Menschenhandel - Kerstin Rachfahl - E-Book

Menschenhandel E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

»Wusstet ihr, dass jede Prostituierte bei der Ausübung ihres Berufes schon mal mit Gewalt konfrontiert wurde?...« Natasha wird aufgrund ihrer Sprachkenntnisse zu der Vernehmung einer schlimm misshandelten sechzehnjährigen Prostituierten hinzugezogen, aber bevor sie das Vertrauen des Mädchens gewinnen kann, muss sie hilflos miterleben, wie es vor ihren Augen stirbt. Der Anblick rührt bei Natasha längst vergessen geglaubte Erlebnisse aus ihrer Jugend auf. Für sie ist klar, dass sie dieses Verbrechen nicht auf sich beruhen lassen kann, egal, welchen Preis sie dafür am Ende bezahlen muss. Nach vier Jahren des Widerstandes muss sich Peter Abel eingestehen, dass er weitaus mehr für Natasha empfindet, als Freundschaft. Als ihm sein Chef die Aufgabe erteilt, eine persönliche Vendetta seiner Partnerin zu verhindern, steht er vor einer echten Herausforderung.

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Menschenhandel

Sondereinheit Themis

Kerstin Rachfahl

Impressum

Deutsche Erstausgabe Oktober 2018

Copyright © 2018 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs

Umschlaggestaltung: neptunian art

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Das Team und Familie Abel

1. Sonntag

2. Estera

3. Vergessen

4. Eingesammelt

5. Kater

6. Unter Beobachtung

7. Vergangenheit

8. Beschattung

9. Grenzen

10. Bericht

11. Streit

12. Vertrauen

13. Entscheidung

14. Einsatzbesprechung

15. Recherche

16. Puzzleteile

17. Chloe

18. Vernetzt

19. Nachtklub

20. Verwirrt

21. Klarheit

22. Lieferung

23. Zugriff

24. Vernehmung

25. Allein

26. Vermisst

27. Azazel

28. Team

29. Nachwehen

30. Geburtstagsparty

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

All den Frauen, die nicht für sich selbst sprechen können.

Das Team und Familie Abel

Generalmajor Karl Hartmann

Ist der Gründer und Chef der Einheit. Er war lange Zeit Polizist und ist dann zum Militär gewechselt.

Oberst Ben Wahlstrom

Ist der Personalverantwortliche der Einheit. Er war schon immer Soldat und ist mit der Fotografin Johanna Rosenbaum, die immer nur Hanna genannt wird, liiert. Er leitet die Einsätze.

Major Tobias Wagner (TJ)

Ist der Länder Analyst der Einheit. Er ist auch Springer, wenn mal einer ausfällt. Auch er leitet Einsätze. Er ist mit Tamara, kurz Tami verheiratet. Sie ist ein IT-Security Consultant und arbeitet ab und an für die Einheit. Aus erster Ehe bringt TJ drei Kinder mit in die Ehe und mit Tami hat er eine Tochter.

Kriminalkommissar Paul Gerlach

Ist der IT Wizard in der Einheit. Eigentlich gehört er zum BKA, doch oft arbeite er exklusiv für Hartmann.

Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann

Ist die Verhörspezialistin und Hauptfigur in der Reihe. Früher Wettkampfschwimmerin und Polizistin aus Leidenschaft.

Kriminalhauptkommissar Peter Abel (Pit)

Ist der Leiter des Teams. Er erstellt die Trainingspläne für alle und kennt keine Gnade, wenn es um die Leistungsfähigkeit aller geht. Sein Spitzname kommt von Pitbullterrier, weil er sich gerne in etwas festbeißt.

Odin von Lichtenfels (Smart)

Ist der Diensthund in der Einheit und wird von Pit geführt. Er ist unglaublich klug, weshalb er auch seinen Spitznamen hat. Zusammen mit Pit und Natasha bildet er ein Dreierteam.

Kriminalhauptkommissar Kevin Steuber

Ist der Fahrer des Teams. Er kann alles fahren, egal ob auf Vierrädern, Zweiräder, dem Wasser oder in der Luft. Außerdem kann er auch alles kurzschließen.

Stabsfeldwebel Chris Neumann

Ist der Kommunikationstechniker der Einheit. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu halten und den Input bei einem Einsatz zu liefern. Er bildet mit Kevin ein Zweierteam.

Kriminalhauptkommissar Mark Becker

Ist der Entschärfer und Spotter (Beobachter für einen Scharfschützen) im Team. Egal um was für Sprengsätze es geht, er weiß, wie er sie deaktiviert. Nur nicht, wenn es um seine Partnerin geht.

Oberleutnant Carolina Herrmann (Caro)

Ist die Scharfschützin im Team. In den ersten drei Monaten bei der Einheit war sie die Partnerin von Pit, dann hat sie zu Mark gewechselt.

Kriminalhauptkommissar Römer

Ist der Forensiker im Team. Er kennt sich mit allen Themen der Forensik aus, ist aber kein Spezialist für ein Teilgebiet. Er beurteilt einen Tatort und zieht daraus Schlüsse oder weiß, was untersucht werden muss.

Kriminalhauptkommissarin Gabriella Santinos

Ist die Fassadenkletterin im Team. Einem Affen gleich, kommt sie überall hoch. Sie bildet ein Team mit Bodo, der einzige, der mit ihrem Temperament und Agilität umgehen kann.

Leutnant Zoe Dübbers

Ist die Nahkampfspezialistin im Team. Eine echte Ninja-Kämpferin, die mit Carolina liiert ist. Sie legt jeden Mann flach, sehr zum Ärger der Männer.

Oberleutnant Ulf Clemens

Ist der Sanitäter im Team. Die tödlichste Waffe und der Lebensretter bilden ein Zweierteam und sind das einzige rein militärische Duo in dem Team.

Familie Abel

Dr. Kain Abel, Mediziner, arbeitete in der Forschung und lehrte, Sportfanatiker, Peters Vater, kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.

Dr. Lydia Abel, Allgemeinärztin, inoffizielles Oberhaupt der Familie, mit dem sich keiner anlegt. Kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.

Yvonne Kramer, Peters älteste Schwester, verheiratet mit Robert, zwei Kinder: Charlotte und Tim.

Die Zwillinge: Dr. Carina Abel, Ärztin der Inneren Medizin, war Stammzellspenderin für ihre Zwillingsschwester, als diese Leukämie hatte, Dr. Cecilia Abel, Psychotherapeutin, auf Gewaltopfer spezialisiert. Zwei Jahre älter als Peter.

Angela Abel, fünf Jahre jünger als Peter und damit das Küken, leitet die Stiftung der Familie.

1

Sonntag

Natasha öffnete leise die Tür. Smart schlüpfte als Erster durch den Spalt in die Wohnung, lief zum Wassernapf und schlabberte gierig das Wasser auf.

Auf Socken schlich sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte das Fressen für den Hund heraus. Smart machte brav sitz. Erst als er die Freigabe zum Fressen von ihr erhielt, machte er sich über seine Portion her. Natasha füllte sich ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug leer, füllte es noch einmal und ließ sich auf dem Boden nieder. Kaum hatte Smart zu Ende gefressen, kam er zu ihr und kletterte halb auf ihren Schoß, der für den großen Schäferhund viel zu klein war. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, dort, wo er es besonders gern mochte.

