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Amerika, das bedeutete für Hellmuth Karasek und für viele seiner Generation Verheißung und Lebenstraum. Es war der Gegenentwurf zur Nazizeit und zum Stalinismus, den er als "schleichendes, bedrohliches, alles vernichtendes Gift" bezeichnete. Amerika, das war Cole Porter und Marilyn Monroe, das waren breite Straßen, schmucke Häuser, Universitäten, an denen debattiert und protestiert wurde, New York und Hollywood, Philip Roth und John Updike. Amerika war groß, selbstsicher und unglaublich frei – und es bot den Deutschen nach KZ und Kriegsverbrechen ein neues Wertesystem, eine neue Identität und das Versprechen für ein selbstbestimmtes, freies Leben, in dem niemand mehr Angst haben musste.
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Seitenzahl: 433
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1. eBook-Ausgabe 2016
© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Fotos von © Michael Ochs Archives / Freier Fotograf / Getty Images (Elvis Presley und Marilyn Monroe) und Bastei Lübbe / © Olivier Favre (Hellmuth Karasek)
Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Brockhaus/Commission
ePub-ISBN: 978-3-95890-104-9
ePDF-ISBN: 978-3-95890-105-6
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
Fürmeine Frau und meine Kinder
Vorwort
Einleitung
1. Kriegsende
2. Vor und nach dem Endsieg
3. Bernburg
4. Blauer Dunst
5. American Forces Network
6. Währungsreform
7. Von Deutschland nach Deutschland
8. Sahneberge
9. Der kleine Westen im Osten
10. Adler ohne Hakenkreuz
11. Wehe den Besiegten!
12. Nützliche Idioten
13. Stalin und das liebe Jesulein
14. Fahrerflucht aus Bautzen
15. Republikflucht
16. Weltjugendfestspiele
17. Die Rückkehr der Väter
18. Der Federhalter vom Postamt
19. Tropfende Nylonhemden
20. Schneewittchens Sarg
21. Unterdrücktes Stöhnen
22. Das christliche Jahr
23. Am häuslichen Herd
24. Halbsätze
25. »Beethoven, ein Österreicher, Hitler, ein Deutscher«
26. Deutscher Tango
27. Auf den Straßen
28. Double Speech
29. Krepp und Cord
30. Tiger und Fohlen
31. Flucht
32. Sabrina
33. Ein blaublütiges Reh
34. Quadratur des Kreises
35. Die chinesische Schlittenfahrt
36. Schwul
37. Der Vikar
38. Kuppelei
39. Die Sünderin
40. Vera Brühne – eine deutsche Lebedame
41. Billard
42. Hinter den sieben Bergen
43. Weg vom Fenster
44. Ventile
45. Ein Witz
46. Wink mit dem Zaunpfahl
47. Das Wunder von Bern
48. Das Wort zum Sonntag
49. »Don Camillo und Peppone«
50. Englischer Rasen für Elisabeth II.
51. Der Stein des Sisyphos und das Schwert des Damokles
52. Sanfte Rebellen: Elvis Presley und James Dean
53. Entenschwanz und Nietenhose – wie wir Amerikaner wurden
Nachwort von Ulrich Wickert
Im Juli 2015 verbrachten mein Mann und ich, wie in so vielen Jahren davor, unsere Ferien in Südfrankreich, auf dem Weingut meines Schwagers und seiner Frau Ingrid, der Schwester meines Mannes. Wir kamen auch deshalb so gerne hierher, weil mein Mann an diesem Ort gut arbeiten konnte. Unter den Platanen im Garten schrieb er ein ums andere Jahr Bücher, denn Schreiben musste er. Immer.
Auch in diesem Sommer hatte er wieder ein Buchprojekt. »Wie wir alle Amerikaner wurden« sollte es heißen, und es würde sich vor allem um die Nachkriegszeit drehen, als er, ein Junge zwischen 10 und 15 Jahren, in der DDR lebte und von Amerika träumte, von verheißungsvollem Swing, von Sinatra, den er im Radio hörte, im AFN, und von Filmen, die wunderbar ausgestattet waren und in denen Frauen und Männer nicht nur toll aussahen, sondern scheinbar auch über alles verfügten, was das Leben angenehm machte. Vor allem über Freiheit. In seinem Leben gab es damals nämlich nichts davon. Die Nachkriegszeit war eine elende, entbehrungsreiche Zeit für ihn. Vielleicht hat er sich auch deshalb schon früh der Welt der Bücher zugewandt, dem Film, dem Theater.
Das Thema seines Lebens, über das er immer wieder geschrieben hat, war die Flucht. Er war in Brünn geboren, das heute zu Tschechien gehört, war als Kind nach Wien umgezogen, später dann nach Schlesien, ins heutige Polen. Von dort war die Familie nach Bernburg geflüchtet, die Stadt zählte kurz darauf zur DDR. In den Kriegsjahren war er Schüler der Napola gewesen, der »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« der Nazis. Und in den Jugendjahren, zur Zeit des Stalinismus, in der DDR zur Schule gegangen. Er hatte immer nur in einer Diktatur gelebt. »Wir konnten in meiner Kindheit und Jugend nie offen sprechen«, hat er immer gesagt, »und wenn es abends an die Tür klopfte, hatte man Angst.« 1952 wurde er 18 Jahre alt, machte als Jahrgangsbester Abitur in Bernburg und wurde »für seine Leistungen mit einem Band von Stalins Werken« ausgezeichnet, wie er oft jammernd erzählte. Denn genau dieser Band war es, der ihm seinen Jugendtraum zerstörte.
Mein Mann flüchtete 1952 in den Westen. Die Familie mit den vier kleinen Geschwistern blieb zurück. Er hatte ein Fulbright-Stipendium für ein Studium in den USA in Aussicht. Als die Prüfungskommission nun aber vom Stalin-Band las – es war die McCarthy-Zeit mit ihren Untersuchungen gegen »unamerikanische Umtriebe« –, wollte sie einen möglichen Kommunisten keinesfalls zu einem Studium in den USA einladen und lehnte das Stipendium ab.
Mein Mann ging nach Tübingen und begann ein Studium der Germanistik und Anglistik. »Als ich an der Tübinger Uni zum ersten Mal Hölderlins Gedicht vom ›Winkel von Hardt‹ hörte, wusste ich, was zu Hause sein hätte bedeuten können, eventuell. Es war ein Land, das mir meine abhandengekommene, meine gestohlene Geschichte hätte wiedergeben können. Wiedergeben, obwohl ich sie nie besessen hatte.« So hatte er einen anderen Traum. Lebenslang. Den Traum von Amerika. Später hat er Krimis von Raymond Chandler übersetzt. Und Filme von Woody Allen. Und mit Billy Wilder verstand er sich nicht nur so gut, weil beide österreichische Wurzeln hatten und weil beide Flüchtlinge waren, sondern weil sie beide an den amerikanischen Traum glaubten.
Amerika, das war für meinen Mann und für viele seiner Generation Verheißung und Bestreben. Es war der Gegenentwurf zur Nazizeit und zum Stalinismus, den er als »schleichendes, bedrohliches Gift, das sich ausbreitete, alle ansteckte und diejenigen, die sich wehrten, vernichtete«, bezeichnete. Amerika, das war Cole Porter und Marilyn Monroe, das waren breite Straßen, schmucke Häuser, Unis, an denen debattiert und protestiert wurde, New York und Hollywood, Philip Roth und John Updike, die Westside Story statt der Capri-Fischer. Amerika war groß, selbstsicher und unglaublich frei. Nicht alle Deutschen waren davon angesteckt. Und heute, mit dem Abstand von sechs, sieben Jahrzehnten, nach Kriegen in Korea, Vietnam und im arabischen Raum, schaut man auch kritischer darauf. Aber damals, als die Deutschen sich nach KZ und Kriegsverbrechen eine neue Identität geben wollten, weil sie ein neues und anderes Wertesystem brauchten, war der »American way of life« das Versprechen für ein selbstbestimmtes, freies Leben, in dem niemand Angst haben musste, dass es nachts an die Tür klopft. Jedenfalls war ihm das als Erstes aufgefallen, als er 1950 in den Schulferien mal in den Westen geflohen war (und wieder zurück): »Es gab keine bedrückenden Themen, bei denen irgendjemand ängstlich zur Seite blickte, als könnte er belauscht, abgehört werden.«
Über all das wollte mein Mann schreiben, als er im Sommer 2015 mit dem Buch begann. Und als uns allen täglich neue Bilder von Flüchtlingen, zumeist aus Syrien, im Fernsehen gezeigt wurden, beschäftigte ihn das Thema Flucht und Vertreibung wieder mehr denn je.
