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Eine Wohlfühl-Krimi-Reihe mit einer starken und ungewöhnlichen Protagonistin: Ann Granger bietet mit der Fran-Varady-Serie Spannung mit sympathischen Figuren und typisch englischem Flair.
Denn mit Morden spielt man nicht
Fran Varady ist nicht gerade davon begeistert, dem Clubbesitzer Mickey bei der Suche nach der verschwundenen Tänzerin Lisa zu helfen. Aber da Mickey ihren Hund Bonnie als Geisel nimmt, bleibt ihr keine Wahl. Rasch findet sie Lisa, und die beiden Frauen vereinbaren ein Treffen. Fran erscheint zu früh am Treffpunkt - und entdeckt eine Leiche. Kurz darauf bekommt Fran Ärger mit der Polizei und der Fall wird noch viel komplizierter ...
Und das ewige Licht leuchte ihr
Lange Zeit hat Fran Varady nichts mehr von der schrulligen Stadtstreicherin Edna gehört, die mit wilden Katzen auf einem Friedhof lebte. Inzwischen wohnt Edna in einem Heim, verbringt ihre Tage, indem sie planlos durch die Gegend streift. Scheinbar - denn Fran glaubt, eine Methode in ihrem Wahnsinn zu erkennen. Sie ist sich sicher, dass Edna verfolgt wird - doch niemand glaubt ihr. Bis ein Mord geschieht ...
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Fran Varady ist eine junge mittellose Schauspielerin in London. Eigentlich ist sie auf der Suche nach einem Job – stattdessen gerät sie immer wieder in Verbrechen hinein. Daher ermittelt sie nebenbei als Privatdetektivin ohne Lizenz und klärt mit ihrer optimistischen und zupackenden Art eine ganze Reihe von Mordfällen auf.
Band 6 – Denn mit Morden spielt man nicht
Fran Varady ist nicht gerade davon begeistert, dem Clubbesitzer Mickey bei der Suche nach der verschwundenen Tänzerin Lisa zu helfen. Aber da Mickey ihren Hund Bonnie als Geisel nimmt, bleibt ihr keine Wahl. Rasch findet sie Lisa, und die beiden Frauen vereinbaren ein Treffen. Fran erscheint zu früh am Treffpunkt – und entdeckt eine Leiche. Kurz darauf bekommt Fran Ärger mit der Polizei und der Fall wird noch viel komplizierter …
Band 7 – Und das ewige Licht leuchte ihr
Lange Zeit hat Fran Varady nichts mehr von der schrulligen Stadtstreicherin Edna gehört, die mit wilden Katzen auf einem Friedhof lebte. Inzwischen wohnt Edna in einem Heim, verbringt ihre Tage, indem sie planlos durch die Gegend streift. Scheinbar – denn Fran glaubt, eine Methode in ihrem Wahnsinn zu erkennen. Sie ist sich sicher, dass Edna verfolgt wird – doch niemand glaubt ihr. Bis ein Mord geschieht …
ANN GRANGER
MORD INLONDON
FRAN VARADY ERMITTELTBAND 6 & 7
Aus dem Englischen von Axel Merz
Band 6Denn mit Morden spielt man nicht
In memoriam meinen verstorbenen Eltern
Eugene »Bill« und Norah Granger.
Als ich noch ganz klein war, schätzungsweise nicht älter als drei Jahre, brachte mich irgendeine erwachsene Person zum Kinderspielplatz in einen nahe gelegenen Park. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, wer das war. Selbst heute, nahezu zwanzig Jahre später, würde ich hingehen und ihr gründlich die Meinung sagen. Ich erinnere mich, dass die Person weiblich war, also war es nicht mein Dad, aber es war auch nicht meine Großmutter. Eigentlich hätte es meine Mutter sein müssen, weil es passiert war, bevor sie uns alle im Stich ließ, als ich sieben Jahre alt war. Doch soweit ich weiß, brachte mich meine Mutter nie in den Park oder sonst irgendwo hin. Meine einzige klare Erinnerung an sie vor dieser Zeit ist, wie sie vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode sitzt und sorgfältig Lippenstift aufträgt. Sie trägt ein Kleid aus irgendeinem leuchtend grünen Material. Sie riecht gut. Für mich ist sie wunderschön.
An jenem Tag im Park allerdings wurde ich, wie ich mich zu erinnern glaube, unklugerweise in die Obhut eines älteren Kindes gegeben. Ringsum waren andere Erwachsene, doch sie waren schätzungsweise mit ihren eigenen kleinen Kindern beschäftigt und beachteten mich nicht. Meine Erinnerung ist die von Lachen und Schreien im Hintergrund, von staubigen Bäumen und niedergetrampeltem grünem Gras sowie zahlreichen kahlen, mit Hundedreck besudelten Stellen. Aus irgendeinem Grund reichte meinem vorübergehenden Aufpasser diese urbane Vorstellung von freiem, offenem Raum nicht, und so zerrte er mich einige steile, rutschige Metalltritte hinauf, und wir fanden uns oben auf einer langen Rutsche wieder. Nicht die kleine Rutsche für Krabbelkinder, sondern die große für die älteren. Sie glänzte poliert und silbern in der Sonne, ein Foltergerät allerersten Ranges.
Arme zwängten mich in eine sitzende Haltung am Anfang der Rutsche, und eine Stimme kommandierte: »Und los geht’s, vorwärts!«
Ich war wie versteinert. Ich klammerte mich an die metallenen Streben. Ich war sicher, dass ich so hoch oben war wie die Baumwipfel und die Vögel darin, doch ich war zu verängstigt, um die Augen vom tief unter mir liegenden Erdboden abzuwenden. Er sah sehr hart aus, wenig einladend und instabil zur gleichen Zeit. Er bewegte sich in meiner Sicht, hob und senkte sich, wankte von einer Seite zur anderen. Die Ränder der Rutsche sahen aus, als wären sie nicht hoch genug, um mich seitwärts am Herausfallen zu hindern. Mir war nicht nur schwindlig, sondern auch furchtbar übel, und seit jenem Tag habe ich eine Abneigung gegen Höhe.
»Neiiin!«, kreischte ich.
»Ach, jetzt hör auf, dich so anzustellen!«, befahl mein freundlicher Aufpasser und versetzte mir einen herzhaften Stoß.
Mein verzweifelter Griff um die Streben half nichts. Ich rutschte nach unten mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte, und der Wind sauste an meinen Ohren vorbei. Das heißt, zumindest meine äußere Hülle rutschte. Meine inneren Organe, Herz und Magen, schienen oben auf der Rutsche geblieben zu sein. Ich war machtlos, ich konnte nichts dagegen tun. Ich war noch nicht alt genug, um zu wissen, was Tod bedeutet, doch ich war sicher, dass ich einem absoluten Ende von irgendwas entgegenraste. Ich würde diese Fahrt niemals überstehen. Ich würde niemals wieder nach Hause zurückkehren und meine Familie sehen. Es dauerte nur Sekunden, die mir erschienen wie Stunden. Dann kam ich unten an und wurde von jemandem aufgefangen.
Ich wurde von der Rutsche gehoben und stand auf meinen zitternden Beinen. Verspätet kehrten mein Herz und mein Magen in meinen Körper zurück, und mir wurde übel, ganz furchtbar übel, wie es nur einem kleinen Kind passieren kann.
Meine Aufpasserin war wütend. »Warum hast du das getan, Francesca?«
Über meinem Kopf tobte bald eine Schlacht. »Nun, ich werde sie jedenfalls nicht sauber machen.«
»Du musst. Wir können sie unmöglich so nach Hause bringen.«
Der Parkwächter traf ein, ein dicker, rotgesichtiger und wütender Mann, und stritt mit – wahrscheinlich machte er sich Sorgen, der Park könnte verklagt werden. Ich heulte.
Ich wurde schließlich nach Hause gebracht, immer noch heulend, und es gab einen weiteren Streit. Die Luft hallte wider von lauten Stimmen, und ich stand mittendrin in alledem und schniefte in meinen von Erbrochenem besudelten Sachen. Dann sammelte Großmutter Varady mich auf, trug mich weg, um mich zu baden und alles wieder in Ordnung zu bringen.
Es wäre schön, wenn es in der Erwachsenenwelt auch jemanden gäbe, der einschreitet, wenn alles schiefzulaufen droht, und die Dinge wieder in Ordnung bringt. Zu schade, dass so etwas nie geschieht, außer vielleicht in Detektivromanen, schätze ich, wenn der Detektiv alles aufklärt. Meine Erfahrungen mit der Detektivarbeit sind allerdings völlig andere. Es gibt immer unbeantwortete Fragen, die sich auf unerwartete oder nicht befriedigende Weise klären. Das Leben nimmt die Karten in die Hand und spielt falsch. Manchmal denke ich, das unwillkommenste Geschenk, das ein Dschinn einem Menschen machen kann, ist die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Zurück in die Vergangenheit zu blicken ist schon schwierig genug.
