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Melanie ist neun, als sich ihre Eltern scheiden lassen. In der Schule wird sie deswegen gemobbt. Ihr Papa hängt lieber mit seinen Saufkumpels rum als mit ihr. Und ihre Mama muss jeden Cent umdrehen, damit es fürs Leben reicht. Als Melanie vierzehn ist, scheint endlich alles besser zu werden. Doch dann bricht ihre Welt komplett auseinander: Ihre Mama eröffnet ihr, dass sie Lungenkrebs hat und bald sterben wird. Wie kommt wieder Hoffnung in ihr Leben?
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Seitenzahl: 174
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7523-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6102-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.
Weiter wurde verwendet:
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HFA).
Kontakt zur Autorin: [email protected], www.damariskofmehl.ch
Lektorat: Christina Bachmann
Umschlaggestaltung: Erik Pabst, www.erikpabst.de
Autorenfoto: © Nakischa Scheibe
Bilder im Innenteil: © Privat
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Dieses Buch basiert auf einer wahren Geschichte.Sie wird aus Melanies sowie Damaris Kofmehls Perspektive weitergegeben und muss nicht unbedingt die Ansichten oder die Empfindungen von Dritten widerspiegeln.Einige Namen und Details wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und anderen Gründen geändert.
Über die Autorin
Ein Gedanke für den Weg
Ein neues Zuhause
Das Tagebuch
Abschiedszeilen
Lass dich nicht klauen!
Der Flammkuchen
Willi
Die Lindenbrunnenstraße
Zurück zu Papa
Mit Mama in Oberachern
Hirntumore
Zwischen Wut und Verzweiflung
Abschiednehmen
Die Vision
Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein
Ein neues Leben
Wie es weiterging
Was hat das mit dir zu tun?
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Life on Stage
Faszinierende Musicals zu wahren Lebensgeschichten kombiniert mit berührenden Inputs von Eventpfarrer Gabriel Häsler.
— www.lifeonstage.com
Damaris Kofmehl
ist Bestseller-Autorin und schreibt Bücher, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Ihre Buchrecherchen führten sie unter anderem nach Südamerika, Pakistan, Australien und in die USA. Sie lebt in der Schweiz.
— www.damariskofmehl.ch
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Der Tod hat einen bitteren Geschmack. Wir alle können Geschichten erzählen von Menschen, die uns nahestanden und die viel zu früh von uns gehen mussten. Neben all den Herausforderungen, mit denen wir in unserer Welt konfrontiert sind, ist der Tod mit Sicherheit das größte Ärgernis. Er ist so endgültig. So unumkehrbar. So brutal. Er schlägt zu, wo er will, zerstört Beziehungen und lässt Menschen ohnmächtig und allein zurück.
Und der Tod macht uns Angst. Wir Menschen haben ja mittlerweile fast alles unter Kontrolle. Wir sind medizinisch, technisch und wissenschaftlich zu Unglaublichem fähig. Aber über den Tod haben wir keine Macht. Er trifft uns alle. Die einen früher und die anderen später. Niemand kommt an ihm vorbei.
Dieses Buch handelt vom Tod. Und doch, wenn du dieses Buch mit einem weichen Herzen liest, dann wird sich deine Perspektive über den Tod verändern. Zusammen mit Melanie wirst du erleben, wie aus Ohnmacht und Angst Hoffnung und Vorfreude werden. Du wirst dir die Frage stellen: »Gott, warum lässt du das zu?« Und du wirst erstaunliche Antworten finden. Am Schluss dieses Buches – da bin ich mir sicher – wirst du zusammen mit Melanie sagen können: »Der Tod hat für mich seinen Schrecken verloren.«
Ich wünsche dir eine spannende Lektüre und offene Herzensohren auf dieser Reise durch das Leben der jungen Melanie.
