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Nordseeküste, Wattenmeer und ganz viel Herzklopfen
Katja ist Grundschullehrerin aus Leidenschaft, doch seit Jahren hangelt sie sich von einem Vertretungsjob zum nächsten. Zum Glück sind bald Sommerferien, und Katja freut sich auf den wohlverdienten Urlaub mit ihrem Freund Benedikt. Doch nach einer Planänderung in letzter Minute findet sie sich stattdessen allein in einer Pension auf Langeoog wieder.
Auf der Nordseeinsel angekommen freundet sich Katja schon bald mit einer jungen Lehrerkollegin an und verbringt viel Zeit im Strandkorbverleih von Jette, einer alten Freundin von Katjas Mutter. Als diese jedoch einen Unfall hat und ins Krankenhaus muss, ist für Katja klar: Sie springt ein und schmeißt den Laden. Dabei trifft sie auf Martin, der sich als sympathischer Biologe und Robbenschützer entpuppt. Die beiden kommen sich näher. Als Benedikt dann endlich kurz vor Ferienende auf Langeoog ankommt, steht Katja plötzlich nicht nur zwischen zwei Männern - sondern auch zwischen zwei völlig verschiedenen Lebenskonzepten ... Meeresrauschen oder Designer-Loft in Köln ... Wie wird sie sich entscheiden?
Der neue Sommerroman von Barbara Erlenkamp, der Erfolgsautorin der Romane um Das kleine Café an der Mühle.
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Seitenzahl: 364
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitat
Prolog
Vier Jahre später
K wie Katja
Verliebt, verlobt, verheiratet?
Streit
Letzter Schultag
Neue Pläne
Ein Angebot im richtigen Moment
Mit der Fähre nach Langeoog
Ankommen
Jetzt ein Strandkorb
Unterricht am Strand
Tee mit Jette
Familienrabatt
Ausgerechnet Los Angeles
Harms Kneipe
Strandspiele
Grillabend
Die Entscheidung
Aushilfe im Strandkorbverleih
Das Haus am Brombeerweg
Ich hab was gegen Zugluft
Doppelt und dreifach
Ausgebremst
Benedikt, Darling
Wir werden dreißig
Katerstimmung und Regenhüllen
Ein unbedachter Moment?
Paul
Notting Hill
Überraschung!
Zeit zu zweit
So unter Brüdern
Benne
Pasta und Testosteron
Danke – und tschüs
Home sweet home
Das Ende des Strandkorbsommers
Der neue Vertrag
Von wegen Missverständnis
Ein Nachmittag mit Kim
Ein verkorkster Abend
Die Nachricht
Der richtige Mensch
Kann das Leben so einfach sein?
Both sides now
Die Insel
Epilog
Nachwort
Danksagungen
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Viel Freude beim Lesen und Verlieben!
Katja ist Grundschullehrerin aus Leidenschaft, doch seit Jahren hangelt sie sich von einem Vertretungsjob zum nächsten. Zum Glück sind bald Sommerferien, und Katja freut sich auf den wohlverdienten Urlaub mit ihrem Freund Benedikt. Doch nach einer Planänderung in letzter Minute findet sie sich stattdessen allein in einer Pension auf Langeoog wieder.
Auf der Nordseeinsel angekommen freundet sich Katja schon bald mit einer jungen Lehrerkollegin an und verbringt viel Zeit im Strandkorbverleih von Jette, einer alten Freundin von Katjas Mutter. Als diese jedoch einen Unfall hat und ins Krankenhaus muss, ist für Katja klar: Sie springt ein und schmeißt den Laden. Dabei trifft sie auf Martin, der sich als sympathischer Biologe und Robbenschützer entpuppt. Die beiden kommen sich näher. Als Benedikt dann endlich kurz vor Ferienende auf Langeoog ankommt, steht Katja plötzlich nicht nur zwischen zwei Männern – sondern auch zwischen zwei völlig verschiedenen Lebenskonzepten ... Meeresrauschen oder Designer-Loft in Köln ... Wie wird sie sich entscheiden?
Mit diesem Roman ziehen wir den Hut vor allen, die Kinder unterrichten oder unterrichtet haben.
»Man muss vom Weg abkommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.«
Hans Zaugg
»Wahnsinn!«
»Was?«
»Ich sagte Waahn-sinn!«
Kim lachte und hob beide gestreckten Daumen. Katja schüttelte angesichts ihrer partyfreudigen Freundin nur den Kopf. Wahrscheinlich hat Kim kein Wort verstanden, dachte sie. Wie auch, bei der lauten Musik. Bis vor einer Viertelstunde hätte Katja noch jeden Eid geschworen, dass niemand mehr in den Keller des Studentenwohnheims passen würde. Dann hatte irgendjemand Coldplay laut aufgedreht. Aus dem Boxen dröhnte A Sky Full of Stars. Der Song sorgte dafür, dass sich noch mehr Partygäste durch die Doppeltür in den Raum drängten. Coldplay hat gut singen, ein Himmel voller Sterne wäre jetzt nett, dachte Katja. Stattdessen gab es einen Keller voller angetrunkener Kommilitonen. Wie trostlos konnte es denn noch werden?
Katja tippte ihrer Freundin, die mit geschlossenen Augen im Rhythmus der Musik mit dem Kopf wippte, auf die Schulter. »Ich bin mal kurz draußen!«
Irgendwie gelang Kim das Kunststück, zwischen dem Musikwippen noch ein zustimmendes Nicken einzubauen. Auch eine Superkraft, dachte Katja und schob sich resolut durch die Gäste in Richtung Ausgang.
Draußen atmete sie erst einmal tief durch, etwas frische Luft hätte dem Keller da unten ganz gutgetan. Obwohl an diesem Samstagabend offenbar halb Köln auf den Beinen war, erschien ihr der kleine Platz vor dem Wohnheim wie eine Oase der Stille. Katja setzte sich auf eine der Holzbänke vor dem Haus, streckte die Arme rechts und links auf der Lehne aus und legte den Kopf in den Nacken. Zwischen den Juli-Wolken am Nachthimmel blitzte ein einzelner Stern auf. Nur einer, und der war nicht mal sehr hell, aber er erinnerte Katja daran, dass sie in diesem Sommer nicht ans Meer fahren würde. Sie konnte nicht am Strand faulenzen. Sie würde nicht den Sternenhimmel beobachten, das leise Plätschern der Wellen im Ohr, und sie würde nicht den feinen, sonnenwarmen Sand unter den nackten Füßen spüren. In diesem Sommer würde sie ihre Abschlussarbeit schreiben und für die Prüfungen büffeln. Sie seufzte laut.
