Nachts im Watt - Johannes Wilkes - E-Book

Nachts im Watt E-Book

Johannes Wilkes

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Beschreibung

"Karl-Dieter, räche uns!", fordern Agathe, Bertha und Cecilie ihren Freund im Traum auf. "Rette uns, werden sie gerufen haben", kommentiert sein Lebensgefährte Kommissar Mütze abgeklärt. Doch als Karl-Dieter die ertrunkenen Freundinnen liebevoll für die Beerdigung auf Spiekeroog herrichtet, macht er eine schreckliche Entdeckung. Und nun muss auch Mütze eingestehen, dass hier kein natürlicher Tod vorliegt. Zusammen mit dem Inselpolizisten Ahsen geht er wieder einmal auf Mörderjagd. Karl-Dieter soll sich inzwischen ganz auf die Vorbereitung der Beisetzungsfeier konzentrieren. So weit die Theorie … Denn Karl-Dieter findet nicht nur heraus, dass die alten Freundinnen einem Verbrechen internationalen Ausmaßes auf die Spur gekommen sind. Außerdem standen sie kurz davor, das vielleicht bestgehütete Geheimnis auf der Insel zu lüften.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Johannes Wilkes
Nachts im Watt
Spiekeroog-Krimi
ProlibrisVerlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Spiekeroog.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto:
© mgebauer – Fotolia.com
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-178-5
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-170-9
www.prolibris-verlag.de
Ein herzliches Dankeschön
an Katharina Jerke, Katrin Tönshoff
und an das Team der Linde!
Der Autor
Johannes Wilkes, in Dortmund geboren, als der Pott noch rauchte, entwickelte erste Mordfantasien beim Sezieren einer formalingetränkten Leiche während seines Medizinstudiums in München. Er arbeitet heute als Jugendpsychiater, ist Autor zahlreicher unblutiger Bücher (u. a. Der kleine Kindertherapeut, Ich singe dir mit Herz und Mund, Der Aldi-Äquator) und leidenschaftlicher Strandgänger auf Spiekeroog. Hier spielt sein erster Kriminalroman: Der Tod der Meerjungfrau. Danach widmete er sich einer Gauner komödie (Ein Terrorist im Gepäck), veröffentlichte einen zweiten Krimi mit dem Pärchen Karl-Dieter und Mütze auf Spiekeroog im Prolibris Verlag (Strandkorb 513) und lässt die beiden unterschiedlichen Helden nun erneut auf der Insel ermitteln.
Sand. Feinster Nordseesand. Ein eigenartiger, zauberhafter Stoff, immer neu, immer anders. Herrlich leicht rieselt er dir an heißen Tagen durch die Finger; hart wie Beton wird er, wenn sich das Meer zurückzieht und alles mit einer Salzkruste überzieht; weich wie Daunen schmiegt er sich an die Hänge der sonnigen Dünen; schmerzlich peitschen dir die Körner ins Gesicht, wenn die Nordseestürme toben. Zu schlammigem Brei aber wird der Sand im Schlickwatt, wenn er sich mit dem Meerwasser mischt. Dann geben die Füße hilflos nach, dann sinkt man tiefer, dann müht man sich, seine Beine wieder herauszuziehen, dann tritt man hastig einen Schritt beiseite, versinkt erneut in dem morastigen Grund, schlimmer noch als zuvor. Dumm, wenn man sich zu weit hinausgewagt hat, wenn der rettende Strand in weiter Ferne liegt. Dann schaut man sich immer hektischer um, sieht, wie die Meereswüste immer größer wird, spürt die Wellen die Knie erreichen, die Hüfte, den Bauch. Dann fängt man zu schreien an, dann ruft man laut nach Hilfe. Bald schlagen einem die Wellen vor die Brust, bald sind Mund und Nase schon fast auf Meereshöhe. Verzweifelt versucht man wohl noch, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, doch der Sand, der verteufelte Sand ist so weich, ist viel zu weich, viel zu …
Sonntag
Windiges Wetter, bewegte See. Alles drängte sich zur Reling, als der Fischkutter die Taue anzog, um das Netz zu bergen. Ächzend legte sich das Boot zur Seite, der Fang schien sich gelohnt zu haben. Zwischen die buntgekleideten Familien gequetscht stand Karl-Dieter. Gestern erst war er mit seinem Freund auf Spiekeroog angekommen, nach einer elend langen Zugreise, und gleich heute hatte ihm Mütze die Überraschung mit der Fischkutterfahrt gemacht. Wie sehr hatte er sich darüber gefreut! Jetzt waren sie bereits zum vierten Mal auf der Insel, nie jedoch hatte Karl-Dieter den Fischern über die Schulter schauen können.