Gabriel HäslerLife on Stage Redner, Januar 2021
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
»So, da wären wir. Willkommen in deinem neuen Zuhause, Melanie.«
Die Reisetasche mit beiden Händen fest umklammert, stand die Fünfzehnjährige vor dem großen, dreistöckigen Wohnhaus und blickte verloren daran hoch. Sie kam sich winzig vor. Ohnehin war sie sehr klein für ihr Alter. Sie war einen Kopf kleiner als all ihre Schulkameraden und spindeldürr. Ohne ihre langen dunkelbraunen Haare wäre sie mit ihrer Figur glatt als Junge durchgegangen. Ihre braunen Augen, die sonst lustig funkelten, waren trübe und erschöpft.
Mein neues Zuhause, dachte sie wehmütig. Ein Gefühl von Ohnmacht überkam sie, als ihr die Endgültigkeit dieser Realität bewusst wurde. Alles in ihr sträubte sich dagegen, hier zu sein. Ihre Füße wollten davonlaufen. Sie wollte weg! So weit wie möglich weg! Und vor allem wollte sie vergessen … vergessen, was geschehen war. Vergessen, warum sie hier war.
»Komm, ich nehme dir die Tasche ab«, sagte Onkel Franz.
»Danke, es geht schon«, murmelte Melanie leise. Sie klammerte sich an der Tasche fest wie an einem Rettungsanker. Diese Tasche symbolisierte für sie alles, was ihr geblieben war. Alles, was noch übrig war von ihrem einstigen Leben. Einem Leben, das es so nie mehr geben würde. Die Wirklichkeit konnte so brutal sein. Es schnürte ihr die Kehle zu, wenn sie an die letzten Wochen dachte. Sie wollte nicht daran denken und doch tat sie es.
Tante Anni legte ihr gutmütig die Hand auf die Schulter. »Gehen wir rein, Melanie. Ich zeige dir dein Zimmer.«
Onkel Franz schloss die Tür auf. Sie traten ein. Obwohl Melanie schon hundertmal hier zu Besuch gewesen war, fühlte es sich diesmal anders an. Fremd. Kalt. Als wäre das Haus selbst ihr feindlich gesinnt. Sie gehörte nicht hierher! Vielleicht hätte sie doch zu Papa ziehen sollen oder zu Tante Iris. Aber sie hatte sich für Tante Anni und Onkel Franz entschieden, weil Mama gemeint hatte, die beiden hätten am meisten Platz und wären auch finanziell in der Lage, sich um sie zu kümmern, wenn das Schlimmste einträfe. Und das Schlimmste war eingetroffen … Wenn sie nur vergessen könnte!
Das Haus war ein Mehrfamilienhaus in Wöschbach, einem verschlafenen Nest in der Nähe von Karlsruhe. Ein Stück Land so groß wie ein Fußballfeld gehörte dazu. In dem Haus wohnten vier Generationen unter einem Dach. Im Dachgeschoss wohnten Melanies Cousine Manuela und ihr Mann Daniel mit ihren Kindern, dem achtjährigen Jannis und dem fünfjährigen Rouven. Melanie hatte keinen großen Bezug zu Manuela, da ihre Cousine ganze sechzehn Jahre älter war als sie. Im mittleren Stockwerk wohnten Tante Anni und Onkel Franz. Tante Anni war die Schwester von Melanies Papa. Im Erdgeschoss wohnte Opa Wilhelm, ihr Großvater väterlicherseits, also der Papa ihres Papas. Die Oma war schon lange verstorben und Opa Wilhelm hatte Parkinson, weswegen er von seiner Tochter, Tante Anni, gepflegt wurde.
»Du bist neben Opa Wilhelm einquartiert«, sagte Tante Anni. »Wir haben das Zimmer extra für dich renoviert. Ich glaube, es wird dir gefallen.«
Sie betraten die Wohnung im Erdgeschoss. Durch den offenen Türspalt eines Zimmers sah Melanie ihren Großvater in seinem Ohrensessel sitzen. Er saß mit dem Rücken zu ihnen zusammengesackt in dem Sessel, eine Decke über den Beinen. Die Spitzen seiner Pantoffeln lugten darunter hervor. Es sah aus, als würde er ein Nickerchen machen. Sie gingen an seinem Zimmer vorbei und blieben vor dem nächsten stehen. Ein Geruch nach frischer Farbe und neuen Möbeln lag in der Luft.