»Guten Morgen.«

Hastig wischte Natasha sich die Tränen von der Wange, schob Smart von ihrem Schoß und erhob sich. Pit hatte sich eine alte Jogginghose und ein löchriges T-Shirt übergeworfen.

Sie grinste schief. »Ganz schön warm draußen, da kommt man ins Schwitzen«, versuchte sie, die Nässe auf ihren Wangen zu erklären.

»Es ist halb sechs. Seit wann bist du auf?«

Sie zuckte mit den Schultern, stellte ihr Glas auf die Küchenablage.

»Wie viele Kilometer bist du gelaufen?«

»Keine Ahnung.«

Bevor sie sich wehren konnte, zog er sie in seine Arme. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, um ihn abzuwehren, doch so leicht ließ sich Pit nicht wegschieben. Schließlich gab sie nach. Nur kurz legte sie die Stirn auf seiner Schulter ab.

»Nimm das Angebot von Malte an. Er kann wirklich deine Hilfe gebrauchen.«

Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen begannen von Neuem zu fließen. Pit rieb ihr mit kräftigem Druck über den Rücken. Es war mehr eine Massage als ein Streicheln, verfehlte aber die Wirkung nicht. Die innere Kälte wich aus ihrem Körper.

»Es bedeutet nicht, dass du ihm untreu bist oder ihn weniger liebst. Akiro wird immer eine ganz besondere Stellung in deinem Leben, in deinem Herzen einnehmen.«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

»So wie du ihm.«

»Er fehlt mir.«

»Mir fehlt er auch. Geh und hilf Malte bei diesem Wotan. Er ist total verzweifelt, und ich bin mir sicher, unter deinem guten Einfluss wird die Bestie zum Lamm werden.« Diesmal schob sie sich mit den Händen von ihm weg, und er ließ sie los, hielt aber ihr Kinn fest. »Du machst es, versprochen?«

Sie verdrehte die Augen. »Ja.«

»Schenk mir noch ein Lächeln.«

Weil sie wusste, dass er sie weiter nerven würde, bis er sein Ziel erreicht hatte, verzog sie den Mund zu einem Grinsen.

»Siehst du, geht doch«, sagte er und gab sie frei.

Er sah ihr nach, als sie im Badezimmer verschwand. Conny stand im Slip und einem seiner T-Shirts im Türrahmen seines Zimmers. Das schlechte Gewissen packte ihn, und gleichzeitig wurde er wütend. Er brauchte sich nicht schuldig zu fühlen.

»Kommst du noch mal ins Bett?«

»Ich kann nicht mehr schlafen. Ich glaub, ich lege eine Runde Krafttraining ein.«

»Ich hatte eigentlich auch nicht an schlafen gedacht.«

»Oh, ich …« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überlegte, was er darauf antworten sollte.

»Vergiss es.«

Beim Knall der Tür zuckte er zusammen. Shit. Das hatte er gründlich vermasselt.

Natasha schreckte unter der Dusche hoch und stieß sich den Kopf am Brausekopf, den sie heruntergezogen hatte, um möglichst wenig nass zu spritzen. Es war nicht das erste Mal, das Conny die Tür knallte. In letzter Zeit kam das häufiger vor. Oder sie bekam es nur mit, weil Pit in letzter Zeit seine aktuelle Freundin mit in die Wohnung brachte, statt bei ihr zu schlafen, wie er es sonst bevorzugte. Das lag an ihr. Seit Akiro vor drei Monaten eingeschläfert werden musste, ließ Pit sie in der Wohnung nicht mehr allein. Aber es war nicht so, dass er die Regel gebrochen hätte und etwa in ihr Zimmer gekommen wäre. Das war die einzige Regel gewesen, die sie aufgestellt hatte, als sie sein Angebot annahm, in das leere Gästezimmer zu ziehen. Eigentlich hatte sie sich schon längst wieder eine eigene Wohnung suchen wollen, doch irgendwie fand sie nie die Zeit dazu. Nach dreieinhalb Jahren in einer Wohngemeinschaft mit ihm waren sie ein eingespieltes Team. Das zu verstehen, fiel Pits Freundinnen allerdings schwer.

Sie flitschte die Wassertropfen von der Dusche und packte die Sachen, die von Conny im Bad herumflogen, mit in den Wäschekorb. Da er voll wurde, nahm sie ihn gleich mit in die Waschküche drei Räume weiter, packte die Waschmaschine voll und schaltete sie ein. Zurück in der Küche fing sie an, das Frühstück vorzubereiten. Vielleicht würde das ja die Wogen wieder glätten. Oder besser noch, sie deckte für Pit und Conny den Tisch, um sich tatsächlich zu Malte zu verkrümeln und die beiden allein zu lassen.

Natasha blieb im Auto sitzen. Es war das erste Mal nach Akiros Tod, dass sie auf dem Parkplatz stand. Sie wusste noch genau, wie sie das erste Mal an diesem Zaun gehalten hatte, damals ohne jedes Wissen über Hunde. Der Gedanke, dass sie eines Tages einen Hund ihr Eigen nennen würde, war unvorstellbar gewesen. Jetzt, nach drei Monaten, war sie noch immer überwältigt, welche Lücke Akiros Tod in ihrem Leben hinterlassen hatte. Es war noch schlimmer als der Tod ihrer Großeltern, ja selbst als der von Marietta, ihrer Jugendfreundin, mit der sie durch dick und dünn gegangen war und die sich mit sechzehn das Leben genommen hatte. Der Hund hatte sie ohne Worte verstanden, hatte sie getröstet, wenn sie traurig war, und sie mit Liebe überschüttet. Nie war er von ihrer Seite gewichen. Trotz seiner zwölf Jahre hatten sich viele der jüngeren Diensthunde an ihm ein Beispiel nehmen können. Dann hatte sie eines Abends nach einem Zwanzig-Kilometer-Lauf einen Knubbel an seinem Hals ertastet, nicht größer als eine Murmel. Sicherheitshalber war sie mit ihm zum Tierarzt gefahren. Es war Krebs gewesen. Keine sechs Wochen später hatte sie ihn einschläfern lassen müssen.

Malte kam durch die Gittertür an ihr Auto und öffnete den Wagenschlag. »Pit hat mir geschrieben, dass du heute kommst. Komm, ich zeig dir den Kerl, um den es geht.«

Seufzend stieg sie aus dem VW Golf Kombi. Es war eigentlich Pits Dienstfahrzeug, doch sie teilten es sich. Statt vorauszugehen, stiefelte Malte hinter ihr her.

Sie warf ihm über die Schulter einen vernichtenden Blick zu. »Keine Sorge, ich flüchte nicht.«

»Hey, ich halte dir nur den Rücken frei. Das war immer mein Job in der Einheit.«

»Erzähl mir was von Wotan.«

»Anfangs machte der Hund angeblich keine Probleme. Du weißt ja, wie das ist. In letzter Zeit baut er sich aber immer häufiger auf. Er gehorcht nicht auf Anhieb, wenn er loslassen soll. Im Einsatz zeigt er ein niedriges Stresslevel, was inzwischen an Aggressivität grenzt. Beim letzten Einsatz hätte er fast einem der Angreifer den Arm zerfetzt.«

»Und wie, bitteschön, soll ich dir dabei helfen? Du bist der Hundeflüsterer, nicht ich.«

Inzwischen waren sie bei dem betreffenden Zwinger angekommen. Der Hund lag mit gespitzten Ohren auf dem Boden und starrte sie an.

