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Ob Celle oder Schneverdingen, Bispingen oder Bad Bodenteich - überall, wo die fahrende Putzfrau Gesine Schmitzmayer auftaucht, ist sie sofort in ein mörderisches Verbrechen verwickelt. Kein Wunder: Als weltgrößte Miss Marple-Verehrerin fließt kriminalistisches Gespür durch ihre Adern und so erlebt sie in 11 kurzweiligen Krimis ein spannendes Abenteuer nach dem nächsten und liefert dem Leser ganz nebenbei 125 schöne Freizeittipps für den Urlaub in der idyllischen Lüneburger Heide.
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Seitenzahl: 402
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Kathrin Hanke/Claudia Kröger
Mörderische Lüneburger Heide
11 Krimis und 125 Freizeittipps
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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(Originalausgabe: Wer mordet schon in der Lüneburger Heide?)
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von:
© emer / Fotolia.com
© drwweber / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5566-7
Impressum
Widmung
Wasserspiele
Freizeittipps
Todesrequiem
Freizeittipps
Stadtgeschichten
Freizeittipps
Vatertag
Freizeittipps
»Wo man singt …«
Freizeittipps
Teufelsaustreibung
Freizeittipps
Rabenschwarz
Freizeittipps
Im Namen der Kunst
Freizeittipps
Dichtung und Wahrheit
Freizeittipps
Amors Pfeil
Freizeittipps
Denkmalpflege
Freizeittipps
Danksagung
Lesen Sie weiter …
Für jeden einzelnen Heidjer – von klein bis groß.
Ein lautes Klopfen weckte Gesine Schmitzmayer unsanft. Oh je, hatte sie etwa verschlafen? Gesine wühlte ihren Arm aus dem Bett hervor und hob ihre schweren Lider so weit an, dass sie durch einen kleinen Sehschlitz auf ihre Armbanduhr schauen konnte. Fast sofort schloss sie ihre Augen wieder. Es war gerade mal 8:15 Uhr! Sie hatte also auf keinen Fall verschlafen, denn sie musste erst am Nachmittag bei den Pregats sein. Für zwei Wochen würde sie dort das Haus und vor allem den Hund hüten, während das Ehepaar seinen Sohn in England besuchte. Normalerweise war Gesine eine friedliebende Seele. Wenn es allerdings um ihren Schlaf ging, verstand sie keinen Spaß. Sie gab ein muffeliges Brummen von sich und wünschte den Störenfried an ihrer Tür inständig zum Teufel. Dann versuchte sie noch einmal einzuschlafen.
Seit geraumer Zeit befand Gesine sich in einer Selbstfindungsphase, um für sich festzustellen, was sie in und aus ihrem Leben eigentlich wirklich machen wollte. Hauptsächlich schwankte sie zwischen einem Studium der Rechtswissenschaften, dem Eröffnen einer Tierhandlung oder dem Bewirtschaften eines kleinen, aber feinen Milchhofes. Doch für all das hätte sie sesshaft werden müssen und sie war sich nicht sicher, ob sie das aushalten würde. So verdiente sie sich das nötige »Klimpergeld«, wie sie ihren Lebensunterhalt nannte, vorübergehend als fahrende Putzfrau und obwohl allerlei Leute darüber die Nase rümpften, fühlte Gesine sich dabei pudelwohl. Als Putzfrau – oder wie man heute neudeutsch sagte, als Reinigungsfachkraft – hatte sie auch die Pregats kennen gelernt. Gesine hatte damals als Urlaubsvertretung im Kunstverein Buchholz 1 geputzt. Hildegard Pregat gehörte zu den Vereinsmitgliedern und hatte sie angesprochen, ob sie nicht auch »ihre Perle sein wollte«. Ganz genau, »Perle« hatte Hildegard Pregat gesagt, und nur deshalb hatte Gesine sofort mit einem freudigen »Ja« zugestimmt. In der Regel unterzog sie die Haushalte erst einer sorgfältigen Prüfung, ob sie überhaupt dort arbeiten wollte, aber als »Perle« hatte sie zuvor noch niemand betitelt und Gesine hatte den Ausdruck für ihre Berufsbezeichnung einfach so hübsch gefunden. Inzwischen war Hildegard Pregat ihrem Mann Klaus in den Ruhestand gefolgt und kümmerte sich wieder selbst um ihren Haushalt, doch nach wie vor passte Gesine auf Haus und Hund auf, wenn das Ehepaar in den Urlaub fuhr.
Wieder klopfte es heftig an die Tür, und nach wie vor dachte Gesine gar nicht daran, aufzustehen und sie zu öffnen. Soweit sie sich erinnerte, erwartete sie niemanden. Außerdem war sie tatsächlich hundemüde. Sie hatte den gestrigen Abend und die halbe Nacht in Hamburg auf dem Kiez verbracht. Das machte sie manchmal freitags, denn dann fand im Foyer vom Schmidt Theater am Spielbudenplatz, gleich am Anfang der Reeperbahn, Karaokesingen statt. Gesine liebte es, Karaoke zu singen, und sie fand sich darin richtig gut. Nicht wegen ihrer Stimme, sondern weil sie absolut textsicher war. Zumindest, wenn es sich um Schlager handelte. Da kannte sie einfach alle und brauchte eigentlich nie abzulesen. Und wenn sie ausnahmsweise doch beim Singen ins Straucheln geriet, sang sie direktemang »la, la, la …« und schunkelte ein wenig hin und her – das passte bei Schlagersongs immer.
Gestern hatte Gesine – gerade weil sie so gern schlief – nicht in Hamburg übernachtet. Das hatte sie nur einmal gemacht und danach nie wieder. Damals hatte sie für eine Reeperbahntour ihr Wohnmobil auf dem großen Parkplatz unten an der Hafenstraße abgestellt, nicht ahnend, dass die anderen Wohnmobile um sie herum von Damen des horizontalen Gewerbes genutzt wurden. Ständig hatte es nachts an Gesines Tür gebummert und sie hatte kaum ein Auge zutun können. Andauernd hatte jemand um Einlass gebeten, um sich mit ihr zu vergnügen. Bei den ersten Männern hatte sie noch die Tür geöffnet, um freundlich zu erklären, dass sie hier auf diesem Parkplatz einfach nur schlafen wolle, und zwar allein. Irgendwann hatte sie dann die Tür nicht mehr aufgemacht. Aber erst, als sie die rote Weihnachtsbaumlampe, die das ganze Jahr über im Fenster angeschaltet stand, weil sie das Licht so schön fand, ausgeknipst hatte, war es etwas ruhiger geworden.
Da! Da war das Klopfen schon wieder! Gesine überlegte, ob sie in der Nacht aus Versehen ein weiteres Mal zwischen »Gewerbetreibenden« geparkt hatte – die gab es schließlich nicht nur in Hamburg. Dann fiel ihr jedoch ein, dass das eigentlich nicht sein konnte, weil sie doch extra bereits in der Nacht noch die knapp 50 Kilometer nach Buchholz in der Nordheide gefahren war. Dort hatte sie ihr Mobilé, wie sie ihr Wohnmobil liebevoll nannte, an der Zufahrt zum Gut Holm gleich neben der Holmer Wassermühle 2 geparkt. Und zwar genau mit dem Gedanken, heute mal so richtig auszuschlafen, denn hier war definitiv ein ruhiges Pflaster, wo sich manchmal sicherlich auch Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagten!