»Okay, das ist Köln, aber so schlimm ist die Domstadt auch wieder nicht.«
Die Stimme direkt hinter ihr klang amüsiert und sanft zugleich. Katja zuckte zusammen, sie hatte gedacht, sie wäre alleine. Aber sie ließ sich ihr Erschrecken nicht anmerken. Die Stimme klang stocknüchtern und irgendwie nett, zwei Pluspunkte. Unten im Partykeller waren alle mehr oder weniger betrunken, und sie hatte auch während des ganzen Abends niemanden getroffen, der ihr besonders sympathisch gewesen wäre. Während sie weiter unbewegt in den Nachthimmel blickte, erwiderte sie: »Köln ist nicht perfekt, aber es ist vollkommen, es ist vollkommen Köln.«
»Wow, das ist tiefsinnig.« Die Stimme war jetzt links neben ihr.
Nun wurde sie doch neugierig und schielte kurz zur Seite. »Heinrich Böll soll das gesagt haben.«
»Wow, tiefsinnig und auch noch von Böll, da muss ich einfach fragen: Du bist doch ganz sicher nicht dieses Fabelwesen, von dem alle in der Fachschaft Informatik sprechen?«
Katja drehte den Kopf zur Seite, um beim Licht der Laternen einen Blick auf ihren Gesprächspartner zu werfen. Der Mann war ungefähr in ihrem Alter, wohl Mitte zwanzig, hatte ziemlich wilde lockige braune Haare, eine schwarze Hornbrille und einen Vollbart, der ihm wirklich gut stand. Ein ansehnliches Exemplar der Gattung Mann, warum also nicht weiterplaudern, dachte sie und schaute wieder in den Nachthimmel. Bloß nicht hinsehen, allzu leicht würde sie es ihm nicht machen. Sie sagte: »Was erzählt man sich denn von diesem Fabelwesen?«
»Es ist hübsch und klug, sagt man. Und obwohl es Informatik studiert, steht es mit beiden Beinen im Leben und kann sich sogar über Dinge unterhalten, ohne daran zu denken, dass jede Anwendung zur Informationsverarbeitung aus Algorithmen besteht, die den Verarbeitungsablauf beschreiben. Wie gesagt, ein Fabelwesen. Kommt direkt hinter Big Foot und dem letzten Einhorn.«
Katja war sich hundertprozentig sicher, dass der Mann neben ihr an der Bank breit grinste, dafür musste sie nicht mal hinschauen.
»O nein, das ist jetzt so traurig. Mach dich gefasst auf eine große Enttäuschung. Denn nach deinem Fabelwesen wirst du weitersuchen müssen. Ich studiere nicht Informatik.«
»Ha, dachte ich es mir doch. Der Böll hat dich verraten. Germanistik?«
»Nicht jeder, der das Zitat von Böll über Köln kennt, muss Germanistik studieren.«
»Touché. Aber Kernphysik ist es auch nicht – oder? In der Physik-Fachschaft gibt es nämlich auch die Mythen von einer hübschen Frau, die an einem Sommerabend alleine ...«
Katja fing an zu lachen. »Schon klar, ich hab's kapiert und mach's dir ein bisschen einfacher. Lehramtsstudium, bin gerade beim Master-Abschluss. Mein Wahlfach ist übrigens Sport. Im September beginne ich mit dem Referendariat, und anschließend kommt das Staatsexamen.«
»Und dann?«
»Grundschule, ich würde gerne an einer Grundschule arbeiten.«
»Klare Ziele, da ziehe ich meinen Hut.«
Katja setzte sich gerade hin und schaute ihren unbekannten Gesprächspartner auffordernd an.
»Okay, du bist dran. Welchen Grund gibt es, sich mitten in der Nacht an eine junge Frau heranzuschleichen und sie auszufragen?«
»Das klingt jetzt creepy. Also, um allen böswilligen Gerüchten vorzugreifen: Ich hab mich nicht angeschlichen.«
»Geschenkt. Ich will Antworten, sonst stehe ich auf und verschwinde in der Nacht.«
»Gott bewahre, nur das nicht. Darf ich mich hinsetzen?«
Sie nickte und er ließ sich am anderen Ende der Bank nieder.
»Also gut. Benne, offiziell Benedikt, Groß. Abschluss in BWL, ein paar Semester Informatik, deshalb haben mich auch ein paar alte Kumpels zu der Fete dort unten eingeladen. Vielleicht war es aber auch nur Mitleid, und die Einladung soll dafür sorgen, dass ich hier in Köln wieder Anschluss finde. Ich bin nämlich eben erst aus London zurückgekommen, weil ich dort an der Imperial College Business School meinen Abschluss in Marketing gemacht habe. Ich bin fünfundzwanzig, ledig, stubenrein und kann kleinere Arbeiten im Haushalt selber erledigen.«
Katja prustete los, dann erwiderte sie in gespieltem Ernst: »Für viele Frauen ist das eine verlockende Kombination: stubenrein und kleine Arbeiten im Haushalt. Damit wirst du sicher nicht lange allein bleiben.«
»Und?«
»Und was?«
»Na ja, ich habe dir gerade meine Vita zu Füßen gelegt und kenne nicht mal deinen Namen.«
»Katja. Katja Hollenhorst, vierundzwanzig Jahre alt, den Rest kennst du ja bereits.«
»Stimmt, die klaren Ziele. Respekt, finde ich bewundernswürdig.«
»Im Ernst jetzt, Benne?«
»Im Ernst, Katja. Ich weiß nämlich noch nicht, was ich mit meinen Abschlüssen tun soll. Aber was denkst du, jetzt, wo wir uns schon so gut kennen: Da können wir doch mal sehen, ob es nicht noch irgendwo ein kaltes Bier gibt, oder?«
Benne sprang auf, hielt ihr die Hand hin, Katja griff zu und ließ sich von der Bank hochziehen. Der Schwung brachte sie näher an Benne, als sie beabsichtigt hatte. Sein Aftershave roch nach Holz und Orangen, und sein Lächeln war so einladend, dass sie nicht den geringsten Wunsch nach mehr Abstand hatte.
»Gegen ein kaltes Bier hätte ich nichts einzuwenden«, flüsterte sie.
»Wollen wir doch mal sehen, ob es hier nicht noch irgendwo ein kaltes Bier gibt.«
Die Stimme aus der Küche ließ Katja kurz innehalten. Benne war also endlich zu Hause.
»Wie sieht es mit dir aus?«
»Gegen ein kaltes Bier hätte ich nichts einzuwenden«, rief sie zurück. »Du musst aber zum Anstoßen herkommen, ich brauch noch ne halbe Stunde, um die Arbeitseinheit Mittelalter für morgen fertig zu machen.« Sie zog die Strickjacke enger um sich.
So richtig hatte sie sich mit dieser Wohnung nie angefreundet. Hell war sie, großzügig und sehr stilvoll und modern eingerichtet. Der geräumige Loft befand sich in einem ehemaligen Industriegebäude. Die schiere Größe ihrer Wohnung und dazu noch die Lage im angesagten Stadtteil Ehrenfeld konnten sie an guten Tagen begeistern. Es gab aber auch einen Nachteil: Es war eigentlich immer zu kalt. Die prächtigen alten Eisenfenster schlossen nicht richtig, es zog permanent, und die moderne Fußbodenheizung reichte nicht wirklich aus, um die hohen Räume zu erwärmen. Aber genau deswegen konnten sie sich diese Wohnung so gerade eben leisten. Wenn dieses Haus irgendwann den Besitzer wechselte, würde die Miete sicherlich auf das Doppelte ansteigen.