»Das ist dein Zimmer«, sagte Tante Anni. »Deine Sachen aus der alten Wohnung haben wir da drüben hingestellt.« Sie deutete auf mehrere Umzugskisten, die neben dem Bett standen.
Melanie blieb zögerlich im Flur stehen und ließ ihren Blick über ihr neues Zimmer schweifen. Es war riesig, hell und hatte ein großes Fenster mit Blick in den Garten. Noch nie hatte Melanie ein so großes, schönes Zimmer gehabt, geschweige denn brandneu eingerichtet. So was hätte sich Mama nie leisten können. Alles war liebevoll zurechtgemacht. Auf dem Nachttischchen neben dem frisch bezogenen Bett lagen eine Willkommenskarte und ein kleines Schokoladenherzchen. Tante Anni und Onkel Franz hatten sich wirklich Mühe gegeben. Dennoch konnte sich Melanie nicht darüber freuen. Ihr Herz war viel zu schwer.
»Das Bad ist den Flur entlang«, erklärte Tante Anni. »Handtücher findest du im Schrank. Toilettenpapier, Duschgel, Zahnbürste und Zahnpasta ebenfalls. Ich schlage vor, du packst erst einmal deine Sachen aus und kommst dann rauf. Abendessen ist in einer halben Stunde. Es gibt Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat. Die magst du doch so sehr.«
Melanie nickte wie in Trance. Eine etwas unangenehme Stille trat ein, die Tante Anni mit einem »Na dann …« und einem mitfühlenden Schulterklopfen überbrückte. Sie und Onkel Franz verließen die Wohnung und Melanie hörte die knarrenden Dielen des Treppenhauses hinter sich. Die Leere in ihr war auf einmal unendlich groß. Unentschlossen, die Tasche an sich geklammert, blieb sie eine Weile auf der Türschwelle stehen und versuchte, sich darüber klar zu werden, dass dies alles kein Traum war, aus dem sie wieder aufwachen würde. Dies war jetzt ihr Leben. Hier in diesem großen Haus würde sie von nun an leben, zusammen mit Tante Anni und Onkel Franz. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen.
Ihr Blick fiel auf die Umzugskisten, die neben dem Bett standen. Es waren die Kisten mit all ihren Habseligkeiten, die Tante Iris beim Räumen der Wohnung in Oberachern für sie eingepackt hatte. Melanie wäre gerne bei der Räumung dabei gewesen, um selbst zu bestimmen, was sie zu Tante Anni mitnehmen wollte und was nicht. Aber Tante Iris und Tante Anni hatten gemeinsam entschieden, dass es besser für sie sei, direkt zu Tante Anni zu ziehen, ohne vorher noch einmal in die alte Wohnung zu gehen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, sie würde das seelisch nicht verkraften, und wahrscheinlich hatten sie sogar recht damit. Sie wäre trotzdem gerne dabei gewesen. Klar wäre es hart gewesen. Klar hätte sie vermutlich nur geheult und wäre in unendlicher Trübsal versunken, denn jedes Zimmer, jeder Gegenstand, jedes Möbelstück steckte voller Erinnerungen, guten wie schlechten. Jedes Loch in der Wand, jede Glühbirne, jede Kerbe im selbst verlegten Boden hatte eine Geschichte zu erzählen und jeder Geruch hätte sie unweigerlich an Mama erinnert.
Mama …
Oh, wie sehr sie sie vermisste! Sie vermisste sie mehr, als sie es je mit Worten hätte ausdrücken können. Sie vermisste ihre Stimme, ihren Humor, ihr Weinen, ihr Lachen, ihre Ausraster, ihre Diskussionen, ihre Umarmungen, ihr Temperament, ihr Schimpfen. Ja, selbst ihr Schimpfen vermisste sie. Oh, wie sehr wünschte sie sich, ihre Mama wäre noch hier. Aber das war sie nicht. Und würde es nie wieder sein. Nie wieder …
Melanie betrat ihr Zimmer, stellte die Tasche ab und kniete sich neben den Kisten auf den Boden. Dann machte sie sich ans Auspacken. Von ihren Kleidern und persönlichen Sachen schien alles da zu sein. Aber von ihrer Mama war so gut wie gar nichts in den Kisten, was Melanie ziemlich ärgerte. Hätte sich Tante Iris nicht denken können, dass sie ein paar Erinnerungsstücke an ihre Mama behalten wollte? Wenigstens ein paar Kleidungsstücke oder Parfüms, CDs oder die Tabakbox, in der sie immer Münzen für ein gemeinsames Abendessen im Restaurant gesammelt hatte. Aber nichts davon war in den Kisten. Offenbar hatte Tante Iris einfach alles weggeworfen, um die Wohnung möglichst rasch aufzulösen. Sie hätte wenigstens nachfragen können, bevor alles im Müll landete! Was blieb ihr denn jetzt noch von Mama außer den Bildern in ihrem Kopf, die irgendwann auch verblassen würden?