Meine Kindheit ist voll von Erinnerungen wie die an jene Rutsche. Ich muss auch fröhliche Zeiten gehabt haben, doch sie haben nicht den gleichen Eindruck hinterlassen wie die schlechten. Manchmal frage ich mich, ob ständig irgendein kleiner Pechteufel hinter mir herhoppelt und auf seine Chance lauert. Vielleicht ist es auch so, dass schlechte Erinnerungen die guten verdrängen. Wie das Böse, das weiterlebt, wenn jemand gestorben ist, während das Gute zusammen mit seinen Knochen in der Erde begraben wird. Ich kenne mich aus mit Shakespeare. Eines Tages will ich eine richtige Schauspielerin werden. Ich habe während meiner Teenagerjahre den größten Teil eines Schauspielkurses absolviert, bis mich die Umstände zum Aufhören zwangen. Seither habe ich nur Amateurrollen gespielt. Doch eines Tages schaffe ich es auf eine richtige Bühne, Sie werden sehen.
Bis dahin jedoch nehme ich jeden mir angebotenen Job an, der nicht ungesetzlich ist und mir meine Freiheit lässt. Ich habe ein paar vertrauliche Ermittlungsarbeiten für andere Leute erledigt. Ich nenne es gerne so. Sich Privatdetektiv zu nennen ist eine vertrackte Sache. Die Klienten erwarten ein Büro. Die Steuerbehörde erwartet ordentliche Geschäftsaufzeichnungen. Der größte Teil der Arbeit sind Dinge, die ich nicht anrühren möchte. Eine Freundin von mir, Susie Duke, hat eine Detektivagentur, und ich weiß, dass das meiste, was sie macht, ziemlich fadenscheinig ist. Ich bin eine Inoffizielle und nehme nur die Jobs an, zu denen ich Lust habe. Oder zumindest war das meine Vorstellung bis zu jenem Montagmorgen im August.
Es war Ferienzeit. Die Touristen waren nach London gekommen, und diejenigen Büroarbeiter, die konnten, waren in sonnige Gefilde in Urlaub gefahren. Obwohl sie sich die Mühe in diesem Jahr wirklich hätten sparen können. Wir hatten einen wunderbaren, sonnendurchfluteten Sommer zu Hause. Selbst in Camden, wo ich wohnte, konnte man sich beim Spazieren über die hitzeflirrenden Bürgersteige vorstellen, in einer fernen, exotischen Stadt zu sein, wo sich das Leben mittags hinter Fensterläden zurückzog und jegliche unnötige Aktivität eingestellt wurde. Die Gestelle mit Klamotten in den fantastischsten Farben vor den Geschäften entlang der Camden High Street und auf den überfüllten Märkten wirkten nicht länger schrill und unpassend. Sie wirkten im Gegenteil völlig natürlich mit den in der Sonne glitzernden Pailletten, und die Farben erinnerten an Papageien, die aus dem nahe gelegenen Zoo entkommen waren und auf den Kleiderbügeln nisteten. Die Ladeninhaber hatten Holzstühle nach draußen getragen und machten es sich im Schatten bequem, von wo aus sie Passanten mit träger Gleichgültigkeit beobachteten. Selbst die Pusher, die unten an der Kanalbrücke Marihuana dealten, hatten keine Lust auf Geschäfte. Sie lehnten an der Ziegelbrüstung und starrten in das träge Wasser unter sich, beobachteten die gelegentlich langsam vorbeifahrenden Ausflugsboote oder Spaziergänger auf dem Leinpfad oder die blassgesichtige Gruppe von jungen Leuten, die am Fuß der Treppe im Kreis saßen wie Nomaden an einem Lagerfeuer, um Koks zu schnupfen.
Bonnie, meine Hündin, mochte die Hitze überhaupt nicht, also machte ich mich am Morgen gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um sie auszuführen. Ich wollte mit ihr bis zum Zeitungsladen, wo mein Freund Ganesh für seinen Onkel Hari arbeitet und ich ebenfalls gelegentlich aushelfe, wenn es nötig ist. Ich hoffte, dort eine Tasse Kaffee abzustauben und einen kostenlosen Blick in die Boulevardpresse zu werfen, bevor ich wieder nach Hause ging. Bonnie sprang munter und zufrieden neben mir her und blieb gelegentlich stehen, um zu schnüffeln. Ich fühlte mich glücklich und zufrieden. Doch ich war gerade erst aus der Straße gekommen, in der ich wohnte, als neben mir eine große schwarze Limousine mit leise schnurrendem Motor anhielt. Der Fahrer stieg aus und rief über das Dach hinweg meinen Namen.
»Ey, Fran!«
Ich hatte dem Wagen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, doch ein Gruß wie dieser lässt sich nicht ignorieren. Das war niemand, der nur meinen Namen kannte. Es war jemand, der sich das Recht zu Vertraulichkeit nahm. Ich blinzelte ihn an. Die Sonne schien mir ins Gesicht, doch ich konnte seine stämmige Gestalt einigermaßen deutlich ausmachen. Er hob eine Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich war auf dem Weg zu Ihnen nach Hause«, sagte er.
»Hallo Harry«, antwortete ich wenig begeistert. Ich wollte weitergehen, auch wenn ich wusste, dass es ein vergeblicher Versuch war, dem Schicksal zu entkommen. Wenn Harry hier war und mich suchte, dann nur deswegen, weil sein Boss Mickey Allerton ihn geschickt hatte. Jegliches Gefühl von Zufriedenheit in mir schwand dahin. Jetzt geht’s wieder los, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Was ist nur mit dir, Francesca Varady? Es war, als informierte mich eine dröhnende Stimme wie in der alten Lotteriewerbung, dass ich diejenige sein könnte. So war es beinahe immer, nicht beim Lottospielen, sondern wenn es darum ging, den kürzeren Strohhalm zu ziehen. Hey!, sagte ich mürrisch zu dem kleinen unsichtbaren Teufel. Verschwinde einfach und spiel für eine Weile mit jemand anderem, okay?
»Nicht so eilig, Fran«, sagte Harry in freundlichem Ton. Er war ein netter Mann – für einen Rausschmeißer. Er wäre ein Profi, hatte er mir irgendwann einmal anvertraut. Er war stolz darauf. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich bin wegen dir hergekommen. Er möchte mit dir reden.«
Eine Art Diskretion verhinderte, dass er den Namen seines Bosses laut nannte, als wären ringsum neugierige Ohren und als bestünde die Gefahr, dass irgendwelche Details von Mickeys privaten Angelegenheiten nach außen dringen könnten. Mickey Allerton ist ein sehr privater Mensch. Ich weiß nicht, ob er viele illegale Geschäfte macht. Wahrscheinlich sind die meisten genau an der Grenze, haarscharf. Mickey gehört zu der Sorte von Leuten, die keine unnötigen Risiken eingehen. In Mickeys Welt tragen ausschließlich andere das Risiko. Das ist auch der Grund, aus dem jeder mit Misstrauen reagiert, den Mickey zu sprechen wünscht. Mir kam der grauenvolle Gedanke, dass Mickey Allerton vielleicht persönlich im Wagen saß. Ich bückte mich und spähte ins Innere. Es war leer. Bestimmt konnte man mir meine Erleichterung ansehen.
»Nein«, sagte Harry, der mich in amüsierter Toleranz hatte gewähren lassen. »Er ist im Club, Fran. Los, steig ein.«
Ich fragte mich, ob es Sinn hatte, eine dringende Verabredung vorzugeben, und kam zu der Erkenntnis, dass dem nicht so war. Also öffnete ich die hintere Tür und glitt auf den Sitz. Bonnie hüpfte mit mir hinein, verwirrt wegen dieser Änderung unserer täglichen Routine, doch loyal in der Annahme, dass wir zu einem interessanten neuen Ort fuhren. Sie sprang neben mir auf den Sitz und machte es sich bequem, die Ohren gespitzt und die Pfoten dicht beieinander, ganz wie ein Hund, der sein Leben damit verbracht hat, sich in schicken Luxuslimousinen durch die Gegend fahren zu lassen.
Harry nahm seinen Platz hinter dem Lenkrad wieder ein und zog die Tür krachend zu. Dann drehte er sich zu mir um und starrte mich über die Rückenlehne hinweg an. »Ey!«, sagte er ein weiteres Mal. »Lass den Hund nicht auf die Sitzpolster! Das ist alles echtes Leder. Er wird es nur zerkratzen!«
Ich schob Bonnie in den Fußraum und fragte mutig: »Was will Mickey von mir?« Ich rechnete nicht mit einer Antwort, doch Fragen kann nicht schaden, wie ich mir immer sage.
»Woher soll ’n ich das wissen, hä?«, entgegnete er.
Wir fuhren los. Ich saß auf dem Rücksitz und studierte Harrys ziegelroten Nacken an der Stelle, wo er unangenehm drückend über den Kragen quoll. Schweiß perlte über die Haut in den Stoff. Harrys kurzgeschorenes, ergrauendes Haar verzierte die Fleischrolle mit feuchten Borsten. Es sah aus wie eine Nagelbürste, die ihre besten Tage hinter sich hatte.
