Stimme zusätzlich zu den täglichen Proben der anderen Stücke auswendig gelernt. Konni, ihre WG-Mitbewohnerin, hatte bereits nach drei Tagen lautstark zu Protokoll gegeben, dass niemand so bekloppt sein konnte, sich diesen Stress freiwillig anzutun, sie hätte sich ja schließlich auch einen anderen Beruf aussuchen können. Konni hatte gut reden, sie musste ja nur für ihr Jura-Staatsexamen lernen.
So anstrengend das alles auch war: Viola hätte nie und nimmer mit Konni tauschen wollen. Ja, die Einzelproben, das Aussprachetraining, die Chorproben, die Aufführungen und das Nachholstudium der ihr noch unbekannten Stücke – das alles füllte ihren Tag so aus, dass sie manchmal vergaß, einzukaufen und sich etwas Richtiges zu kochen. Aber es war großartig. Die Monate, die hinter ihr lagen, waren die intensivsten und zugleich auch die besten Monate ihres bisherigen Lebens gewesen. Sie, Viola Fischer, hatte es geschafft. Sie hatte nicht nur ihr Gesangsstudium erfolgreich abgeschlossen und den Master mit dem Schwerpunkt Operngesang mit Bravour geschafft, sie war auch im Alter von nicht ganz siebenundzwanzig Jahren ordentliches Mitglied des Sächsischen Staatsopernchores geworden. Ein Chor, der 1817 gegründet worden war, den kein Geringerer als Carl Maria von Weber ins Leben gerufen und geformt hatte. Mit drei Worten: Viola war glücklich. Und wenn zu diesem Glück gehörte, dass sie sich noch weitere fünf Mal flehend auf die Knie werfen musste, dann war das eben so. Mit einem zufriedenen Lächeln kehrte Viola zusammen mit den anderen Sopranistinnen auf ihre Ausgangsposition zurück.
»Achtung, Takt 218. Und ... bitte.«
Mühelos verschmolz im selben Moment Violas heller Sopran mit den anderen Stimmen zu einem eindrucksvollen Ganzen.
»Bin wieder da! Hallo, jemand zu Hause? Konni?«
Viola warf den Hausschlüssel in die Schale, die auf dem Schuhschrank in der Diele der WG stand. Die Schale war aus Olivenholz geschnitzt. Ein Andenken aus ihrem Toskanaurlaub vor vier Jahren. Konni, ihre Mitbewohnerin, machte sich zwar darüber lustig, dass Viola ihre Schlüssel und das Portemonnaie nach dem Betreten der Wohnung immer direkt in der Schale deponierte, aber sie musste, wenn auch widerwillig, zugeben, dass Viola selten irgendetwas suchte.
Bei Viola hatten die meisten Dinge ihren festen Platz. Dafür gab es einen ganz praktischen Grund: Viola hatte schon als Teenager den verhängnisvollen Hang gehabt, Dinge an den unmöglichsten Stellen liegen zu lassen. Einmal hatte sich ihr Handy zwischen den Konserven in der Speisekammer ihrer Eltern gefunden. Ein anderes Mal hatte es drei Wochen gedauert, bis ihr Lieblingsfüller wieder aufgetaucht war. Während dieser Zeit hatte er am Rand des großen Kräuterbeets gelegen, weil Viola ihn dort vergessen hatte, nachdem sie für den Biounterricht ein paar Pflanzen beschrieben und gezeichnet hatte. Der Füller war der letzte Tropfen gewesen, der bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Drei Wochen Kräuterbeet bei Sonne und Regen ... er war danach einfach nicht mehr derselbe gewesen. Jedenfalls hatte sich Viola von da an ein eigenes Ordnungssystem überlegt, mit festen Plätzen für alles und mit festen Routinen. Ergebnis: keine Überraschungsfunde mehr.
»Konni?«
Viola runzelte die Stirn. Merkwürdig, hatte Konni nicht erst gestern Abend darüber gejammert, wie sehr sie es hasste, noch vor zehn Uhr am Schreibtisch sitzen zu müssen, um fürs Examen zu lernen?