Als sie in den Kisten wühlte, stieß sie im letzten Karton ganz zuunterst aber doch auf etwas von ihrer Mama. Es war nicht das, was sie erwartet hatte: Es waren Tagebücher! Ein ganzer Stapel davon! Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Mutter Tagebuch geschrieben hatte. Neugierig und mit pochendem Herzen hob sie die Tagebücher aus der Kiste. Auf einmal mischte sich ein Gefühl von Erregung in ihre Trauer. Was hatte ihre Mutter wohl aufgeschrieben? Und wie weit reichten die Tagebücher zurück? Jedes hatte eine andere Farbe, manche waren bloß Hefte, andere waren so dick wie richtige Bücher. Das älteste ging zurück bis ins Jahr 1981, also sechs Jahre vor Melanies Geburt! Da war ihre Mama genauso alt gewesen wie sie jetzt, nämlich fünfzehn.
»Krass«, flüsterte Melanie, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte sich das Tagebuch auf den Schoß. Ehrfürchtig schlug sie es auf und strich liebevoll über die erste Seite.
Das hat Mama geschrieben! Das sind ihre Gedanken! Wow!
Staunend betrachtete sie die schöne Schrift ihrer Mama. Es war kein Vergleich zu dem unleserlichen Gekritzel in den letzten Wochen vor ihrem Tod, wo sie kaum noch einen Stift hatte halten können. Was für einen Schatz hatte ihre Mutter ihr da zurückgelassen! Melanie hob das Buch zu ihrer Nase hoch und roch daran. Es roch wie altes Pergament. Dann legte sie es sich zurück auf ihre Knie und begann darin zu lesen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
28. Mai 1981
Jetzt bist du also fünfzehn Jahre alt, Ingrid. Na toll. Ein Hoch auf dich und dein verkacktes Leben! Als würde es irgendjemanden interessieren. Es sollte verboten sein, Kinder in die Welt zu setzen, nur um eine Ehe zu kitten, die eh nicht mehr zu retten ist. Besten Dank auch. Ich weiß echt nicht, wie lange ich es hier noch aushalte. Ich will weg! So weit wie möglich weg! Irgendwann haue ich ab, so wie Iris vor vier Jahren. Ja, mit sechzehn bin ich weg von zu Hause, das schwöre ich. Dann baue ich mir mein eigenes Leben auf, heirate, kriege ein, zwei Kinder und werde endlich ein glückliches Leben führen mit einem Mann an meiner Seite, der mich liebt. Ein bisschen Liebe ist doch nicht zu viel verlangt, oder?
Melanie blickte auf. Es war seltsam, zu lesen, was ihre Mama gedacht und gefühlt hatte, als sie genauso alt gewesen war wie sie. Und es war tragisch zu wissen, dass sich ihr sehnsüchtiger Wunsch nach einem glücklichen Leben mit einem liebevollen Mann an ihrer Seite nie erfüllt hatte. Vielleicht war es ganz gut, dass ihre Mama das damals nicht gewusst hatte.
Sonst wäre ich wohl nie geboren worden, dachte Melanie, beugte sich wieder über das Tagebuch und las weiter.