Ich nahm an, dass wir zum Silver Circle fahren würden, einem von Mickeys Clubs für Erwachsene. Er hatte dort ein Büro. Ich hatte Allerton ursprünglich im Lauf einer meiner früheren Nachforschungen kennen gelernt. Es war mir durch puren Zufall gelungen, irgendetwas zu tun, das ihm gefallen hatte, doch das bedeutete noch lange nicht, dass ich begierig darauf war, ihm noch einmal zu begegnen. Im Gegensatz zu ihm, wie es schien. Ich hätte Überraschung empfinden müssen statt lediglich Angst. Die Überraschung fehlte deswegen, weil mir irgendeine innere Stimme immer gesagt hatte, dass ich ihm irgendwann erneut begegnen würde, und dass die Frage nicht »ob«, sondern »wann« lauten musste. Wenn man erst einmal den Dunstkreis von jemandem wie Mickey Allerton betreten hat, dann hat er den Namen in seinem kleinen Buch notiert.
Doch was konnte Allerton von mir wollen? Ausgerechnet er, von allen Leuten? Ich saß kerzengerade, nicht weil ich mir Sorgen wegen der »echten Ledersitze« machte, sondern weil meine Bauchmuskeln derart verkrampft waren, dass ich mich nicht zurücklehnen und entspannen konnte. Ich fühlte mich beinahe wie ein Aristokrat auf dem Weg zur Guillotine, obwohl der Wagen ein gutes Stück komfortabler war als ein Mistkarren. Ein oder zwei Fußgänger musterten uns mit neugierigen Blicken, während Harry geschickt durch das System aus Einbahnstraßen navigierte: großer Mercedes, Chauffeur, ich kerzengerade auf dem Rücksitz wie ein Mitglied des englischen Königshauses. Ich widerstand der Versuchung, die Hand zu einem schlaffen Gruß zu heben, als wir vorüberglitten.
Zu meinen Füßen winselte Bonnie leise. Sie hatte meine Unruhe bemerkt, und jetzt gefiel ihr die Sache genauso wenig wie mir. Sie stieß mit ihrer kleinen schwarzen Nase gegen mein Knie, und ich streckte die Hand aus, um beruhigend über ihren Kopf zu streicheln. Sie ließ die Ohren hängen, und in ihren brauen Augen stand Besorgnis. Bonnie ist ein kleiner Hund, ein Terriermischling, hauptsächlich weiß mit einigen schwarzen Flecken an merkwürdigen Stellen. Wenn man sie von einer Seite anschaut, ist sie ganz weiß mit einem schwarzen Fleck über dem Auge und einem zweiten, größeren an der Flanke. Von der anderen Seite aus betrachtet hat sie überhaupt keine Flecken bis auf einen winzigen am Hinterbein. Das Resultat ist, dass sie wie zwei verschiedene Hunde wirkt, je nachdem, von welcher Seite man sie ansieht. Es ist die Sorte von Detail, die sich als nützlich erweisen könnte, einen Zeugen zu irritieren, sollte die Gelegenheit kommen. Bis jetzt war das noch nicht der Fall, doch es ist nur eine Frage der Zeit.
Wir hatten die schmale Seitenstraße neben dem Block erreicht, in welchem sich Mickeys Club befand. Harry stieg aus und kam, ganz wie ein Gentleman, um den Wagen herum, um mir die hintere Tür zu öffnen. Ich kletterte aus der großen Limousine, behindert durch Bonnie, die es so eilig hatte nach draußen zu gelangen, dass sie sich zwischen meinen Füßen hindurchquetschte und mich fast zu Fall gebracht hätte.
»Immer schön langsam«, sagte Harry und legte eine fleischige Hand auf meine Schulter, um mich zu stützen.
Wir gingen zur Ecke. Ich lief voraus, und Harry folgte mir, wahrscheinlich um sicherzugehen, dass ich mich nicht umwenden und wegrennen konnte. Wenn Harry nicht Mickeys Wagen steuerte, stand er an der Tür des Clubs. Es sah Mickey nicht ähnlich, die Tür unbewacht zu lassen, und so war es auch heute nicht. Als Harry und ich dort ankamen, trat eine weitere männliche Gestalt aus dem Halbdunkel des Eingangs, um uns den Weg zu versperren, bevor sie erkannte, wer wir waren.
Ich kannte den neuen Türsteher nicht, doch er gehörte zu der Sorte, die man nach einer Begegnung so schnell nicht wieder vergisst. Er war groß und übertrieben muskulös. Ich nahm an, es resultierte aus exzessivem Gewichtstraining in einem Fitnessstudio. Ich persönlich mag diese Art von Physis überhaupt nicht. Diese Typen bestehen nur aus Bizeps und Trizeps mit Hälsen, die so dick sind wie ihre Köpfe. Sie haben eine merkwürdige Art zu stehen, mit leicht abgespreizten Armen und nach außen gedrehten Füßen. Der neue Türsteher war blond, dünnlippig und hatte die Art von großen runden Augen, wie man sie bei Spielpuppen findet. Und wie es im Allgemeinen bei Bodybuildern der Fall ist, fand er sich unglaublich gut.
»Hallo Ivo«, sagte Harry, und etwas in seiner Stimme verriet mir, dass er meine Meinung bezüglich Bodybuildern teilte. »Ist der Boss da?«
»Du kommst spät«, sagte Ivo. Er hatte einen deutlichen Akzent, den ich nicht richtig zuzuordnen vermochte. »Mr Allerton wartet schon.« Er betonte die letzten Worte und unterstrich sie mit einem geringschätzigen Blick zu mir.
Ich erwiderte seinen Blick gleichmütig. Ich weiß, dass er der Meinung war, Mr Allerton dürfte niemals zum Warten gezwungen sein, am allerwenigsten von Nicht-Personen wie mir. Es gefiel ihm nicht, dass ich seinen Blick offen erwiderte, ohne entweder Ehrfurcht (was er zumindest erwartete) oder zumindest Bewunderung (was er vorgezogen hätte) zu zeigen. Er blinzelte, und in den porzellanblauen Augen war mit einem Mal ein verdammt hässliches Glitzern. Harry versetzte mir einen leichten Stoß ins Kreuz. Ich spürte, dass es eine Warnung war. Harry wollte nicht, dass ich mir Ivo zum Feind machte. Er kannte den anderen Türsteher besser als ich, und ich tat besser daran, die Warnung ernst zu nehmen.
Bonnie traf in diesem Moment eine Entscheidung. Sie würde den Club nicht betreten. Sie vertraute meinem Urteilsvermögen bis zu einer gewissen Grenze, doch diese Grenze war überschritten. Der Club gefiel ihr nicht, und damit Schluss. Sie legte sich flach auf das Pflaster, und ich konnte sie nicht dazu bewegen, noch einen Schritt vorwärts zu gehen. Dann war Ivo an der Reihe, einen Fehler zu machen.
»Mr Allerton ist ein vielbeschäftigter Mann«, sagte er. »Der Köter bleibt eben draußen.« Und er bückte sich, um Bonnie am Halsband zu packen.
Im nächsten Moment zuckte er zurück und fluchte in einer mir unbekannten Sprache, während er sich die blutigen Finger der rechten Hand hielt. Seine blauen Augen blitzten vor Zorn.
»Nimm sie hoch«, befahl Harry barsch an mich gewandt. Zur gleichen Zeit bewegte er sich vorwärts und brachte seine beträchtliche Masse zwischen mich und den Türsteher.
Ich hob Bonnie vom Boden hoch und klemmte mir das sich protestierend wehrende Tier unter den Arm, um an Ivo vorbei ins Innere zu huschen. Er rief mir etwas in seiner Muttersprache hinterher. Ich wusste nicht genau, was es bedeutete, doch ich konnte mir den Inhalt auch so denken.
»Es war nicht Bonnies Schuld«, zischte ich Harry zu. »Es war dämlich von ihm, das zu tun!«
»Sicher«, sagte Harry leise. »Aber der gute Ivo ist ein Fall für die Klapse. Halt dich von ihm fern, klar?«
Da es noch früh war, hatte der Club noch nicht geöffnet, auch wenn bereits sämtliche Vorbereitungen für das spätere Geschäft getroffen wurden. Im Foyer roch es nach Zigarettenrauch, Alkohol und Schweiß gemischt mit industriellem Desinfektionsmittel und dem Lavendelduft von Lufterfrischern, der von den Toiletten hereinwehte. Der Raum war geschmückt mit großen glänzenden Fotos der angebotenen Unterhaltung; jeder Typ von Frauenkörper, sehr hübsch dank Schönheitschirurgie und überall günstig zu kaufender Haarfarbe. In starkem Kontrast dazu schob eine ältere Reinemachefrau einen Staubsauger über den Teppich. Sie besaß eine faltige, dunkelbraune Haut, und in ihrem breiten, flachen und ausdruckslosen Gesicht war jede Hoffnung längst gestorben. Sie blickte nicht auf, als wir an ihr vorbeikamen, sondern arbeitete unverdrossen weiter und brachte dieser Welt von Lipgloss und Haarspray dadurch einen Hauch von profaner Alltäglichkeit.
Die Vorhänge vor dem gewölbten Eingang in den Hauptteil des Clubs wurden von Schlaufen rechts und links offen gehalten. Ich konnte die Bühne dahinter sehen und darauf eine schwarzhaarige junge Frau in einem grellrosafarbenen Gymnastikbody, die die Hände in die Hüften stemmte. Sie funkelte auf einen kleinen kahlköpfigen Mann herunter, der sie von unten herauf anbrüllte.