Viola hatte ihr zugehört und mitleidig genickt, aber ansonsten geschwiegen. Sie mochte Konni. Seit vier Monaten teilte sich Viola die Vier-Zimmer-Wohnung mit der Jurastudentin. Mit Konni hatte Viola einen Glücksgriff getan: unkompliziert und absolut WG-tauglich. Wenn es überhaupt einen Kritikpunkt gab, dann den, dass Konni nicht fassen konnte, dass Viola schon um sechs Uhr aufstand, um genug Zeit zum Einsingen und Üben zu haben. In Violas Zimmer stand dafür extra eine schalldichte Kabine, kaum größer als eine Telefonzelle, aber sie erfüllte ihren Zweck. Die Kabine war Violas ganzer Stolz, sie hatte sie bei einer Onlineauktion erstanden und anschließend mit einem Freund in Leipzig beim Verkäufer, einem Tonstudio, abgeholt. Der Zusammenbau in ihrem Zimmer entpuppte sich als kleine Herausforderung, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Viola konnte sich nun einsingen, ohne dass die Nachbarn auf die Barrikaden gingen, und sie konnte nach Herzenslust neue Partituren lernen, auch wenn es noch früh am Morgen war. Wobei »nach Herzenslust« die Übertreibung des Jahres war. Viola fand es schon anstrengend genug, zusammen mit dem Chor das aktuelle Programm zu lernen. Dass alle »Neuen« darüber hinaus natürlich auch noch die Opern präsent haben mussten, die der Chor längst einstudiert hatte, war der Grund für ihren frühen Start in den Tag.
Besorgt schaute sich Viola im gemeinsamen Wohnzimmer um. Keine Spur von Konni, dabei parkte ihr alter Golf unten an der Straße, und ihre Hausschlüssel lagen auf dem Küchentisch.
Vorsichtig klopfte Viola an Konnis Zimmertür. Fünf Sekunden warten, noch mal klopfen, diesmal energischer.
»Ja, was?«, ertönte von drinnen eine schlaftrunkene Stimme.
Viola öffnete die Tür. Konni saß auf ihrem Bett, die langen braunen Haare verstrubbelt, und rieb sich die Augen.
»Ist was passiert? Brennt es? Warum weckst du mich so früh?«
Viola ging durchs Zimmer, umrundete dabei mehrere Wäschehaufen auf dem Boden und zog den Rollladen hoch. Das Sonnenlicht sorgte für ein empörtes Aufstöhnen.
»Shit, warum ist das schon so hell?«, murmelte Konni.
»Weil wir bereits zwei Uhr haben. Zwei Uhr am Nachmittag.«
»Ach du Scheiße. Echt jetzt?«
»Jep. Was mich an den alten Witz erinnert, warum alle Studenten schon um sieben Uhr aufstehen müssen ...«
»Sag schon, warum?«
»Weil in der Neustadt die Boutiquen um 20 Uhr zumachen.«
»Boah, Hammer-Pointe. Irre witzig.«
»Verstehe, das ist zu nah an der Wahrheit. Aber gestern Abend hast du mich noch extra gebeten, nein, du hast mich regelrecht angefleht, dass ich dich um neun Uhr anrufe, damit du auf keinen Fall verschläfst. Das habe ich gemacht, und wir haben miteinander gesprochen.«
»Und danach muss ich wohl wieder eingeschlafen sein.«
»Offenbar, dabei wolltest du lernen und auf jeden Fall um halb eins zur Sprechstunde deines Professors gehen.«
»Ach du guter Jesus. Wie viel Uhr haben wir, hast du gesagt?«
»Zwei Uhr!«
Konni stöhnte erneut auf und legte den Kopf in den Nacken. »Ich bin geliefert, vom Leben voll auf die zwölf. Das verzeiht mir der Kömmerling nie ... ich muss ... boah jetzt denk nach, blöde Kuh ... Genau ... ja.«
Konnis Selbstgespräch hatte durchaus Unterhaltungswert. Viola war gespannt auf das Endergebnis. Konni fischte neben ihrem Bett das Handy vom Boden und wählte eine Nummer.
»Ja, guten Tag, Frau Bremmel, Konstanze Grünberg hier. Ich hatte heute Mittag einen Termin mit Professor Kömmerling. Ja, genau, um halb eins. Natürlich, ich weiß ... Würden Sie bitte dem Herrn Professor mitteilen, dass ich meine Nachbarin ins Krankenhaus fahren musste? Schreckliche Sache, die arme Frau Fischer ist über achtzig, plötzliche Herzschmerzen. In der Notaufnahme war leider Handyverbot, sonst hätte ich mich schon früher gemeldet. Was, ich ... oh ... in diesem Fall könnte ich auch noch am späten Nachmittag. Wie schön, das freut mich aber. Dann sehen wir uns um fünf.«
Viola hatte Konnis schamloser Lügengeschichte andächtig zugehört.