Während alles gespannt darauf wartete, dass das gefüllte Netz aus den Wellen auftauchte, hatte sich Mütze auf die andere Seite des Bootes begeben. Der Kommissar hielt nichts von solchen touristischen Aktionen; Gästebespaßungen, nannte er sie spöttisch. Umso dankbarer war Karl-Dieter dem Freund für dieses Geschenk. Die See steckte doch voller Geheimnisse. Was lebte nicht alles in dem feuchten Element! Was würde man zu sehen bekommen an Meeresgetier, an Fischen, Muscheln und Krabben! War es nicht wunderbar, dass sich überall Leben regte, in den höchsten Höhen des Gebirges ebenso wie in den Tiefen der Ozeane? Die Erde war ein großartiger Planet.
Endlich war es so weit, die Taue zogen an, zogen das Netz aus dem Wasser, prall gefüllt begann es, sich aus der Gischt zu erheben. Im selben Moment jedoch ertönte entsetztes Geschrei. Was war das? Was hing da zwischen den zappelnden Fischen und Krebsen im Netz? Im Sturmwind schaukelten drei alte Damen und starrten mit toten Augen durch die Maschen.
Das ABC-Geschwader! Karl-Dieter hatte es auf den ersten Blick erkannt, trotz der derangierten Frisuren, aus denen das Salzwasser troff. Mit panischem Blick klammerte er sich der an die Reling. Das durfte nicht wahr sein! Nicht seine alten Freundinnen, die netten Damen aus Bottrop, nicht Agathe, Bertha und Cecilie, die drei letzten Trümmerfrauen des Ruhrgebiets, mit denen er so viele schöne Inselstunden verbracht hatte! Tot hingen sie im Netz. Was für ein Unglück! Wie hatte das geschehen können?
Alles schrie und kreischte durcheinander. Mit kalkweißen Gesichtern zogen die Eltern ihre Kinder hinunter in die Kajüte des Bootes. Erst als die Kleinen außer Sichtweite waren, schwenkte der Kapitän das Netz an Bord und ließ es klatschend auf die Planken fallen. Heftig tanzten die Fische auf den durchnässten Damen herum, die noch ihre gelben Gummistiefel trugen. Die drei blieben nebeneinander liegen und hielten sich noch an den Händen gefasst, als wären sie im Tode vereint gestorben. Ein unendlich trauriges, ein unendlich anrührendes Bild.
Sofort waren Mütze und auch Karl-Dieter zur Stelle. Die alten Damen mussten ertrunken sein, das war offensichtlich. Äußere Verletzungszeichen waren keine zu erkennen. Hatten sie sich zu weit vorgewagt und waren von der Flut überrascht worden? Karl-Dieter fing an zu zittern. Stumme Tränen rollten aus seinen Augen, und selbst Mütze, der knallharte Kommissar, konnte eine gewisse Rührung nicht verbergen. Ein solches Ende, wie schrecklich! Auch wenn er zu den drei Damen ein recht gespaltenes Verhältnis besaß, hatten sie sich doch stets in seine Ermittlungen einmischen müssen, so etwas gönnte man seinem schlimmsten Feinde nicht. Karl-Dieter faltete die Hände und wollte ein stilles Gebet sprechen, um der Situation Würde zu geben, als es zwischen den Brüsten der Toten zu zappeln begann. Aus dem Ausschnitt ihrer durchnässten Trevirajacken wühlten sich drei Seezungen ans Licht und glitten über die toten Gesichter hinweg auf den Schiffsboden. Karl-Dieter wandte sich ab und musste würgen. Was zu viel ist, ist zu viel!