Nur vier Wochen später kam die Krebsdiagnose. Da blieben ihm noch sieben Wochen zu leben. In dieser Zeit konnte er natürlich sein Buch nicht mehr fertigstellen. Aber unser Freund Michael Seufert, ein erfahrener Journalist und Autor vieler Bücher, war auch in Bernburg aufgewachsen. Genau zehn Jahre jünger als mein Mann, hatten beide sehr viele ähnliche Erfahrungen gemacht, über die sie oft gesprochen haben. Mein Mann wollte unbedingt, dass sein Buch entsteht. Es war sein großer Wunsch. Mithilfe von Michael Seufert ist nun dieses Buch fertiggestellt worden. Ganz im Sinne meines Mannes. Er wäre glücklich darüber gewesen. Da bin ich sicher.
Im Sommer 2016
Dr. Armgard Seegers-Karasek
Da die Deutschen das Jahr 1945 als »Zusammenbruch« erlebten (und nicht das Jahr 1933), das Kriegsende als »Stunde null«, konnte es eigentlich nur bergauf gehen.
Und in den Fünfzigerjahren ging es stürmisch bergauf. Scheinbar war es ein Start mit totaler Chancengleichheit, da die Währungsreform von 1948 alle gleich arm gemacht hatte. Gründerstimmung, Gründeroptimismus lag in der Luft. Man sah das Ziel und konnte deshalb den Weg übersehen.
Fresswelle hieß die erste Etappe: Der Kuchen mit Schlagsahne wurde wiederentdeckt, wiedererobert. Dann warf man sich in Schale: Die Bekleidungswelle rollte. Dann begann man wieder zu reisen, Rudi Schuricke sang die »Caprifischer«, die Deutschen erreichten Kärnten, das Salzkammergut, den Lago Maggiore. Die D-Mark im Visier, konnte man alles Verstörende leicht verdrängen. Hatte man nicht eben in der Nazizeit, die man euphemistisch nur als »jene dunklen furchtbaren Jahre« umschrieb, ein Übermaß an Politik erlebt? Also zog man sich von der Politik zurück, soweit es die Geschäfte erlaubten.
Die Außenpolitik, das besorgte ohnehin der große, allmächtige Bruder, dessen Koreakrieg man soeben zähneklappernd überstanden hatte, ängstlich in den Windschatten gedrückt. Die Teilung: Für die konnte man nichts. Unterbewusst war man froh, dass endlich einmal andere Putz machten, die »Soffjetts« zum Beispiel, und ganz ohne Hitler.
Für innere Angelegenheiten hatte man den Übervater Adenauer, der zwar manchmal streng und christlich tat, aber glücklicherweise Rheinländer und Rosenzüchter war und uns, aus privater Liebe zu de Gaulle, mir nichts, dir nichts mit dem Erbfeind aussöhnte. Und er hatte auch noch einen Ludwig Erhard zur Seite, der uns den Konsum als höchste Moral empfahl: Die D-Mark muss rollen …
So konnten die Deutschen, Reiter über den Bodensee, wahre Wunder vollbringen, vom Wirtschaftswunder bis zum Fräuleinwunder. Sie gaben, ganz und gar nicht christlich, einer christlichen Partei die Mehrheit. Sie spielten in einer totalen materiellen und geistigen Trümmerlandschaft nach alten Regeln weiter – als wäre nichts geschehen.
Wo einige Hunderttausend Palästinenser den Weltfrieden in Gefahr brachten (und immer noch bringen), verkrafteten die Deutschen mit ihrem Versteckspiel Millionen von Flüchtlingen: Der Lastenausgleich und Seebohms Sonntagsreden gehörten zu diesem erstaunlichen Hokuspokus, der in der Geschichte seinesgleichen sucht.
Der Beamtenstaat lebte (Globke hin, Globke her) weiter, und mitten in den Gründerboom der Chicago-Karrieren mit Schwindlern, Bankrotteuren, neureichen Neckermännern und den ewigen Flicks und Krupps hinein stellten die Deutschen das Modell von der sozialen Marktwirtschaft, den Fight um die D-Mark zwischen Unternehmern und Gewerkschaftlern, ein Sozialsystem, das sich, ohne rot zu werden, auf Bismarck berufen konnte: Zuckerbrot ohne Peitsche, so schien es.
Noch ehe die Kinder an ihren braunen Vätern herummäkeln konnten, hatten die sich in Aufbau-Giganten verwandelt – wo man aus Trümmerlandschaften Wirtschaftsmetropolen zu stampfen hatte, wer mochte da nach Vergangenheit, Umwelt, Landschaft fragen? Der VW und die Autobahnen erwiesen sich als nützlich, also musste es früher auch Gutes gegeben haben, rein wirtschaftlich, versteht sich. Man spielte Phönix aus der Asche.
Wer Kindern das erste Fahrrad kaufen will und sich den zweiten Mercedes, kennt keine Erziehungsprobleme, und ohne Kohlen gab es noch keine Energiekrise. Der soziale Wohnungsbau konnte sich Stadtplanung noch nicht leisten, der Nachholbedarf mochte zwar über die Teilung schluchzen, mehr als ein Päckchen für die »Brüder und Schwestern«, eine Kerze im Fenster jedoch war nicht drin.
Im Rückblick gleichen die Fünfziger einer Familie, die mit viel Eifer umzieht, sich über jede neu montierte Lampe in der neuen Wohnung freut. Sie kann und darf noch nicht wissen, dass auch ihre Probleme mit ihr umgezogen sind. Besonders, wenn sie sich auf den Wiederaufbau ihrer alten Gewohnheiten kapriziert. Verdrängen macht Spaß, eine Weile; Erinnern macht mehr Spaß, nicht bloß eine Weile.
Fünf Fotos symbolisieren das Ende des Zweiten Weltkriegs – sie stehen für eine Zeitenwende in der Geschichte. Fünf Fotos, die ganz unterschiedliche Signale an Sieger und Besiegte gaben, fünf Bilder, die für Ende und Anfang standen.