Inzwischen klopfte es ohne Pause an der Tür. Gesine vergrub ihren Kopf unter dem Daunenkissen und drückte ihre Augen fester zu. Wenn sie sich nicht rühren würde, würde der Klopfer bestimmt gleich aufgeben und sie nicht weiter nerven. Schon nach wenigen Sekunden merkte Gesine, dass dies nicht mehr als ein frommer Wunsch war. Jetzt klopfte der Klopfer nicht nur, sondern zog auch an der Glocke, deren Klang trotz der dicken Daunen in ihrem Kissen unangenehm scheppernd an ihr Ohr drang. Sie hatte die Glocke vor einiger Zeit von einem Kneipenwirt aus Bendestorf geschenkt bekommen und mehr als Zierde denn als Türklingel an ihrem Mobilé angebracht, wofür sie sich selbst in diesem Augenblick verfluchte. Pat und Patachon hatte die vermaledeite Glocke ebenfalls geweckt, doch im Gegensatz zu Gesine antworteten sie dem Geläute mit einem Singsang aus ihren Kanarienvogelschnäbeln, das sich zugegebenermaßen besser anhörte als Gesines Karaokesingerei. Der Antwort-Singsang wiederum weckte Ernie und Bert, die beiden Frettchen, die wie immer nach dem Aufwachen gleich anfingen, sich darum zu streiten, wer von ihnen als Erster an den Trinkwasserspender durfte. Im Nu herrschte ein Getöse im Mobilé, bei dem Gesine auf keinen Fall mehr unter ihrem Kissen würde einschlafen können. So sah sie sich genötigt, sich aus ihrer Bettdecke zu pellen, erst den einen und dann den anderen Fuß auf den kalten Wohnmobilboden zu setzen, nach ihrem rosafarbenen Bademantel auf dem Stuhl zu greifen und zur Tür zu schlurfen, um wenigstens einer nervigen Geräuschquelle Einhalt zu gebieten.
»Mensch Meier, ist ja gut, ich bin ja jetzt aufgestanden«, rief Gesine zornig in die Geräuschkulisse hinein und noch nicht einmal sie selbst wusste, ob sie ihre Haustiere oder den Störer an der Tür meinte. Dennoch schienen ihre Worte wie ein Zauberspruch zu wirken, denn schlagartig war alles still um sie herum. Irritiert sah Gesine zuerst auf den Vogel- und dann auf den Frettchenkäfig – Pat und Patachon starrten sie respektvoll an, genauso wie Ernie und Bert. Hm, vielleicht sollte ich öfter mal sauer werden, dachte sie bei sich und öffnete die Tür.
»Hallo, Gesine«, strahlte sie das Gesicht von Torben Rütters an und Gesines Laune rutschte endgültig dem Nullpunkt entgegen. Was wollte der denn hier? Sie hatte ihm doch deutlich zu verstehen gegeben, dass aus ihnen beiden nichts werden würde! Nur weil sie einmal auf der alljährlichen Party des Oldtimer und Youngtimer Treffens in Tostedt schwach geworden war und ein Wochenende danach mit ihm gemeinsam noch einen Einführungskurs für Bildhauerei in der Kunststätte Bossard 3 besucht hatte, hieß das nicht gleich, dass man heiraten und gemeinsam Kinder bekommen musste. Gesine wusste inzwischen, dass Torben das anders sah und es hatte viele lange Gespräche gedauert, bis sie ihn davon überzeugt hatte, dass nicht jeder und vor allem sie nicht so dachte. Sie hatte angenommen, dass er es geschluckt hatte. Zumindest hatte er seit mehr als drei Wochen nicht mehr versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Und jetzt das! So sehr konnte man sich irren. Vielleicht hätte sie ihm doch die Wahrheit sagen sollen. Aber wie verpackte man – ohne dem anderen noch mehr wehzutun – die Tatsache, dass er nur als kleines Trostpflästerchen für eine andere, unerfüllte Liebe gedient hatte?
»Hallo, Torben«, sagte Gesine lahm und zog den Bademantelgürtel enger.
»Schön, dich zu sehen. Du siehst wie immer toll aus. Gesine, ich muss mit dir reden«, sagte Torben und lächelte schüchtern.
In Gesine schlugen alle Glocken Alarm, so wie eben die Glocke an ihrem Mobilé. Freundlich und gleichzeitig bestimmt erwiderte sie: »Torben, wir haben das doch schon besprochen. Wir beide passen einfach nicht zusammen und …«
»Nein, deswegen bin ich nicht hier«, unterbrach Torben sie. »Es ist nicht privat, sondern dienstlich.«
»Dienstlich?«, meinte Gesine sich verhört zu haben.
Der Typ schien aber auch jedes noch so abwegige Register zu ziehen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Er war Polizist, doch bisher hatte er das ihr gegenüber nie ausgenutzt. Wie auch?, fragte sich Gesine, während Torben jetzt zu einer Erklärung ansetzte: »Ja, ähm, weil du hier scheinbar über Nacht geparkt hast.«
»Ja, und?«, meinte Gesine unwirsch. »Willst du mir einen Strafzettel verpassen? Ich steh ja nicht in der Einfahrt zum Gut und blockiere den Weg.«
»Nein, nein, darum geht es nicht«, beschwichtigte sie der ein Jahr jüngere Polizist. Sie selbst war 38 Jahre, ging aber oft noch als 32-Jährige durch, worauf sie stolz war.
»Und worum dann?«
»Ist dir in der Nacht irgendwas aufgefallen? Hast du etwas gehört oder sogar gesehen, was dir komisch vorgekommen ist? Und seit wann stehst du eigentlich hier?«, fragte Torben Rütters und zog wichtigtuerisch einen Notizblock aus seiner Jackentasche, an dem ein Kugelschreiber festgeklippt war.
Gesine war mit einem Mal hellwach. Noch mehr als Schlager und Karaokesingen liebte sie alte Krimi-Serien. Besonders die Miss Marple-Verfilmungen hatten es ihr angetan und insgeheim meinte sie von sich, eine jüngere Ausgabe der britischen Hobby-Detektivin zu sein. Obwohl sie mit ihrem olivfarbenem Teint und ihren schwarzen langen glatten Haaren, die sie zusammen mit ihrem ausgefallenen, oft schrillen Kleidungsstil wie eine Zigeunerin erscheinen ließen, so gänzlich anders aussah als die resolute, von Agatha Christie ins Leben geschriebene Dame. Aber was machte das schon, letztlich kam es doch auf den ausgeprägten Spürsinn an!
Gesine zog Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne, trat einen Schritt beiseite und forderte den Polizisten so liebreizend, wie es ihr möglich war, auf: »Komm doch erst einmal rein. Und dann erzähl’ ich dir alles, was du wissen möchtest. Und du mir auch, ja? Vielleicht bei einer Tasse Wachholdertee? Den magst du doch so gern.«
In Torbens Augen trat ein Leuchten, was jedoch schnell in Bedauern umschlug. Er atmete einmal tief durch, straffte die Schultern und sagte in gestelztem Ton: »Ein anderes Mal gern, jetzt bin ich aber wie gesagt dienstlich hier. Also: Seit wann stehst du hier? Und hast du irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört?«
Gesine verzog vor Enttäuschung leicht ihren Mund: »Ich bin seit heute Nacht ungefähr 2:00 Uhr hier. Und nein, ich habe nichts gesehen oder gehört. Ich habe geschlafen, bis du mich eben geweckt hast.«
»Hm«, machte Torben und dachte nach, was eine Weile dauerte und Gesine in Erinnerung rief, dass sie ihn noch nie für den Schlauesten gehalten hatte.
»Gut, dann ähm, danke«, trat Torben von einem Fuß auf den anderen.