»Es hat mich verdammt viel Überzeugungsarbeit gekostet, aber ich konnte mich durchsetzen – er wurde letzte Woche kastriert. Ich möchte jetzt sehen, wie er reagiert, wenn du statt dem Hundeführer mit ihm arbeitest.«

»Als was wurde er ausgebildet?«

»Als Schutzhund.«

»Na wunderbar«, brummte Natasha. »Kann ich reingehen, ohne dass er mich anfällt?«

Malte grinste und verschränkte die Arme vor der Brust. Wotans Gesicht hatte eine schwarze Maske, die kurz oberhalb der Augen in sandfarbenem Fell auslief, das zum Schwanz hin immer heller wurde. Die Zeichnung erinnerte Natasha an einen Sandstrand bei Ebbe. Sie nahm die Leine vom Haken und betrat den Auslauf. Der Hund rührte sich nicht, beobachtete sie lediglich aufmerksam.

Sie klopfte an ihren Oberschenkel. »Wotan, komm her.« Sofort erhob sich der Hund und kam an ihre linke Seite. »Sitz.« Brav ließ er sich neben ihr nieder. Sie befestigte die Leine an seinem Halsband.

Malte hielt ihr die Tür auf. »Du kannst den hinteren Trainingsplatz benutzen und dich mit ihm einspielen. In einer halben Stunde komme ich, und wir beginnen mit den Übungen.«

Müde und ausgepowert betrat Natasha die Wohnung. Pit saß im Wohnzimmer und schaute die Nachrichten im Fernsehen. Smart kam angelaufen und begrüßte sie. Sie legte die Zeitung mit den Wohnungsanzeigen auf dem Esstisch ab, damit sie ihn ausgiebig kraulen konnte.

»Wenn du noch Hunger hast – im Kühlschrank steht ein Gemüserisotto.«

Sie stellte das Gericht in die Mikrowelle, ging in ihr Zimmer und zog sich eine bequeme Jogginghose an. Mit dem Teller in der Hand ließ sie sich auf einem der Sitzsäcke nieder. Smart schaute von ihr zu Pit, wieder zurück, und streckte sich dann zwischen ihnen aus.

»Du kannst ruhig auf die Couch kommen.«

»Ich kann auch von hier gut sehen.«

Im Fernsehen trat Sarah Heidkamp, die Bundespräsidentin, gerade ans Mikrofon. Neben ihr stand ihr Sohn Fabian, im Hintergrund entdeckte Natasha Kriminalhauptkommissar Lindner, den Sicherheitschef der Bundespräsidentin. Eigentlich war es nicht sein Job, bei öffentlichen Auftritten zu erscheinen, doch nach der Entführung und Hinrichtung von Heidkamps Tochter Wiebke hielt er sich, so hatte sie häufiger bemerkt, meist in ihrer Nähe auf. Es war eine der schlimmsten Niederlagen für ihre Sondereinheit gewesen, dass sie die junge Frau nicht hatten retten können. Das Bild der enthaupteten Leiche verfolgte Natasha manchmal in ihre Träume. Sie bewunderte die Bundespräsidentin, die sich trotz allem nicht hatte in die Knie zwingen lassen und die weiterhin die Politik der zivilen Konfliktbewältigung vorantrieb. Natasha war ein ausgesprochener Fan der Frau.

»Wieso hast du eine Zeitung mitgebracht? Sonst liest du doch keine.«

»Ich wollte die Wohnungsanzeigen durchgehen.«

»Wieso? Was passt dir nicht?«

»Nichts. Psst, ich will das hören.«

Pit schaltete den Fernseher aus.

»Hey, ich wollte das sehen!«

»Du kannst es dir später auf dem Computer anschauen. Wieso willst du dir eine Wohnung suchen?«

Sie konzentrierte sich auf das Essen. Verdammt, warum war ihr das auch rausgerutscht. Sie hätte einfach Nägel mit Köpfen machen sollen. Ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Ihr selbst gefiel der Gedanke, einsam in einer Wohnung zu hocken, auch nicht besonders. Allein das war bereits absurd. Sie war Einzelkind und mit neunzehn bei ihren Eltern ausgezogen. Sie brauchte einen Rückzugsort und das Alleinsein wie die Luft zum Atmen. Wann hatte sich das geändert?

»Ist es wegen Conny?«

»Nein.«

»Ich hab mit ihr Schluss gemacht.«

»Wieso?«

»Es wurde kompliziert.«

»Kompliziert? Du bist mit ihr gerade mal sechs Wochen zusammen. Kannst du überhaupt noch die Namen von deinen Freundinnen auseinanderhalten?«

»So schlimm bin ich nun auch wieder nicht. Immerhin war ich mit Marla über ein Jahr zusammen, und sie hat mit mir Schluss gemacht, nicht ich mit ihr. Überhaupt, warum reden wir über meine Beziehungen, wenn du ausziehen willst?«

Sie stand auf, stellte den Teller in die Spülmaschine.

Pit folgte ihr in die Küche. »Also?«

»Weil keiner von uns mehr ein Privatleben hat, deshalb.«

»Bin ich in den Jahren die du hier wohnst, auch nur ein Mal in deinem Zimmer gewesen?«

»Nein.«

»Kannst du nicht tun und lassen, was du willst?«

»Doch.«

»Hast du mal an Smart gedacht?«

Natasha sah hinunter auf den Hund, der zwischen ihnen stand. Er mochte es nicht, wenn sie diskutierten. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, in eine leere Wohnung zu kommen, in der es nicht nach Hund roch.

Erleichtert atmete Pit durch. Kurzfristig war er echt in Panik geraten. Die Vorstellung, Natasha könnte ausziehen … lächerlich. Dabei hatte er beim Auszug aus seinem Elternhaus, in dem er mit vier Schwestern aufgewachsen war, geschworen, sich nie wieder ein Bad mit einer Frau zu teilen. Aber mit Natasha war es anders. Sie war seine Partnerin und seine beste Freundin. Unvorstellbar, sie unter der Dusche nicht mehr schief singen zu hören oder allein zu Abend zu essen. Er hatte sich an sie gewöhnt. Er nahm die Zeitung vom Esstisch und warf sie in die Papiertonne.

»Dir ist klar, dass es auch im Internet genügend Portale gibt, in denen Wohnungen angeboten werden?«

»Was die Frage aufwirft, wieso du überhaupt eine Zeitung mitgebracht hast. Hast du Lust auf eine Schnulze?«

»Nein, auf keinen Fall, aber zu dem neuen Marvel-Film kannst du mich überreden.«

»Popcorn?«

Sie legte den Kopf schief. »Seit wann gibt es so was Ungesundes in unserem Vorrat?«

»Keine Ahnung, aber wir können heute ja mal eine Ausnahme machen.«

Mitten im Film war sie auf der Couch eingeschlafen. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, die Hände unter dem Kopf. Erst die Sache mit Wiebke, dann Akiro. Beides hatte Natasha ziemlich mitgenommen. Jeder Fall hinterließ bei ihr Spuren. Empathie war ihre Stärke bei Verhören und auch wenn es darum ging, sich in die Gedankenwelt eines Verbrechers hineinzuversetzen. Doch sie war auch ihre Schwäche, weil sie das Leid der Opfer zu dicht an sich heranließ.