* * *
In der Gepäckhalle des Spiekerooger Hafens stand schon die XXL-Apfelsinenkiste bereit. Spiekeroog-Kenner wissen, in ihr werden die Inseltoten an Bord der Fähre transportiert. Der provisorische Sarg hatte sich bewährt, kein Urlaubsgast vermutete eine Leiche darin. Neben der Kiste lag das ABC-Geschwader, immer noch hielt es sie sich an den Händen. »Wie traurig«, dachte Karl-Dieter bei sich, »um sie in die Kiste zu stecken, muss man sie gewaltsam trennen.« Ahsen schien seine Gedanken erraten zu haben.
»Ne, ne«, sagte der Inselpolizist in seiner bedächtigen Art, »in diesem Fall brauchen wir unsere Obstkiste nicht. Die drei Damen haben verfügt, auf Spiekeroog bestattet zu werden.«
»Du kennst das Testament?«, fragte Mütze überrascht, während Max, der schlaksige Inselarzt, die Totenscheine ausfüllte.
»Das Testament nicht, aber den letzten Wunsch der drei.«
»Wie das?«
»Haben die Damen mir gestern erst erzählt, in der Schlange vor der Bunten Kuh.«
In der Bunten Kuh wurde Eis der Extraklasse angerührt, es glitt wie Sahne über den Knorpel. In diesem Jahr war Kaktuseis der Renner, Pistazienkugeln, die in dunkelgrüne Streusel getaucht und zu kunstvollen Gebilden übereinander getürmt wurden.
»Dann haben sie ihren Tod erahnt, ihn vielleicht sogar selbst …«
»Ne, ne, Mütze, unmöglich Selbstmord! Die drei waren so munter wie drei Quietscheenten«, erwiderte Ahsen.
»Aber wieso sind sie auf ihre Beerdigungswünsche zu sprechen gekommen?«
»Hat sich so ergeben. Was man sich so erzählt, wenn man in einer Schlange vor ’ner Eisbude steht. Ich hab gemeint, wie schön, dass sie immer noch reisen und jedes Jahr treu nach Spiekeroog kommen. Darauf haben sie nur gekichert und gesagt, wenn sie nicht mehr reisen könnten, würden sie erst recht kommen. Wie das, habe ich gefragt, und dann haben sie mir erzählt, dass sie sich auf Spiekeroog begraben lassen wollten. Sie hätten alles schon mit dem Inselpastor geklärt und sich eine Grabstelle reservieren lassen. Auch ihre letzte Reise würde sie also nach Spiekeroog führen, aber nur, wenn Tote keine Kurtaxe zahlen müssten, sonst könnten sie sich das sandige Plätzchen nämlich nur eine Saison leisten.«
Das klang nun wirklich nicht wie jemand, der freiwillig in den Tod gehen will, fand Mütze. Auch Karl-Dieter, sein Partner, den er lieber seinen Freund nannte, konnte sich einen Selbstmord nicht vorstellen, nicht beim ABC-Geschwader, das doch alles schon erlebt und überstanden hatte. Die drei Damen waren trotz ihres Alters stets fidel wie Eichhörnchen aus dem Bottroper Stadtpark. Warum sollten sie sich umbringen?
»Der Wirt des Buschwindröschens hat mir erzählt, die drei seien bereits um kurz vor sechs los. Eine kleine Wattwanderung, gut für den Teint, hätten sie augenzwinkernd gemeint, dann seien sie los«, sagte Ahsen und verscheuchte mit seiner Dienstmütze eine Fliege, die auf der Nase von Agathe herumspazierte.
»War denn heute früh eine Wattführung?«
»Eben nicht. Dann wären die drei ja noch am Leben. Sie sind offensichtlich auf eigene Faust losgezogen, ein tödlicher Fehler.«
Betrübt schaute Karl-Dieter auf das ABC-Geschwader hinab und fingerte in seiner Jackentasche herum. Dann zog er drei Herzmuscheln hervor, die er beim gestrigen Nordsee-Begrüßungsspaziergang aufgelesen hatte, und legte den Toten zärtlich eine auf die Brust. Jede Muschel war einzigartig. Es gab keine, die der anderen glich. Wie die Muscheln, so der Mensch. Deshalb war der Verlust so unglaublich traurig. Niemand war zu ersetzen, schon gar nicht die Busenfreundinnen. Mütze seufzte still. Busenfreundinnen! Wie sich das anhörte! Karl-Dieter hatte echt Seele.