»Meine Fresse, das war knapp.« Konni warf das Handy auf ihre Bettdecke. »Zum Glück hab ich mal gehört, dass die Bremmel selber eine pflegebedürftige Mutter hat, so Leute haben Verständnis für Studentinnen, die alten Leuten helfen.«
»Ihh, du bist ja so was von berechnend. Und dann musstest du auch noch meinen Nachnamen ins Spiel bringen. Was, wenn ich mal Frau Bremmel treffe?«
»Dann hat es eben deine Oma erwischt. Mann, mir ist auf die Schnelle kein besserer Name eingefallen. Wäre es dir lieber, ich würde das Semester wiederholen müssen, weil der Kömmerling mich absägt?«
»Nein, lieber wäre mir, du würdest in die Puschen kommen und erst gar nicht solche Märchen erfinden müssen.«
»Ja, Mami. Ach, und Viola, danke, dass du mich heute früh angerufen hast. War ja nicht deine Schuld, dass es nicht geklappt hat.«
»Ist schon okay. Spring unter die Dusche, ich koch uns Kaffee.«
»Du bist klasse. Ich verspreche dir, wenn du mal so richtig Mist baust, bin ich an deiner Seite, Frau Fischer.«
»Ich nehme dich beim Wort.«
»Und? Wie sehe ich aus?« Konni kam zu Viola in die Küche und stellte ihren leeren Kaffeebecher in die Spüle.
»Sehr seriös, so, als müsstest du gleich bei Gericht das Schlussplädoyer halten«, erwiderte Viola anerkennend. Und sie fand, das war nicht übertrieben. Konni hat ihre braunen schulterlangen Haare zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, dazu trug sie ein dunkelgraues Kostüm und farblich passende Pumps. Unter der Kostümjacke blitzte eine weiße Stehkragenbluse hervor. Dezente Perlenohrringe machten Konnis Outfit komplett. »Vielleicht ein bisschen viel für eine Studentin, die lediglich ein Gespräch mit einem Professor hat.«
»Von wegen. Das ist nicht nur ein Gespräch, es ist das Gespräch. Der Kömmerling hat super Kontakte in den Verwaltungen und in der Industrie, er kennt unzählige Ansprechpartner im Landtag, bei Gericht und in den Kanzleien. Kurz, wenn du dein Referendariat nicht in einem Archivkeller verbringen willst, solltest du ihn besser beeindrucken.«
»Indem du deinen Termin bei ihm verschläfst?«
»Ja, ja, lästere du nur. Ich hoffe ja, dass meine kleine Notlüge bei der Bremmel alles wieder ins Lot gebracht hat. Auf jeden Fall ist der Kömmerling kleidungstechnisch total konservativ. Gerade bei denen, die kurz vor dem Examen stehen, legt er allergrößten Wert auf ein passendes Erscheinungsbild.« Konnis Stimme klang plötzlich wie die eines älteren Herrn. »Man kann nicht früh genug damit beginnen, meine Damen und Herren, sich auf die Rahmenbedingungen des juristischen Alltags einzustellen. Sowohl mental als auch, was das eigene Äußere betrifft.«
»Hat dein Professor das wirklich gesagt?«
»Wortwörtlich und nicht nur einmal. Es gibt das Gerücht, dass er vor ein paar Jahren eine Studentin, die in weiten Schlabber-Pumphosen bei ihm erschienen ist, hochkant hinausgeworfen hat. Auf so ein Erlebnis kann ich heute definitiv verzichten.«
»An deinem äußeren Erscheinungsbild wirst du jedenfalls nicht scheitern, so viel steht fest.«
»Ziel erreicht, würde ich sagen. So, ich fahr jetzt los, sicher ist sicher. Ach übrigens, dein Lover hat angerufen, und zwar heute früh schon, kurz bevor ich wieder in Morpheus' Armen gelandet bin.«
»Marcus? Was wollte er?«
»Er hat was von einer total wichtigen Party erzählt und dass er dich nach der Vorstellung am Eingang abholen will. Du sollst dir was Passendes anziehen. Klang wie: ›Ich zeig meiner Freundin das große Musik-Business.‹« Konni schnaubte. »Sorry, ist ja dein Freund, aber mir wäre der zu anstrengend.«
»Nein, Marcus ist wirklich süß, allerdings hat er in letzter Zeit einen deutlichen Hang zu Höherem. Und seit eine seiner Produktionen in die Charts gekommen ist, wähnt er sich im Producer-Himmel.« Viola unterdrückte ein Seufzen. Ihr gefiel nicht, dass sie Marcus gegenüber Konni verteidigen musste. »In der letzten Zeit trifft er sich mit allen möglichen Geldgebern und Investoren.«