»Ist noch was?«, fragte Gesine – sie hatte es plötzlich sehr eilig.
»Nein, nur, vielleicht können wir den Tee bei dir ja bald mal nachholen oder wir gehen in den Schmetterlingspark 4, so was findest du doch gut«, platzte Torben heraus.
»Ja, vielleicht«, erwiderte Gesine bereits mit ihren Gedanken einige Schritte weiter, nickte ihm grüßend zu und schloss schnell die Tür vor seiner Nase. Kurz lauschte sie. Als sie ihn weggehen hörte, streifte sie sich in Windeseile ihren Bademantel ab, warf ihn auf ihr Bett und zog sich die Kleidung an, die noch von der letzten Nacht auf dem Fußboden verstreut herumlag.
»Frühstück gibt es nachher«, rief sie wenige Minuten später ihren Tieren zu und machte sich auf den Weg.
Schon von Weitem sah sie die Menschentraube, die sich oben auf der Schierholzer Straße vor dem Mühlrad der Holmer Mühle gebildet hatte. Da quetsch’ ich mich nicht noch dazwischen, dachte sie und machte sich daran, die kleine Wiese hinunterzugehen, die zu einem Heideflüsschen, der Seeve, führte und von wo man ebenfalls einen guten Blick auf das Mühlrad hatte. Nachdem sie sich durch das Gestrüpp ihren Weg ans Wasser gebahnt hatte, musste Gesine feststellen, dass sie nicht die einzige war, die von hier unten ihre Neugierde befriedigen wollte. Eine Gruppe von drei Jungs stand bereits da und starrte gebannt auf das Mühlrad. Keiner von ihnen sagte etwas.
»Wisst ihr, was da passiert ist?«, sprach Gesine sie von hinten an. Alle drei zuckten bei ihren Worten zusammen und wirbelten herum.
»Mann, haben Sie mich erschreckt«, platzte es aus dem Kleinsten heraus. Gesine schätzte den Rothaarigen auf 15 oder 16 Jahre, aber bei der Jugend von heute wusste man ja nie so recht.
»Oh, ’tschuldigung«, nuschelte Gesine hinter zusammengepressten Lippen hervor, weil ihr gerade eingefallen war, dass sie sich in der Eile nicht die Zähne geputzt hatte. »Und, wisst ihr’s?«
»Ja«, sagte der zweite Junge
»Nein«, sagte der Dritte
Gesine war verwirrt. »Was denn nun?«, fragte sie und blickte dem Jungen in die Augen, der »Nein« gesagt hatte. Er schien der Älteste zu sein und sah ziemlich grobschlächtig aus. Der Junge hielt ihrem Blick stand. Dann zuckte er mit den Schultern und meinte abfällig: »Gucken Sie doch selbst hin, dann werden Sie’s schon sehen«. Er wandte sich seinen Freunden zu: »Kommt, wir hauen ab.«
Gesine schaute den dreien hinterher, die sie keines Blickes mehr würdigten. Wie eine Entenfamilie zogen sie von dannen. Gut erzogen waren die ja nicht gerade. Sie einfach so stehen zu lassen. Unwillkürlich fiel Gesine dazu ein Song von Ina Deter ein und sie begann laut zu singen: »Einfach abhaun, einfach gehen, einfach weg, mal was andres sehen …«
Der Grobschlächtige drehte sich daraufhin um und machte eine obszöne Handbewegung, woraufhin Gesine ihre linke Augenbraue hochzog – ihre übliche Art, Unwillen auszudrücken. Sie sah noch, wie die drei auf ihre am Weg abgestellten Fahrräder stiegen. Das des Rothaarigen hatte einen Anhänger angebracht, in dem normalerweise kleine Kinder saßen, in der sie jedoch stattdessen eine Kiste Bier ausmachte. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es einfach nur Leergut sein könnte, was der Rothaarige für seine Eltern wegbringen wollte, glaubte es aber selbst nicht. Gesine wandte sich ab und dem Mühlrad zu, aus dem die Polizei gerade einen schlaffen Körper barg. Jetzt wusste sie, warum Torben sie gefragt hatte, ob sie in der Nacht irgendwas gehört hatte.
Kaum hatte sie die Klingel gedrückt, hörte Gesine schon Brunos tiefes Bellen. Kurz darauf öffnete sich die schwere, jägergrün gestrichene Holztür.
»Hach Gesine, schön, dass Sie da sind. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht, dabei müssen wir doch gleich los! Haben Sie es auch schon gehört? Die Waldtraut ist tot. Ertrunken. Sie haben sie heute Morgen aus dem Wasserrad der Holmer Mühle geholt! Stellen Sie sich mal vor: Die war da eingeklemmt!«, sprudelte es aus Hildegard Pregat hervor.
»Das war die Waldtraut? Waldtraut Rösler, Ihre Freundin? Die, deren Mann im Rollstuhl saß und letztens gestorben ist?«, fragte Gesine ehrlich betroffen und tätschelte dabei Brunos Kopf, dessen Bellen bei ihrem Anblick in aufgeregt freudiges Winseln übergegangen war.
Gesine hatte Waldtraut Rösler gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit bei den Pregats kennengelernt. Wie auch Hildegard Pregat war Waldtraut Rösler seit Kurzem in Rente. Die ehemalige Biologielehrerin war leidenschaftliche Modellbootsammlerin und nahezu zu jeder Tages- und manchmal sogar Nachtzeit am Buchholzer Stadtteich anzutreffen, wo sie ihre Modellboote fahren ließ. Nein, fahren lassen hatte, korrigierte Gesine sich in Gedanken.
»Ja, Waldtraut Rösler. Den Rollstuhl hat jetzt mein Mann. Er hat ihn der Waldtraut beim Kartenspiel abgenommen. Ein Glück, ein Neuer ist viel zu teuer. Die Versicherung hätte uns nämlich nichts dazu bezahlt, weil Klaus eigentlich gar keinen braucht, nur einfach zu faul ist, selbst zu laufen. Stellen Sie sich das mal vor. Ein Hörgerät will er nicht, weil er sich damit vor den Leuten geniert, aber mit diesem motorisierten Rollstuhl fährt er in der Gegend herum, als wäre es ein Mofa. Neulich waren wir im Kleckerwald beim Hünengrab 5 und da ist er immer um die Steine gedüst. Ein Glück hat das niemand gesehen. Was wär mir das wieder peinlich gewesen! Die Waldtraut wollte den Rollstuhl zuerst gar nicht rausrücken, aber der Klaus hat ihr klargemacht, dass das nicht geht. Also, seine Spielschulden nicht zu bezahlen«, plapperte Hildegard Pregat wie ein Wasserfall und tupfte mit einem blümchenverzierten Stofftaschentuch eine Träne am linken Auge ab, wo sogleich eine weitere hinterherkam.