Katja hörte ihren Freund in der Küche rumoren, Gläser klirrten.
Es dauerte ein paar Minuten, bis er in ihr gemeinsames Arbeitszimmer kam. Erst als Katja von ihren Unterlagen hochschaute, sah sie, dass er statt der Biergläser zwei Gläser Sekt in den Händen hielt.
»Sekt statt Bier? Gibt es einen besonderen Anlass?«
Benne lächelte breit. »Das hier in den Gläsern ist nicht einfach nur Sekt, das ist Champagner. Um genau zu sein, Taittinger Brut Reserve. Die Flasche hat mich fünfunddreißig Euro gekostet, aber der Champagner hat auch jede Menge Falstaff-Punkte – wehe, das schmeckt man nicht.«
Benne reichte ihr ein Glas und stieß mit ihr an. Der Champagner war kalt, prickelnd, fruchtig und kitzelte irgendwie in der Nase, fand sie.
»Fünfunddreißig Euro die Flasche – das klingt aber definitiv nach besonderem Anlass. Also, warum hast du unsere Haushaltskasse geplündert?«
»Von einer Plünderung kann keine Rede sein, das habe ich mir vom Munde abgespart.« Benne zwinkerte ihr zu.
»Und im Ernst jetzt?«
»Wir haben einen Investor, der mit acht Millionen für fünfundvierzig Prozent der Unternehmensanteile einsteigen will.«
Katja stieß einen kleinen Freudenschrei aus, stellte das Glas auf den Tisch und fiel ihrem Freund um den Hals. »Wahnsinn, Benne, ihr habt es geschafft.«
Sie küsste ihn. Es wurde ein langer, leidenschaftlicher Kuss. Sie umfasst seinen Nacken, zog ihn noch dichter zu sich heran. Sie liebte es, mit beiden Händen durch seine lockigen Haare zu fahren. Er trug sie zwar inzwischen ein bisschen kürzer als früher, aber immer noch üppiger als die meisten Geschäftspartner, mit denen er jetzt zu tun hatte. Er fand, in seiner Position als Marketingmanager und Kreativer konnte er sich einen etwas lässigeren Haarschnitt durchaus erlauben. Seine Hand streichelte ihren Rücken, suchte sich einen Weg unter ihr T-Shirt. »Mhmm«, Katja genoss die zärtliche Berührung. »Ich muss das Arbeitspapier aber wirklich noch fertig kriegen«, murmelte sie zwischen zwei Küssen. »Und Hunger habe ich auch.«
»Vielleicht nach dem Essen?«
»Ganz sicher nach dem Essen.« Katja trennte sich nur widerwillig von Benne. »Ich glaube, es ist noch ein Rest Lasagne im Kühlschrank, Benne. Den könntest du schon mal warm machen.«
»Und ich glaube, wir sollten heute lieber das Chicken Masala genießen, das«, Benne schaute auf seine Armbanduhr, »in ungefähr zehn Minuten von unserem Lieblingsinder geliefert wird.«
Bei der Aussicht auf ihr absolutes Leibgericht lief Katja das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen gab ein vernehmliches Grummeln von sich. »Noch besser. In zehn Minuten bin ich locker fertig. Deck du doch schon mal den Tisch, und ich mache das hier inzwischen zu Ende.«
Gerade, als der Drucker das Arbeitspapier ausspuckte, klingelte es an der Tür. Katja zuckte zusammen. Der durchdringende aufsteigende Dreiklang des Türgongs ging ihr jedes Mal auf die Nerven, egal, wie leise sie ihn einstellte. Wenn es möglich war, Töne digital zu erzeugen, warum gelang es den Herstellern dann nicht, einen wohlklingenden Klingelton zu entwickeln? Musste er sich denn anhören wie ein schlecht gestimmtes Musikinstrument, nur lauter und von einem Anfänger gespielt? Katja hörte, wie Benne öffnete und Augenblicke später zurück in die Küche ging. Schnell verstaute sie die Ausdrucke in einer Mappe. Morgen früh würde sie alles im Sekretariat der Grundschule kopieren. Sie freute sich auf die Schulstunde. Ritter und Burgfräulein kamen bei den Drittklässlern immer gut an.
In der Küche hatte Benne das gelieferte Essen inzwischen auf zwei Teller verteilt. Auf dem Esstisch lag zur Feier des Tages eine dunkelgraue Tischdecke aus schwerem Baumwollsatin, Benne hatte Kerzen angezündet, die Champagnergläser waren aufgefüllt und aus den Lautsprechern klang Ella Fitzgerald. Unglaublich altmodisch, aber eine von Katjas Lieblingssängerinnen. Noch ein Grund, warum ich Benne liebe, dachte sie, er steht auf Metal und erträgt einen gemeinsamen Abend mit Ella.
Katja setzte sich. »Jetzt erzähl mal«, forderte sie Benne auf.
»Du weißt ja, wir hatten zwei Interessenten, und heute hat sich die Investorengruppe aus den USA mit einem Angebot gemeldet, das wir – wie heißt es immer so schön – nicht ablehnen können. Mit den Investoren im Rücken können wir endlich auch andere Märkte ins Auge fassen. Wir können jetzt das ganz große Ding drehen.«
Katja sah seine Begeisterung, und sie gönnte ihm den Erfolg. Schon zwei Monate, nachdem sie sich auf der Studentenparty kennengelernt hatten, waren sie zusammengezogen. Benne hatte kurz vorher mit zwei Freunden ein eigenes kleines Unternehmen gegründet. Alexander und Gerald waren geniale Programmierer, und Benne war ein wirklich guter Marketingfachmann, der genug von Informatik verstand, um auf Augenhöhe mit Programmierern und Kunden sprechen zu können. Die drei begannen an einer Softwarelösung für Videokonferenzen zu arbeiten, die auch bei niedrigen Datengeschwindigkeiten stabil lief. Heraus kam schließlich ein Gesamtpaket, das mittels Laserprojektion nicht einmal mehr einen Monitor benötigte. Anfangs hatten sich nur zwei große Unternehmen für die Idee interessiert, doch dann war es Benne gelungen, einen Hersteller zu finden, der die eingesetzte Hardware günstig produzierte. So günstig, dass das Ganze auch für private Anwender interessant geworden war.
»Der Trend zum Homeoffice zeichnet sich in den Staaten schon seit Langem ab. Und die Amis wollen unser System jetzt noch einmal verkleinern. Wenn das alles läuft, werden Kamera, Mikrofon und Laserprojektion nur noch so große wie zwei Zigarettenschachteln sein. He, vielleicht gehen wir sogar mal in die 3-D-Projektion.« Bennes Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck. Katja kannte seine Begeisterung für die Star-Wars-Filme.