»Wenn du meine Meinung hören willst: Er sieht sich schon als den nächsten Dieter Bohlen.«
»Na ja, als er nur Werbemusik komponiert und produziert hat, war es leichter.« Leichter und nicht so anstrengend, ergänzte Viola im Stillen. Jetzt erwartet er immer, dass ich auf ihn Rücksicht nehme. »Heute Abend, sagst du? Okay, dann nehme ich mal besser ein Kleid mit in die Oper.«
»Gut, ruf an, wenn du noch etwas brauchst. Ich bin später wieder zu Hause und kann dir notfalls noch Sachen in die Oper bringen.«
»Lieb von dir.«
Konni warf ihr einen Luftkuss zu und verließ die Küche. Augenblicke später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Heute Abend nach der Aufführung – Himmel, das war eigentlich die Zeit, in der sie vom Adrenalin der Bühne wieder runterkam und sich aufs Bett freute, schließlich musste sie am nächsten Morgen wieder um sechs Uhr aufstehen. Diesmal ließ Viola ihrem Seufzer freien Lauf. Irgendwie hatte sie bei Marcus den Anschluss verloren. In den letzten Wochen redete er nur noch von Businessplänen, Studioneubau, Chart-Erfolgen und dem ganz großen Geld.
Sie sollte also »was Passendes« anziehen. Okay, Konni war nicht die Einzige, die sich aufbrezeln konnte, o nein, auch sie brauchte sich nicht zu verstecken. In Violas Kopf bildete sich wie von selbst eine ihrer Top-Five-Listen, eine Gewohnheit, die sie nie abgelegt hatte.
Die Top Five von Viola Fischer zum Thema Aussehen.
Platz fünf: Ich passe gut in mein Etuikleid in Größe sechsunddreißig.
Platz vier: Glücklicherweise sind die Pausbäckchen von Mama an mir vorübergegangen.
Platz drei: Ich habe Papas schmales Gesicht und die hohen Wangenknochen geerbt, was ziemlich hübsch aussieht.
Platz zwei: Meine langen weißblonden Haare sind echt.
Und Platz Nummer eins: Die übrigen Körperformen, inklusive Busen, sind auch ganz ansehnlich. Rund und weiblich mit einer schmalen Taille. Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren!
Gut, auf die Stupsnase und die Sommersprossen hätte sie verzichten können, aber man musste die Dinge eben so nehmen, wie sie kamen.
Fazit, Marcus konnte sich glücklich schätzen, wenn sie ihn auf eine seiner Partys begleitete. Vor allem, wenn sie »was Passendes« anzog. Männer! Er stellte sich das wahrscheinlich ganz einfach vor. Viola schnaubte kurz. Nach der Aufführung partytauglich auszusehen, war keine Kleinigkeit.
Zum einen musste sie das Bühnen-Make-up abnehmen. Was auf der Bühne aus etwa fünfzig Metern Entfernung im Licht der Scheinwerfer gut aussah, war für eine normale Party viel zu viel. Sie würde sich also abschminken und anschließend mindestens ihren leicht getönten Puder und etwas Rouge auftragen und vor allem die hellen Wimpern kräftig tuschen.
Zum anderen brauchte sie jetzt sofort etwas Schönes zum Anziehen. Sie stürmte in ihr Zimmer und legte ihren Kleidersack bereit. Zum Glück hatte sie als Sängerin eine ansehnliche Anzahl von Abendkleidern. Vor den weit geöffneten Schranktüren überlegte sie: Welches der Kleider würde für Marcus' Party passen? Ihre Fingerspitzen strichen prüfend über die Holzbügel, die leise auf der Stange klackerten. Das schwarze mit den Pailletten? Zu feierlich. Das zartrosa Seidenkleid? Nein. Zu dünn, damit würde sie sich den Tod holen. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Sie musste sich beeilen, sie hatte vor der Probe noch zwei große Chorpartien zu wiederholen. Kurz entschlossen griff sie nach ihrem wadenlangen eisblauen Wickelkleid, das konnte sie offen über schwarzen Skinny-Jeans tragen. Dazu die neue Halskette, die aus Dutzenden von versilberten Rechtecken zusammengesetzt war. Schnell verstaute sie noch die passenden Pumps unten im Kleidersack.