»Versuch doch bitte, es sexy aussehen zu lassen! Kannst du das? Du siehst aus, als wärst du in einem dämlichen Aerobic-Kursus!«
Bevor das Mädchen antworten konnte, bogen wir in einen Nebengang ab, und ich verlor die Bühne aus den Augen. Ein Piano begann zu erklingen, gefolgt von stampfenden Füßen auf den Holzdielen der Bühne und weiteren Verzweiflungsschreien des kahlköpfigen Repetitors.
Mickey Allerton war in seinem Büro am Ende des Ganges. Er war ein gut gebauter, gepflegter Mann Mitte fünfzig mit der weichsten Haut, die ich je bei einem Erwachsenen gesehen hatte, Mann oder Frau. Es war wie die Haut eines Babys. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und starrte auf einen der drei cctv-Schirme hinter seinem Schreibtisch. Auf dem Schirm war die Bühne zu sehen, auf der das Mädchen von eben tanzte. Eins musste man ihr lassen – sie hatte Energie, auch wenn ihr die Eleganz abging.
»Sie muss wieder gehen«, sagte Allerton, als wir reinkamen.
»Gerne«, sagte ich erleichtert und wandte mich zum Gehen.
Ich rannte voll in Harry, der mich sanft, aber bestimmt festhielt und wieder zu Mickey hinter seinem Schreibtisch umdrehte.
Mickey schwenkte in seinem Bürosessel zu mir herum. Seine Augen waren silbrig-grau wie Fischschuppen. »Nicht du«, sagte er. »Sie.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf den kleinen Bildschirm. »Sie hat kein Talent.« Er nickte zu einem Sessel. »Setz dich, Fran. Warum hast du diesen Hund auf dem Arm?«
»Bonnie hat Ihren Türsteher gebissen«, sagte ich. »Hören Sie, ich hab auch kein Talent.«
Ich setzte Bonnie zu Boden und klemmte sie zwischen meine Beine. Ich wollte nicht riskieren, dass sie nach Mickey schnappte, falls er hinter seinem Schreibtisch hervorkam. Sie war immer noch gereizt und kampflustig, wie ich an ihren aufgerichteten Nackenhaaren erkannte.
Allerton ignorierte die Bemerkung über den gebissenen Türsteher. Das war Ivos Problem. »Hältst du es für wahrscheinlich«, sagte er mit müder Stimme, »dass ich Harry nach dir geschickt habe, weil ich dich als Tänzerin einstellen möchte?«
»Nein«, räumte ich ein. Ich bin eher klein und habe die Art von Figur, die Großmutter Varady stets als »knabenhaft« zu beschreiben pflegte. Andere Menschen haben weniger taktvoll darüber gesprochen. Das Mädchen draußen auf der Bühne mochte vielleicht kein Talent haben, aber es hatte wenigstens die richtige Figur.
»Dann red nicht so einen Unsinn. Harry, geh und hol uns einen Kaffee.«
Ich bedauerte, dass Harry gehen musste. Er mochte zwar Allertons Schläger sein, doch ich fühlte mich sicherer in seiner Gegenwart.
»Nun, Fran«, sagte Allerton, indem er sich in seinem Sessel zurücklehnte und seine manikürten Hände auf die Schreibtischplatte legte. Er trug einen breiten Ring mit einer goldenen Münze darin. »Lange nicht gesehen, wie?«
Es war gar nicht so lange her, doch soweit es mich betraf, hätte es gar nicht lange genug sein können. Ich lächelte ihn zuckersüß an.
Er erwiderte mein Lächeln nicht. Allerton verschwendete keine Zeit mit Lächeln. Doch er verlängerte zumindest die höfliche Begrüßungsphase mit einem vagen Wink der beringten rechten Hand. »Wie geht’s denn so? Hast du inzwischen einen Job?«
»Im Augenblick nicht«, gestand ich. »Ich habe als Kellnerin gearbeitet, doch das Lokal wurde geschlossen.«
Er nickte. »Ich hab davon gehört. Sie waren in einen Weinschwindel verwickelt oder so, nicht wahr?« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich bin immer sehr vorsichtig, bei wem ich Wein für meine Läden kaufe. Ich habe schließlich einen Ruf.«
Ja, den hatte er. Ich wette, niemand würde es wagen, ihm gepanschten Wein in einer Flasche mit teurem Etikett anzudrehen.
»Ich bin froh, dass du im Moment Zeit hast«, fuhr er fort. »Ich habe einen kleinen Auftrag für dich. Du bist doch noch in diesem Ermittlergeschäft, oder? Teilzeitmäßig, wenn ich richtig verstanden habe?« Jetzt grinste er flüchtig. »Ich hab auch von eurem Stück gehört.«
Offensichtlich wusste Mickey bestens Bescheid über meine jüngsten Aktivitäten. »Ich bin sozusagen immer noch im Ermittlungsgeschäft tätig«, antwortete ich. »Aber ich verfüge nicht über die Mittel und Einrichtungen, Ihnen zu helfen, Mr Allerton. Ich bin ganz allein.«
»Mittel und Einrichtungen?« Er imitierte meine Stimme und sah mich amüsiert an. »Die hast du bis jetzt auch nie gehabt, Fran. Ich brauche keine Einrichtungen, was auch immer das sein soll. Ich brauche nur dich. Du musst einen kleinen Job für mich erledigen.«
»Susie Duke hat immer noch ihre Detektivagentur«, sagte ich verzweifelt. »Vielleicht wäre es besser, wenn sie …«
»Du weißt doch gar nicht, was ich von dir will, oder? Also halt erst mal den Mund, und hör mir zu, okay?«, unterbrach er mich. »Susie Duke ist nicht geeignet für diesen Job. Du hingegen schon. Genau genommen bist du wie dafür geschaffen.«
An diesem Punkt brachte Harry den Kaffee. Allerton öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und nahm einen kleinen Süßstoffspender hervor. Er ließ zwei Tabletten in seinen Kaffee fallen.
»Ich muss auf mein Gewicht aufpassen«, sagte er. »Auf Anordnung des Doktors.«
»Dann lassen Sie den Zucker doch ganz sein«, schlug ich vor.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Kaffee nicht ungesüßt trinken. Tee vielleicht, aber Kaffee? Niemals.« Er betrachtete sinnierend den Dampf, der aus seiner Tasse aufstieg. Harry reichte mir meine Tasse und zog sich in den hinteren Teil des Büros zurück. Bonnie zu meinen Füßen hatte sich unterdessen ein wenig entspannt und es sich bequem gemacht. Ich wartete darauf, dass Mickey mir erzählte, für welchen Job ich wie geschaffen war. Es schien ihn zu amüsieren, mich auf die Folter zu spannen, oder vielleicht war ich auch so nervös, dass ich mir dies einbildete. Er nahm einen Löffel, rührte in seinem Kaffee und legte den Löffel behutsam wieder auf die Untertasse. Schließlich blickte er auf. Er öffnete den Mund. Das war es. Jetzt würde er mir irgendeine furchtbare, niederschmetternde Neuigkeit verkünden. Ich hielt den Atem an.
»Ich hab diese Atkins-Diät ausprobiert«, sagte er.
»Ach, tatsächlich?« Das war nicht ganz das, was ich erwartet hatte, und es brachte mich völlig aus dem Konzept. Wahrscheinlich war genau das Mickeys Absicht. Ich bemühte mich, normal zu klingen, doch meine Stimme klang wie irgendwas, das aus dem Computer kam. »Wie sind Sie zurechtgekommen?«, fragte ich blechern.
Er schüttelte betrübt den Kopf. »Ich mag meine Bratkartoffeln zum Sonntagsessen, und ich liebe Pommes frites zum Steak. Ich fand es schwierig, damit aufzuhören. Außerdem hat mir mein Arzt gesagt, es wäre nicht die richtige Diät für mich.«
Eine Achillesferse! War Mickey Allerton, den ich als beinahe allmächtig zu sehen geneigt war, seinem medizinischen Berater hörig? Ich fragte mich, ob er vielleicht ein Hypochonder war. Die unwahrscheinlichsten Leute sind Hypochonder. Ich beschloss, dieses Anzeichen von Schwäche in meinem Gedächtnis zu speichern. Man wusste nie – vielleicht war es eines Tages nützlich.
»Es ist eigentlich kein richtiger Job, den ich für dich habe«, sagte er unvermittelt. »Es ist mehr ein Botengang. Ich möchte, dass du jemandem eine Nachricht von mir überbringst.«
Ich fragte nicht, warum er nicht das Telefon benutzte oder E-Mail oder die normale Schneckenpost. Doch ich fühlte mich an jenen armen griechischen Kerl erinnert, der kilometerweit gerannt war mit der Neuigkeit von irgendeinem Sieg und tot zusammengebrochen war, nachdem er sie überbracht hatte – obwohl es eine gute Nachricht gewesen war. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass die Nachricht von Mickey Allerton für den Empfänger nichts Gutes bedeutete. Ein alter Brauch war, wie ich wusste, dass der Überbringer solcher Nachrichten getötet wurde. So oder so, Bote ist kein Job mit langfristigen Aussichten.
Allerton hatte sich erneut mit seiner Schreibtischschublade beschäftigt und zog nun eine Hochglanzfotografie hervor. Er reichte sie mir über den Tisch hinweg. Ich nahm sie behutsam.