Gesine wusste nicht genau, ob die Tränen Waldtraut Rösler oder der Rollstuhlfahrerei ihres Mannes galten, sicherheitshalber nahm sie jedoch Hildegard Pregat in den Arm: »Das tut mir so leid. Wissen Sie denn, was genau passiert ist? Ich mein, mit der Waldtraut?«
»Die Polizei meint, es war Selbstmord, aber das kann ich überhaupt nicht glauben. Nicht von der Waldtraut, die liebte doch das Leben, und seit sie endlich Pensionärin war, noch viel mehr. Bestimmt war es ein schlimmer Unfall. Allerdings frag ich mich, was sie mitten in der Nacht an der Mühle zu suchen hatte. Ach, die Arme. Gerade gestern haben wir uns noch getroffen und Karten gespielt, weil wir doch heute für zwei Wochen wegfahren. Da hat sie doch glatt dem Klaus den Rollstuhl wieder abgenommen. Heute Morgen wollte sie ihn abholen, aber jetzt wird Klaus ihn wohl behalten können. Oh je, wir müssen ja bald los und ich hab’ vor Aufregung nicht mal die Koffer zu Ende gepackt. Ich wollt ja die Reise jetzt absagen, wegen der Beerdigung und so, aber Klaus besteht darauf, dass wir fahren. Na, Sie kennen ja meinen Mann … Helfen Sie mir schnell?«, fragte Hildegard Pregat, gab die Tür frei und ging eilig in ihr Schlafzimmer voran, um für ihre bevorstehende Reise die letzten Dinge einzupacken.
Gesine wollte die drei Stationen von Buchholz bis zum Büsenbachtal 6mit dem Zug fahren. Ihr Fußweg zum Bahnhof führte sie am Kinderkönig vorbei – die Bronzefigur posierte vor dem Buchholzer Krankenhaus und stets, wenn Gesine in der kleinen Stadt in der Nordheide unterwegs war, versuchte sie, dem jungen König einen kurzen Besuch abzustatten – sie fand ihn einfach allerliebst.
Am Bahnhof angekommen, stand der Heidesprinter bereits da, als hätte er nur auf Gesine gewartet. Sie hielt die Bahnlinie, die im Heidekreuz die Städte mit dem Umland verband, für eine tolle Sache und absolut unterstützenswert. Eine Station vor dem Büsenbachtal stieg sie aus, um sich über die anstehenden Veranstaltungen im Kulturbahnhof Holm-Seppensen 7 zu informieren. Wenn sie schon zwei Wochen in der Gegend verbringen sollte, dann wollte sie auch was erleben. Im alten Bahnhofsgebäude fand eigentlich immer etwas statt, was sie interessierte – eine Ausstellung, ein Konzert oder eine schöne Lesung. Nachdem sie sich eine Krimi-Lesung für die nächste Woche in ihrem Kalender notiert hatte, nahm sie den nächsten einlaufenden Zug, und wenige Minuten später stand sie mit Bruno an der Leine am Beginn des Büsenbachtals. Jedes Mal, wenn sie hier war, kam sie ins Staunen: Da war sie eben noch in einem städtischen Umfeld und keine zehn Kilometer weiter erstreckte sich eine weitläufige Heidelandschaft. Wahrscheinlich gerade wegen seiner Stadtnähe und auch guten Verkehrsanbindung wurde das flache Tal vor allem von Familien mit Kindern gern besucht. Gesine ließ ihren Blick über die knorrigen Wacholder und die vereinzelt stehenden silberweißen Birken streifen, die einen herrlichen Kontrast zur blühenden Heidefläche bildeten. Der Wind trug ihr das Plätschern des Büsenbachs zu und für einen Moment schloss sie die Augen. Dann zerrte Bruno jedoch ungeduldig an der Leine und auch in ihrer Tasche machte sich Unruhe breit.
»Ja, ja, geht ja gleich los«, murrte Gesine und holte nacheinander Ernie und Bert heraus, woraufhin Bruno ganz aus dem Häuschen geriet. Er liebte Ernie und Bert heiß und innig. Das war nicht immer so gewesen. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatten die Tiere sich misstrauisch beäugt und sich gegenseitig ihre Zähne gezeigt. Letztlich waren sie natürliche Feinde. Nachdem Bruno aber von Gesine immer eine kleine Leckerei abbekommen hatte, wenn sie ihre Lieblinge gefüttert hatte, hatte der Hovawart die beiden schnell in sein Herz geschlossen.
Ihr Laufgeschirr hatte Gesine Ernie und Bert bereits zu Hause angezogen und so musste sie jetzt nur noch die Leinen anklippen, die beiden Frettchen auf den Boden setzen und losmarschieren. Sie lenkte ihr Grüppchen in Richtung Pferdekopf, dem kleinen Hügel mit einer schönen Aussicht auf das Tal. In der Ferne sah sie ein paar Radfahrer. Gesine fragte sich, ob die bei diesem angenehmen Wetter die Seeve-Radweg 8 -Tour machten, dann musste sie jedoch plötzlich und völlig aus dem Zusammenhang an Waldtraut Rösler denken. Sie hatte die Frau mit der scharfen Zunge gemocht, doch das war nicht allen Menschen so gegangen. Ein paarmal war sie dabei gewesen, wenn andere Freundinnen von Hildegard Pregat über Waldtraut Rösler auf das Heftigste gelästert hatten. Worte wie »typisch verknöcherte Lehrerin« waren da die harmlosesten gewesen. Einige von ihnen wussten zu berichten, dass Waldtraut Rösler bei ihren Schülern geradezu verhasst war, vor allem, weil sie nie auch nur ein winziges bisschen ein Auge zudrückte. Und einmal hatte Gesine mitbekommen, wie Klaus Pregat mit Waldtraut aneinandergeraten war. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Grund des Streits, dafür aber daran, wie die Fetzen geflogen waren. Gesine lächelte in sich hinein: Waldtraut Rösler war niemand gewesen, der sich die Butter vom Brot nehmen ließ. Ja, die Frau hatte durchaus Haare auf den Zähnen gehabt, wenn man ihr zu Nahe getreten war.
Und wenn es wirklich kein Selbstmord gewesen ist, wie Hildegard Pregat vermutete? Und auch kein Unfall, schoss es Gesine durch den Kopf, sodass sie stehen bleiben musste, um sich erst einmal zu sammeln. Vielleicht war es ja so, dass sich jemand an Waldtraut Rösler hatte rächen wollen? Oder jemand hatte sie im Streit in die Seeve bei der Holmer Mühle gestoßen und die Leiche hatte sich dann dummerweise im Mühlrad verklemmt? Natürlich war es auch möglich, dass Waldtraut an anderer Stelle in diesen Nebenfluss der Elbe geworfen worden war und die Strömung sie nur nach Holm getrieben hatte. So genau kannte sich Gesine mit der Seeve und ihrem Lauf nicht aus, aber sie würde es herausbekommen. Sie wusste auch schon, wen sie fragen musste, doch vorher würde sie sich noch ein ordentliches Stück frisch gebackenen Kuchen gönnen.
Gesine ging zielstrebig voran, sie hatte plötzlich einen enormen Appetit bekommen. Von weitem sah sie ein paar Wanderer auf dem Heidschnuckenweg 9 vorüberziehen und dann war sie auch schon da. Noch immer herrschten trotz der späteren Nachmittagsstunde angenehme Temperaturen und so setzte sich Gesine in das Café-Restaurant am Rande des Büsenbachtals, an einen der hübsch gedeckten Tische nach draußen. Bruno legte sich ihr zu Füßen und Ernie und Bert kletterten von allein wieder in ihre Tasche, um ihr Nachmittagsschläfchen zu halten. Gesine bekam ihren Kuchen, der hier im Haus noch selbstgebacken wurde. Sie hatte sich für ein Stück Himmelstorte mit Erdbeeren und Birnen entschieden, das genau so himmlisch schmeckte, wie der Name es versprach. Kaum hatte sie es aufgegessen, wurde ihr der Teller unter der Nase weggezogen.
»Moment mal, da ist noch was drauf«, protestierte sie sofort. Tatsächlich waren noch ein paar große Krümel auf dem Teller, die sie sich extra bis zum Schluss aufgehoben hatte, um sie mit der Kuchengabel zu zerdrücken und dann hingebungsvoll zu verzehren. Das war ihre Art, kulinarischen Genuss bis zum letzten kleinen Happen zu verlängern.