Das erste Foto zeigt verstört blickende Kinder in gestreiften Drillichjacken hinter einem Stacheldrahtzaun. Aufgenommen am 27. Januar 1945 nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Angehörige der 60. Sowjetischen Armee. Die Soldaten entdeckten Leichenberge und stießen auf 7000 Häftlinge, die als nicht marschfähig von den SS-Bewachern zurückgelassen wurden. Zeit, sie umzubringen, hatten die Mörder nicht mehr, die Rote Armee war bereits zu nah. Jakow Wintschenko, damals 19 Jahre alt, erinnerte sich später so: »Es war kein Wachtraum, ein lebender Toter stand mir gegenüber. Hinter ihm waren im nebligen Dunkel Dutzende andere Schattenwesen zu erahnen, lebende Skelette.« Mehr als 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder waren hier von den Nazis vergast, erschlagen, erschossen worden, Zehntausende verhungerten. Das ganze Grauen dieses industriell organisierten Massenmords wurde erst nach und nach erkennbar, als die Alliierten auch die Konzentrationslager in Buchenwald, Mauthausen und Bergen-Belsen befreiten. In Lagerhallen von Auschwitz fanden die Soldaten unter anderem 370000 Herrenanzüge, 830000 Mäntel und mehr als sieben Tonnen Frauenhaar. Am Denkmal in Auschwitz-Birkenau ist zu lesen: »Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.«
Das zweite Foto wurde am 25. April 1945 um 15.30 Uhr an der zerstörten Elbbrücke im sächsischen Torgau aufgenommen. An diesem Tag erreichten amerikanische Truppen die Elbe. Auf der anderen Seite des Flusses standen sowjetische Soldaten. US-Leutnant William Robertson winkte mit einer aus einem Bettlaken improvisierten amerikanischen Fahne, und wenig später begrüßte er den russischen Leutnant Alexander Silwaschko. Das Foto wurde zum Symbol der Waffenbrüderschaft und für das nahe Ende der mörderischen Herrschaft Adolf Hitlers. Amerikanische und sowjetische Soldaten reichten sich die Hände, es wurde gefeiert und getrunken. Die amerikanische Soldatenzeitung »Stars and Stripes« erschien mit der Schlagzeile: »Yanks meet Reds!«
Wenige Tage später machte der russische Kriegsfotograf Jewgeni Chaldei in Berlin sein berühmtestes Bild: Am 2. Mai 1945 hatte die Rote Armee nach verlustreichen Kämpfen auf den Seelower Höhen östlich von Berlin nun auch die deutsche Hauptstadt erobert. Chaldei war aus Moskau eingeflogen, um diesen historischen Moment zu dokumentieren. Die große Fahne hatte er genauso im Gepäck wie seine Leica. Drei sowjetische Soldaten waren auf das Dach des Reichstags gestiegen und hielten das rote Banner mit Stern, Hammer und Sichel in den Händen, unter sich die Ruinenlandschaft Berlins. Chaldei war mit der Szene noch immer nicht zufrieden. Erst als Soldat Alexei Kowaljow auf eine steinerne Vase auf der Brüstung des Reichstags stieg und die Fahne dort mithilfe seines Kameraden Abdulchakim Ismailow befestigte, machte Chaldei das Foto seines Lebens. Nazi-Deutschland ist endgültig besiegt, war die Botschaft des Bildes, besiegt von der ruhmreichen Roten Armee. Die bedingungslose deutsche Kapitulation am 8. Mai blieb im Gedächtnis der Menschen dagegen gewissermaßen nur noch als notarielle Bestätigung der Niederlage.
Der Krieg in Asien tobte jedoch noch immer. Obwohl die japanische Armee nahezu besiegt war, gaben sich die kaiserlichen Generäle nicht geschlagen. Da warf ein Flugzeug der US-Airforce am 6. August 1945 die erste Atombombe auf die Großstadt Hiroshima ab. 90000 Menschen verglühten in der gewaltigen Hitze der Explosion, die Stadt war zu 80 Prozent zerstört. Schätzungsweise 160000 Menschen starben kurz darauf oder auch noch Jahre später an den Folgen der atomaren Strahlung.
Das Bild vom schrecklichen Atompilz ging um die Welt und schockierte die Menschen. Es war das vierte Foto, das eine Wende in der Geschichte symbolisierte. Mit dieser furchtbaren Waffe bestand plötzlich die Möglichkeit, die gesamte Menschheit mit einem Schlag auszulöschen. Kaiser Hirohito verkündete seinen Untertanen: »Wir müssen uns dem Unvermeidlichen beugen.« Doch seine Generäle sträubten sich noch immer dagegen, die Waffen zu strecken. Am 9. August warf die US-Luftwaffe die zweite Atombombe auf die Hafenstadt Nagasaki. Fünf Tage später räumte der Kaiser in einer Rundfunkansprache die Niederlage ein: »Die Zeit ist gekommen, das Untragbare zu ertragen.« Das war am 14. August die Ankündigung der Kapitulation, die am 2. September auf dem US-Schlachtschiff »USS Missouri« mit einer militärischen Zeremonie besiegelt wurde.
Das fünfte Foto machte Alfred Eisenstaedt, Star-Reporter von Life Magazine am 14. August 1945 in New York auf dem Time Square: Ein Matrose der US-Marine in dunkler Uniform mit weißem Käppi hält inmitten einer feiernden Menschenmenge eine Krankenschwester in weißer Tracht im Arm und küsst sie herzhaft. Das Bild erschien auf der Titelseite des Life Magazine. Es wurde überall in den USA als Bild der Freude verstanden, dass der schreckliche Weltkrieg endlich zu Ende war. Der Matrose George Mendonsa, der am nächsten Tag wieder an Bord eines Kriegsschiffes hätte gehen sollen, hörte die Nachricht vom Ende des Krieges und umarmte vor Glück Greta Zimmer Friedman, die zu einer Jubelparade am Time Square gekommen war. Der Kuss wurde das am meisten nachgedruckte Foto von Life. 16 Millionen Amerikaner hatten in Europa, in Nordafrika, im Pazifik und in Asien gekämpft, 300000 Soldaten waren gefallen. Doch jetzt gab es Hoffnung, dass sich nach dem Grauen alles zum Guten wenden würde.
Die Amerikaner waren als die großen Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen. Bis zum japanischen Überfall auf Pearl Harbour war das Territorium vom Krieg unberührt geblieben. »The Best War Ever« nannte der US-Historiker Michael Adams sein 1993 erschienenes Buch. Die USA hätten in diesem Völkerringen zum letzten Mal »ein moralisches Militär gehabt«, für eine gute Sache gekämpft und gewonnen. Und nach dem Krieg habe es eine lange Periode des Wohlstands gegeben.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die USA nach dem Sieg aus Europa zurückzogen, waren sie jetzt zur unumstrittenen Weltmacht aufgestiegen; kein Staat der Erde hatte eine vergleichbare wirtschaftliche und militärische Macht. Der Militäretat war von 1,7 Milliarden Dollar im Jahr 1940 auf 90 Milliarden Dollar 1945 explodiert. Ein Jahr später waren es immer noch 45 Milliarden Dollar. In allen Erdteilen unterhielten US-Army und US-Airforce Stützpunkte, die amerikanische Marine war auf allen Weltmeeren präsent. Die Regierung in Washington bestimmte als einzige Atommacht weitgehend die Weltpolitik und weitete ihre Einflusszonen aus. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gingen als amerikanisches Zeitalter in die Geschichtsbücher ein.
Der Krieg hatte wie ein Konjunkturprogramm für die amerikanische Wirtschaft gewirkt. Das Bruttosozialprodukt hatte sich in fünf Jahren auf 223 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Die Arbeitslosenquote war von 14,6 Prozent auf historisch niedrige 1,2 Prozent gesunken. Der Dollar war zur Leitwährung aufgestiegen, Rohstoffe wie Öl, Gold oder Kupfer, landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Weizen, Mais und Rindfleisch sowie Industrieprodukte vom Auto bis zum Flugzeug wurden weltweit auf Dollar-Basis gehandelt.
Anfangs hatte es in den USA noch Bestrebungen gegeben, die GIs so schnell wie möglich nach Hause zu holen. Der britische Premierminister Winston Churchill hatte kurz vor dem 8. Mai 1945 prophezeit: »Ich bezweifle, dass es vier Jahre nach der Waffenruhe noch einen einzigen amerikanischen Soldaten in Europa geben wird.« Der große Staatsmann irrte. Die USA wollten ihren neu gewonnenen Einfluss in Europa anders als 1918 nicht mehr aufgeben. Nicht zuletzt, weil mit der Sowjetunion unter Diktator Josef Stalin eine zweite Weltmacht herangewachsen war.