»Schon klar, demnächst wird das Bild vom Chef bei einer Konferenz frei über dem Schreibtisch schweben. Mal ehrlich, es gibt Chefs, da wäre das gar nicht wünschenswert.«
»Ich sehe schon, an dir ist unsere fortschrittliche Technologie verschwendet«, neckte Benne sie und lachte. »Aber im Ernst, je mehr Menschen erkennen, dass man für ein einstündiges Meeting nicht den halben Tag mit dem Flugzeug oder der Bahn unterwegs sein muss, umso größer sind unsere Chancen.«
»Ich gönne euch den Erfolg.«
»Der leider auch seine Schattenseiten hat.«
»Wieso?«
»Wir werden in der nächsten Zeit richtig ranklotzen müssen, die erwarten hundertprozentigen Einsatz für ihre Millionen.«
Katja legte die Gabel zur Seite. »Dann sollten wir den Nachtisch besser auf später verschieben. Wer weiß, wann du das nächste Mal so früh zu Hause bist.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte ihn mit einem großen Augenaufschlag an.
»Okay, Kinder, wir machen jetzt mit unserem Wörterbuch weiter. Gestern hatten wir den Buchstaben ›J‹ wie Jogurt, dann ist heute dran? Ja, Anna?«
»Das ›K‹, Frau Hollenhorst. K wie Kamel.«
»Super, genau. Also holt eure Blöcke und die Buntstifte raus und malt für euer großes Buchstabenbuch etwas, das mit dem Buchstaben ›K‹ beginnt.«
»Was sollen wir denn malen, Frau Hollenhorst?«
»Na, vielleicht etwas, das ihr besonders mögt. Da fällt euch doch sicher genug ein.« Sie fragte in die Klasse hinein: »Wer will etwas sagen?«
»Kuchen!«
»Kekse!«
»Katze!«
»Karussell!«
»Schön, das sind schon ein paar tolle Ideen. Dann fangt mal an. Malblöcke und Stifte raus, alle dürfen malen, was sie möchten.« Die dreiundzwanzig Kinder des ersten Schuljahres kramten in ihren Schultaschen herum. Doch schon Augenblicke später hörte das Rascheln und Klappern auf, und im Klassenraum herrschte eine konzentrierte Stille.
Katja schaute sich um und genoss den kurzen ruhigen Moment. Diese Klasse war ihr in den letzten Monaten wirklich ans Herz gewachsen. Ja, es war an vielen Tagen anstrengend, und sie musste sich wirklich bemühen, alle bei der Stange zu halten. Manche von den Kleinen waren im ersten Schuljahr noch sehr verspielt, da musste sie besonders aufpassen, sie nicht zu überfordern. Auf der anderen Seite ist das hier die Schule und nicht der Kindergarten, dachte Katja, sie sind schließlich hier, um etwas zu lernen. Zum Glück hatte bislang alles gut geklappt. Elke Pfeifer, die Rektorin, hatte sie erst kürzlich dafür gelobt, wie zügig sie mit dem Lernstoff durchgekommen war. Als Abschlussprojekt arbeiteten die Erstklässler jetzt an ihren großen Buchstabenbüchern. Jeder Buchstabe bekam ein eigenes Bild, und die Bilder sollten zum Abschluss des Schuljahres dann gebunden werden. Katja seufzte leise bei dem Gedanken an das Ende des Schuljahres. Sie musste gleich in der Pause noch mal Elke ansprechen, ob sie schon was Neues wusste.
Der Rest der Schulstunde verging wie im Flug. Während sie immer wieder einen schnellen Blick auf die Wanduhr warf, wanderte Katja langsam zwischen den Tischen umher und begutachtete die Zeichnungen. Schon an der ersten Tischgruppe sah sie drei große Geburtstagskuchen. Eine Tischgruppe weiter gab es Kühe – gut an den schwarz-weißen Flecken und einem überdimensionierten Euter zu erkennen –, ein Korb mit Kirschen und ...
»Du, Tim, ich fürchte, du malst da das falsche Bild. Ein Clown wird mit einem ›C‹ geschrieben.«
Tim, ein ziemlich vorwitziger Junge mit rotblonden Haaren und zahllosen Sommersprossen, schaute zu ihr hoch. »Bist du sicher, Frau Hollenhorst?« Tim klang dabei so ernst, als würde er ihr den kleinen Fehler auch jederzeit verzeihen.
Gutmütig spielte Katja mit und tat so, als ob sie nachdenken würde. »Doch schon, also, wenn ich so überlege, gibt es keinen Zweifel. Clown wird eindeutig mit ›C‹ geschrieben.«
Tim kniff ein Auge zu und dachte angestrengt nach, dabei schob sich seine Zungenspitze zwischen die Lippen. Am Ende seiner Überlegungen glitt ein zufriedenes Grinsen über sein Gesicht. »Weißt du, Frau Hollenhorst, das ist gar kein Clown, das ist ein Komiker.«
»Ein Komiker?«, fragte Katja. Manche Kinder hatten wirklich einen erstaunlichen Wortschatz. »Weißt du auch, was das ist?«
»Klar«, erklärte Tim. »Das sagt Mama zu Papa, wenn er vergessen hat anzurufen und zu sagen, dass er später kommt. Sie sagt dann immer: ›Ralf, du bist wirklich ein Komiker. Wie soll ich das Essen denn eine halbe Stunde lang warm halten?‹ Mein Papa heißt nämlich Ralf. Und dann sagt Papa: ›Entschuldigung, Liebes, aber ich hab dir Blumen mitgebracht.‹ Liebes, das ist meine Mama. Und dann lacht Mama und sie umarmen sich. Also, ich glaube, ein Komiker, das ist so ein Mann, der lustige Sachen sagt. Und ...«
»Du hast recht«, beeilte sich Katja zu versichern. »Komiker ist ein sehr gutes Wort mit ›K‹. Male ruhig einen Komiker.« Wenn die Kinder in der ersten Klasse einmal ins Erzählen kamen, war es manchmal gar nicht so einfach, sie zu stoppen. Wenn die Eltern wüssten, was ihre Kinder alles von Zuhause erzählten ...
Ein Tisch weiter saß Ari. Anders als Tim war die Kleine am Anfang sehr still gewesen und immer darauf bedacht, nicht groß aufzufallen. Katja hatte mit Ari in den letzten Wochen intensiv gearbeitet, und diese Arbeit zeigte inzwischen Erfolg. Ari war selbstbewusster geworden, hatte neue Freundinnen gefunden und arbeitete gut im Unterricht mit. Es sind die Kinder wie Ari, die meine Hilfe brauchen, und das ist der Grund, warum ich hier arbeite, dachte Katja, während sie sich zu Aris Zeichnung herunterbeugte.
Das Mädchen hatte eine Frau gemalt. Mittellange braune Haare und ein knielanges Kleid mit kleinen roten Blümchen.