»Oh, entschuldigen Sie. Bitte nicht so laut. Ich habe schon zwei Abmahnungen und bei der nächsten fliege ich raus. Hier haben Sie den Teller zurück«, stammelte eine Stimme, die sie irgendwoher kannte. Der Teller wurde ihr wieder hingestellt und Gesine blickte auf. Sie sah sich dem rothaarigen Jungen gegenüber, dem sie am Morgen bereits an der Holmer Mühle begegnet war.
»Ach, wir kennen uns doch!«, stellte sie überrascht fest.
»Ihr kennt euch?«, fragte jetzt eine näherkommende Stimme, die Gesine ebenfalls bekannt war.
»Torben!«, rief Gesine noch überraschter aus, so dass Ernie neugierig seinen Kopf aus der Tasche steckte. Verfolgte der Kerl sie etwa? Na, dem würde sie was erzählen! Dann fiel ihr ein, dass sie ihn ja was wegen der Seeve fragen wollte und bat ihn, sich zu setzen, was der Polizist sich nicht zweimal sagen ließ.
»Claas, bringst du mir bitte ein Stück Walnuss-Baiser-Torte und einen Pfefferminztee«, wandte Torben sich an den Jungen.
»Ähm, das geht nicht, Onkel Torben, ich bin hier nur der Tischabräumer, aber ich sag der Marie Bescheid, okay?«, erwiderte der Junge und wollte sich grad davon machen, als ihm offensichtlich noch etwas einfiel: »Du, sag mal, die Leiche die ihr da heute aus dem Wasserrad geholt habt, wisst ihr da schon was drüber?«
»Ach, das würde mich auch interessieren«, beugte sich Gesine über das kleine Tischchen nach vorn. Sofort huschte Torbens Blick zu ihrem Ausschnitt, der ihm in diesem Moment tiefe Einblicke gewährte, die er mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Innerlich regte sich Gesine auf – typisch Mann! – und am liebsten hätte sie sich wieder aufrecht hingesetzt, aber sie tat es nicht. Manchmal waren weibliche Reize nicht das Verkehrteste, um an Informationen heranzukommen und in diesem Fall war definitiv manchmal.
»Leg’ los«, meinte Gesine auffordernd und beugte sich noch ein klitzeklein bisschen weiter vor. Ohne seine Augen von ihrem Ausschnitt zu lassen, beugte sich nun auch Torben über den Tisch. Verschwörerisch raunte er: »Aber ihr dürft es nicht weitererzählen, sonst gefährdet ihr die Ermittlungen und ich komm’ in Teufels Küche«.
»Ermittlungen?«, entfuhr es Gesine aufgeregt, woraufhin Torben sofort »Pscht« machte und ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen drückte. Gesine runzelte kurz die Stirn, nahm Torbens Finger, schob ihn beiseite und sagte feierlich: »Ich schwör.« Claas nickte stumm dazu.
»Claas, hast du nichts zu tun?«, rief eine Frauenstimme freundlich, aber bestimmt und der Junge verzog das blasse Gesicht.
»So ein Sch…, äh Mist, ich muss arbeiten. Du erzählst es mir dann später, ja, Onkel Torben?«, bat er mit einer Mischung aus Neugier und gespannter Aufregung.
»Ja, mal sehen«, erwiderte Torben, der nur Augen für Gesine hatte. Zögernd ging der Junge davon und nahm seine Arbeit wieder auf, linste dabei aber immer wieder zu dem Tisch hinüber, an dem sein Onkel saß.
»So, jetzt aber«, meinte Gesine, nachdem Torben die Unterbrechung genutzt hatte, um seine Bestellung aufzugeben.
»Es war Mord!«, flüsterte Torben ihr zu und machte eine wichtige Miene.
»Nein!«, entfuhr es Gesine, deren Unterarme vor Aufregung anfingen zu kribbeln. »Und woher wisst ihr das?«
»Das haben wir mir zu verdanken«, sagte Torben stolz wie Bolle. »Weißt du, die Tote war früher meine Klassenlehrerin und von unseren Ausflügen wusste ich, dass sie eine verdammt gute Schwimmerin war. Da hab’ ich meinen Vorgesetzten überredet, dass eine Obduktion durchgeführt wird. Jetzt haben erste Untersuchungen ergeben, dass die Tote nicht in der Seeve ertrunken ist, sondern im Stadtteich. Deswegen wird nun von Mord ausgegangen.«
Kurz ärgerte Gesine sich darüber, dass Torben sie für dumm verkaufen wollte. Schließlich wusste jeder Tatort-Gucker, dass bei ungeklärten Todesfällen automatisch eine Obduktion gemacht wurde. Sie unterließ eine dahingehende Bemerkung jedoch, denn für das, was sie wissen wollte, war es im Grunde unwichtig.
»Habt ihr denn schon eine Spur, wer der Täter sein könnte?«, fragte sie stattdessen und das Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus.
»Nein, die Kripo tappt da völlig im Dunkeln. Aber die kommen schließlich auch nicht aus Buchholz, deswegen unterstütze ich die Ermittlungen. Heute Nachmittag habe ich noch frei und ab morgen geht es für mich los«, sagte Torben. Er warf Gesine einen Blick zu, der nach Bewunderung heischte, allerdings in Verwunderung umschlug, als Gesine jetzt von ihrem Stuhl hochsprang, einen Zehn-Euro-Schein aus ihrer Jackentasche holte, ihn mit den Worten »zahlst du bitte für mich mit« auf den Tisch legte und sich eilig davonmachte. Sie merkte erst nach ein paar Metern, dass sie Bruno und auch die Tasche mit Ernie und Bert vergessen hatte, kehrte um, sammelte die Tiere ein, schenkte dem verdatterten Torben ein freundliches Lächeln und verschwand aufs Neue.
Wieder zurück in Buchholz, stieg Gesine in den Bus. Sie wollte schleunigst zum Stadtteich am Seppenser Mühlenweg, zu dem sie zu Fuß sicher eine halbe Stunde gebraucht hätte. Sie hoffte, noch vor der Polizei dort anzukommen und auf eigene Faust die Stelle zu finden, wo Waldtraut Rösler von ihrem Mörder ertränkt worden war.