Es war eine seiner Tänzerinnen, ein Reklamebild wie die anderen draußen an der Wand des Foyers. Das Foto zeigte ein hübsches Mädchen ungefähr in meinem Alter. Sie trug ein Kostüm, das vage an den Cowboy-Stil erinnerte, mit mehr Bergkristallstrass, als man für möglich halten sollte auf so einem winzigen Stück Stoff, dazu zierliche Stiefel mit hohen Absätzen und einen kleinen weißen Stetson über einer großen Masse blond gelockter Haare. Das Gesicht war zugepflastert mit zu viel Make-up, jeder Menge perlmuttglänzendem Lidschatten und Glitzerzeug auf den Wimpern. Sie lächelte einladend in die Kamera, während sie sich an eine senkrechte Stange schmiegte.
»Lisa Stallard. Tänzerin.« Mickey gab seine Informationen in kleinen lakonischen Häppchen preis. »Eine gute obendrein.« Er lehnte sich zurück. »Sie ist abgehauen«, sagte er.
In seiner Stimme schwang eine Andeutung von Unglauben mit. Seine Tänzerinnen rissen nicht aus. Es war wahrscheinlich das erste Mal. Er konnte es immer noch nicht richtig fassen.
»Ich will sie zurück. Die Kunden mochten sie.«
Ich hatte jedes Mitgefühl der Welt für dieses Mädchen, das diese heruntergekommene Bude hinter sich gelassen hatte. Sie besaß Mut. Wenn Mickey sie zurückwollte, so überlegte ich, sollte er selbst gehen und nach ihr suchen. Ich würde es jedenfalls nicht für ihn tun.
»Hören Sie«, sagte ich. »Wenn sie nicht bei Ihnen arbeiten möchte, dann hat sie wohl einen Grund dafür, schätze ich.«
Die silbernen Fischaugen fixierten mich unfreundlich. Hinter mir gab Harry ein leise warnendes Hüsteln von sich.
»Es könnte alles Mögliche sein«, fuhr ich hastig fort in dem Versuch, meinen Fehltritt wiedergutzumachen. »Ich meine, ein plötzliches Verschwinden muss ja nicht bedeuten, dass es ihr hier nicht gefallen hat. Vielleicht hat sie einen Notfall zu Hause in ihrer Familie.«
Allerton beugte sich ein wenig vor. »Sie ist ohne jedes Wort verschwunden«, sagte er. »Ich habe ihr gutes Geld gezahlt. Sie ist nicht zu jemand anderem gegangen, um dort zu arbeiten. Ich hab in den anderen Clubs rumgefragt. Aber du hast recht mit deiner Vermutung – sie ist wahrscheinlich nach Hause gegangen. Eines der anderen Mädchen hat es mir verraten.«
Er deutete mit dem Daumen auf die Bildschirme hinter sich. Das Mädchen mit dem grellrosa Gymnastikanzug saß auf der Kante der Bühne und trank Wasser aus einer Flasche.
»Die da«, sagte Allerton. »Diese dumme, untalentierte Kuh«, fügte er wenig dankbar hinzu.
Das Mädchen war also eine Petze, und die Ausreißerin war dumm genug gewesen, sich ihr anzuvertrauen. Wenn man etwas vorhat, was Mickey Allerton nicht gefällt, dann sollte man wenigstens mit niemandem über seine Absichten sprechen, der ebenfalls für Allerton arbeitet.
Allerton schien zu sehen, was ich dachte, und schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du auf falsche Gedanken kommst, Fran«, sagte er. »Ich könnte Harry hinter ihr herschicken, aber das würde sie wahrscheinlich falsch verstehen. Ich möchte sie nicht in Angst versetzen. Deswegen möchte ich, dass du zu ihr gehst. Ich möchte, dass du sie fragst, warum sie weggegangen ist. Damit wir die Dinge regeln und sie wieder zu mir kommen kann. Soweit es mich betrifft, habe ich nicht vor, ihr Schwierigkeiten oder Ärger zu machen. Ich trage ihr nichts nach. Ich möchte nur, dass sie zurückkommt. Wie ich bereits sagte, ich habe ihr gutes Geld gezahlt, aber ich werde ihr in Zukunft noch mehr zahlen. Du bist ungefähr in ihrem Alter, Fran. Du weißt, wie du mit ihr reden musst. Sie weiß, dass du normalerweise nicht für mich arbeitest. Du machst keinen angsteinflößenden Eindruck.«
»Das gefällt mir trotzdem nicht!«, platzte ich heraus. »Es ist ihre Sache, was sie macht! Wir leben hier in einem freien Land!«
»Dieses Mädchen …«, sagte Allerton, »dieses Mädchen hätte es weit bringen können. Ich hatte Pläne für sie.«
Das hatte ich befürchtet.
Erneut und vielleicht veranlasst durch meinen ablehnenden Gesichtsausdruck beugte er sich vor. »Nein, nein, nicht diese Art von Plänen, Fran. Ich eröffne einen neuen Club an der Costa del Sol. Meine Absicht war es, sie nach Spanien zu schicken und ihr die Leitung der Auftritte zu übertragen. Sie zu einer Art künstlerischer Leiterin machen, wenn du so willst. Sie hätte gar nicht mehr auf die Bühne gemusst, wenn sie nicht gewollt hätte. Natürlich hätte ich es lieber gehabt, wenn sie auf die Bühne gegangen wäre. Ich sagte bereits, sie ist talentiert. Aber eigentlich möchte ich sie viel lieber, um nach anderen Mädchen zu suchen. Um sicherzustellen, dass der Club eine richtig gute Show bietet. Ich will einen anspruchsvollen Kundenkreis, verstehst du? Sie ist die richtige Sorte von Mädchen dafür. Sie versteht sich auszudrücken, genau wie du. Wahrscheinlich hat sie als Kind auch eine vernünftige Schule besucht, genau wie du.«
Ich hatte Mickey Allerton nie von meiner Schulzeit erzählt, doch offensichtlich wusste er darüber Bescheid. Hastig ging ich in Gedanken die Liste meiner engeren Bekanntschaften durch und überlegte, wer davon private Informationen über mich preisgegeben hatte. Doch es kam jeder infrage, wirklich jeder. Früher, als ich noch zusammen mit anderen Leuten in besetzten Häusern gewohnt hatte, hatten wir abends häufig in einer Runde zusammengesessen und über alles Mögliche geredet. Vielleicht war es Mickey Allerton letztendlich gar nicht so schwergefallen, meinen Hintergrund zu durchleuchten. In Zukunft, so nahm ich mir vor, würde ich die Klappe halten, was meine Vergangenheit betrifft. Genau wie die flüchtige Tänzerin stellte ich jetzt fest, dass ein scheinbar unschuldiges kleines Detail sich in den falschen Händen in eine Waffe gegen einen verwandeln kann.
Mein Dad und meine Großmutter Varady hatten damals alles Geld zusammengekratzt, um mich auf eine private Schule zu schicken. Ich glaube, sie wollten die Tatsache wiedergutmachen, dass meine Mutter mich im Stich gelassen hatte. Ich war ein gestörtes Kind, und ich verdarb es mir auch mit der Schule, bis ich schließlich rausgeworfen wurde. Wenn ich an die Mühen denke, die Vater und Großmutter Varady auf sich genommen haben, um das Geld für die Schule zu bezahlen, bin ich überhaupt nicht stolz auf meine Leistung. Großmutter hat zu Hause Näharbeiten verrichtet, Brautkleider angefertigt und ähnliche Dinge. Sie saß oft bis spät in die Nacht an ihrer alten mechanischen Nähmaschine, und ihre geschwollenen Füße traten monoton auf die Platte, die bei jedem Vor und Zurück leise quietschte, und alles nur, damit ich eine bessere Zukunft hatte. Ich denke, ich war ein ganz besonders abscheuliches Balg. Sie liebten mich, und ich trat ihre Liebe mit Füßen, als wäre sie nichts. Wenn das Leben mich seit damals manchmal hart rangenommen hat, dann betrachte ich das als eine Art Buße. (Das kommt davon, wenn man schon in der Grundschule von Nonnen unterrichtet wird.) Doch eines habe ich von den Nonnen gelernt – es gibt Richtig, und es gibt Falsch. Wenn man daran glaubt, dann muss man früher oder später eine Position beziehen.
Ich schluckte. »Mr Allerton, glauben Sie mir, ich würde Ihrem Wunsch gerne nachkommen. Aber ich glaube offen gestanden nicht, dass ich diese Tänzerin überreden könnte zurückzukommen. Warum sollte sie mich überhaupt anhören? Angenommen, ich finde sie, und sie weigert sich? Was würden Sie zu mir sagen, wenn ich zurück bin? Sie würden mir die Schuld geben.«
Allerton schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Fran. Du verstehst das ganz falsch. Ich möchte nur, dass du Lisa findest und ihr erklärst, welchen Job ich in Spanien für sie habe, okay? Sag ihr, dass ich nicht böse auf sie bin. Ich bin enttäuscht, dass sie mich nicht eingeweiht und mir nicht gesagt hat, was los ist. Ich weiß wirklich nicht, warum sie ohne ein Wort verschwunden ist, und ich würde es gerne wissen. Es gehört zum Erfolg in diesem Geschäft, wenn das Personal zufrieden ist. Wenn sie ein Problem hatte, dann hätten wir es vielleicht gemeinsam lösen können. Ich möchte nichts weiter, als dass sie nach London kommt, sich hierher zu mir setzt und mit mir über alles redet – genau wie du und ich dies jetzt tun, Fran. In freundlichem Ton.«
»Wissen Sie denn, wo sie herkommt?«, fragte ich in der Hoffnung, sie käme aus einem so abgelegenen Teil der Welt, dass man unmöglich von mir erwarten konnte, ihn zu finden.