Der Verbündete im Kampf gegen Hitler-Deutschland war zum großen Gegenspieler geworden. Die Länder Osteuropas, aus denen die Rote Armee die deutsche Wehrmacht und die mörderische SS vertrieben hatte, waren fortan Staaten unter sowjetischer Oberhoheit. Die russische Westgrenze wurde mit Zustimmung der Alliierten USA und Großbritannien auf die Linie verschoben, auf die Moskau bei der Teilung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt vorgerückt war. Die Polen wurden mit den deutschen Ostgebieten Schlesien, Pommern und Teilen Ostpreußens entschädigt. In Europa begann eine Völkerwanderung ohnegleichen.
In einem Gespräch mit dem jugoslawischen Kommunisten Milovan Djilas brachte Josef Stalin seine Strategie auf eine einfache Formel: »Wer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es geht gar nicht anders.« Und er hatte auch gleich ein historisches Beispiel zur Hand: »Cuius regio, eius religio« (Wessen Gebiet, dessen Religion) galt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555.
Und Stalin ging dabei in der sowjetischen Besatzungszone ganz planmäßig mit einer Doppelstrategie vor. Getreu dem schon 1942 verkündeten Motto »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber, der deutsche Staat aber bleibt« zeigte er sich auf der einen Seite als Wohltäter. Im Hungerwinter 1945/1946 ließ die Militärverwaltung Lebensmittel aus der UdSSR kommen, obwohl dort zur selben Zeit Hunderttausende Menschen an Unterernährung starben. Gleichzeitig schickte Stalin bewährte deutsche Kommunisten aus dem Exil, um die Machtübernahme vorzubereiten. So landete noch vor der deutschen Kapitulation die »Gruppe Ulbricht« mit Stalins neuem Statthalter Walter Ulbricht an der Spitze im Hauptquartier von Marschall Schukow in der Nähe Berlins.
Ihre Aufgabe war klar definiert: Die Gruppe sollte die sowjetische Militärverwaltung darin unterstützen, das öffentliche Leben in Berlin neu zu organisieren, die Verwaltung wiederaufzubauen, Parteien und Gewerkschaften neu zu gründen und vor allem die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Rote Armee das deutsche Volk nicht versklaven, sondern eine »bürgerlich-demokratische Regierung« installieren wolle. Ulbricht nahm Kontakt zu in der Bevölkerung populären und angesehenen Personen auf, etwa zu dem berühmten Chirurgen an der Charité, Professor Ferdinand Sauerbruch, der zum Stadtrat für Gesundheitswesen berufen wurde. Oder zu dem Schauspieler Heinz Rühmann, der ihn bei der Auswahl von Kandidaten für wichtige Ämter beriet. Am 6. Mai präsentierte Ulbricht dem sowjetischen Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin, eine Liste mit Kandidaten für die Posten der Bezirksbürgermeister und Stadträte, die dann auch alle ernannt wurden. Eher repräsentative Posten überließ Ulbricht gern demokratischen Politikern, die Kontrolle über Personalverwaltung, Schulen und Polizei übernahmen Kommunisten. »Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«, lautete Ulbrichts Devise.
Die Briten, vor dem Krieg Herrscher über ein Weltreich, konnten sich zwar auch als Sieger über Nazi-Deutschland betrachten. Schließlich hatte Winston Churchill in der Stunde größter Not – Hitler hatte Polen und Frankreich in »Blitzkriegen« besiegt, die Tschechoslowakei annektiert, Belgien, Luxemburg und die Niederlande besetzt, Dänemark und Norwegen erobert; die deutsche Luftwaffe bombardierte englische Städte, und die Wehrmacht plante eine Invasion auf der britischen Insel – zum entschlossenen Kampf gegen Hitler aufgerufen, den Briten »nichts außer Blut, Mühen, Tränen und Schweiß« versprochen und als Ziel »Victory. Victory at all costs« ausgegeben. Jetzt hatte Deutschland bedingungslos kapituliert. Der Massenmörder Adolf Hitler war besiegt, aber Großbritannien war durch den Krieg wirtschaftlich am Ende.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs herrschten die Briten in Ägypten, Nigeria, Sierra Leone, Rhodesien, Kenia, Tanganjika, Südafrika, Uganda, Ostafrika, Somalia, Papua Neuguinea, Zypern, Palästina, Transjordanien, Irak, Kuwait, Oman, Aden, Britisch-Guayana, Bermuda, Bahamas, Hongkong, Burma, Ceylon und Indien. In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts lebten 458 Millionen Menschen, ein Viertel der Weltbevölkerung, im britischen Weltreich. Das erstreckte sich auf ein Viertel der Landfläche der Erde. Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann auch der rasante Niedergang des Empire.
Mehr als 200 Jahre waren die Briten Herren auf dem indischen Subkontinent. 1858 war das riesige Land britische Kronkolonie geworden. Queen Victoria war gleichzeitig Kaiserin von Indien. Im Ersten Weltkrieg kämpften 1,3 Millionen Inder aufseiten der Briten. 1916 forderten der »Indische Nationalkongress« (INC) und die Muslimliga gemeinsam die Unabhängigkeit. Die Briten reagierten hinhaltend. Daraufhin organisierte Mahatma Gandhi den gewaltlosen Widerstand gegen die Kolonialregierung. Auch im Zweiten Weltkrieg standen indische Soldaten an der Seite der Briten. Mehr als 24000 von ihnen verloren ihr Leben.
Inzwischen waren die Konflikte zwischen Muslimen und Hindus eskaliert. Am »Direct Action Day«, an dem die Muslime am 16. August 1946 in Kalkutta für einen eigenen Staat auf die Straße gingen, kam es zu blutigen Straßenschlachten mit den Hindus; Häuser brannten, es wurde geplündert und gemordet. Der britische General Francis Tuker berichtete dem Vizekönig in Delhi: »Es herrschte hemmungslose Brutalität, verrückte Mörderbanden wurden losgelassen, um zu töten, zu verstümmeln und zu brandschatzen.« Die blutigen Unruhen waren der Auftakt zu weiteren Massakern. Angesichts der eigenen Machtlosigkeit zog sich die Kolonialmacht 1947 Hals über Kopf vom indischen Subkontinent zurück. Britisch-Indien wurde geteilt – in das muslimische West- und Ost-Pakistan und den Hindu-Staat Indien. 15 Millionen Menschen wechselten die Grenzen, der größte Flüchtlingsstrom der Geschichte.
1946 erschütterte eine Finanzkrise Großbritannien. Die Schuldenlast war so immens, dass ein Staatsbankrott drohte. Die USA halfen dem Verbündeten mit einer Anleihe über 3,5 Milliarden Dollar aus der Klemme. Ähnlich hektisch wie in Indien verlief der Abzug der Briten aus Palästina, wo sie mit einem Mandat des Völkerbundes 1920 die Herrschaft von den Türken übernommen hatten. Die Konflikte zwischen den Palästinensern und den jüdischen Flüchtlingen, die hier vor dem Massenmord der Nazis in immer größerer Zahl Schutz suchten, verschärften sich. Als junger General hatte Bernhard Montgomery aus Palästina in einem Brief geschrieben: »Der Jude bringt den Araber um, und die Araber ermorden die Juden. Das ist jetzt, was in Palästina abläuft. Und es wird wahrscheinlich noch fünfzig Jahre so weitergehen.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich für Palästinenser und Juden heraus, dass die Briten beiden Seiten identische Zusagen gemacht hatten. In seinem Buch »1946 – Das Jahr, in dem die Welt neu entstand« zitiert der britische Historiker Victor Sebestyen den Zionisten und Schriftsteller Arthur Koestler so: »Hier war eine Nation, die einer anderen Nation Land versprach, das einer dritten Nation gehörte – eine unmögliche Vorstellung.« In der Folge kam es zu Morden und blutigen Bombenanschlägen. Im Juli 1946 sprengten jüdische Terroristen das »King David Hotel«, den Sitz der britischen Mandatsregierung, in die Luft. 99 Tote und mehr als 200 Verletzte waren zu beklagen. Sieben Monate später übergab Premierminister Clement Attlee das Mandatsgebiet an die Vereinten Nationen. Die UN legten einen Teilungsplan vor, der mit der Staatsgründung Israels im Mai 1948 und dem folgenden Unabhängigkeitskrieg Makulatur war. Die Briten waren mit ihrer Nahostpolitik total gescheitert.