Sie hatte Pech. Schon von der Bushaltestelle aus sah sie die Handvoll Menschen, die am Ufer des Sees, in der Nähe der Treppe, die zu ihm hinunterführte, hin- und herwuselte. Missmutig verzog Gesine ihre vollen Lippen. Das war eindeutig die Polizei, die dort ihrer Arbeit nachging, was sie auch gewusst hätte, hätten die Leute keine weißen Overalls an, die sie als Spurensicherer kennzeichneten. Einer von ihnen hatte keinen Overall an, sondern eine normale Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine Lederjacke. Im Nacken hatte er sein grau meliertes längeres Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Natürlich konnte Gesine von ihrem Aussichtspunkt nicht genau sehen, dass das Haar grau meliert war, aber sie wusste es, denn die Statur und Haltung des Mannes war unverkennbar. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Kommissar Henning Ludolf aus der Landeshauptstadt Hannover! Sie hatte angenommen, dass er noch immer in seinem Sabbatical war und durch Indonesien tourte, doch so konnte man sich täuschen! Er war also wieder da …
Henning war Gesines große Liebe. Außer Gesine wusste das niemand und sie hatte auch nicht vor, das zu ändern. Zu gern schwelgte sie, wenn sie grad nichts anderes zu tun hatte, in ihrer romantischen Schwärmerei für diesen, wie sie fand, Bild von einem Mann. Darum machte sie jetzt keine Anstalten, zu den Leuten am Teichufer hinunterzugehen. Normalerweise wäre es ihre Art gewesen, neugierige Frage zu stellen, bis man sie – meist nicht gerade freundlich – wegschickte. Aber vor Henning wollte sie sich keinerlei Blöße geben. Und rot im Gesicht anzulaufen und lauter unzusammenhängendes Zeug zu stammeln, wäre definitiv eine Blöße. Sie wurde ja hier oben schon rot! Schnell wandte sie ihren Blick von ihrer heimlichen Liebe ab und lenkte ihre Gedanken zu Waldtraut Rösler. Hm, wenn die da suchen, dann müssen sie irgendeinen Anhaltspunkt haben, überlegte Gesine und streichelte geistesabwesend Brunos dicken Kopf, der ein glückliches »Wuff« dazu von sich gab. Gesine schaute überrascht zu ihm nach unten: »Hey, Bruno, danke! Genau das ist es! Wir gehen hier mal eine Runde Gassi! Kluger Hund!«
Noch hatten sich keine weiteren Schaulustigen eingefunden, was Gesine ganz recht war. Sie setzte sich in Bewegung und spazierte gemächlich an der Brüstung entlang, die den weiter unten liegenden See von der Straße trennte. Auf diese Weise konnte sie den Polizisten auf den Kopf schauen, und begriff, dass diese sich langsam, aber sicher am Ufer entlangarbeiteten. Die wissen also doch noch nicht, an welcher Stelle genau Waldtraut Rösler ertränkt worden ist, kombinierte die selbst ernannte Ermittlerin umgehend und grinste in sich hinein. Na, dann helf ich mal suchen, dachte sie und schlenderte zur anderen Seite des Sees. Wohlweislich betrat sie dort nicht die Uferböschung, die ohnehin bereits abgesperrt war. Sie wollte nicht auffallen und vom Freund und Helfer weggescheucht werden. Im Gehen hielt sie ihren Blick auf den Boden gesenkt und bewegte ihren Kopf hin und her wie einen Wischmop beim Feudeln, um auf diese Weise mit ihren Augen den breiten Weg gründlich zu scannen. Gesine hatte keine Ahnung, wonach sie Ausschau hielt, aber das machte nichts. Sie würde es schon in dem Augenblick wissen, in dem sie es sah. Ein bisschen kam sie sich vor wie bei einem Spaziergang auf dem Planetenlehrpfad in Handeloh 10. Da stierte man zwar nicht die ganze Zeit auf den Boden, aber man ließ seinen Blick auch beständig nach rechts und links wandern, um ja nichts unentdeckt zu lassen – zumindest wenn man ihn das erste Mal beschritt. Bei diesem Gedanken hob Gesine automatisch ihren Kopf hoch und sah es: Eine Mini-Flagge, die sich in den Büschen verfangen hatte.
Gesine trat näher an den Busch heran und Bruno begann sofort, darunter aufgeregt zu schnüffeln und die Erde abzuschlecken. »Och, Bruno, hast du so dollen Hunger, dass du schon Erde essen musst?«, fragte Gesine voll schlechten Gewissens, da sie vor lauter Ermittlungslust die Zeit für sein Fressen verpasst hatte. Sie beugte sich zu ihm herunter und tätschelte ihm den Kopf. Und dann sah sie noch etwas: schmale Reifenspuren, die aussahen, als stammten sie von einem Rollstuhl. Hm, was hatte das zu bedeuten? Die Flagge und der Rollstuhl konnten im Grunde nur einen Schluss zulassen: Waldtraut Rösler war hier gewesen. Natürlich hätte die Mini-Flagge auch zu einem Puppenhaus gehören können, aber in Kombination mit Rollstuhlspuren ging Gesine davon aus, dass sie zu einem Modellboot gehörte. Aber Moment mal! Scheinbar hatte Hildegrad Pregat sich geirrt! Waldtraut Rösler hatte ihren Kartengewinn, den Rollstuhl, bereits mitgenommen. Ob sie damit ihre Modellboote zum See transportiert hatte? Doch wo waren die Boote und der Rollstuhl dann jetzt? Der Mörder musste sie mitgenommen haben. Gesine kam ins Grübeln. Wie sie es auch drehte und wendete, hier würde sie keine Antwort mehr finden. Auf der anderen Seite hatte sie erst einmal genug entdeckt. Sie rührte nichts an, weil sie keine Lust auf Ärger mit der Polizei hatte. Ebenso wenig würde sie die Polizei über ihre Entdeckung informieren. Viel lieber machte sie sich ihre eigenen Gedanken und schloss mit sich selbst eine Wette ab – einfach nur so: Wer würde den Mörder zuerst finden? Die Staatsdiener oder sie? Gesine setzte auf sich.
Zurück im Hause der Pregats gab Gesine Bruno sein überfälliges Fressen und schaute für sich im Kühlschrank nach, was der so hergab. Außerdem hatte sie Durst. Zu ihrer freudigen Überraschung lag im untersten Fach ein Sixpack Bier. Es war mit einem Post-it beklebt auf demGesinestand. Mann, die Pregats waren wirklich nett. Sie wusste schon, warum sie hier so gern einhütete! Die Pregats tranken nämlich kein Bier, höchstens mal einen Wein oder einen Eierlikör, aber Bier hielt vor allem Klaus Pregat für proletarisch, wie er einmal laut verkündet hatte, als Gesine sich grad eines aus ihrem eigenen Vorrat im Garten aufmachte. Hildegrad Pregat hatte sich später für ihren Gatten entschuldigt und Gesine zugeraunt, dass der Klaus nur kein Bier trank, weil er keinen Bierbauch wie seine ganzen Freunde haben wollte. Gesine hielt dieses kleine Problem für überbewertet. Auch jetzt dachte sie nicht an die Kalorien im Bier, sondern nur an den Geschmack, während sie sich eines herausnahm und es gekonnt mit einem Feuerzeug öffnete, das sie stets bei sich trug, obwohl sie nicht rauchte.
Hmmm, das hatte sie sich verdient. Fand sie. Und Bruno fand das scheinbar auch. Er hob seine Nase aus dem Futternapf, lief zu Gesine hinüber, die sich an den Küchentisch gesetzt hatte, und stupste sie in dem Moment an, als sie den Gerstensaft voll Vorfreude zum Mund führte. Dies mit dem Ergebnis, dass er ihr überschwappte und eine kleine Pfütze auf dem Küchenboden landete. Bevor Gesine reagieren konnte, hatte Bruno sie aufgeschleckt.
»Bruno, bist du etwa Biertrinker? Das ist aber nichts für so Stammbaumhunde wie dich! Wenn das dein Herrchen wüsste. Außerdem ist da Alkohol drin!« kommentierte sie überrascht sein Tun. Bruno ließ das kalt. Ungerührt trottete er zurück zu seinem Fressnapf und vertilgte sein restliches Futter.
Gesine wusste mit dem angebrochenen Abend und sich selbst nichts anzufangen. Trotz aller Grübelei war sie noch nicht dahintergekommen, was es mit ihrer Entdeckung am Stadtteich auf sich hatte. Sie überlegte, ob sie sich eine Miss Marple-DVD aus ihrem Mobilé holen und es sich damit auf dem Pregat’schen Sofa gemütlich machen sollte, um sich im Fall »Waldtraut« inspirieren zu lassen, ließ es jedoch bleiben. Das würde zu lange dauern – schließlich hatte sie eine Wette laufen. Stattdessen holte sie sich einen Stift und einen Block, um ihr Gedankenchaos zu dieser Sache zu ordnen. Miss Marple würde ihr dabei sicher dennoch als guter Geist zur Seite stehen.