»Hm, Ari, du hast ein Mädchen gemalt ...«
»Eine Frau, das ist eine erwachsene Frau.«
»Okay, also eine Frau, aber ...«
Ari drehte den Kopf, lächelte breit und offenbarte dabei eine Zahnlücke, weil ihr erst letzte Woche wieder ein Milchzahn ausgefallen war. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Frau ist ein Wort mit einem ›F‹. Aber wir sollten doch was malen, was wir besonders mögen, und das bist du, in deinem Sommerkleid. Das Kleid mit den Blumen, das du beim Ausflug anhattest. Das da auf dem Bild ist eine Katja und die wird mit ›K‹ geschrieben. K wie Katja.«
Für einen Moment wusste Katja nicht, was sie sagen sollte. Sie schluckte.
»Gefällt dir das Bild nicht?«
Katja ging neben dem Tisch in die Knie und schaute Ari direkt ins Gesicht. Sie lächelte. »Das ist ein tolles Bild geworden. Mich hat noch nie jemand gezeichnet. Meinst du, ich dürfte mir das Bild bis zur nächsten Stunde ausleihen? Ich würde es mir gerne kopieren.«
In diesem Moment ertönte der Gong, die Stunde war zu Ende.
»Klar«, sagte Ari, »nimm es ruhig mit. Ich würde später gerne für mein Buch noch ein paar Bäume und Wolken dazumalen, aber du bist auf dem Bild schon fertig.«
»Gut, dann pack schnell ein und flitz in die Pause, ich mache mir inzwischen eine Kopie.«
***
Während die Kinder draußen auf dem Schulhof herumtobten, ging Katja zum Farbkopierer, der in einer Ecke des Lehrerzimmers stand. Sicherheitshalber machte sie gleich zwei Kopien von der Zeichnung. Gerührt betrachtete sie noch einmal die Ausdrucke.
»Ach, das ist aber hübsch geworden, hat bestimmt ein Mädchen gemalt – oder?«
Neben ihr stand Elke Pfeifer.
»Ari Samala, erste Klasse.«
»Die kleine Schüchterne, deren Bruder ich in der Vierten habe?«
»Ganz genau.«
»Zeichnen kann sie, das steht mal fest. Übrigens: Deine Arbeitseinheit Mittelalter in der Dritten ist riesig angekommen. Ich war danach ja in der Klasse, die Kinder waren noch ganz begeistert.«
»Lieben Dank, das ist aber auch ein tolles Thema. Ich meine, welches Kind findet Ritter nicht interessant?«
»Trotzdem, es kommt schon darauf an, wie man das Ganze umsetzt. Wahnsinn, was du dir für eine Mühe mit den neuen Arbeitsblättern gemacht hast.«
Katja wollte ihrer Schulleiterin nicht widersprechen. Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass man ein Lob auch einfach annehmen konnte, ohne es kleinzureden. Sie hätte natürlich auch sagen können, dass sie die Arbeitseinheit Mittelalter schon an mehreren Grundschulen in der dritten Klasse durchgenommen hatte. So ganz neu, wie Elke dachte, waren die Arbeitsblätter nicht mehr. Schließlich war sie, seit sie ihr Studium abgeschlossen hatte, immer wieder an anderen Schulen eingesetzt worden. Es war leicht, etwas scheinbar Neues zu bieten, wenn man nie länger als ein Schuljahr blieb.
Jetzt aber galt es, die Gelegenheit zu nutzen. Da war etwas, das sie schon seit Wochen beschäftigte. »Sag mal, Elke, hast du schon was in Bezug auf meinen Antrag gehört?«
»Nein, es tut mir leid. Ich werde heute mal nachfragen, aber ich fürchte, die werden dir erst einmal kündigen, um dich dann nach den Ferien wieder einzustellen. Ich verstehe es auch nicht, so kann man doch keine Fachkräfte halten, aber mir sind die Hände gebunden.«
»Weiß ich doch, Elke. Das sind Entscheidungen der Schulbehörde, du kannst nichts dafür.«
»Mir passt es auch nicht, wie das läuft. Man informiert mich immer erst im letzten Moment, wie das Kollegium im kommenden Schuljahr besetzt wird.« Elke Pfeifer seufzte. »Aber lass mich offen zu dir sein: Für dich sieht es hier nicht gut aus. Ich habe gestern erfahren, dass unsere Kollegin Tina Brothaupt nun doch früher aus der Elternzeit zurückkommen will. Im schlimmsten Fall wirst du uns und deine Schüler hier an der Schule nie wiedersehen. Glaub mir, ich finde diese Regelung bei den befristeten Verträgen auch unmöglich.«
»Jedenfalls ist es nett, dass du noch mal nachfragen willst.«
»Ist doch selbstverständlich, gerade bei so engagierten Kolleginnen wie dir.« Elke legte Katja mitfühlend die Hand auf den Arm und wandte sich zum Gehen.
Wie betäubt blieb Katja am Kopierer stehen. Also eine weitere Sommerpause ohne Gewissheit, wie es weitergehen wird, dachte sie verbittert. Natürlich hatte es in den letzten Jahren immer geklappt. Man stellte sie wieder ein, sie bekam einen neuen befristeten Vertrag und dann fing am Ende eines Schuljahres alles wieder von vorne an. Sie hatte das schon mehrmals durchgemacht und wünschte sich endlich mehr Sicherheit. Bei dem Gedanken, erneut die Schule zu wechseln und vor allem Kinder wie Tim und Ari, »ihre« Kinder, nicht durch die gesamte Grundschulzeit begleiten zu können, wurde ihr das Herz schwer.
»Das ist eine Katja. Ari hat gemalt, was sie besonders mag«, murmelte sie und schaute mit brennenden Augen auf die bunte Zeichnung in ihren Händen.
Größer hätte der Unterschied zur Selma-Lagerlöf-Grundschule nicht sein können. Die Fenster in der hellen, mit Marmor verkleideten Fassade leuchteten warm in der Abenddämmerung. Immer wieder wechselten die Farbtöne, aber so langsam, dass man es nicht sofort bemerkte. Von dunklem Pink über warmes Camparirot bis hin zu einem sensationell strahlenden Violett. Durch die teils geöffneten Fensterflügel drangen Lachen und Gespräche nach draußen, man hörte Gläser klingen und von irgendwoher erahnte man leichte Jazzmusik.
Die exklusive Kunstgalerie am Hohenzollernring war an diesem Abend nur für geladene Gäste geöffnet. Benedikt und seine Geschäftspartner hatten die komplette Galerie für einen Abend gemietet, um den vierten Geburtstag ihrer gemeinsamen Firma zu feiern. Aber Benne wäre nicht Benne gewesen, wenn er nur Mitarbeiter und Freunde dazu eingeladen hätte. Er wollte den Abend natürlich auch nutzen, um Kunden und potenzielle Geschäftspartner zu umwerben.
Die Glastüren schwangen auf. Ein in dezentes Schwarz gekleideter Security-Mitarbeiter geleitete Katja zur Empfangstheke.
»Ihr Name, bitte?«, erkundigte er sich höflich.