»Sicher. Oxford. Ich hab ihre Adresse hier.« Sein Tonfall war energisch. Er dachte wahrscheinlich, er hätte mich bereits überredet.
Noch nicht, mein Herr. Noch nicht. »Ich kann nicht einfach für unbestimmte Zeit nach Oxford fahren«, sagte ich. »Was soll ich mit meinem Hund machen?«
Nun war Allerton an der Reihe zu grinsen. Es war ein breites, langsames Grinsen, das zwei Reihen so makelloser Zähne zeigte, dass sie unmöglich echt sein konnten. Ich fühlte mich an einen Hai erinnert. Zu spät wurde mir bewusst, dass ich ihm einen Hebel an die Hand gegeben hatte. Ich hätte Bonnie nicht erwähnen dürfen.
»Kein Problem!«, sagte er leichthin. »Harry kümmert sich so lange um den Hund. Harry ist gut mit Hunden, wie, Harry?« Allerton blickte an mir vorbei zu seinem Spezi, der unsichtbar hinter meinem Rücken saß.
»Sicher«, sagte Harry. »Wir hatten immer einen Hund zu Hause.«
»Was denn, einen Pitbull Terrier?«, giftete ich und packte Bonnie so fest, dass sie protestierend winselte.
»Nein«, antwortete Harry bedauernd. »Meine Missus mag keine Pitbulls. Wir haben ein paar von diesen kleinen haarigen Mistviechern, Yorkies.«
Die Vorstellung, dass Harry ein paar lebende Haarbürsten ausführte, machte mich für einen Moment sprachlos. Doch während ich noch stockte und nach Argumenten gegen Mickeys Vorschlag suchte, fuhr Allerton ungerührt fort.
»Verstehst du?«, sagte er glatt. »Alles ist vorbereitet. Natürlich könnte ich auch Ivo fragen, wenn du der Meinung bist, dass Harry nicht auf die kleine Töle aufpassen kann. Sie hat ihn gebissen, sagst du?« Erneut blitzten mich die Haizähne an.
Mir wurde ganz übel. Die Botschaft war eindeutig. Entweder ich fuhr nach Oxford und überbrachte Lisa die Nachricht von Allerton, oder Bonnie wurde an Ivo übergeben, den muskulösen Psychopathen mit dem Groll auf die kleine Hündin. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was er mit Bonnie anstellen würde.
»Also schön«, sagte ich. »Aber versprechen Sie mir, dass Sie Ivo nicht in die Nähe von Bonnie lassen. Versprechen Sie es. Ich will Ihr Wort.«
Allertons Wort war wahrscheinlich nicht viel wert, doch ich konnte es zumindest versuchen.
»Keine Sorge«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Wir verstehen einander, Fran. So, hier ist ihre Adresse.« Er fischte einen Zettel aus seiner Schublade und dann einen dicken Briefumschlag. »Hier ist ein wenig Bargeld für deine Spesen. Dein Honorar regeln wir, wenn du zurück bist. Ich bin ein großzügiger Mann. Du wirst es nicht bedauern.«
»Und wenn ich Lisa nicht mit zurückbringe?«, fragte ich. »Wie wollen Sie herausfinden, ob ich sie überhaupt gefunden habe?«
Er runzelte die Stirn. »Bring sie dazu, mich anzurufen. Ich würde sie ja von hier aus anrufen, aber sie würde wahrscheinlich auflegen. Nein, sie muss mich anrufen.«
Ich konnte seinem Gedankengang folgen. Lisa hatte den Mut aufgebracht, aus seinem Club zu verschwinden, also würde sie auch den Mut besitzen, beim Klang seiner Stimme aufzulegen. Ziemlich leichtsinnig. Allerton konnte es sich nicht leisten, dass Leute ihm derart respektlos begegneten. Jedes Zeichen von Schwäche bei einem Mann in seiner Position spricht sich herum. Er würde sich gezwungen sehen, etwas dagegen zu unternehmen, auch wenn er im Augenblick noch begierig wirkte, die rauen Maßnahmen zu vermeiden. Deswegen hatte er mich gerufen. Doch das konnte sich ganz schnell ändern. Es lag nur an mir.
»Keine E-Mails oder sms-Nachrichten, klar? Ich will ihre Stimme hören! Hast du das verstanden?« Die silbernen Augen glitzerten.
»So etwas würde ich bestimmt nicht machen!«, sagte ich verärgert.
»Nein, Süße, sicher nicht. Weil du weißt, dass ich es herausfinden würde, nicht wahr? Ich gebe dir meine Handynummer, damit sie mich jederzeit erreichen kann. Genau wie du. Halt mich auf dem Laufenden. Berichte über deine Fortschritte. Ich würde es natürlich vorziehen, wenn sie mit dir zurückkommen würde, aber ich gebe mich auch mit einem persönlichen Telefongespräch zufrieden.« Die silbernen Fischaugen blickten kalt. »Aber du kriegst keinen Penny mehr als das, was hier drin ist, klar?« Er tippte auf den Umschlag. »Nicht, bevor sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat. Ich bezahle für Ergebnisse. Ich bezahle nicht für Fehlschläge. Wenn du sie überreden kannst, mit dir zusammen nach London zurückzukehren, dann erwartet dich ein hübscher kleiner Bonus. Vergiss das nicht, Fran Varady.«
»Ich will nur meinen Hund wiederhaben«, sagte ich.
»Dann solltest du dich besser schnell auf den Weg machen und es hinter dich bringen, Süße, oder? Hunde grämen sich nach ihren Besitzern, hab ich gehört. Stimmt’s, Harry?«
»Ja, Boss, stimmt«, sagte Harry ausdruckslos.
Allerton hielt mir einen weiteren Zettel hin. »Es ist alles vorbereitet, wie gesagt. Hier ist die Adresse eines Hotel garni, wo du bleiben kannst. Die Frau, die es führt, hat früher für mich gearbeitet. Sie erwartet dich.«
Selbst in Oxford war ich also nicht aus Mickeys Augen. Irgendjemand war bereits dort, sah mir auf die Finger und stellte sicher, dass ich tat, weswegen ich geschickt worden war.
Ich habe gelesen, dass es Menschen geben soll, die vor Wut mit den Zähnen knirschen, und genau dieses Bedürfnis verspürte ich in diesem Augenblick auch. Es hätte nicht geholfen, deswegen ließ ich es. Wenigstens konnte ich verhindern, dass Mickey sah, wie aufgebracht ich war. Nicht, dass er es nicht ohnehin wusste, doch es war meine einzige Chance, ihm die vollkommene Befriedigung vorzuenthalten.
Harry trat vor und streckte die Hand aus. Ich bückte mich, um Bonnies Kopf zu streicheln, dann reichte ich ihm die Leine und sah ihm in die Augen.
»Ich mag Hunde«, sagte er erneut. Ich wusste, dass er mich beruhigen wollte.
»Und jetzt hau ab!«, befahl Allerton. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.«
Harry brachte mich nach draußen. Ivo war immer noch im Foyer. Er war in eine angeregte Unterhaltung mit dem Mädchen vertieft, das vorhin oben auf der Bühne trainiert hatte. Sie trug keinen Gymnastikanzug mehr, sondern hautenge Hosen und ein ärmelloses muschelfarbenes Satintop. Rosa war offensichtlich ihre Lieblingsfarbe.
Ich schreibe Unterhaltung, doch in Wirklichkeit war sie diejenige, die unablässig in dieser fremden Sprache, die ich nicht kannte, auf ihn einredete. Der Redefluss, mit dem sie sich unterhielten, legte nahe, dass Ivo und die Tänzerin zumindest Landsleute waren, und das ist in einem fremden Land eine Menge wert. Selbst wenn sie sonst nichts gemeinsam haben, Exilanten halten zusammen.
Als ich jung war, hatten wir häufig ungarische Besucher im Haus, die von Großmutter mit Kaffee und Schokoladenkuchen bewirtet wurden. Es waren keine Freunde im eigentlichen Sinne. Sie gehörten zur Gemeinde, zur ungarischen Diaspora, die als Folge der Revolution von 1956 entstanden war. Sie hatten meinen Großvater gekannt, der damals verstorben war. Sie betrachteten es als eine gesellschaftliche Verpflichtung, seine Witwe zu besuchen. Ich habe mich vor jeder Gelegenheit gedrückt, die ich jemals hatte, eine fremde Sprache zu erlernen. Zu Hause redeten wir nur Englisch. Gelegentlich hörte ich Dad und Großmutter draußen in der Küche ein paar Worte auf Ungarisch wechseln, und ich vermute heute, dass sie Dinge besprachen, die ich nicht hören sollte, beispielsweise, wohin meine Mutter gegangen war und warum. Ich hätte jeden von ihnen bitten können, mir die Sprache beizubringen, doch ich tat es nie. In der Schule versuchten sie mir Französisch beizubringen, doch ich erinnere mich nur noch an eines, einen Mann namens Pierre, der mit dem Fahrrad irgendwohin gefahren ist. Ich war hinten in der Klasse mit Unsinn beschäftigt, wie gewöhnlich.