Als Gesine sich wenig später ihre Aufzeichnungen durchlas, musste sie sich eingestehen, dass es nicht eben viel war und sie im Grunde kaum etwas hatte. Mit dem Stift und dem Block hatte sie vorhin auch Pat und Patachon in ihrem Käfig und Ernie und Bert, die jetzt neben ihr auf dem Sofa rumlungerten, hereingeholt.
»Okay, ihr Süßen, dann helft mir mal beim Überlegen. Ich les’ mal vor, was wir bisher haben«, verkündete sie den Tieren und wiederholte laut, was auf dem Zettel stand: »Waldtraut Rösler, Freundin von Hildegard Pregat, spielt gern Karten, lässt noch lieber Modellboote auf dem Stadtteich fahren … Moment mal, Karten und Modellboot, da klingelt irgendwas. Bei euch auch? Mist, ich krieg es noch nicht zusammen. Also weiter: Ertränkt im Stadtteich, wahrscheinlich dort, wo die Fahne und die Rollstuhlspuren sind, geborgen bei der Holmer Mühle …« Gesine stockte, sprang auf und schlug sich gegen die Stirn. »Das gibt es doch nicht! Jetzt hab ich’s! Danke fürs Zuhören, meine Süßen! Bruno, und wir gehen jetzt mal in Herrchens Hobbykeller.«
Bruno hatte offensichtlich keine Lust dazu, denn er blieb liegen und tat so, als würde er schlafen. Darum zog Gesine schulterzuckend allein los.
Gesines Mund klappte dreimal auf und wieder zu, als sie im Hobbykeller stand und er ihr sein offenes Geheimnis offenbarte. Auf der Werkbank befanden sich in fröhlicher Eintracht drei Modellboote. Sie wusste, dass Klaus Pregat ebenfalls Modellbootfahrer war, wenn auch nicht so ein leidenschaftlicher wie Waldtraut Rösler. Deswegen wunderte Gesine sich nicht über die Boote, aber sie wunderte sich über ein Detail: Zwei von den Booten hatten Fähnchen an ihrem Mast. Eines nicht! Außerdem stand neben der Werkbank ein schwarzer Rollstuhl. Als Gesine näher an ihn herantrat, konnte sie die getrocknete Erde in seinen Reifenprofilen deutlich erkennen.
Gesine umrundete zum wiederholten Mal ihr Mobilé und sog die frische Luft in ihre Lungen ein. Sie überlegte fieberhaft, was sie nun tun sollte. Sollte sie mit ihrer Vermutung, die fast schon Gewissheit war, zu Kommissar Henning Ludolf gehen oder zu Torben Rütters? Oder sollte sie sie einfach für sich behalten? Für sich behalten würde eventuell bedeuten, einen Mord wissentlich zu vertuschen oder mindestens die offiziellen Ermittlungen zu behindern. Obwohl Gesine gern für die Pregats arbeitete, ging das nicht. Das konnte sie absolut nicht mit sich vereinbaren, sosehr sie die Leute und insbesondere Hildegard Pregat auch mochte. Blieb also noch, Henning oder Torben zu informieren. Für Henning sprach, dass er der Ermittlungsleiter war und dass sie ihn dann sehen würde. Letzteres sprach allerdings auch gegen ihn. Für Torben sprach, dass sie ihm gegenüber noch immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil er bei ihrer kleinen Liebelei damals als Trostpflaster für die unerfüllte Liebe zu Henning hatte herhalten müssen, ohne dass er es gewusst hatte. Außerdem würde sie Torben einen Deal vorschlagen: Gesine würde ihm die Information liefern, die zweifellos seine Karriere ankurbeln würde. Dafür sollte er sie aber ein für allemal in Ruhe lassen. Hm, oder sollte sie doch ihre Chance nutzen und Henning mal wieder Auge in Auge gegenüberstehen, Stammelei hin oder her? Gern hätte Gesine sich in diesem Moment die Haare gerauft, doch falls ihre Entscheidung zugunsten von Henning ausfallen würde, wollte sie sich die Frisur nicht ruinieren. Da kam ihr eine Idee. Sie knipste eine Margaritenblüte aus einem der Blumenkästen an ihrem Mobilé ab und riss ihr einzeln die Blütenblätter ab. Gut, es war kein Gänseblümchen, aber es ging ja auch nicht um »er liebt mich – er liebt mich nicht«, sondern um »zu Henning gehen – zu Torben gehen«. Als das Ergebnis feststand, fügte sich Gesine in ihr Schicksal, holte Bruno aus dem Haus und machte sich zu Fuß auf den Weg. Damit schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe, weil Brunos Abendrunde sowieso demnächst fällig war.
Gesine drückte die Klingel des kleinen Hauses, das direkt an der Ausfallstraße lag, die zur Autobahn führte. Ein rotnasiger Mann öffnete ihr und strahlte sofort über das ganze Gesicht: »Gesinchen, das ist ja schön! Torben hat schon erzählt, dass du mal wieder in Buchholz bist. Komm rein. Wir haben gerade fertig gegessen. Heidekarpfen 11. Lecker. Heute ist nämlich unser Familienstammtisch!«
»Äh, nein, danke, Herr Rütters, ich habe leider so gar keine Zeit, ich müsste nur mal kurz ihren Sohn sprechen. Können Sie ihn herholen?«, erklärte Gesine und lief puterrot an, weil sie während des Sprechens keine Luft holte, um dem alkoholgeschwängerten Atem des Mannes zu entgehen – er hatte mit Sicherheit bereits einige Selbstgebrannte als Verteiler intus.
»Immer auf Achse, was?« grinste Torbens Vater sie an, wandte sich ab und rief im Weggehen laut durch die Diele: »Torben, komm mal an die Tür, das Gesinchen ist für dich da.«
Kaum war er weg, sog Gesine erleichtert Luft in ihre Lungen und wartete angespannt. Wann Torben wohl endlich bei seinen Eltern auszog? Wahrscheinlich erst, wenn er eine Frau gefunden hatte, die nahtlos die Arbeit übernahm, die jetzt seine Mutter tat, wie für ihn kochen, waschen und bügeln. Tz, tz. Damals, als sie ihre Liebelei mit Torben gehabt hatte, war sie einmal hier gewesen. Eigentlich hatte Torben nur was holen wollen, doch die Eltern hatten sofort eine Ehekandidatin in ihr gesehen und sie mit Kaffee und Kuchen zum Bleiben bestochen. Danach hatte Gesine sich geschworen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle des Hauses zu setzen.
Nach einer Weile des Wartens begann Gesine von einem Bein auf das andere zu zappeln, weil sie plötzlich ziemlich dringend mal musste, aber auf keinen Fall bei den Rütters auf Toilette gehen wollte. Sie befürchtete, sonst doch noch in die Fänge des Familienstammtisches zu geraten und wieder als potenzielle Frau für Torben behandelt zu werden. Bruno schaute sie mitleidig an und als wollte er ihr zeigen, wie es geht, erhob er sein Bein am Buchsbaum, der den Eingang zierte. »Hund müsste man sein«, murmelte Gesine, war dann jedoch gezwungen, schnell beiseitezuspringen, da der rothaarige Claas an ihr durch die geöffnete Tür vorbeipreschte und zur Garage lief. Im nächsten Augenblick kam Torben durch den Flur gemächlich auf sie zu.