Ach, liebes Tagebuch, wie schön muss es sein, als Kind von seiner Mutter geliebt zu werden. Ich wurde es jedenfalls nie. Weißt du, ich bin eher so was wie eine Dienstmagd für sie. Das ist auch der Grund, warum meine Schwester sich aus dem Staub gemacht hat. Ich beneide sie darum. Ehrlich. Ich beneide auch meine Klassenkameraden um ihre sorglose Kindheit, um ihre Eltern, die sie lieben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, nach Hause zu kommen, die Hausaufgaben zu machen und anschließend mit Freunden etwas zu unternehmen.
Wenn Manfred und ich von der Schule kommen, läuft das ganz anders ab. (Manfred ist mein Stiefbruder, musst du wissen, liebes Tagebuch, also der Sohn, den Erich, mein Stiefvater, mit in die Ehe gebracht hat. Er ist zwei Jahre älter als ich und meine Mutter kann ihn nicht ausstehen, vielleicht sogar noch weniger als mich. Warum, weiß ich nicht genau, wahrscheinlich weil er nicht ihr leiblicher Sohn ist.) Jedenfalls, wenn Manfred und ich von der Schule kommen, haben wir nie Zeit für unsere Hausaufgaben. Die machen wir dann am nächsten Morgen im Schulbus. Denn zu Hause wartet immer ein Berg von Arbeit auf uns. Mutter führt einen Getränkevertrieb und ein Bierlokal. Da sind wir voll eingespannt und rackern uns ab bis zum Umfallen, schleppen Kisten, scheuern den Boden und schmeißen nebenher noch den ganzen Haushalt. Wobei das mit dem Haushalt eher an mir hängen bleibt, jetzt, wo Iris weg ist. Da ist nichts mit Freunde treffen oder sonst etwas tun, was Spaß machen würde. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht daran erinnern, als Kind überhaupt je gespielt zu haben. Ich habe immer nur gearbeitet.
Bis ich elf war, hatte Mutter noch einen Reinigungsdienst, wo sie für andere Wäsche geflickt, gewaschen und gebügelt hat. Natürlich hat sie die meiste Arbeit uns Kindern überlassen. Damals war Iris noch zu Hause. Sie und ich haben stundenlang an der Heißmangel gestanden. (Das ist eine Maschine mit einer zwei Meter breiten Walze, wo man die Bettwäsche durchlässt, damit sie gebügelt ist.) Die Heißmangel befand sich im Wäschezimmer, einem Raum, der vom übrigen Haus abgetrennt war, und da mangelten wir dann Stunde um Stunde die Wäsche für Mutters Kunden. Bis ich die Schnauze voll hatte und die Wäscherei in Brand steckte!
O ja, das habe ich getan! Und ich bereue es keinen Moment. Ich habe einfach Benzin über all die Wäscheberge gegossen und sie angezündet. Innerhalb von Minuten hat der Raum lichterloh gebrannt. Die Feuerwehr musste kommen, um den Brand zu löschen. Mann, hat das gutgetan, Mutter eins auszuwischen! Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut sich das angefühlt hat, diesen verhassten Ort in Flammen aufgehen zu sehen. Natürlich fiel der Verdacht auf mich, aber Manfred nahm die Schuld auf sich und sagte, er wär’s gewesen. Er hat dafür die Prügel seines Lebens bezogen, und das von seinem eigenen Vater.
Uns zu schlagen ist sowieso seine Spezialität. Mit dem Gürtel, Kleiderbügeln, Kochlöffeln, allem, was ihm gerade in die Finger kommt. Die Hiebe von gestern brennen immer noch auf meiner Haut. Dabei habe ich nichts getan, um sie zu verdienen, ich schwöre es! Ich habe die Küche auf Hochglanz poliert, den Boden gefegt und die Betten frisch bezogen, wie Mutter es verlangt hat, und Manfred hat den Schuppen ausgeräumt, weil Mutter neue Regale einbauen will. Aber natürlich fand sie trotzdem einen Grund, uns mit Prügeln zu drohen. Sie findet immer einen Grund. Wir schuften uns für sie zu Tode, und sie kommt nach Hause, setzt sich wie eine Königin auf die Couch und kommandiert uns herum, als wären wir ihre Bediensteten. Nicht mal eine Nagelfeile würde sie selbst aus dem Bad holen, auch wenn das Bad gleich nebenan ist. Sie flucht die ganze Zeit nur rum und versprüht ihr Gift. Und wehe, wir wagen es, ihr zu widersprechen, oder haben eine unserer Aufgaben nicht zu ihrer Zufriedenheit erledigt. Dann rastet sie komplett aus und schreit uns an.