»Hollenhorst. Katja Hollenhorst.«
Sein Zeigefinger glitt über den Tablet-Computer, während er die Gästeliste prüfte. »Ah ja, natürlich, Frau Hollenhorst. Darf ich Ihnen dieses VIP-Armband anlegen?«
Lächelnd hielt Katja ihm das linke Handgelenk hin. Was für ein Tag! Bis vor wenigen Minuten, ja, noch in dem Moment, als sie draußen vor der Galerie gestanden hatte, war sie müde und ausgelaugt von einem langen anstrengenden Unterrichtstag gewesen. Sie war entschlossen, die schöne Feier voll und ganz zu genießen. Der Schultag, oder besser gesagt die Aussicht auf einen erneuten befristeten Vertrag, war ihr auf den Magen geschlagen. Jetzt aber waren die Müdigkeit und die schlechte Stimmung wie weggeblasen. Sie war zwischendurch zu Hause gewesen und hatte sich umgezogen. Katja hatte für den Abend extra neue High Heels gekauft. Mattschwarzes Leder mit einem weinroten, zehn Zentimeter hohen dünnen Absatz. Ihr war klar, dass sie in diesen Schuhen allenfalls würdevoll dahinschreiten konnte – mal schnell durch die Stadt laufen wäre mit diesen Absätzen lebensgefährlich. Aber die Schuhe sahen fantastisch zu dem schlichten schwarzen Etuikleid aus. Für den Abend hatte sie ihre langen braunen Haare hochgesteckt, sie trug die Perlenohrringe ihrer Oma und um den Hals eine schmale Silberkette mit einer einzigen großen Zuchtperle. Die Kette hatten ihr ihre Eltern zum Abschluss des Studiums geschenkt.
Wie mühelos sie mittlerweile zwischen ihren beiden Rollen wechseln konnte! Tagsüber war sie die energiegeladene, begeisterte Grundschullehrerin, die sie immer hatte sein wollen. Kaum zu glauben, dass es erst vier Jahre her war, dass sie sich noch aufgeregt hatte, weil da eine Abschlussarbeit zu schreiben gewesen war.
Abends und am Wochenende begleitete sie Benne in edle Restaurants und zu Geschäftstreffen. Auch diese Rolle war ihr mittlerweile zur zweiten Natur geworden. Ein wunderbares Leben hatten sie sich zusammen aufgebaut, fand sie. Es war ihr schon immer leichtgefallen, auf andere zuzugehen, sie war eine brillante Zuhörerin, und es gelang ihr, die Gesprächspartner aus der Reserve zu locken. »Du bist meine Geheimwaffe«, pflegte Benedikt liebevoll zu sagen. Ja, Benedikt, so wollte er jetzt von allen genannt werden. Wann hatte sie aufgehört, ihn öffentlich Benne zu nennen? Wenn sie beide allein waren, tat sie es immer noch, aber nie, wenn jemand anderes es hören konnte.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass sie noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, bevor sie sich Benne anschließen würde. Mit ihm hatte sie ausgemacht, dass er zu Beginn der Veranstaltung allein herumwandern und die Gäste begrüßen würde. Viel hing bei solchen Anlässen davon ab, die richtigen Personen gleich zu Anfang zusammenzubringen. Jeder der geladenen Gäste sollte sich willkommen und geschätzt fühlen, niemand sollte allein herumstehen und sich langweilen.
Im Foyer stehend ließ sie den Blick über die offenen Galerien in der ersten und zweiten Etage des Gebäudes wandern. Hinter den glänzenden Edelstahlgeländern konnte sie sehen, dass es oben kleine Skulpturen gab, die auf verschieden hohen weißen quadratischen Säulen präsentiert wurden. Sie beschloss, in der ersten Etage zu beginnen. Langweilig würde es ihr in der nächsten halben Stunde sicher nicht werden. Die ausgestellten Objekte wirkten schon aus der Ferne apart, hielten aber auch bei näherem Hinsehen, was sie auf den ersten Blick versprochen hatten. Alle waren handwerklich perfekt und mit großer Detailgenauigkeit gearbeitet. Da gab es abstrakte organische Formen aus schwarz gebeiztem Holz, bei anderen Kunstwerken war deutlich zu erkennen, dass verschiedene Blätter oder Pflanzen dafür Pate gestanden hatten. Plötzlich konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Ein kurzer Blick nach rechts und links, ja, sie war unbeobachtet, ja, sie wusste, dass es sich nicht gehörte. Und doch: Sie ließ kurz die Fingerspitzen über einen besonders schön gearbeiteten Pilz gleiten, las in aller Ruhe die Beschreibung auf dem Schild an dieser Säule. Marone, aus naturbelassenem massivem Eschenholz. Aus einem Stück mit der Kettensäge geschnitzt. Herkunft: Andernach. Nun, eine Marone in dieser Größe würde wahrscheinlich ausreichen, um eine zwanzigköpfige Großfamilie zu füttern, aber so viel künstlerische Freiheit musste wohl sein.
Während sie so durch die Ausstellung schlenderte, bemerkte sie so manchen bewundernden Blick von anderen Gästen. Das gefiel ihr. Sie war zwar nur mittelgroß, doch sie hielt sich ausgesprochen gerade und war durchtrainiert. Nicht immer war das so gewesen. Als Teenager hatte sie stets Probleme mit dem Gewicht gehabt. Eher moppelig und voller Selbstzweifel, hatte sie Sport deprimierend und nervig gefunden.
Die Wende kam, als ihre Freundin Kim sie kurz nach Beginn ihres Studiums davon überzeugte, bei einer Laufgruppe mitzumachen. Das Laufen entpuppte sich als ein willkommener Ausgleich für die Stunden in den Hörsälen, und gleichzeitig verlor sie innerhalb weniger Monate etliche überflüssige Pfunde. Als dann ein paar Teilnehmerinnen der Laufgruppe an einem Samstag das Indoorklettern ausprobieren wollten, ließ sich Katja überreden mitzukommen. Und auch diesmal bereute sie ihren Entschluss nicht. Wie sich herausstellte, besaß sie ein natürliches Talent fürs Klettern. Die anderen hörten bereits nach wenigen Trainingseinheiten auf – nicht so Katja. Neben dem Laufen wurde das Klettern zu ihrer großen sportlichen Leidenschaft. Am Ende des ersten Semesters hatte sie beschlossen, das Wahlfach zu wechseln und Sport hinzuzunehmen.
In aller Ruhe schaute sich Katja die Kunstwerke an. Ab und zu warf sie einen Blick ins Foyer. Von hier oben hatte sie einen ausgezeichneten Überblick. Gelegentlich konnte sie Benedikt sehen, mal ins Gespräch vertieft, mal mit suchendem Blick zwischen zwei Menschengrüppchen, die er zusammenbringen wollte. Er war gut darin, eine Party in Gang zu bringen. Immer wieder brandete fröhliches Lachen herauf, das sich mit der leisen Jazzmusik mischte. Bennes Plan schien aufzugehen, ständig war er in Bewegung, um Neuankömmlinge zu begrüßen oder mit Gästen ein wenig Small Talk auszutauschen. Die Räume der Galerie füllten sich zusehends, überall standen kleine Gruppen mit Sektgläsern in den Händen und plauderten.