»Na, der hat es aber eilig«, meinte Gesine zu Torben, der seine Arme ausgebreitet hatte, um sie an sich zu ziehen, was Gesine wohlweislich übersah. Stattdessen zog sie ihn am Ärmel zu sich heraus. Da sie nicht stillstehen konnte, machte sie hinter ihm die Haustür zu, hakte sich bei ihm ein und ging, während sie drauflos plapperte, die Straße mit ihm hinunter. Sie erzählte vom Kartenspiel, bei dem Klaus Pregat den Rollstuhl gewonnen hatte, und den Waldtraut Rösler ihm gerade gestern wieder abgenommen hatte, von der Mini-Flagge und den Rollstuhlspuren am Teich, von Klaus Pregats Hobbykeller, in dem bei einem Modellboot eine Flagge fehlte und wo der Rollstuhl mit verdreckten Reifen stand, und dass es doch nicht gerade nett war, auf Reisen zu gehen, wenn eine gute Freundin sicherlich demnächst beerdigt werden würde.
»Ich mein, die Pregats sind Pensionäre und hätten die Reise verschieben können. Ums Geld kann es ihnen auch nicht gehen, davon haben sie genug. Außerdem haben die sicher eine Reiserücktrittversicherung abgeschlossen, wie ich die kenne. Also, was meinst du?«, schloss Gesine ihren knappen Bericht.
»Ähm, äh, wenn ich dich richtig verstanden habe, weisen alle Indizien darauf hin, dass Klaus Pregat Waldtraut Rösler ertränkt hat«, sagte Torben gestelzt. Inzwischen waren sie an einer Tankstelle angekommen und da Gesine meinte, gleich zu platzen, kam sie ihr vor wie ein Geschenk des Himmels.
»Ja, genau. Obwohl mir echt nicht wohl dabei ist, und so ganz glauben kann ich es auch nicht. Sag’, kannst du Bruno kurz halten? Wir reden gleich weiter, ich muss mal eben verschwinden«, beeilte sich Gesine zu erwidern, drückte Torben Brunos Leine in die Hand, wetzte in die Tankstelle hinein, holte sich den WC-Schlüssel, wetzte wieder hinaus und bog um die Ecke, an der ein großes Hinweisschild ihr sagte, wo entlang es zu den Toiletten ging.
Nachdem sie sich erleichtert hatte, war sie viel entspannter. Sie wusch sich in Ruhe die Hände und dabei fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, mit Torben ihren geplanten Deal zu verabschieden, dass er keine Hoffnung mehr in sie, Gesine, verschwendete, wenn sie ihm den vermutlichen Täter lieferte. Mist aber auch! Na, jetzt war es zu spät. Sie trat aus der Toilette hinaus, gerade in dem Augenblick, als Bruno an ihr vorbeihechtete.
»Bruno, hier!«, rief sie dem Hund überrascht zu, doch der hörte nicht. Noch einmal rief sie: »Bruno, hier! Herrjeh, hier fahren Autos, spinnst du denn?« Als auch das nichts nützte, hob sie ihren langen Wickelrock an und sprintete dem Hovawart hinterher. Er stob um die nächste Ecke, sie tat es ihm gleich und musste abrupt abbremsen, sonst wäre sie in Bruno hineingelaufen, der ordentlich Sitz machte, als könne er kein Wässerchen trüben. Dabei hechelte er aufgeregt und zeigte seine liebsten Hundeaugen – allerdings nicht Gesine, die beachtete er nicht weiter, sondern den drei Jugendlichen, die sein Pflegefrauchen bereits von der Holmer Mühle her kannte. Sie standen um das Fahrrad mit dem Kinderanhänger herum, in dem genau wie bei der Mühle, eine Kiste Bier lagerte.
»Ach, Sie schon wieder«, kam es auch gleich von dem Grobschlächtigen, der sie abschätzend anblickte und eine Bierflasche in der Hand hin- und herschwenkte. »Ist das Ihre Töle? Spionieren Sie uns etwa hinterher?«
Bevor Gesine antworten konnte, sprang Bruno den Jungen an, sodass er ins Wanken geriet und fast sein ganzes Bier auskippte. Der Rassehund stürzte sich gleich auf die entstandene Pfütze und schleckte sie gierig auf. Dabei wirkte er äußerst zufrieden.
»Ey, du Mistvieh!«, pöbelte der Junge los. »Du bist ja gemeingefährlich! Und das Bier, das können Sie mir bezahlen! Ich kann aber auch gern die Polizei rufen. Immerhin hat das Vieh mich ohne Grund angefallen«, wandte er sich jetzt an Gesine, in deren Kopf es bei Brunos Anblick ratterte.
»Die Polizei?«, fragte Gesine ruhig und ein diabolisches Lächeln umspielte ihre Lippen, das sie sich aus dem Film Die Hexen von Eastwick abgeguckt hatte und für diese Situation ziemlich passend fand. »Also, die Polizei ist schon im Anmarsch.«
»Hey, Leute, was gibt’s?« fragte Torben, der jetzt tatsächlich um die Ecke kam. »’Tschuldigung, Gesine, wegen Bruno. Er hat sich einfach losgerissen und dann war er weg. Aber es ist ja nichts passiert, wie ich sehe. Moin, Jungs.«
»Moin«, kam es verhalten von allen drei Jungs zurück. Claas war bei dem Anblick seines Onkels blasser als sowieso schon geworden und nach einem Blickaustausch mit seinem grobschlächtigen Freund, der Gesine nicht entgangen war, verkündete er unsicher: »Äh, wir, wir müssen auch mal los.«
»Och, das ist aber schade«, meinte Gesine süffisant. »Die Runde ist doch grad so gemütlich. Außerdem: Wolltet ihr nicht unserem Freund und Helfer was sagen?«
»Nee, nee, ist schon gut«, meinte der Rädelsführer und machte Anstalten zu verschwinden, als Gesine sagte: »Nicht so schnell. Dann hab’ ich was zu sagen.«
»Ist schon gut«, zischte er sie nachdrücklich an. Ihm und seinen Kumpanen war anzumerken, dass ihnen die Situation nicht geheuer war, Gesine ließ sich jedoch nicht beirren. Leise raunte sie Torben zu: »Vergiss, was ich eben gesagt habe« und setze dann in normalem Tonfall an die Jugendlichen gewandt alles auf eine Karte, ohne zu wissen, ob sie recht hatte: »Ich hab euch gesehen. Gestern am Stadtteich. Mit Waldtraut Rösler. Sie war früher mal eure Lehrerin, nicht wahr?«
»Aber …«, wollte Torben einwenden, der wusste, dass Gesine zu diesem Zeitpunkt nicht in Buchholz gewesen war, doch Gesine brachte ihn mit einem Blick und einer hochgezogenen Augenbraue zum Schweigen. Sicherheitshalber schenkte sie dem Polizisten noch ein dankbares Lächeln dafür und machte weiter: »Ich weiß, sie war absolut keine nette Frau, sie hat gnadenlos jeden Schüler durchrasseln lassen, wenn er nicht ihren Ansprüchen genügte. Selbst wenn er dann noch nicht einmal einen Realschulabschluss in der Tasche hatte«, schmückte Gesine ihren Bluff aus.
»Halten Sie die Klappe, kommt Jungs, wir hau’n hier ab. Das müssen wir uns nicht anhören«, fuhr der Grobschlächtige Gesine an. Gesine sah ihm seine unterdrückte Aggressivität an und sie war froh, dass Torben neben ihr stand.