Er war froh, dass Natasha und seine Schwester Cecilia sich so gut verstanden. Cecilia war als Psychotherapeutin auf Jugendliche spezialisiert, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden waren, und sie hatte ihm versichert, dass seine Partnerin nur Zeit brauche, um das alles zu verarbeiten. Alle seine Schwestern, seine Mutter und selbst sein Vater hatten Natasha in den letzten Wochen ständig mit irgendetwas beschäftigt gehalten. In gewisser Weise war sie von seiner Familie adoptiert worden. Sie war bei jeder Familienfeier mit dabei.

Pit stopfte vorsichtig die Decke an den Seiten fest. Natashas Gesicht war im Schlafen vollkommen entspannt. Zum ersten Mal seit Tagen war sie mit einem glücklichen und zufriedenen Gesichtsausdruck nach Hause gekommen. Es war die richtige Taktik gewesen. Malte hatte gesagt, dass sie ihm nach dem Training mit Wotan bei den Junghunden geholfen und später noch mit Marina die Hündinnen mit den Welpen versorgt hatte. Es war für sie wichtig, zu sehen, dass das Leben weiterging. Auch ihm war es damals schwergefallen, den Tod seines ersten Hundes zu verkraften. Flocke würde immer einen besonderen Platz in seinem Herzen einnehmen.

Er ließ sich neben Smart nieder, der vor Natasha auf dem Boden lag. Seit Akiros Tod wich Smart ihr nachts nicht von der Seite. Manchmal glaubte er, dass der Hund nicht nur bei ihr blieb, um sie zu trösten, sondern auch, weil er selbst Trost bei ihr suchte. Die beiden Rüden waren echte Kumpel gewesen.

Mit den Fingern fuhr er durch das kurze Sommerfell des Hundes. »Wir lassen nicht zu, dass sie uns verlässt, was meinst du, Partner?«

Smart drehte den Kopf und leckte ihm über die Hand. In seinem Nacken spürte Pit Natashas warmen Atem.

Natasha lachte, als sie den Welpen auf den Arm nahm. Freya war einfach zuckersüß – forsch und neugierig, aber nie übermütig. Sie stürzte sich in kein Zerrspiel, sondern probierte verschiedene Taktiken aus, um die Beute für sich zu erobern. Noch nie hatte sie einen Hund erlebt, der Strategien entwickelte. Okay, vielleicht übertrieb sie mit ihrer Ansicht etwas, aber diese Hündin war einfach intelligent. Es gab Momente, da erinnerte Freya sie an Akiro. Kein Wunder, denn sie stammten aus derselben Linie. Gleichzeitig sah sie jedoch auch viel von Nannas Weisheit und ihrer ausgeglichenen Art in dem Welpen. Eine perfekte Mischung, wie sie fand.

»Sie liebt dich.«

Rasch setzte sie die Hündin ab, stand auf, klopfte sich die Hose ab und gesellte sich zu Malte außerhalb des Zwingers.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich mit dieser Hündin machen soll.«

»Züchte mit ihr. Sie hat einen klasse Charakter.«

»In ihr steckt unglaubliches Potenzial.«

»Bilde sie als Familienhund aus und behalte dir die Option vor, dass du ab und an mir ihr züchten darfst.«

»Schau sie dir an, wie sie unser Gespräch verfolgt. Sie weiß genau, worüber wir reden, und genauso weiß sie auch, was sie will.«

»Malte, ich glaube, du musst mal wieder mehr unter Menschen. Du fängst an, Hunden Fähigkeiten zuzuschreiben, die sie nicht besitzen.«

»Nein, ich glaube, du unterschätzt diesen Hund.«

Freya, wandte sich ab, lief zu einer Ecke und kam mit einer angeknabberten, fast nur aus Löchern bestehenden Socke zurück. Sie kam bis zum Gitter, legte die Socke vor Natasha ab, machte sitz, schaute zu ihr hoch und wedelte mit dem Schwanz.

»Wo hat sie denn das olle Teil her?«, fragte sie und rümpfte die Nase.

»Damit kam sie gestern an, als wir die Welpen auf dem großen Auslauf spielen ließen. Erkennst du es?«

Sie ging in die Hocke, steckte zwei Finger durch die Maschen, kraulte den Welpen und betrachtete das Teil genauer. Verblüfft sah sie zu Malte hoch. »Das ist meine Socke von damals, als du mich in Nannas Zwinger geschickt hast.«

»Exakt.«

»Ich dachte, die wäre schon längst im Müll gelandet.«

»Dachte ich auch. Sie kann auch unmöglich die ganze Zeit auf dem Platz gelegen haben, dann wäre sie schon verrottet. Andererseits wäre sie, wenn sie die ganze Zeit sichtbar im Zwinger gelegen hätte, längst entsorgt worden. Also, wo kommt sie her?«

»Keine Ahnung.«

»Ich dachte, du wärst so eine klasse Polizistin mit einer mordshohen Erfolgsquote in der Aufklärung von Verbrechen?«

Sie deutete mit dem Finger auf die Socke. »Das ist kein Verbrechen. Ich habe sie damals freiwillig ausgezogen, um diesen lästigen kleinen Kerl, der an meinem Hosenbein hing, loszuwerden.«

»Schau sie dir an. Sie hat sie dir gebracht.«

»Ja, aber nicht, weil sie mal mir gehörte.«

»Sie hat sie seit gestern nicht hergegeben und sie gegen jeden von uns verteidigt. Nicht, indem sie mit den anderen darum gekämpft hätte, sondern weil sie geschickt damit geflüchtet ist und sie versteckt hat. Ich habe mich schon gefragt, wo sie ist, und jetzt bringt sie sie ausgerechnet dir.«

Natasha verschränkte die Arme vor der Brust, konnte aber nicht verhindern, dass ihr eine Gänsehaut über die Arme lief.

»Überleg es dir.«

»Was?«

»Freya gehört dir, wenn du es möchtest. Bilde sie aus, und das mit dem Deal, mit ihr zu züchten, ist eine gute Idee.«

2

Estera

Leise schimpfte Natasha vor sich hin. Malte war ein Teufel. Er hatte ihr bewusst diese Idee in den Kopf gepflanzt, dabei hatte sie sich geschworen, dass sie nach Akiro nie wieder einen Hund in ihr Leben aufnehmen würde. Außer natürlich Smart. Aber der war Pits Hund, nicht ihrer.

»Noch immer sauer, weil du den Bericht schreiben sollst?«, fragte Pit und lugte hinter dem Monitor hervor.

»Warum muss ich das eigentlich immer machen?«

»Weil du diejenige mit dem Superhirn bist. Ich bin nur der Muskelmann.«

»Du bist nur zu faul zum Tippen!«

»Du brauchst mit diesem Zehnfingersystem ein Zwanzigstel der Zeit, die ich brauchen würde. Außerdem war es ein Deal, vergessen? Ich werde dafür die komplette nächste Woche das Essen kochen.«

»Pah, dafür falte ich immer die Wäsche.« Sie hielt inne, verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich es mir recht überlege, bin ich auch diejenige, die das letzte Mal die Fenster geputzt hat.«

Das Gesicht ihres Partners war wieder hinter dem Monitor verschwunden. Dort blieb es still. Das machte er auch bei seinen Schwestern, wenn eine von ihnen in Fahrt kam – schweigen und den Kopf einziehen, bis der Sturm vorüber war. Aber sie durchschaute sein Spiel.