Unter dem Redeschwall des Mädchens stand Ivo nur hilflos da und blickte beinahe dümmlich drein. So groß und hart der Kerl auch sein mochte, er erinnerte mich in diesem Augenblick an einen kleinen Jungen, der dabei erwischt wird, wie er etwas Böses anstellt. Ich fragte mich flüchtig, was das wohl zu bedeuten hatte.
Die Tänzerin bemerkte meine neugierigen Blicke; sie war ziemlich scharfsinnig, schätzte ich. Sie bedachte mich mit einem Blick, der definitiv feindselig war. Ich bin es gewöhnt, mich unfreundlichem Stirnrunzeln ausgesetzt zu sehen, und so erwiderte ich das ihre mit Zinsen. Damit machte ich sie erst richtig wütend. Ich hatte beabsichtigt, den Augenkontakt mit Ivo zu vermeiden, weil mir Harrys Warnung noch im Gedächtnis war. Doch er bedachte mich mit einem flüchtigen, missmutigen Blick, der mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Dann verstummten beide und bemühten sich wenig erfolgreich, gelangweilt dreinzublicken. Mir wurde sofort klar, dass sie über mich geredet hatten. Aber warum überhaupt? Was konnte ich für sie bedeuten?
Ich fand nicht die Zeit, über diese Frage nachzudenken. Bonnie, die neben Harry bei Fuß ging, hatte Ivo entdeckt und knurrte leise. Harry zupfte einmal warnend an ihrer Leine.
»Du wirst es schaffen, Fran«, sagte er zu mir. Es war weniger ein tröstendes Wort als ein guter Rat. »Es wird bestimmt ein Kinderspiel«, fügte er hinzu.
Der Moment des Abschieds war gekommen. Ich tätschelte Bonnies warmen kleinen Leib, der vor Angst bebte, und ging aus dem Club. Bonnie blieb zurück. Sie verstand es nicht und jaulte protestierend. Ich wandte mich um und wollte ihr ein paar beruhigende Worte zurufen. Sie stemmte sich gegen die Leine und das Halsband und schnürte sich selbst die Luft ab vor Anstrengung in ihrem Bemühen, mir zu folgen. Tränen der Wut und Frustration stiegen in mir auf, als ich hastig um die Ecke bog. Ich hatte noch nie geweint, wenn ich einfach Pech gehabt hatte, doch das hier erfüllte mich mit einer derartigen Wut, dass ich meinte, platzen zu müssen, und die Tränen schossen, getrieben von der Macht meines Zorns, aus mir. Ich war voller Hass auf Mickey, der mir das angetan hatte. Ich war wütend wegen des Blicks in Bonnies Augen. Es war nicht meine Schuld, dass dies passiert war, doch das konnte Bonnie nicht wissen. Soweit es sie betraf, hatte ich sie im Stich gelassen. Bonnie hätte mich niemals im Stich gelassen, doch ich hatte es getan, und was noch schlimmer war, ich hatte sie in den Händen von Leuten zurückgelassen, denen ich nicht vertraute, dass sie ihr nichts antaten. Sie würde mir verzeihen, wenn ich sie wieder zurückhatte, doch es würde mir nicht ganz leicht fallen, mir selbst zu verzeihen. Was Mickey Allerton anging – diesem Kerl würde ich nie, niemals verzeihen. Nicht, dass meine Wut ihn auch nur im Geringsten interessiert hätte. Er besaß mit Sicherheit Feinde, die er mehr fürchten musste als mich.
Ich verfluchte die Tatsache, dass ich mit Bonnie spazieren gewesen war, als Harry mich gefunden hatte. Doch obwohl es die Sache für Allerton einfacher machte, hatte es das Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst. Harry hätte mich auch zu Allerton gebracht, wenn ich allein gewesen wäre. Während ich in seinem Büro gesessen hätte, wäre jemand in meine Wohnung gegangen (unerwünschte Besucher von dieser Sorte wissen immer, wie sie sich Zutritt verschaffen können), hätte Bonnie eingesammelt und zum Silver Circle gebracht.
Wenn ich Bonnie zurückhaben wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als Mickey Allertons elenden Auftrag zu erledigen.
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und starrte einige unschuldige Passanten (die natürlich glaubten, ich wäre ein weiterer Fall für die Gemeindefürsorge) mit mörderischen Blicken an, sodass sie einen weiten Bogen um mich machten.
Mir war speiübel. Ich fühlte mich genauso wie an jenem Tag vor vielen, vielen Jahren, als mich kräftigere Hände als die meinen auf die große Rutsche gezerrt und hinuntergestoßen hatten. Ich jagte nach unten, außerstande, die Ereignisse zu kontrollieren, einem unbekannten und bestimmt unangenehmen Ziel entgegen, und es gab keine Großmutter Varady mehr, die mich in die Arme nehmen und alles wiedergutmachen konnte.
Wann immer ich ein Problem habe, gehe ich normalerweise schnurstracks zu meinem Freund Ganesh, um seinen Rat zu erbitten. Ich befolge ihn nicht notwendigerweise, sehr zu seinem Ärger. Ich sollte es besser, denn er denkt klarer als ich und hat im Allgemeinen recht (was ich ihm selbstverständlich nicht sage). Doch ich höre mir gerne seine Meinung an, weil es mir dabei hilft, mir meine eigene, entgegengesetzte zu bilden. Ich war außerdem sowieso auf dem Weg zu Onkel Haris Zeitungsladen gewesen, wo Ganesh arbeitete, bevor ich gekidnappt und in den Silver Circle gebracht worden war, und der Zeitungsladen war es auch, zu dem ich mich jetzt flüchtete.
Der Laden ist ein ganz normaler Zeitungsladen. Im Fenster hängt ein Schwarzes Brett mit persönlichen Annoncen. Für fünfzig Pence darf man darauf hoffen, seinen alten Kühlschrank zu verkaufen, neue Kunden für den Haarschneideservice zu Hause zu werben (allerdings nicht für andere häusliche Dienstleistungen – Onkel Hari ist ein sehr moralischer Mann) oder irgendetwas, das man nicht haben will, gegen irgendetwas anderes, das jemand anders nicht haben will, zu tauschen – um mit hoher Wahrscheinlichkeit bei irgendetwas zu enden, was niemand haben will. Ein wohlgemeintes Schild mit einer Reihe niedergedrückter Hunde darauf trägt die Unterzeile: »Lass uns bitte draußen!« Ich hätte nicht gedacht, dass irgendetwas mich noch mehr deprimieren könnte, doch dieses Schild brachte es fertig. Bonnie ist der einzige Hund, für den dieses Gebot nicht gilt. Onkel Hari macht eine Ausnahme für Bonnie, weil er sie für einen guten Wachhund hält. Draußen vor der Tür steht eine Tafel mit den darauf gekritzelten Schlagzeilen des Tages sowie ein verbeulter Papierkorb, den niemand benutzt; stattdessen werfen die Kunden ihre Bonbon- und Schokoladenpapierchen lieber achtlos auf den Bürgersteig, damit Ganesh später vor sich hin brummend etwas zu kehren hat. All das ist völlig normal und gewohnt. Doch an diesem Tag war etwas anders. Selbst in meinem niedergeschmetterten Zustand konnte ich es nicht ignorieren.
Draußen vor der Tür stand, nagelneu funkelnd und glitzernd im Sonnenschein, eine grellgelb und rosafarbene Weltraumrakete. Ein Schild über dem Münzschlitz besagte »50p pro Fahrt«, und ein Kleinkind hatte die Maschine bereits entdeckt und war eingestiegen. Von dort verlangte es lauthals, dass seine Mutter fünfzig Pence in den Schlitz steckte, und die Mutter erklärte gleichermaßen laut: »Ich hab keine fünfzig Pence, okay? Also steig endlich aus da!« Ich schob mich an Mutter und Kind vorbei.
Ganeshs Onkel Hari stand hinter dem Tresen. Er strahlte mich zwischen Displays mit Kaugummi, Schokoriegeln und Einwegfeuerzeugen hervor an.
»Ah, Francesca, meine Liebe! Wie geht es dir?« Er beugte sich vor und flüsterte vertraulich: »Hast du sie gesehen?« Er wartete hoffnungsvoll ausgelassen auf meine Antwort.
»Ja«, gestand ich. »Man kann sie nicht übersehen, Hari.«
»Nein, nicht wahr!«, krähte er. »Alle Kinder wollen darauf fahren! Es wird bestimmt sehr erfolgreich!«
Es sieht Hari gar nicht ähnlich, Erfolg am Horizont zu entdecken. Hari ist der Meinung, dass das Desaster gleich um die Ecke lauert, wenn man nicht scharf aufpasst, und nur darauf wartet, einem bei jeder unpassenden Gelegenheit auf die Schulter zu klopfen. So, wie ich mich an diesem Morgen fühlte, war ich durchaus geneigt, mich seiner Meinung anzuschließen. Es war beunruhigend zu sehen, wie Hari sich über seinem neuen Projekt die Hände rieb.