Mit dem 8. Mai 1945 war in Deutschland der schreckliche Traum der Nationalsozialisten vom »Tausendjährigen Reich« ausgeträumt. Schätzungsweise 5,2 Millionen Wehrmachtsoldaten und 1,17 Millionen Zivilisten hatten ihr Leben gelassen. Nur die Sowjetunion hatte mit 13 Millionen gefallenen Soldaten und mit 14 Millionen Ziviltoten mehr Opfer zu beklagen. Als Folge der mörderischen Eroberungspolitik Hitlers und seiner Generäle kam jetzt die Abrechnung. Anders als Adolf Hitler sich die ethnische Säuberung Europas vorgestellt hatte, wurden nun 18 Millionen Deutsche aus der Sowjetunion und den ost- und südosteuropäischen Staaten vertrieben. 12 Millionen Menschen waren schon vor der heranrückenden Roten Armee gen Westen geflohen. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 wurden die neuen Grenzen gezogen. Nun sollte die »Überführung« der deutschen Zurückgebliebenen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn »in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen«. Doch die zwangsweise Vertreibung hatte längst begonnen, auch aus dem Baltikum, Jugoslawien und Rumänien. Nach aktuellen Schätzungen starben dabei mehr als 600000 Menschen. Die Erlebnisse, Hunger, Kälte und Gewalt prägten das gemeinsame Gedächtnis einer ganzen Generation. Die deutschen Verbrechen wurden dagegen schon bald für lange Zeit verdrängt.
Ich war 10 Jahre alt, als unsere Flucht begann.
1945. Dem deutschen Drang nach dem Osten folgte die deutsche Flucht nach dem Westen. Nachdem Hitler seine Heere bis an die Wolga, bis in das Weichbild Moskaus, bis an den Stadtrand Leningrads und bis in den Kaukasus getrieben hatte, begann in den eisigen Winterstürmen des Januar 1945 die Flucht vor der anrückenden Roten Armee auf deutschem Reichsgebiet. Die Zuversicht der unerschütterlichsten Endsieg-Gläubigen begann zu bröckeln, wir flohen mit Millionen anderen vor den anrückenden Sowjetarmeen, die von Volkssturm und Panzergräben aufgehalten werden sollten. Meine Mutter, meine drei kleinen Geschwister und ich packten in Bielitz (der heutige Ort Bielsko-Biala, früher Bielitz-Biala, lag einst genau an der Grenze von Österreich-Schlesien und Galizien, die der Fluss Bialka bildete; jenseits des Flusses erstreckte sich der Stadtteil Biala) hastig die Koffer, warteten stundenlang auf schneeverwehten Bahnsteigen, drängten uns in hoffnungslos überfüllte Züge und fuhren nach Niederschlesien, wo wir auf einem Rittergut Unterschlupf fanden. Mein Vater blieb zurück und baute mit am Ostwall, an jenen Gräben und Straßensperren, die die Sowjetpanzer keine Stunde aufhalten konnten.
Leider hielten sich die sowjetischen Divisionen nicht an unsere ängstlichen Erwartungen; sie bedrohten die Gegend, in die wir geflohen waren, früher als diejenige, aus der wir uns geflüchtet hatten. So brachen wir zum wiederholten Mal überstürzt auf, in Schneestürmen standen wir an Gleisen, meine Mutter war im sechsten Monat schwanger, meine Geschwister waren zwei, vier und fünf Jahre alt, ich war elf. Irgendwie wurden wir als Halberfrorene doch noch von einem Zug mitgenommen und landeten im Sudetenland, in einem Mütterentbindungsheim, das heißt, meine Mutter kam in eine Entbindungsklinik (denn für Mütter hatten die Nazis bis zuletzt etwas übrig, obwohl es unwahrscheinlich schien, dass die zur Geburt Anstehenden noch rechtzeitig zugunsten der Nazis in das Kriegsgeschehen würden eingreifen können). Der Endsieg war auf einmal bestenfalls eine Frage von Wochen. Und obwohl viele Menschen seltsame Siegesprophezeihungen aus alten Klosterinschriften kolportierten und manche immer noch von Wunderwaffen faselten, machte sich langsam eine neue absurde Hoffnung breit. Wie, wenn die westlichen Alliierten, die auch schon das Reichsgebiet vom Westen her eroberten, sich auf einmal mit den Deutschen gegen die Russen verbünden würden? Ich habe viel später gelernt, dass Goebbels vom »Wunder des Hauses Brandenburg« fantasierte, als der amerikanische Präsident Roosevelt starb – war nicht die Zarin Elisabeth rechtzeitig für den großen Fritz gestorben? Und hegte ihr Neffe Peter nicht eine große Bewunderung für Friedrich, der eigentlich von der Koalition schon geschlagen war und dem Zar Peter jetzt das Leben rettete?
Jetzt aber, im Frühjahr 1945, rettete niemand den Deutschen den verlorenen Krieg. Die meisten Deutschen ahnten vielleicht nicht einmal, dass Hitler durch Auschwitz, Lidice und Babi Jar den Deutschen jeden Ausweg verbaut hatte. Mit ihrer brutalen Mitwirkung hatten sie ein Übriges getan. So machte sich eine neue »Rette-sich-wer-kann«-Hoffnung breit. Die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten drängten durch die Tschechoslowakei nach Westen – Richtung Karlsbad. Karlsbad – das musste und wollte man erreichen, Karlsbad – dort waren die Amerikaner. Ich erzähle das, weil das für den Geist der Fünfziger nicht unwichtig wurde: Noch in den letzten Kriegswochen hatte sich im Bewusstsein sehr vieler Deutscher der Feind im Westen, der ja immerhin durch seine Luftangriffe Deutschland in Schutt und Asche gelegt hatte – eben erst, ein grässliches Fanal, Dresden –, zum erwünschten Freund und Retter in der Not gewandelt. Zwischen zwei Übeln wählte man das kleinere, die Tommys und Amis anstatt den Iwan. Ein wenig nahm man es ihnen schon übel, dass sie nicht noch im Krieg unsere Verbündeten wurden, aber Ende der Vierzigerjahre war es so weit: Da hatten Stalinismus und Antikommunismus aus ehemaligen Freunden Feinde gemacht und aus ehemaligen Feinden Verbündete. Wichtig für den Geist jener Jahre war, dass das Westbündnis in vorauseilendem Bewusstsein schon im Januar 1945 in vielen deutschen Köpfen zu spuken begann. Und dass das Ostbündnis von allen, außer von den Kommunisten, als Zwang empfunden wurde. Selbst der Hitler-Stalin-Pakt, mit dem Polen und die baltischen Staaten blutig von der Landkarte geräumt worden waren, hatte in Deutschland nie Zustimmung und Sympathie gefunden. Und in der Sowjetunion wohl auch nicht.
Die Russen rückten näher. Auch wir brachen, so hochschwanger meine Mutter auch war, hektisch nach dem Westen auf. Inzwischen war mein Vater zu uns gestoßen, hatte zusammen mit Freunden einen Trecker mit Teppichen, Nahrungsmitteln und Geschirr organisiert. Im Auto fuhren wir nach Westen, aber die Straßen waren von Flüchtlingsströmen, Pferdewagen, Handwagen, Autos, Fußmarschierenden verstopft. Ich erinnere mich noch, wie einmal, in der Nähe von Trautenau, eine Panik ausbrach (»Die Russen kommen!«), die einer Stampede glich – man stelle sich vor, in einem Stau auf der Autobahn würden alle entweder wie wild davonlaufen oder, sich ineinander verkeilend, losfahren. In den fluchtartig verlassenen Dörfern hörte ich das Brüllen der ungemolkenen Kühe. Jedenfalls setzten bei meiner Mutter die Wehen ein, wir mussten weg vom Wege nach Westen, kamen in einer Scheune bei tschechischen Bauern unter, während der Flüchtlingstreck weiter nach Karlsbad drängte und stampfte.