»Ich glaube, ich stelle mal eine Liste mit den Sachen auf, die du machst und die ich mache, und dann wollen wir mal sehen, ob die Aufgaben noch gerecht verteilt sind. Du bist nämlich überaus talentiert darin, Aufgaben auf andere zu verteilen, ohne dass man es merkt. Davor hat mich auch schon Caro gewarnt.«

»Caro war gerade mal drei Monate meine Partnerin. Sie hat keine Ahnung, wovon sie spricht. Außerdem ist sie die Faulste von uns allen. Schau dir an, wie Zoe ihr ständig alles abnimmt. Sie ist schlimmer als jeder Mann.«

»Zoe macht das gern. Aber du hast recht, vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Caro weiterhin zusammen mit Mark ein Team bildet und Zoe bei Ulf bleibt.«

Die zwei Frauen waren ein Paar und vor drei Jahren zusammengezogen. Natasha bewunderte es, wie sie es schafften, ihr berufliches und ihr privates Leben auseinanderzuhalten. Nur hin und wieder bekam man mit, dass Carolina versuchte, Zoe bei Einsätzen aus der Schusslinie zu halten – was lächerlich war, denn Zoe war die beste Nahkampfspezialistin, die sie im Team hatten.

Ihr Handy gab den rockigen Sound von Wild Thing, einen Song der britischen Band »The Troggs«, von sich. Ihr Ton für Marla.

»Auf keinen Fall«, kam sie Marla zuvor, ohne dass die überhaupt einen Ton von sich geben konnte.

»Du weißt doch noch gar nicht, was ich von dir will.«

»Das letzte Mal hat mir gereicht.«

Seit einiger Zeit versuchte Marla andauernd, sie mit irgendeinem Typen zu verkuppeln. Sie hatte keine Ahnung, was die Frau dazu antrieb. Als hätte sie mit Yvonne, der ältesten Schwester von Pit, einen heimlichen Pakt geschlossen. Der reichte es anscheinend nicht, nur ihre Geschwister unter die Haube zu bringen. Sie hatte sich auch ihr Liebesglück auf die To-do-Liste gesetzt. Zum Glück hielten auch ihre drei Schwestern sie noch auf Trab. Vor allem Carina war eine harte Nuss. Bei Cecilia hingegen schien sie endlich erfolgreich zu sein. Jedenfalls hatte es sich bei ihrem letzten gemeinsamen Kinobesuch so angehört. Einmal im Monat trafen sie sich alle samstagabends und unternahmen etwas gemeinsam.

Eigentlich war Natasha nicht der Typ, der mit einer Gruppe von Frauen herumhing. Aber mit Pits Schwestern war es anders. Manchmal gesellte sich auch seine Mutter dazu. Im Moment planten sie ernsthaft ein gemeinsames Wanderwochenende, nur die Frauen der Familie Abel und Natasha. Sie war einfach adoptiert worden, deshalb hatte Yvonne sie wohl ihrer List hinzugefügt.

Pits Kopf tauchte wieder mit einem breiten, schadenfrohen Grinsen hinter dem Monitor hervor auf. Sie zeigte ihm den Mittelfinger, stand auf und verließ das Büro.

»Diesmal brauche ich echt deine Hilfe«, sagte Marla. »Kannst du Rumänisch?«

»Ja.«

»Okay, schwing deinen Hintern in ein Auto und komm auf dem schnellsten Weg ins LKA. Wir haben hier ein Mädchen, das vermutlich zur Prostitution gezwungen wurde, aber die Kleine versteht kein Wort Deutsch. Wir können sie nicht mehr lange festhalten, und ihr Zuhälter ist garantiert bereits auf dem Weg zu uns. Also beeil dich.«

Natasha lief ins Büro zurück und schnappte sich ihre Jacke. »Kann ich das Auto haben?«

Pit warf ihr den Schlüssel zu und sie fing ihn auf. »Was ist los, soll ich mitkommen?«

»Nein, nicht nötig. Ich erzähl es dir später.«

Sie hatte mehr als einmal die Geschwindigkeitsgrenze überschritten und war über orangerote Ampeln gefahren. Marla wartete bereits im Foyer auf sie, händigte ihr den Besucherausweis aus und lief mit ihr den Gang entlang.

»Wir sind diesem Typen seit einiger Zeit auf den Fersen. Ein Rumäne, der in Deutschland lebt. Wir glauben, dass er Menschenhandel betreibt, konnten ihm aber bisher nichts nachweisen. Wenn wir das Mädchen zum Reden kriegen, wäre das unser erster Durchbruch nach acht Jahren Ermittlungsarbeit.«

Sie erreichten den Verhörraum. Marla hielt Natasha fest. »Das Mädchen hat Todesangst. Du musst behutsam mit ihr sein.«

Marla wirkte müde und gestresst. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Natasha atmete tief durch, zwang ihren Mund zu einem freundlichen Lächeln und wollte das Zimmer betreten, aber dann hielt sie inne, zog ihren Gürtel aus der Hose und reichte ihn Marla mitsamt der Dienstwaffe.

»Ich glaube, so ist es besser.« Sie öffnete die Tür.

Sofort sah das Mädchen verschreckt hoch. Auf den Schock war Natasha nicht vorbereitet. Kurz entglitt ihr das Lächeln beim Anblick des Mädchens. Malachitgrüne, große, runde Augen sahen sie panisch an. Das dünne Top war durchscheinend, der Spitzen-BH darunter ließ wenig Raum für Fantasie. Hervorstehende Schlüsselbeine, ein Gesicht, das sie an eine Spitzmaus erinnerte. Alles an dem Mädchen war mager. Sie bemerkte Narben, Brandflecke, deren Form ihr nur allzu bekannt waren. Jemand hatte brennende Zigaretten in ihr Fleisch gedrückt. Aber das waren nicht die einzigen Spuren von Gewalt.

Sie saß ganz am Rand der L-förmigen roten Couch. Warum man ausgerechnet diese Farbe gewählt hatte, war Natasha schleierhaft. Das hier war eines der Opferbefragungszimmer, in denen man den Befragten eine angenehme Atmosphäre bieten wollte, ähnlich einem Wohnzimmer. Ein Bild von einem Boot im Sonnenuntergang hing an der Wand, und auf dem Boden lagen flauschige Teppiche. Langsam, mit viel Abstand zu dem Mädchen, setzte sich Natasha auf das längere Ende der Couch.

»Ich nichts getan«, wisperte das Mädchen mit gesenktem Kopf.

»Ich weiß«, antwortete Natasha auf Rumänisch. »Mein Name ist Natasha und ich möchte dir gerne helfen.«

Das Mädchen sprang auf und wich zurück in die hinterste Ecke des Zimmers. Es glitt auf den Boden, presste sich gegen die Wand und hielt schützend die Hände über den Kopf. »Bitte, bitte, nicht schlagen. Es ist nicht meine Schuld. Ich schwöre es. Er hat mir nichts getan. Er war nur nett zu mir und hat mich zu einem Getränk eingeladen.«

Natasha schluckte schwer, kämpfte mit ihren Emotionen. Ganz langsam erhob sie sich. Als würde sie sich einem scheuen Reh nähern, ließ sie sich mit Abstand neben dem Mädchen auf den Boden sinken.