Noch spielte das Jazztrio vorne neben der Bar, aber Katja wusste, dass später am Abend das Musikprogramm wechseln würde. Sie hatte den DJ, der für den Abend engagiert worden war, bereits gesehen. Wie sehr sie sich auf diesen Abend freute! Benne hatte wochenlang über der Gästeliste, dem Essen und dem Programm gebrütet.
»Schatz, hast du einen Moment Zeit? Ich möchte dich gerne mit Doktor Gereon bekannt machen, er ist der neue Director of International Business Development unseres Investors – ein ganz hohes Tier in dem Laden. Hat vor vier Wochen dort angefangen.«
Katja, die abseits von den anderen Gästen vor einem großen Gemälde gestanden hatte, zuckte kurz zusammen, als sie Bennes Stimme hörte, denn sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er genau hinter ihr stand. Rasch fing sie sich wieder, drehte sich um und lächelte ihn an. »Dann stell ihn mir doch bitte vor.«
Benne griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. »Du siehst übrigens fantastisch aus, Schatz, habe ich das schon erwähnt?«
Erneut zuckte Katja zusammen. Schatz, er hatte sie gerade zum zweiten Mal Schatz genannt. Das tat er sonst nie. Er hatte sie nie anders als Katja genannt, beide fanden immer, dass es keine schöne Kurzform von Katja gab. In privaten Momenten nannte er sie zärtlich »meine Schöne« – aber Schatz? Niemals.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Schließlich hatte er ihr gerade ein Kompliment gemacht. Sie antwortete: »Nein, hast du nicht, und du darfst es ruhig noch ein paarmal sagen. Das ist auch deshalb wichtig, weil mich meine neuen Schuhe gerade umbringen.«
An der Seite von Benedikt schlängelte sie sich durch die Menge. »Meine Güte, ich muss auf dich aufpassen. Hast du diesen schmachtenden Blick von Dennis gesehen?«, flüsterte ihr Benne ins Ohr.
»Dennis, der gut aussehende Programmierer? Der im Sommer immer diese unglaublich engen T-Shirts trägt, damit jeder sein Sixpack sehen kann? Nee, habe ich gar nicht bemerkt«, antwortete Katja ebenso leise.
Benne hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Fräulein Hollenhorst, Sie sind schrecklich. Du weißt ganz genau, dass du klasse aussiehst, ich kann mich da nur wiederholen.«
»Und das, obwohl meine Stupsnase nach dem Fahrradsturz nie mehr ganz gerade geworden ist?«
»Ich liebe deine Stupsnase, und so ein kleiner Makel macht ein Gesicht doch erst besonders.«
»Du bist und bleibst ein alter Schmeichler. Aber das kannst du gut, also hör bloß nicht damit auf.« Katja zwinkerte ihrem Freund vergnügt zu. Dieser Abend in der Galerie war Balsam für ihr Ego, daran gab es keinen Zweifel.
»Ah, da sind Sie ja, Herr Groß. Und die bezaubernde Erscheinung an Ihrer Seite muss Ihre Verlobte sein, nicht wahr?« Ein Mann Anfang fünfzig, mit militärisch kurzem Haarschnitt und italienischem Designeranzug, kam auf sie zu.
»Herr Doktor Gereon, darf ich Ihnen Katja Hollenhorst vorstellen? Katja, das ist Doktor Klaus Gereon, er ist bei unserem Investor für die Sparte International Business verantwortlich.«
»Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Frau Hollenhorst, wirklich sehr erfreut.« Gereon ergriff Katjas rechte Hand und deutete mit einer leichten Verbeugung einen Handkuss an. »Ihr Verlobter hat mir bereits berichtet, dass Sie Sport studiert und sich währenddessen im Bereich Marketing weitergebildet haben. Dass Sie mit dem Gedanken spielen, jetzt beruflich in diese Richtung zu gehen, passt sehr gut. Ich plane nämlich, unser internationales Business erheblich auszubauen und dafür natürlich auch unser finanzielles Engagement in der Firma Ihres Verlobten zu erweitern. Signifikant zu erweitern. Ich kann nur sagen, es wäre eine Bereicherung, Sie demnächst im Team dabei zu haben.« Gereon lächelte strahlend, eine Spur zu strahlend vielleicht, wie Katja fand. »Was möchten Sie trinken? Ihr Glas ist ja fast leer. Darf ich Ihnen von der Bar noch etwas holen? Bestimmt sagen Sie zu einem Champagner nicht Nein. Und dann müssen Sie mir in aller Ruhe erzählen, wie Ihre Pläne aussehen.«
Gereon wartete Katjas Antwort nicht ab, sondern ging direkt zur Bar. Sowie er ihnen den Rücken zudrehte, funkelte Katja ihren Freund wütend an. »Was soll das denn heißen, deine Verlobte? Ich dachte immer, dazu gehören zwei? Wie war das? Stichwort: Heiratsantrag?«
Benne lächelte verlegen. »Na ja, weißt du, der Gereon ist noch so ein Manager der alten Schule, und das mit der Verlobung kam total gut bei dem an. Außerdem wollte ich ja ... also ich meine ... ähm, ich ... ich wollte ja dich schon immer fragen.«
»Ja? Was genau wolltest du fragen? Ob ich ins Marketing wechseln möchte?«
»Uhh, das ist wieder dieser Gouvernantenblick, der macht mir immer eine Gänsehaut. Ich konnte ihm ja schlecht erzählen, dass du Grundschullehrerin bist. Sport klang gut. Und Marketing klang noch besser.«
Das waren ja ganz neue Töne. »Was stört dich an einer Grundschullehrerin?«
»Ja nix, also, nicht bei dir. Aber da gibt es halt so ein Bild in den Köpfen von den Leuten. Du bist anders, gar keine Frage. Komm, tu mir den Gefallen und spiel für heute Abend mit. Ich verspreche auch, ich mach es wieder gut.«
»Das ist doch alles Blödsinn, was du diesem Gereon erzählt hast. Erst erfindest du eine Verlobung, und dann dichtest du mir auch noch eine Marketing-Fortbildung an? Echt, Benne, du bist zu weit gegangen. Da mache ich nicht mit.«
»Pleeease? Und wenn ich ganz lieb frage?« Benne sah sie so bittend an, dass sie sich erweichen ließ. Sie wusste, wie hart er in den letzten Jahren gearbeitet hatte, um seine kleine Firma dahin zu bringen, wo sie heute stand. Sie schaute sich um, all die Menschen, die den Erfolg der Firma feierten. Die Galerie mit ihren farbig angestrahlten Wänden, den abstrakten Kunstwerken und den teuren Skulpturen. Die Grundschule, der Unterricht, die Kinder – aber auch der ständige Ärger mit den befristeten Verträgen, das alles schien im Moment unendlich weit entfernt zu sein.