Und während meine Mutter niederkam, lag ich auf einer Mai-Wiese, die wunderbar grün war und voll mit gelbem Löwenzahn und weißrosa Klee. Und auf einmal sah ich in der gewölbten Landschaft am Horizont lehmgelbe, lehmgrüne Gestalten auftauchen. Sehr weit, sehr still und sehr viele. Die Russen waren da. Die erste Flucht nach dem Westen war missglückt.
Von den Russen überrollt, schlugen wir uns, sobald sich meine Mutter auch nur mühselig bewegen konnte, in Fußmärschen und Zugfahrten aus dem ehemaligen Protektorat und der jetzigen Tschechoslowakei zu einer Bekannten meines Vaters nach Niederschlesien durch – in die Nähe Gerhart Hauptmanns, wie ich später erfuhr. Und dort lebte ich ein Jahr in glücklicher Steinzeit, ohne Schule, ohne Nachrichten vom Rest der Welt abgeschnitten – denn Deutsche durften, bei Todesstrafe, keine Radios besitzen –, ohne Zeitungen, ohne Läden. Aber auch ohne Hunger, denn das Dorf versorgte sich selbst. Die Russen waren fern, wenn sie nicht zum Plündern und Vergewaltigen nah waren. Eines Tages las man auf Anschlägen, dass das Gebiet zu Polen heimkehre, dann passierte lange wieder nichts, dann kamen polnische Bauern in die Höfe der Deutschen, mit denen sie aber im Großen und Ganzen friedlich nebeneinander lebten, die Deutschen als Knechte der neuen Herren. Wurde man von Polen bedroht, so half einem, wenn man Glück hatte und sie fand, die Rote Armee. Es mag ein kindlicher Erinnerungseindruck gewesen sein, aber die Polen und Russen schienen einander weniger zu mögen als die Deutschen und die Russen. Aber vielleicht habe ich, elf Jahre alt, das auch nur als dummes Geschwätz der Alten aufgeschnappt.
Etwa ein Jahr später wurden wir ausgesiedelt: zuerst also im Lager zusammengetrieben, dann in Viehwaggons gesteckt und mit unbestimmtem Ziel auf die Reise geschickt. Ich müsste lügen, wenn ich mich an die damalige Situation als von Angst erfüllt erinnern würde. Die Menschen waren traurig wegzumüssen, aber sie waren froh wegzudürfen. Sie wollten nach dem Westen. In mündlichen Erzählungen hatte sich herausgeschält, dass man mit den Transporten in die westlichen Zonen ausgesiedelt wurde, und das sei gut (in Abstufungen: Amis sehr gut, Briten gut, Franzosen so lala). Oder in die sowjetische Zone, und das sei schlecht.
Da uns nichts gesagt wurde, war die mehrtägige Reise – wir standen oft stundenlang herum, aber ich erinnere mich weder an Hunger noch an Durst, noch an Angst – eine Tombola. Einmal fuhren wir nach Dresden, und das Bild dieser schier endlosen Ruinenlandschaft, ein Kriegskrater gigantischen Ausmaßes, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Schließlich blieb der Zug stehen, wir wurden ausgeladen, landeten in einem Gasthaus, auf dessen Boden zwischen den Tischen wir einige Tage schliefen und an dessen Wänden wir lasen: »Vergass dei Hamit nit!« Und das Lied »Die Sonn geht übern Berg drüben ra / Besamt die Wolken rot«, das den Refrain hatte: »’s ist Feierabend, ’s Tagwerk ist vollbracht«.
Und wieder an einer anderen Wand, auch durch ein buntes Heimatgemälde verstärkt, war zu sehen: »Es grüne die Tanne / Es wachse das Erz / Gott schenke uns allen / Ein fröhliches Herz«. Das musste früher mal ein sogenanntes gemütliches Lokal gewesen sein. Wir waren in Stolberg im Erzgebirge. Stolberg lag in der Nähe von Chemnitz, und Chemnitz liegt in Sachsen. Sachsen war SBZ – die zweite Flucht in den Westen war missglückt. Die Aussiedlung hatte, wie das Leben so spielt, in den Osten geführt.
Da man damals zugeteilt wurde, von Ämtern mit Marken, Bezugsscheinen, Kohlescheinen, Wohnungsanrechtsscheinen mehr schlecht als recht versorgt wurde, aber dennoch unlösbar gegängelt, war an eine Weiterfahrt auf eigene Faust nicht zu denken. Sie wäre ja wohl auch verboten gewesen.
Bernburg ist eine alte Residenzstadt in Sachsen-Anhalt – mehr als tausend Jahre alt, Talstadt und Bergstadt getrennt von der Saale, und über allem thront das prächtige Schloss mit dem Bärenzwinger im ehemaligen Burggraben. Vom Eulenspiegelturm im Schlosshof geht der Blick weit ins Land und auf den Fluss mit Schleuse und Wehr. Hier regierte von 1508 bis 1562 Fürst Wolfgang von Anhalt-Köthen aus dem Geschlecht der Askanier, ein Freund Luthers, der als einer der ersten Landesfürsten die Reformation einführte. Noch heute zeugt im Schloss der »Wolfgang-Bau«, den er im Renaissance-Stil errichten ließ, von seiner Macht.
Es war ein sonniger, warmer Frühlingstag, als amerikanische Panzer am 14. April 1945 auf die Stadt vorrückten. Vom Luftkrieg war Bernburg weitgehend verschont geblieben, nur in der Nähe des Bahnhofs waren drei Tage zuvor Bomben gefallen. 105 Tote waren zu beklagen. In letzter Minuten hatte ein SS-Kommando die moderne Stahlbetonbrücke am Markt gesprengt, die Berg- und Talstadt verband. Auch die Brücke der Reichsbahn und die Annenbrücke, über die der Fernverkehr lief, flogen in die Luft. Die Trümmer lagen jetzt in der Saale. Alle Nazigrößen hatten sich abgesetzt, Kreisleiter Himmerich hatte sein Sparkassenkonto geräumt und seine Familie in Sicherheit gebracht.
Während die Bergstadt schon besetzt war, versuchte Ortsgruppenleiter Dreyer, Hausmeister in der Waldauer Schule, die von Westen gegen die Talstadt vorrückenden Amerikaner mit Panzersperren und Volkssturmmännern aufzuhalten. In der Nacht bauten mutige Anwohner, Männer und Frauen gemeinsam, die sinnlosen Barrikaden wieder ab, um Blutvergießen zu verhindern. Auch in der Talstadt hängten die Leute nun weiße Laken und Handtücher zum Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern. Am nächsten Morgen wurde der Durchhalte-Nazi Dreyer festgenommen und musste unter dem Jubel der Bürger die Breite Straße hinunter vor einem Panzer herlaufen.
Oberbürgermeister Max Eggert, ein alter NS-Kämpfer, wurde im Rathaus gefangen genommen. Der US-amerikanische Stadtkommandant Major Ross M. Stribling und sein Stellvertreter Captain Wallden Moore regierten jetzt in Bernburg. Als Erstes wurden alle NS-Gesetze außer Kraft gesetzt. Amtssprache war ab sofort Englisch. Zehn Bürger, die gut Englisch sprachen, wurden als Dolmetscher verpflichtet. Auf Empfehlung von vier Pfarrern ernannte Major Stribling den politisch unbelasteten Kohlenhändler Reinhold Hey zum Oberbürgermeister.