»Niemand wird dir hier weh tun. Niemand wird dich schlagen. Niemand hat das Recht, dir Gewalt anzutun. Ich bin Polizistin und möchte dir helfen. Sagst du mir deinen Namen?«

Sie verbuchte es als Erfolg, dass das Mädchen nicht weiter vor ihr zurückwich. Es würde Geduld und viel Zeit brauchen, damit es Vertrauen zu ihr fasste. Geduld war für sie kein Problem. Wenn nötig würde sie Stunden schweigend mit der jungen Frau im Raum sitzen bleiben, bis sie ihr glaubte, dass sie ihr keine Gewalt antun würde. Die Zeit war das Problem. Doch sie wusste, sie durfte das Mädchen nicht weiter bedrängen.

»Mein Großvater ist in Radautz geboren«, begann sie zu erzählen. »Seine Eltern waren Moldaviendeutsche, die im zweiten Weltkrieg Hitlers Ruf nach Hause folgten. Vor ein paar Jahren bin ich dort gewesen. Ich war neugierig. Mein Opa konnte die tollsten Geschichten erzählen. Doch er hat seinen Geburtsort nie gesehen, hatte nicht mal irgendeine Erinnerung daran. Er scheute sich davor, in den Osten zu fahren. Er ist in der Zeit des kalten Krieges groß geworden, musst du wissen. Weißt du, was mich am meisten an Rumänien beeindruckt hat?« Sie machte eine Pause.

Das Mädchen verharrte in seiner Haltung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es noch atmete. Die dünnen Beine steckten in obskuren High Heels. Der kurze Lederrock war so hoch gerutscht, dass er nur bis zum Po reichte. Am liebsten hätte Natasha ihre Jacke über die Knie des Mädchens gelegt, damit man ihren Slip nicht sah. Doch sie hatte keine Ahnung, wie es darauf reagieren würde.

»Die Karpaten«, fuhr sie fort, »dieser Gebirgszug, der sich durch vier Länder zieht und dessen Ausläufer noch in drei weitere Länder reichen … Uralte Wälder, in denen mein Ururgroßvater gewandert ist. Er war Förster, musst du wissen, und hat damals unter der Habsburgermonarchie für einen Grafen die Wälder bewirtschaftet. Als wäre die Zeit dort stehen geblieben. Ich bin auf den Moldoveanu-Gipfel gewandert. Was haben diese Berge schon alles gesehen und erlebt? Und wer wohl vor mir bereits dort oben war …«

»Estera.«

Beinahe hätte Natasha es überhört. »Estera? Die Leuchtende, die Strahlende. Der Name ist doch von der biblischen Esther abgeleitet? Die ihr Volk gerettet hat?«

Ein kaum wahrnehmbares Nicken. Tränen liefen dem Mädchen jetzt über die Wangen.

»Hmm. Ich kenne mich mit der Bibel nicht so gut aus. Aber gibt es da nicht ein ganzes Kapitel über Esther?«

Sie wartete und kramte gleichzeitig in ihrem Hirn, hatte aber keine Ahnung, worum es in dem Abschnitt der Bibel genau ging. Nur das mit dem Retten des Volkes war bei ihr hängen geblieben.

»Sie war eine jüdische Sklavin, wunderschön und anmutig. Sie kam in den Harem des Königs, und er war so bezaubert von Esther, dass er sie zur Königin machte. Das rief den Neid seines Dieners hervor. Er versuchte, den König gegen sie aufzuhetzen, und beeinflusste ihn, dass er das jüdische Volk töten sollte. Doch Esther ging zum König, ohne dass er sie gerufen hätte, was sie mit dem Leben hätte bezahlen müssen, und sie erzählte ihm von den Machenschaften des Dieners. Am Ende wurde dieser hingerichtet.« Estera löste die Arme und hob ihr tränennasses Gesicht. »Ich bin keine Königin, ich bin eine Hure.«

Achtsam, nur mit den Fingerspitzen, strich Natasha ihr die Haarsträhnen, die an ihren Wangen klebten, aus dem Gesicht. Das Mädchen kippte in ihre Arme, hielt sich an ihr fest. Ihr Körper bebte vom Schluchzen. Sie streichelte es. Der Duft eines süßlichen Parfüms kroch ihr unangenehm in die Nase. Sie konnte jeden einzelnen Wirbel an Esteras Rücken fühlen. »Ich verspreche dir, dass ich denjenigen, der dir das angetan hat, zur Strecke bringe. Niemand wird dir jemals wieder wehtun«, flüsterte sie und kämpfte gegen ihre Tränen an.

Draußen gab es einen Tumult. Das Mädchen schreckte hoch, kroch zurück in die Ecke, presste sich wieder gegen die Wand.

»Bitte, Estera, du musst mir vertrauen. Ich kann dich beschützen, aber dafür brauche ich deine Hilfe. Du musst mir nur den Namen desjenigen nennen, der dich dazu gezwungen hat. Dann können wir ihn festnehmen.« Das war gelogen. Nur mit einer Zeugenaussage des Mädchens und den entsprechenden Beweisen, dass sie nicht freiwillig als Prostituierte arbeitete, gäbe es überhaupt eine Chance, den Mann zu verurteilen.

Scheiß Prostitutiongesetz, fluchte sie innerlich. Es hatte in ihren Augen nicht dazu beigetragen, den Frauen mehr Rechte zu geben und sie vor Gewalt zu schützen. Stattdessen verdiente der Staat nun an dem Millionengeschäft mit und erschwerte der Polizei die Arbeit.

Sie kniete sich vor Estera und hielt ihr die Hand. »Du musst mir vertrauen. Bitte.«

»Razvan Ciobanu«, wisperte Estera.

Die Tür wurde aufgestoßen, und blitzschnell sprang Natasha auf. Ein schlanker, drahtiger Typ stürmte mit zornigem Gesichtsausdruck herein. Etwas an dem Mann kam ihr vage bekannt vor. Kohlrabenschwarzes Haar, in dem sich das Licht bläulich fing, lag glatt gegelt an seinem Kopf. Dennoch sorgte ein Wirbel dafür, das es an einer Stelle abstand. Der Mann trug ein weinrotes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen. Der anthrazitfarbene Anzug saß perfekt und betonte seine schlanke Linie. Am Hals trug er an einer feinen goldenen Kette einen Anhänger, einen sechszackigen Stern, gebildet von Linien aus Goldstreben und runden Bögen, die die Mitte bildeten.

Marla und ihr Kollege folgten dem Mann auf den Fersen, der noch einen Anwalt im Schlepptau hatte, wie sie unschwer an dem Anzug, der Aktentasche und der überheblichen, besserwisserischen Ausstrahlung erkannte, die einer bestimmten Art von Anwälten wie ein schlechter Geruch anzuhaften schien.

»Sie haben kein Recht, das Mädchen von Herrn Ciobanu festzuhalten. Er hat sich große Sorgen um sie gemacht, als er sie nicht zu Hause antraf.«

»So? Sie ist minderjährig, und wir haben sie in einer Bar aufgegabelt«, konterte Marla.

Natasha baute sich vor dem Rumänen auf und blockierte ihm den Weg. »Keinen Schritt weiter, Herr Ciobanu.«

Er blieb abrupt stehen. Kurz sah sie Überraschung in seinen sepiabraunen Augen aufflackern. Es war nicht das erste Mal, dass Natasha mit ihrer Ausstrahlung jemanden dazu brachte, vor ihr zurückzuweichen. Dieser Mann würde nur über ihre Leiche in Esteras Nähe kommen. Und genau das signalisierte sie mit jedem Quadratzentimeter ihres Körpers.