Sie goss sich ein Glas Wasser ein, stellte die erste Partitur auf den Notenständer und vertiefte sich in die erste Seite.
Die kühle Abendluft tat gut. Viola zog die Glastür hinter sich zu und schaute sich erwartungsvoll auf dem Platz vor dem Bühneneingang um. In einer idealen Welt hätte jetzt Marcus mit einem Lächeln im Gesicht auf sie gewartet. Viola seufzte. Was war schon ideal? Nein, hier war kein Auto, kein Marcus ... hier war einfach niemand außer ihr. Wie konnte so was passieren? Er hatte ausrichten lassen »nach der Vorstellung«. Die Uhrzeit hätte ihm klar sein müssen, Marcus holte sie schließlich nicht zu ersten Mal nach einer Aufführung ab. Wo blieb er nur?
Einige ihrer Kolleginnen wollten sich später noch im Freiberger Schankhaus im Schatten der Frauenkirche treffen. So ein Treffen kam selten genug vor, weil jeder im Chor wusste, dass man am nächsten Tag wieder hundertprozentig fit sein musste. Aber Gilla hatte am Wochenende Geburtstag gehabt.
Na klasse, sie sagte den Umtrunk ab und wofür? Dafür, dass sie sich hier in Abendkleid und High Heels die Beine in den Bauch stand. Ja, sie hatte sogar darauf verzichtet, mit dem Rad zur Oper zu fahren und stattdessen die Straßenbahn genommen. Warum auch nicht? Marcus wollte sie ja abholen.
Vielleicht stand er am Haupteingang der Oper und dachte nicht daran, dass sie hinten am Bühnenausgang wartete. Viola ging links um das Sandsteingebäude mit den braunen verspiegelten Fensterflächen herum, vorbei an dem Fahrradständer, wo sie normalerweise ihr Rad abstellte. Hier war der Anlieferungsbereich des Operngebäudes, nicht gerade ihre Traumstrecke am späten Abend, aber der kürzeste Weg, um vor die Semperoper zu gelangen. Vor dem majestätischen Prachtbau blieb sie einen Moment stehen und ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Egal wie anstrengend ein Tag gelaufen war, dieser Anblick erinnerte sie immer wieder daran, dass die ganze Mühe nicht umsonst war. Das alte Residenzschloss war angestrahlt, Touristen schlenderten über den gepflasterten Platz vor der Oper, die ... ja, wie eigentlich genau aussah? Prächtig! Ja, das war wahrscheinlich die passende Beschreibung für das beeindruckende Gebäude mit seinen großen Fenstern, aus denen das Licht golden schimmerte. In einiger Entfernung sah man den Biergarten am Ufer der Elbe. Er war in grünes, blaues und rotes Licht getaucht, da fand wahrscheinlich wieder irgendeine private Party statt. Was sie daran erinnerte, dass sie und das gesamte Ensemble übernächstes Wochenende dort ihr eigenes Frühlingsfest feiern würden. Schon seit Wochen freute sie sich auf den Abend, man durfte sogar Partner mitbringen.
Ha, Partner! Partner und Party, das waren die richtigen Stichworte. Viola riss sich von dem Anblick los. Sie zog ihr Handy aus dem Rucksack, in dem sie Jeans, Sweatshirt und ihre Sneakers verstaut hatte.
Sie würde ihn jetzt anrufen und ihm die Hölle heiß machen. Mann, so ein Mist. Auf dem weiten Platz vor ihr war kein Marcus zu sehen, und sie konnte wirklich alles gut überblicken. Bis zum Reiterdenkmal in der Mitte des Platzes war niemand, der auch nur annährend Ähnlichkeit mit Marcus gehabt hätte. Mittlerweile war er schon über zwanzig Minuten zu spät dran.
Sie wählte seine Handynummer. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal. Wenn jetzt die Mailbox ansprang, würde sie auflegen und mit der Straßenbahn nach Hause fahren.
»Joh, Alter, wer stört die Party?«
»Hallo? Ähm ... hier ist Viola, ich wollte Marcus sprechen.«
Die Männerstimme am anderen Ende war definitiv nicht die von Marcus, und definitiv lief da im Hintergrund eine wilde Party ab. Allein das, was aus dem kleinen Lautsprecher zu ihr durchdrang, klang anstrengend.