Am 17. April hingen in der Stadt handgemalte Plakate: »Achtung! Waffen aller Art und Munition sind bis heute 18 Uhr auf dem Waisenhausplatz abzuliefern, Hausdurchsuchung wird vorgenommen. Aerztl. Betreuung u. Lebensmittelversorgung führt die amerikanische Besatzung durch. Plünderungen u. jedes Vergehen gegen die amerikanische Besatzung wird mit dem Tode bestraft.« Und am 2. Mai rief Oberbürgermeister Hey im Namen des »Hauptquartiers Bernburg« alle Wehrmachtsangehörigen auf, sich am 3. Mai 9 Uhr »zwecks sofortigen Abtransports in ein Kriegsgefangenenlager« auf dem Rathaushof einzufinden. »Zuwiderhandelnde werden als Spione behandelt werden.«
Wenig später ging es schon wieder ziviler zu in der Stadt. Mit Genehmigung der Militärverwaltung erschien die »Bernburger Zeitung«, in der zahllose Tauschanzeigen zu lesen waren: ein Fahrrad gegen einen Herrenanzug, ein Klavier gegen ein Kaffee- und Speiseservice, ein Fahrradschlauch gegen Damenunterwäsche, ein Motorrad gegen ein Radio, ein Kleiderschrank gegen einen Kinderwagen, Einweckgläser gegen Schuhe, ein Fleischwolf gegen einen Handwagen.
Das Leben in der Stadt normalisierte sich langsam, nur die gesprengten Brücken waren ein Problem; zwischen Papierfabrik und Schlossufer verkehrten kleine Fähren für Personen und Wagen. Der Eisenbahnverkehr war unterbrochen, Bernburg war Kopfbahnhof geworden. Die Geschäfte waren geöffnet, die Handwerksbetriebe arbeiteten wieder. Am 24. Juni versammelte sich ein 62-köpfiger »Vertrauensrat« als vorläufige Bürgervertretung, der als erste Maßnahme die Stadt in 16 »Lebensmittelbezirke« aufteilte und Verteilstellen für Lebensmittelkarten festlegte. Die Tagesration pro Person: 350 Gramm Brot, 300 Gramm Kartoffeln, 20 Gramm Zucker, 30 Gramm Marmelade, 25 Gramm Fleisch, 10 Gramm Fett. Die Notlage musste verwaltet werden. Auch Heizmaterial war knapp. Die Rationen an Braunkohle und Briketts reichten in den eiskalten Nachkriegswintern nicht aus. Im Busch, einem Wäldchen an der Röße, in Parks und auf Friedhöfen wurden Bäume abgesägt und zu Feuerholz zerhackt.
Ende Juni 1945 machte plötzlich das Gerücht die Runde, die Amerikaner würden zugunsten der Russen abziehen. Was viele nicht glauben konnten, geschah. Wie auf der Konferenz der Siegermächte in Jalta festgelegt, räumte die US-Army Sachsen-Anhalt. Ein Flugblatt der KPD begrüßte die sowjetischen Soldaten hymnisch: »Fahnen heraus zum Empfang der siegreichen Roten Armee! Zum Schrecken der Nazis, den Halben und Lauen zum Trotz marschiert nunmehr in Ablösung der amerikanischen Besatzungstruppen die siegreiche Rote Armee in Bernburg ein.« Am 1. Juli erschienen die ersten russischen Soldaten. Mit gepanzerten Fahrzeugen, auf Pferdewagen und zu Fuß rückten sie in die ehemalige Wehrmachtskaserne oberhalb der Röße, einem Altwasser der Saale, ein. Oberstleutnant Machrow übernahm als Militärkommandant die Diensträume seines amerikanischen Kollegen in der Franzkaserne.
Anders als den Amerikanern war den Rotarmisten Kontakt zur Bevölkerung strikt verboten. Deutsche, die sich nicht an diese Regeln hielten, wurden schwer bestraft. Der Likörfabrikant Werner Damm musste 3000 Reichsmark zahlen, weil er gegen die Vorschrift verstoßen hatte, »an sowjetische Soldaten keine Spirituosen zu verkaufen«. Kinder, die im Winter auf der zugefrorenen Röße Schlittschuh liefen, konnten beobachten, wie russische Soldaten, die offenbar zu spät vom Ausgang zurückkehrten, hinter dem Schlagbaum die ansteigende Kasernenstraße hinaufgeprügelt wurden. Später durften einfache Soldaten nur in Begleitung eines Offiziers zum Einkaufen in die Stadt. Im »Haus der Freundschaft«, das Deutschen und Sowjets als Begegnungsstätte dienen sollte, spielten Tanzkapellen, aber die Bernburger tanzten dort unter sich.
Vor dem Krieg hatte Bernburg 35000 Einwohner. Durch Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten war die Zahl 1946 auf 49500 hochgeschnellt. 1947 wurden schon 57884 Einwohner gezählt, jeder Dritte war Umsiedler. Die fünf »Umsiedlerlager« in der Stadt waren überfüllt. Ende August 1945 erließ die Militärverwaltung die Verordnung über die »Einquartierung von Ostflüchtlingen«. Die kommunale Wohnraumlenkung entschied, in welchem Haus noch Platz für Flüchtlinge war. Die Familien mussten zusammenrücken.
Zahlreiche Straßennamen wurden der neuen Zeit angepasst. Vor der Nazi-Herrschaft hieß eine der beliebten Geschäftsstraßen mit dem »Lili«, dem »Linden-Lichtspieltheater«, Lindenstraße. Die nächsten zwölf Jahre war es die »Adolf-Hitler-Straße«, nun wieder Lindenstraße und später »Wilhelm-Pieck-Straße«, um den ersten Präsidenten der DDR zu ehren. Heute ist es wieder die Lindenstraße. Aus dem Karlsplatz wurde der Rathausplatz, das Bismarck-Denkmal blieb vorerst stehen. Dann wurde es abgerissen und durch ein Marx-Engels-Denkmal ersetzt, der Platz wurde entsprechend umgetauft. Die traditionelle Einkaufmeile Wilhelmstraße, die sich von der Hauptpost zur Saale hinunterwindet, wurde nun zur »Stalin-Straße«. Nach dem Tod des sowjetischen Diktators wurde daraus die »Thälmann-Straße«. Aus der Augustwurde die Leninstraße und aus dem Martinsplatz der »Platz der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft«.
Nach dem Einzug der Roten Armee machte ein Mann Karriere, der die Bürger staunen und zittern ließ: Alfred Rieck, der erste Polizeichef im Nachkriegs-Bernburg. Der angebliche NS-Verfolgte sagte von sich, er sei von den Nazis als KPD-Mitglied wegen Vorbereitung zum Hochverrat ins KZ Oranienburg verschleppt worden, bei einem Transport ins KZ Dachau sei ihm jedoch die Flucht gelungen, und er habe seitdem im Untergrund gelebt. Rieck stand unter dem besonderen Schutz des gefürchteten sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Schon bald gingen bei Bürgermeister Rudolf Eberhard, der am 5. September sein Amt übernommen hatte, Beschwerden über willkürliche nächtliche Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Beutezüge der Rieck-Polizisten ein. Bürgermeister Eberhard bat die Landespolizei in Dessau um Amtshilfe. Und wenig später stand nach den Aussagen ehemaliger KZ-Häftlinge in Leipzig fest, dass Rieck als Krimineller im KZ gesessen hatte – wegen Diebstahls, Betrugs, Hehlerei und Zuhälterei vor der Nazizeit mehrfach verurteilt. Im Januar 1933 hatte er bei einem Raubüberfall einen Bankangestellten schwer verletzt und war zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.
Der russische Stadtkommandant enthob Rieck seines Amtes und ließ ihn verhaften. Der örtliche NKWD-Chef holte ihn jedoch wieder aus dem Gefängnis, und Rieck konnte sein Schreckensregime fortsetzen. Kein Ruhmesblatt für die Militärverwaltung. Doch im Januar 1946 wurde er wegen Missbrauchs der Dienstgeschäfte endgültig entlassen. Mehrmals kam er wieder in Haft.