»Gereon kommt zurück«, flüsterte Benne ihr zu. Was er aber wirklich sagen wollte, war: Lass mich bitte nicht auffliegen, ohne unseren Investor sind wir nichts, wir brauchen ihn.
Mit einem charmanten Lächeln nahm Katja das Champagnerglas entgegen. »Sagen Sie, Herr Doktor Gereon, hat Ihnen mein Verlobter«, Katja sah mit einer gewissen Befriedigung, wie Benne bei dem Wort ›Verlobter‹ ein wenig den Kopf zwischen den Schultern einzog, »schon unseren Hochzeitstermin verraten?«
»Mit keiner Silbe. Aber ich hoffe natürlich, dass wir Investoren Ihren Zukünftigen bis dahin nicht zu sehr mit Beschlag belegen.«
»Nun, das sollte tatsächlich das geringste Problem sein. Nicht wahr, Schatz?« Zuckersüß lächelte Katja Benedikt an.
»Du hast recht. Zumal du ja eine Karriere im Marketing anstrebst. Dann sehen wir uns auch bei der Arbeit.«
Der Manager prostete ihnen zu. »Sie beide sind wirklich ein hübsches Paar. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.« Über den Rand seines Sektglases hinweg schaute er Katja an – abschätzend, bewundernd, nachdenklich? Das war seiner undurchdringlichen Miene nicht zu entnehmen, aber eins war völlig klar: Nun würde ein Themenwechsel folgen. Wenn Katja als Lehrerin eines gelernt hatte, dann war es, genau mitzubekommen, wenn eine Gesprächssituation umschwenkte. Und da kam es auch schon: »Aber verraten Sie mir doch, Frau Hollenhorst, wo sehen Sie noch Marktpotenziale bei dem genialen Konferenzsystem, das Ihr zukünftiger Gatte so brillant vermarktet?«
Benne, der einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte, wurde vor Schreck ganz starr. Katja überlegte kurz. Gereon wusste von ihrem Sportstudium. Ihr fiel ein Zeitungsartikel über Workouts in den eigenen vier Wänden wieder ein.
»Stellen Sie sich vor, Sie könnten Sport auch im heimischen Wohnzimmer ausüben, aber unter direkter Aufsicht Ihres Trainers. Personal-Training für jedermann. Gerade berufstätige Frauen und Mütter haben oft zu wenig Zeit. Eine halbe Stunde Powertraining könnten sie in ihren Alltag leicht einbauen, aber wenn dazu noch eine halbe Stunde oder mehr für die Hin- und Rückfahrt zum Fitnessstudio kommt, ist das für viele überhaupt nicht machbar. Sport und Fitness zu Hause dagegen – da könnte man mit dem richtigen Trainingsprogramm und der passenden Hardware eine Menge erreichen.«
Ihr Gegenüber schwieg nachdenklich, und Katja befürchtete schon, dass sie sich mit ihrer Antwort blamiert hatte, da hob Doktor Gereon erneut sein Glas. »Frau Hollenhorst, das ist mit Abstand die interessanteste Idee, die ich in den letzten vierzehn Tagen gehört habe. Ich sage es Ihnen ganz offen, wenn Ihr künftiger Gatte Sie nicht einstellt, rufen Sie mich an. Ich kenne mehrere Unternehmen, die frische, neue, unorthodoxe Ideen suchen.«
»Ich werde es mir merken«, erwiderte Katja und warf Benne lächelnd einen Seitenblick zu.
»Setzen wir uns doch dort drüben hin, Sie müssen mir unbedingt noch ein wenig mehr erzählen.«
»Das würde ich schrecklich gerne, Herr Doktor Gereon, aber zuerst muss ich mich noch kurz um den DJ kümmern«, antwortete Katja geistesgegenwärtig. »Wir sehen uns dann später noch, ja?«
»Ich freue mich darauf, Frau Hollenhorst.«
Katja zog Benne durch den Raum mit sich. »Du warst umwerfend, Wahnsinn, irre«, sagte Benne ganz begeistert, als sie außer Hörweite waren. »Der Gereon frisst dir jetzt schon aus der Hand.«
»Benedikt Groß, darüber reden wir morgen noch mal«, zischte Katja. »Ich bin wirklich sauer auf dich. Wie kannst du es wagen, mir einen anderen Beruf anzudichten. Ich habe schon einen, falls du das vergessen haben solltest, ich bin Lehrerin.«
Hektisch warf Benedikt Blicke nach rechts und links, es sah aus, als würde er sich Sorgen machen, dass jemand sie hörte.
»Keine Bange«, sagte Katja verächtlich. »Eine laute Szene werde ich dir jetzt in der Öffentlichkeit nicht machen. Aber ich bin echt enttäuscht von dir. Ach ja, und glaub bloß nicht, dass ich dieses lächerliche Schauspiel den ganzen Abend mitmache. Ich will nicht mit deinem Doktor Gereon über Marketing reden, ich interessiere mich nicht dafür.«
»Okay, ich werde Gerald bitten, sich um ihn zu kümmern.«
Gerald war einer von Bennes Geschäftspartnern. Er war ein brillanter Kopf, aber er konnte seinem Gegenüber mit wenigen Sätzen über Programmzeilen, neue Codes und die Probleme der einzelnen Programmiersprachen jeden Lebenswillen rauben. Dafür war er bekannt.
»Oje, ein Abend mit Gerald, dafür ist Gereon zu wichtig, das bringt euch keinen Vorteil. Es muss doch noch einen anderen Weg geben.«
»Kannst du nicht doch selbst mit ihm reden? Bitte? Alles, was du brauchst, sind schließlich ein paar gute Gesprächsthemen.« Nachdenklich rieb sich Benne über die Stirn. »Ich weiß: Gereon liebt Ostfriesland und die Nordseeküste, hat er jedenfalls mal erwähnt.«
»Na bitte, warum nicht gleich so? Bei den Themen kenne ich mich aus, dann brauche ich mich nicht zu verstellen, und dein Ansprechpartner bekommt seine persönliche Betreuung. Bist du nun zufrieden? Ich schau jetzt übrigens wirklich mal nach dem DJ, nur so aus Interesse, und wenn Gereon dann noch mal meinen Weg kreuzt, kann ich ja das Gespräch auf die Schönheiten der Nordsee lenken. Das krieg ich hin, meine Schüler muss ich ja auch ständig dazu bringen, über ein bestimmtes Thema zu reden.«
Benne zog sie an sich und wollte sie küssen. Katja wich ihm aus und drehte den Kopf weg. Er hielt sie fester.
»Du Schöne«, murmelte er in ihr Haar. »Du Zornige. Du machst mich ganz wahnsinnig.« Sein Atem ging schwerer.
Gegen ihren Willen regte sich etwas in Katja, ihre Wut war für den Augenblick vergessen. Sie wandte sich ihm zu und schlang die Arme um seinen Hals. »Oh, Benne, mach so was nicht wieder.«