»Sie haben nicht das Recht, eine Minderjährige ohne die Anwesenheit eines Anwalts einem Verhör zu unterziehen. Ich werde Sie wegen Amtsmissbrauchs anzeigen.«

Sie machte sich nicht die Mühe, den Anwalt anzuschauen, sondern behielt Razvan Ciobanu im Auge, der unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurückwich. »Raus hier, sofort! Bevor ich Sie wegen Menschenhandels und sexuellen Missbrauchs an einer Minderjährigen festnehmen lasse.«

»Dazu …«, begann der Anwalt, aber sie hob die Hand, machte einen Schritt auf die beiden Männer zu.

»Ich sagte raus, und das ist mein Ernst.«

»Estera, komm mit.« Seine Stimme hatte einen samtig warmen, verführerischen Klang.

Obwohl seine Worte an das Mädchen gerichtet waren, sah er sie an. Natasha bekam eine Gänsehaut. Diese Stimme!

Sie musste sich regelrecht der hypnotischen Ausstrahlung des Mannes entziehen. »Sie bleibt bei mir, und nur, damit wir uns verstehen – ich werde sie nicht mehr eine Sekunde aus den Augen lassen.«

»Ist das eine Drohung? In dem Fall …«

Diesmal hob der Rumäne die Hand und brachte seinen Anwalt zum Schweigen. »Estera, der Teufel wird dich und diese Frau holen. Ich hätte dich beschützen können, aber jetzt bist du verdammt.« Er wandte sich ab und verließ den Raum.

Der Anwalt klappte den Mund auf, sah Natasha an, das Mädchen, klappte den Mund zu und folgte seinem Mandanten. Marla grinste sie an, packte ihren Kollegen am Arm, der leicht verdattert hinter den beiden Männern hersah, und schob ihn aus dem Raum. Leise machte sie die Tür hinter sich zu.

Lächelnd drehte Natasha sich zu dem Mädchen um. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihr das Herz stehen. Jegliche Farbe war Estera aus dem Gesicht gewichen, ihre Augen waren glasig, der Ausdruck verzerrt, als hätte sie eine Lähmung. Es schien, als wollte sie schreien. Schaum trat aus ihrem Mund.

Natashas Trainingsroutine setzte ein. Blitzschnell war sie an der Seite des Mädchens, prüfte, ob es noch bei Bewusstsein war. Kein Pulsschlag, keine Bewegung. Rasch legte sie Estera auf die Seite und begann mit der Herz-Lungen-Massage.

Marla kam hereingestürzt. »Was ist passiert?«

»Ruf den Notarzt.«

Marla wählte bereits die Nummer.

Ich lass dich nicht sterben. Ich lass dich nicht sterben. Wie ein Mantra wiederholte Natasha die Worte im Kopf. Schweiß begann ihr den Rücken hinunterzurinnen.

»Nicht«, bremste Marla sie, als sie Sauerstoff über Mund-zu-Mund-Beatmung spenden wollte. Sie kniete sich zu ihr, Plastikhandschuhe über den Händen. »Es könnte eine Zyankalikapsel gewesen sein oder sonst irgendein Gift.«

Umsichtig säuberte Marla den Mund des Mädchens, drehte Esteras Kopf dabei leicht zur Seite und verstaute das Tuch in einem Plastikbeutel. Als Nächstes legte sie ihr einen Finger an die Halsschlagader.

Natasha hielt nicht eine Sekunde mit ihrer Bemühung inne. Wenn es sein musste, würde sie das Herz zum Schlagen zwingen.

»Natasha.«

Sie spürte Marlas Hand auf ihren Schultern. Nein!

»Natasha, es hat keinen Sinn. Hör auf. Das Mädchen ist tot.«

Nein. Verbissen kämpfte sie weiter. Schweißtropfen rannen ihr in die Augen, brannten und nahmen ihr die Sicht. Sie bekam nur am Rande mit, dass der Notarzt kam.

»Gehen Sie zur Seite.«

Sie hörte die Worte, doch sie drangen nicht zu ihr. Jemand packte sie und schob sie von dem Mädchen weg. Im letzten Moment bremste sie sich, ihm eine zu verpassen. Sie stierte die zwei Rettungssanitäter und den Notarzt an.

Eine kurze Überprüfung der Vitalfunktionen, der Arzt aktivierte den Defibrillator, gab einen Schock, wartete, machte einen zweiten und dritten Versuch.

Nein. Nein. Nein.

Er sah sie an, schüttelte den Kopf und schloss dem Mädchen die Augen.

3

Vergessen

Sie hockte auf dem Stuhl, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände im Nacken verschränkt. Was, verflucht noch mal, war da eben passiert? Wie konnte es sein, dass ein junges Mädchen auf einmal aus dem Nichts heraus einen Herzinfarkt erlitt? War es Gift gewesen? Aber warum? Warum hätte das Mädchen sich vergiften sollen? Es war doch verflucht noch mal bei ihr gewesen, und sie hatte ihren Peiniger und diesen Arsch von Anwalt vertrieben.

Marla legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. Vor ihrem Sichtfeld tauchte eine Flasche Wasser auf. »Trink. Es sei denn, du möchtest lieber einen Schnaps.«

Wortlos nahm Natasha die Flasche entgegen, schraubte die Kappe ab und trank in großen Zügen das Wasser aus.

»Was hat sie dir erzählt?«

»Nichts.«

»Sie muss dir irgendetwas erzählt haben.«

»Nein. Sie hat mir nur seinen Namen genannt. Das war’s, mehr nicht.«

»Scheiße.«

»Polizeikommissarin Altenburg, ich bitte Sie.« Der Mann im Anzug, der soeben sein Büro betrat, setzte sich hinter den Schreibtisch, der mit Papieren überladen war. Ähnlich war es im gesamten Raum. Die Regale waren mit irgendwelchem Zeug vollgestopft. Ein paar Urkunden und gerahmte Fotos von dem Mann zusammen mit allen möglichen Prominenten hingen an den Wänden.

»Ist doch wahr«, maulte Marla. »Für jeden Schritt, den wir uns vorwärtsbewegen, gehen wir wieder zwei Schritte zurück.«

Sie warf sich auf den Stuhl neben Natasha, hob die Arme frustriert hoch und ließ sie wieder fallen.

»Wie wäre es, wenn wir erst mal mit der Frage anfangen, wer die Dame neben Ihnen ist?«

»Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann vom BKA.«

»Und Sie haben sie weshalb genau hinzugezogen, ohne vorher mit mir zu sprechen?«

»Weil sie verflucht noch mal Rumänisch spricht.«

»Warum haben Sie nicht eine Übersetzerin angefordert?«

»Es musste schnell gehen, und Natasha ist einsame Spitze in Sachen Verhöre.«

»Dennoch gehört sie zum BKA, nicht zum LKA.«

Natasha blinzelte und musterte den Mann, dessen Aufmerksamkeit auf seine Mitarbeiterin gerichtet war. Seine Hände lagen wie zum Gebet gefaltet auf einem der Papierstapel. Mit seiner Haltung, dem akkurat sitzenden Anzug, dem bis oben hin zugeknöpften Hemd wirkte er wie ein Fremdkörper in dem chaotischen Büro.

»Ich bin nicht zum ersten Mal für das Berliner Landeskriminalamt tätig. Herr …?«

»Polizeioberkommissar Klingenthal. Leiter der Abteilung LKA 13, Sexualdelikte.«

Natasha zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Wenn sie so weitermachte, würde ihr Gesicht zu einer Grinsegrimasse erstarren wie bei Joker, dem Antagonisten in dem DC-Comic-Batman, und das ohne Säurebad. Sie fragte sich, ob Bürokraten wie Klingenthal nicht wesentlich dazu beitrugen, dass das Verbrechen am Ende meist die Oberhand behielt. Sie schob den Gedanken energisch beiseite.