Draußen ertönte ein schrilles Klagen. Die Mutter hatte ihr Kind aus der Rakete gezerrt und entfernte sich mit ihm die Straße hinunter.
Haris Optimismus schrumpfte zusammen und erstarb schließlich ganz. »So wenig Geld«, sagte er missbilligend. »So wenig Geld, um die eigenen Kinder glücklich zu machen. Ich verstehe das nicht. Was ist nur los mit den Menschen, dass sie eine solche Gelegenheit nicht mehr erkennen?«
»Die Rakete ist ganz neu«, sagte ich. »Sobald die Leute sich daran gewöhnt haben, dass sie da steht, werden sie sie ganz bestimmt häufig benutzen.«
Hari bedachte meine Antwort und akzeptierte sie schließlich. Er nickte. Dann spähte er zu meinen Füßen. »Wo ist denn der kleine Hund heute?«
»Ein Freund kümmert sich um Bonnie«, sagte ich trübselig.
In diesem Moment kam Ganesh aus dem Lager. »Hi«, begrüßte er mich. Dann musterte er mich genauer und stellte die Kisten, die er getragen hatte, auf dem Tresen ab. »Was dagegen, wenn Fran und ich kurz verschwinden, um einen Kaffee zu trinken?«
Die Frage galt Onkel Hari, dessen Augen sofort den Laden nach einer dringenden Aufgabe absuchten, die Ganesh sofort erledigen musste. Doch Hari war nicht schnell genug, um Ganesh einzufangen, denn dieser hatte bereits die Tür geöffnet, die zur Wohnung über dem Laden führte, und war halb die Treppe hinauf.
Ich murmelte Hari ein paar Worte zu und folgte Ganesh nach oben.
»Also schön«, sagte Ganesh, der mich mit vor der Brust verschränkten Armen mitten in Onkel Haris Wohnzimmer erwartete. »Was gibt’s?«
»Wie meinst du das, ›Was gibt’s‹?«, fragte ich ausweichend.
»Irgendetwas stimmt nicht. Du machst ein langes Gesicht und hast diesen unsteten Blick, den du immer hast, wenn du in Schwierigkeiten steckst. Heraus damit. Was hast du nun wieder angestellt?«
Wenn Ganesh mir Vorträge hält, werde ich immer furchtbar ärgerlich. Wieso nimmt er überhaupt an, dass ich irgendetwas angestellt habe? Andererseits muss ich zugeben, dass er, wie bereits erwähnt, die Stimme der Weisheit in meinem Leben ist. Würde ich auf ihn hören, hätte ich nicht die Hälfte der Probleme, mit denen ich mich Tag für Tag herumschlage, was er nie müde wird, mir unter die Nase zu reiben. Auf der anderen Seite, würde ich auf ihn hören, würde ich hinter dem Tresen einer chemischen Reinigung arbeiten. Ganesh ist wie besessen von der Idee, dass die Gegend noch eine chemische Reinigung braucht, und er möchte sie mit mir zusammen führen.
Ich mag den Geruch der Chemikalien in diesen Läden nicht. Ich scheue mich bei dem Gedanken, die schmutzige Wäsche anderer Leute anzufassen. Und ganz besonders missfällt mir die Vorstellung, so ein kleines Geschäft zu betreiben, weil es eine verdammte Menge harter Arbeit ist und man einfach nie frei machen kann.
»Sieh dir nur Hari an«, sage ich Ganesh wieder und wieder. »Sieh dir an, was dieser Laden aus ihm gemacht hat. Er ist ein nervliches Wrack. Er arbeitet rund um die Uhr und hat nie Zeit zum Entspannen. Selbst wenn der Zeitungsladen geschlossen hat, sitzt er noch über den Büchern und zermartert sich den Kopf wegen der Mehrwertsteuer-Abrechnungen.«
Doch Ganesh erwiderte stets, das wäre nur bei Hari so. Er und ich würden das alles ganz anders machen. Ich glaubte kein Wort davon.
»Ich mache uns Kaffee«, sagte ich in diesem Augenblick, um mir ein wenig Zeit zu verschaffen, und wandte mich zur kleinen Kochnische.
Ganesh folgte mir und wartete ungeduldig in der Tür, während ich Wasser im Wasserkocher zum Kochen brachte und mit einem Löffel löslichen Kaffee in Becher schaufelte.
»Was ist überhaupt mit dieser Weltraumrakete?«, erkundigte ich mich.
»Frag mich nicht!«, knurrte Ganesh. »Hört er jemals auf mich? Nie! Hört er auf irgendeinen Klugscheißer, der aus dem Blauen heraus auftaucht und ihm weismacht, dass er mit einer Plastik-Rakete ein Vermögen verdienen wird? Oh ja, auf den hört er. Ich hatte Dutzende guter Ideen, um das Geschäft zu verbessern. Er hat sie alle abgelehnt. Und dann geht er hin und stellt diese … diese Schande direkt vor der Tür auf.«
»Die Rakete könnte bei den Kindern beliebt werden«, sagte ich.
»Sie ist einfach nur billig«, entgegnete Ganesh hochmütig.
Ich sagte ihm, dass er ein Snob wäre. Doch die Rakete war offensichtlich ein heikles Thema, das man am besten vermied.
»Nun?« Er sah mich fragend an, nachdem wir unsere Tassen genommen und uns damit auf das abgewetzte rote Plüschsofa zurückgezogen hatten.
Ich würde ihm früher oder später alles haargenau erzählen müssen, doch für den Augenblick sprang ich mit beiden Füßen ins kalte Wasser und schilderte in knappen Worten, was passiert war.
»Mickey Allerton hat Bonnie gekidnappt und hält sie als Geisel.«
»Sehe ich aus, als hätte ich Zeit, deinen eigenartigen Humor über mich ergehen zu lassen?«, sagte Ganesh gereizt. »Jeden Augenblick brüllt Hari die Treppe hoch, dass ich wieder in den Laden kommen und weiterarbeiten soll. Also komm zur Sache.«
»Es ist die Wahrheit, Ganesh, ehrlich!« Ich erklärte ihm, was sich an diesem Morgen ereignet hatte.
Er lauschte meinem Bericht, trank von seinem Kaffee und meinte schließlich: »Die Sache stinkt zum Himmel.«
»Ja, das tut sie. Ich schätze, ich kann darauf vertrauen, dass Harry sich anständig um Bonnie kümmert, aber ich traue diesem Ivo keinen Schritt über den Weg. Du hättest ihn sehen sollen, Gan. Er sieht aus wie ein Androide. Und warum hat Mickey mir das angetan? Es ist ein gemeiner, verabscheuenswerter Trick!«
»Ich meinte nicht den Hund«, unterbrach mich Ganesh.
Ganesh teilt die Begeisterung seines Onkels Hari nicht, was Bonnie angeht. Es liegt nicht daran, dass er etwas gegen sie im Speziellen hätte, sondern vielmehr daran, dass er allen Hunden dieser Welt misstraut. Sie neigen dazu, ihn giftig anzubellen. Ich sage ihm immer wieder, das kommt daher, dass sie seine Angst riechen. Er sagt, er hätte keine Angst vor ihnen; er mag sie eben einfach nicht, und das wäre alles, okay?
»Ich meine die Geschichte, die Allerton dir erzählt hat. Sie stinkt zum Himmel, Fran. Lass bloß die Finger davon, hörst du?«
»Ich hab keine Wahl, oder?«, entgegnete ich bitter.
Wir schwiegen lange Zeit. Ich trank meinen Kaffee aus. »Was kommt dir im Einzelnen daran spanisch vor?«, fragte ich schließlich.
»Alles«, erwiderte Ganesh entschieden. »Aber nehmen wir ruhig ein Beispiel: Wie kommt dieses Mädchen überhaupt dazu, für Mickey Allerton zu arbeiten, und wie lange hat sie schon für ihn gearbeitet, bevor sie weggelaufen ist? Er hat dir erzählt, dass sie nicht aus London stammt, sondern aus Oxford. Sie spricht ohne Akzent, und Allerton glaubt, dass sie auf einer guten Schule war. Was hatte sie in diesem Laden zu suchen, als Tänzerin für die schmuddeligen kleinen Perversen und die armen alten Säcke, die dort verkehren? Was hat sie überhaupt nach London geführt? Ich weiß, er behauptet, dass er noch nie Ausreißerinnen beschäftigt hat, aber es klingt in meinen Ohren ganz verdächtig nach so einem Fall.«
»Er sagt, sie wäre in meinem Alter«, entgegnete ich. »Zweiundzwanzig.«
»Er wird dir bestimmt nicht erzählen, dass sie erst sechzehn ist, oder?«, schnappte Ganesh.
»Mickey ist kein Dummkopf. Wenn sie erst sechzehn wäre, würde er nicht hinter ihr herjagen. Oder mich schicken. Es wäre zu gefährlich. Ich hab ein Bild von ihr.« Ich zog das Hochglanzfoto hervor, das Mickey mir gegeben hatte, und reichte es Ganesh.