»Sorry, der ist gerade nicht in Sichtweite. Sind aber auch echt viele People hier im Raum. Wo hab ich ihn denn zuletzt gesehen? Warte mal. Genau. Da war diese Coco, trägt ein enges grünes Kleid. Mit der ist er, tja, keine Ahnung, wo Big M abgeblieben ist. Ich bin hier nur ans Telefon gegangen, weil das so lange geklingelt hat.«
Coco? Wer war Coco? Enges grünes Kleid? Big M? ... Es reichte, irgendwann war auch mal genug. Viola schaltete in die Stimmlage »Bootcamp« um, ein Tonfall, den sie sich als Trainerin einer Volleyball-Mannschaft vor ein paar Jahren zugelegt hatte. Ein Tonfall, der keinen Spielraum für Ausflüchte ließ.
»Shit, wo ist er? Na los, beweg dich und hol ihn ans Telefon.«
»Chill mal, ist ja gut.« Das Telefon wurde wohl durch den Raum getragen. Viola hörte abwechselnd Stimmengewirr, Musik, Gläserklirren und lautes Lachen.
»Hey, da ist so eine total angepisste Tussi am Telefon ... Ja, für dich, Big M. ... Keine Ahnung, wer ... Was? Warum ich drangegangen bin? Hat halt geklingelt wie blöd ... Ja, dein Phone, sag ich doch.«
Das Telefon wurde offenbar weitergereicht. Der zur Hälfte mitgehörte Dialog reichte aus, um Violas Stimmung endgültig in den Keller zu schicken.
»Marcus hier.«
»Und rate mal, wer hier ist? Die Tussi, die total angepisst ist.«
»Viola? Bist du das?«
»Was denkst du denn, wer hier dran ist?«
»Mann, wie bist du denn drauf? Und vor allem, wo bleibst du überhaupt? Hier steigt wirklich eine Mega-Party. Ich ...«
»Marcus, du wolltest mich abholen. Ich warte seit fast einer halben Stunde am Bühneneingang auf dich.«
»Echt? Oh, fuck, ja, stimmt. Boah, Mann, das tut mir jetzt mega leid. Aber ich habe schon mehr als nur ein paar Shots intus, da ist mit Autofahren Sense, ich kann dich nicht abholen. Komm, fahr los und wir sehen uns gleich. Du wirst das nicht bereuen.«
»Sag mal spinnst du jetzt völlig? Was denkst du dir eigentlich dabei? Ich setz mich doch jetzt nicht in die Straßenbahn und fahre eine halbe Stunde durch die Stadt, um zu dir zu kommen.«
»Wow, ja, Mensch, das ist schade. Du, Viola, hey, ich mach das wieder gut, versprochen. Nur, jetzt muss ich Schluss machen, da kommt gerade der Timo von SP-Records rein. Stell dir vor, SP-Records bei mir auf der Party! Tschüs.«
»Marcus, ich ...« Fassungslos starrte Viola auf ihr Hany. Marcus hatte einfach das Telefonat beendet. »Ohhh, fuck!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf. Ein asiatisch aussehendes Touristenpärchen schaute neugierig zu ihr herüber und ging dann lachend weiter.
Das darf doch wohl nicht wahr sein. Der hat sie doch wohl nicht alle. Wie kann man nur so rücksichtslos, unsensibel und vergesslich sein? Von der Frau im engen grünen Kleid mal ganz zu schweigen. »Hmmm.« Viola brummte grollend und ging dann quer über den Platz in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Sie würde jetzt nach Hause fahren, sich einen Kräutertee kochen und dabei überlegen, wie sie Marcus am besten zur Schnecke machen konnte. Und wer diese Coco war, konnte er ihr dann auch erklären.
»Ich will dir was sagen, Viola: Der Typ hat dich nicht verdient. Ich meine, wer lässt sich denn schon Big M nennen? So heißen doch allenfalls Burger mit doppelt Käse und Bacon.«
Nickis Entrüstung tat ihr gut. Viola saß auf ihrem Bett, die Tasse Kräutertee auf dem Nachttisch, und telefonierte mit ihrer besten Freundin. Es war reiner Zufall gewesen, dass Nicki ausgerechnet zu dem Zeitpunkt angerufen hatte, als Viola in einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und Selbstmitleid den Abend ausklingen lassen wollte. Aber bereits nach fünf Minuten, so lange hatte sie gebraucht, um Nicki von dem ganzen misslungenen Abend zu berichten, sorgten Nickis Mitgefühl und Entrüstung dafür, dass es ihr schon wieder besser ging.
»Weißt du, Nicki, noch heute Nachmitttag habe ich Marcus gegenüber meiner Mitbewohnerin verteidigt.«