Plakate mit öffentlichen Bekanntmachungen der Militärverwaltung und des Bürgermeisters, die überall in der Stadt ausgehängt wurden, illustrieren den Alltag im Nachkriegs-Bernburg. So wurden an unterschiedlichen Tagen unter anderem die Abgabe von Tabakwaren, Weihnachtskerzen, Rasierseife, Zündhölzern und Einkellerungskartoffeln angekündigt. Halter von Hühnern, Enten und Gänsen wurden verpflichtet, Geflügelfedern abzuliefern. Im November 1945 wurde ein »Verbot zur Benutzung elektrischer Geräte in den Abendstunden zur Energiesparung« verkündet und kurz darauf die »Aufhebung der Sperrstunde während der Weihnachtsfeiertage«. Am 9. Januar 1946 wurde die »Verteilung von Käse bzw. Quark anstelle von Fleisch« bekannt gegeben.
Mit den Komödien »Der Raub der Sabinerinnen« und »Die spanische Fliege« begann der Spielbetrieb im ehemaligen herzoglichen Hoftheater im Sommer 1945 wieder. Im Oktober hatte Musikdirektor Fritz Bollmann ein neues Ensemble zusammengestellt, das mit der Oper »Martha« von Friedrich Flotow debütierte. Das Drama »Hedda Gabler« von Henrik Ibsen hatte im Januar 1946 Premiere. Lustspiele wie »Hochzeitsreise ohne Mann«, »Der Mustergatte« oder das Kriminalstück »Parkstraße 13« ließen die Zuschauer den tristen Alltag für einen Abend vergessen. Das Theater suchte per Plakat »stimmbegabte, gutaussehende Damen und Herren zur Chorverstärkung« und bot eine »Ausbildung in der Bühnentanz- und Ballettschule unter Leitung der Ballettmeisterin E. Schubart« an.
Die sowjetische Militärverwaltung kümmerte sich darum, die Kommunisten als führende Partei zu etablieren – was allerdings schwierig wurde. Inzwischen hatte sich die SPD in Bernburg ebenso gegründet wie die CDU und die liberale LPD. Und in der SPD gab es keine Begeisterung, sich mit der KPD zu vereinen. Das war aber die Vorgabe aus Moskau. So kam es am 26. Februar 1946 zu einer gemeinsamen Mitgliederversammlung von KPD und SPD im Hotel »Stadt Leipzig«. Die Sozialdemokraten lehnten das Zusammengehen mit den Kommunisten in einer spontanen Abstimmung ab. Da solche Urabstimmungen aber von den Sowjets in ihrer Besatzungszone verboten waren, wurde der SPD-Politiker Ewald Lichtenberg sofort in die Kommandantur gerufen, wo ihm eröffnet wurde, dass das Votum auf Befehl von Generalmajor Kotikow in Halle für nichtig erklärt werde. Die Drohung war überdeutlich. Drei Wochen später wurde in der Aula des Friederiken-Lyzeums die Zwangsvereinigung besiegelt. Am 19. Oktober reiste SED-Chef Walter Ulbricht zu einer Wahlkampfrede nach Bernburg. Einen Tag später fand in der Provinz Sachsen die Landtagswahl statt. Die SED kam auf 45,8 Prozent der Stimmen, die LPD errang 29,9 Prozent und die CDU 21,8 Prozent. Es war die letzte annähernd demokratische Wahl in Sachsen-Anhalt.
Aufsehen in ganz Deutschland erregte 1950 der Solvay-Prozess. 1883 hatte der belgische Solvay-Konzern in Bernburg eine Soda-Fabrik eröffnet. 1940 hatten die Nationalsozialisten die Deutschen Solvay-Werke Bernburg unter Zwangsverwaltung gestellt. Mitte April 1945 war die Soda-Produktion beendet worden. Unter dem Vorwand, Solvay sei finanziell mit dem IG-Farben-Konzern verflochten und habe kriegswichtige Güter hergestellt, ließen die sowjetischen Militärbehörden die Produktionsstätten in Bernburg bis April 1948 vollständig demontieren und 1800 Kilometer weit nach Osten in die Sowjetunion bringen. Die Deutsche Solvay-Werke AG hatte ihren Geschäftssitz inzwischen nach Solingen verlegt.
Gleichzeitig mit der Demontage wurde in Bernburg eine neue Fabrik geplant. Sie sollte wieder monatlich 40000 Tonnen Soda produzieren, einen wichtigen Rohstoff für die Herstellung von Waschmitteln und Glas. Zwei Jahre später, Februar 1950, begann der Wiederaufbau.
Parallel dazu liefen die Ermittlungen zu einem Schauprozess, mit dem eine kommunistische Juristin zu zweifelhaftem Ruhm kam – Hilde Benjamin, im Volksmund als »rote Hilde« verschrien. 1902 als Helene Marie Hildegard Lange in Bernburg geboren, zog sie mit ihren Eltern drei Jahre später nach Berlin. Sie besuchte das Gymnasium und studierte Jura. 1926 heiratete sie Dr. Georg Benjamin, den Bruder des Schriftstellers Walter Benjamin. Ein Jahr später wurde sie Mitglied der KPD. 1930 trat sie als erste Frau vor einem deutschen Schwurgericht auf. Es war ein spektakulärer Prozess gegen Mitglieder des »Rotfrontkämpferbundes«, die wegen Mordes an dem Nazi Horst Wessel angeklagt waren. Wessel war Zuhälter und bei einem Mietstreit erschossen wurden. NS-Propagandachef Joseph Goebbels stilisierte ihn zum Partei-Märtyrer, der im »Horst-Wessel-Lied« besungen wurde. Hilde Benjamin verteidigte Wessels Vermieterin Elisabeth Salm so erfolgreich, dass der Völkische Beobachter schäumte: »Unsere Rache wird sie treffen.«
1933 wurde ihr Mann in »Schutzhaft« genommen, und Hilde Benjamin durfte nicht mehr als Anwältin arbeiten. Sie war fortan als Justiziarin in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin tätig. Georg Benjamin wurde im Sommer 1942 im KZ Mauthausen ermordet. Hilde Benjamin, nach den Nürnberger Rassegesetzen »Halbjüdin«, überlebte von Freunden versteckt die NS-Diktatur. Nach Kriegsende trat sie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei und machte Karriere. 1947 übernahm sie die Personalabteilung der »Deutschen Zentralverwaltung der Justiz« und wurde zwei Jahre später Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR.
Am 14. Dezember 1950 begann unter ihrem Vorsitz im Kurhaussaal in Bernburg der Prozess gegen die Mitglieder der »Solvay-Bande«, die wegen Sabotage und Spionage angeklagt waren. Sie sollten mit gefälschten Unterlagen 3,4 Millionen Mark an Subventionen erschlichen und verbotenerweise Chemikalien in den Westen verschoben haben, alles im Interesse der Solvay-Konzernherren und gegen die »Sowjetische Militär-Administration« (SMA). Fritz Lange, Chef der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle in Ostberlin, hatte das Ziel formuliert und vorgeschlagen, »das Oberste Gericht der DDR mit der Aburteilung der Solvay-Konzern-Verbrecher und ihrer Helfershelfer zu beauftragen und alle jene Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die durch Leichtfertigkeit und bürokratische Schlampereien das Treiben der Konzern-Verbrecher begünstigt haben«.
Die Verhandlung wurde im Radio übertragen, und die schneidende Stimme von Hilde Benjamin erinnerte fatal an das Toben des Nazi-Blutrichters Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofs. Dr. Erich Plünnecke, Direktor der Deutschen Solvay-Werke Bernburg, wurde nach einwöchigem Prozess wie zwei seiner Kollegen zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, die anderen sieben Angeklagten zu 2 bis 10 Jahren Zuchthaus. Wenig später wurde Hilde Benjamin DDR-Justizministerin. Als sie 1967 in Pension ging, verlieh ihr die Stadt Bernburg die Ehrenbürgerwürde.