»Sehen Sie, ich gehöre zwar zum BKA, bin aber Mitglied einer Sondereinheit, deren Aufgabe es ist, überall dort auszuhelfen, wo bei der Landes- und Bundespolizei spezielle Ressourcen benötigt werden. Dazu zählen in meinem Fall besondere Sprachkenntnisse und eine Ausbildung als Verhörspezialistin.«

»Nun, und ich halte nichts von diesen Sondereinheiten, die auf einmal wie Pilze aus dem Erdboden sprießen. Wenn es Ihre Absicht war, mich zu beeindrucken, Frau Kehlmann, haben Sie gerade das Gegenteil erreicht.«

»Natasha war in dem Team, das geholfen hat, die Terroristen dingfest zu machen, die für die Anschlagsreihe vor drei Jahren verantwortlich waren.«

»Sechs der Geiseln kamen bei der Befreiungsaktion ums Leben. Welchen Beitrag leisteten Sie?«

»Ich brachte das Essen.«

Eine Pause entstand, in der Klingenthal sie betrachtete. Es entsprach der Wahrheit, war jedoch von ihr sarkastisch gemeint. Sie musste sich am Riemen reißen. Ihr war klar, dass sie nach dem Tod des Mädchens nicht einfach weggehen konnte.

»Es tut mir leid, Polizeioberkommissar Klingenthal, Sie haben natürlich recht. Polizeikommissarin Altenburg und ich kennen uns seit Langem. Ich habe sie im Zusammenhang mit einem Fall kennengelernt, bei dem BKA und LKA zusammenarbeiteten. Sie weiß, was ich kann, und hat mich angerufen. Ich habe mir, ehrlich gesagt, nichts dabei gedacht.«

»Weiß Ihr Chef, dass Sie während Ihrer Arbeitszeit einer Bekannten aushelfen?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Nun, das ist sein Problem, sobald ich ihn darüber in Kenntnis gesetzt habe. Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass ich einen Bericht schreiben muss und es eine interne Untersuchung geben wird.«

»Selbstverständlich.«

»Also, was genau ist passiert?«

Natasha gab den Ablauf dessen, was vorgefallen war, präzise wieder und ließ auch nicht das winzigste Detail aus – angefangen von Marlas Anruf bis zu ihrem Aufenthalt in diesem Raum, um auf Klingenthal zu warten. Zwischendurch verengte Klingenthal immer wieder die Augen, als müsste er blinzeln. Jede seiner Fragen beantwortete sie so genau wie möglich.

»Sie waren mit dem Mädchen allein im Zimmer?«

»Ja.«

»Haben Sie darauf bestanden?«

»Nein«, kam ihr Marla zuvor, die sich bisher komplett im Hintergrund gehalten hatte. »Das ist bei uns die übliche Vorgehensweise in so einem Fall. Wir möchten, dass sich das Opfer wohlfühlt und Vertrauen fasst. Deshalb haben wir die Opferbefragungsräume auch wie ein Wohnzimmer oder Kinderzimmer gestaltet, damit die Opfer keine Angst haben.«

Irritiert sah Natasha Marla an. Der Mann war doch ihr Chef, der Leiter der Dienststelle. Wieso belehrte sie ihn über etwas, das in seinem Verantwortungsbereich lag? Warum war er nicht im Bilde?

Unbeirrt fuhr Marla fort: »Aus diesem Grund spricht auch meistens nur eine Frau mit dem Opfer. Alle anderen Beamten sind im Beobachtungsraum. Je mehr Personen sich mit im Raum aufhalten, desto bedrohlicher würde die Situation auf das Mädchen wirken. Vergessen Sie nicht, dass die Zuhälter die Mädchen in Länder bringen, deren Sprache sie nicht verstehen, und ihnen eine panische Angst vor der Polizei einflößen.«

Klingenthal presste die Lippen zusammen, seine Augen verengten sich wieder, und die dünnen, kaum sichtbaren Augenbrauen trafen sich an der Nasenwurzel.

Na wunderbar, gerade hatte sie gedacht, der Mann hätte sich ein wenig entspannt.

»Es gibt einiges, was mein Vorgänger in dieser Abteilung eingeführt hat, und was ich zu ändern gedenke. Nur Frau Kehlmann weiß, was genau sich in dem Raum abgespielt hat. Sie können nicht mit Sicherheit wissen, ob sie dem Mädchen nicht etwas zugesteckt hat, und weshalb verließen Sie den Raum wieder, nachdem Herr Ciobanu aus dem Zimmer gegangen war?«

»Aus demselben Grund, den ich zuvor aufführte. Es war eine beängstigende Konfrontation für das Mädchen. Ihr Peiniger wollte sie mit seinem Anwalt herausholen. Frau Kehlmann hat sie beschützt, und ich hoffte, dass es ihr den Mut geben würde, uns zu erzählen, was ihr geschehen ist. Wir brauchen Zeugen, damit wir solchen Verbrechern wie Ciobanu das Handwerk legen können. Doch die Mädchen haben Angst, weil sie wissen, was er ihnen antun wird, sobald sie wieder auf der Straße sind.«

»Ist das der Grund, weshalb ich zur Spurensicherung musste? Sie glauben ernsthaft, ich hätte das Mädchen getötet?«, hakte Natasha verblüfft ein.

»Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, dem ersten Anschein nach gesund, und Sie waren die einzige Person, die mit ihr im Raum war.«

»Und warum hätte ich das Mädchen töten sollen?«

»Eine durchaus interessante Frage, nicht wahr, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann? Wie kommt es, dass eine Frau in Ihrem Alter bereits einen derartigen Rang bekleidet?« Perplex sah Natasha ihn an. »Der Anwalt von Herrn Ciobanu hat Anzeige gegen Sie erstattet. Der Mann beschuldigt Sie, das Mädchen bedroht und getötet zu haben.«

»Das ist absolut lächerlich.«

»Finden Sie das? Nun, ich nicht. Denn ich muss meinem Chef zum einen erklären, wie es dazu kam, dass ein sechzehnjähriges Mädchen in unserer Obhut gestorben ist, und warum eine Beamtin, die nicht Teil meiner Abteilung ist, mit diesem Mädchen allein im Befragungszimmer war.«

Langsam erhob sich Natasha. »Kann ich gehen?«

»Vorerst ja, und nehmen Sie Ihre Freundin Frau Altenburg gleich mit, allerdings erst, nachdem sie mir ihren Dienstausweis und ihre Waffe ausgehändigt hat.«

»Bitte?« Marla starrte ihren Chef fassungslos an.

»Sie sind vorläufig vom Dienst suspendiert, bis uns die Ergebnisse der Todesursache vorliegen und die internen Untersuchungen abgeschlossen sind.«

»Dieses gottverdammte Arschloch!« Marla schlug wütend mit der Faust auf die Theke, dass der Barmann beinahe ein Glas fallen ließ.

»Hey!«

Entschuldigend hob Marla die Hände. »Tut mir leid, Bob, ich hatte heute echt einen Scheißtag.«

»Das Übliche?«

»Nein, mach einen Doppelten daraus.

---ENDE DER LESEPROBE---