»Wartet, bis Vater nach Hause kommt! Dann könnt ihr was erleben!«
Wie ich den Spruch hasse. Wenn Erich dann nach Hause kommt, müssen Manfred und ich unsere Shirts ausziehen und uns nebeneinander vor ihn hinstellen. Mein Stiefvater zieht seinen Gürtel aus der Hose und verprügelt uns der Reihe nach, erst Manfred und dann mich, während wir einander dabei zusehen müssen, wie die Hiebe auf uns niederpeitschen. Damals, als Iris noch da war, kam sie immer als Erste dran, weil sie die Älteste von uns ist. Ich versuche jeweils, tapfer zu sein. Aber man kann nicht tapfer sein, wenn man von einem Gürtel am Rücken getroffen wird, wieder und immer wieder. Den Klang, wie das Leder auf unsere nackte Haut niederpeitscht, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Genauso wenig wie das Bild meiner Mutter, wie sie mit verschränkten Armen vor uns steht und Erich anfeuert.
»Sei nicht so zimperlich! Härter! Schlag härter zu! Die Bälger haben es verdient!«
Wenn er doch nur Mutter einmal verprügeln würde! Aber dazu ist es nie gekommen und wird es wohl auch nie. Sie reizt ihn bis aufs Blut und er lässt es geschehen. Es ist mir ein Rätsel, warum er sie nicht längst verlassen hat. Er ist ihr hörig wie ein Hund und tut alles, was sie von ihm verlangt. Vielleicht ist es auch um Rolands willen, dass er bleibt, wer weiß. Roland ist der Nachzügler, das einzige gemeinsame Kind von Mutter und Erich. Er bezieht natürlich nie Prügel. Ist ja klar. Verwöhnter kleiner Bengel! Mutter verhätschelt ihn, liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und kauft ihm alles, was er haben will. Für uns hat sie so was nie getan. Nicht mal zu Weihnachten. Da gibt’s jedes Jahr das gleiche Geschenk für alle: Einen hässlichen Rollkragenpullover und dann noch für alle in der gleichen Farbe.
Wenn mein Stiefvater sich doch endlich einmal gegen diese Frau durchsetzen würde! Aber das tut er nie. Seitdem seine Karriere bei der Berufsfeuerwehr wegen eines kaputten Auges futsch ist, ist es noch viel schlimmer geworden. Jetzt ist er auch noch depressiv und ertränkt seinen Frust im Alkohol. Wenn er dann erst einmal in Fahrt kommt und Mutter ihn anspornt, uns härter ranzunehmen, ist er kaum noch zu bremsen. Dann blitzen Mutters Auge ganz irre vor Schadenfreude und Genugtuung.
»Ja, schlag sie, Erich!«, schreit sie. »Gib es ihnen ordentlich!«
Und sein Gurt peitscht auf uns nieder und sein Keuchen vermischt sich mit unserem Jaulen und unseren Tränen und Mutters Blutrausch. Wie lange noch sollen wir das ertragen?! Wenn Gedanken schreien könnten, so würden sie es jetzt tun, das sag ich dir. Sie würden so laut schreien, dass das ganze Haus davon vibrieren würde.
Ich habe das alles so was von satt! Die Schläge, das Schuften, die Lieblosigkeit, das ewige Anschreien! Ich glaube, ich reiße aus! Ich packe meine Sachen und gehe weg, irgendwohin, wo es besser ist als hier. Warum kann ich nicht ein Leben haben wie jedes andere fünfzehnjährige Mädchen? Warum ist das Leben so ungerecht? Oh, Mutter, wie ich dich hasse für das, was du mir jeden Tag antust! Ich hasse dich so sehr! Ich will, dass du leidest, so wie wir leiden, und dass du einen qualvollen Tod stirbst! Ja, das wünsche ich mir! In der Hölle sollst du schmoren!