* * *
»Ich glaub nicht dran.«
»Woran glaubst du nicht?«
Die beiden Freunde standen an Mausis Hafenbude und Mütze ließ sich ein Jever schmecken. Der Wind hatte nachgelassen, zwischen den tief fliegenden Wolken blitzte es blau auf.
»Ich glaub nicht an einen Unfall.«
»Woran glaubst du denn?«, fragte Mütze amüsiert.
»Ich weiß nicht, so dumm sind die drei doch nicht. Sie kommen jedes Jahr nach Spiekeroog, sie kennen die Insel wie ihre Handtasche, kennen auch alle Gefahren. Warum sollten sie so blöd sein, allein ins Watt zu spazieren?«
»Vielleicht wollten sie Wattwürmer ausbuddeln.«
»Wattwürmer, wozu das?«
»Vielleicht, um zu angeln.«
»Angeln? Das ABC-Geschwader?«
»Was weiß denn ich. Etwas verschroben waren die Alten doch schon immer.«
»Du konntest sie eben noch nie leiden.«
»Komm, hör auf! Ganz normal waren die doch nicht.«
»Di mortus nisi nil bene.«
Mütze nahm einen tiefen Schluck. De mortuis nil nisi bene, hieß das. In Latein machte ihm keiner was vor. Über Tote nichts außer Gutes, das war die gängige, aber völlig falsche Übersetzung. Wäre ja auch ein Irrsinn! Was gab es beispielsweise über Hitler Gutes zu reden? »Bene« war ein Adverb und bezog sich auf die Art des Sprechens. Also hieß das Sprichwort richtig übersetzt »Von den Toten nichts außer in guter Weise«, das bedeutete, man solle fair von ihnen sprechen. Was war unfair daran, das ABC-Geschwader als nicht ganz normal zu bezeichnen? Dennoch, so ein Ende war natürlich tragisch.
»Ich seh sie vor mir, wie sie im Watt stehen und winken«, sagte Karl-Dieter mit belegter Stimme und blickte über das silbern glänzende Wattenmeer, »bestimmt haben sie noch nach uns gerufen. Hilfe, Karl-Dieter!, haben sie geschrien, während das Wasser immer höher stieg. Zuletzt haben nur noch ihre Köpfe aus dem Wasser geguckt.«
Karl-Dieter schüttelte es. Mütze hielt ihm seine Bierflasche hin und Karl-Dieter nahm tatsächlich einen Schluck.
»Gibt’s hier auch Schnaps?«, fragte Mütze.
Mausi, die wettergegerbte Imbiss-Chefin, nickte. »Aber klaro! Einen Küstennebel?«
»Egal. Hauptsache, es rappelt in der Zentrale.«
* * *
Wie sehr hatte sich Karl-Dieter auf diese Ferien gefreut. Er war mehr als urlaubsreif. In den letzten Wochen war er nur noch auf dem Zahnfleisch durchs Theater gekrochen, ja, fast schon auf dem nackten Kiefer. Ein junger Regisseur, ein Typ aus Berlin, hatte gemeint, Shakespeares komplette Werke aufführen zu müssen, 38 Dramen, jeden Abend ein anderes Stück. Natürlich brauchte jedes Stück ein eigenes Bühnenbild. Und das an einem kleinen Stadttheater wie dem von Erlangen. Karl-Dieter hatte kaum eine Nacht ausreichend geschlafen. Zu allem Unglück hatte es sich bei dem jugendlichen Maestro auch noch um ein Genie gehandelt. Selbst an manchem Premierenmorgen waren ihm noch neue Ideen gekommen, die Karl-Dieter als Bühnenbildner husch, husch zu verwirklichen hatte. Beim Sommernachtstraum war dem Kerl der Tannenwald plötzlich zu statisch erschienen, deshalb sollte bis zum Abend eine fränkische Streuobstwiese daraus werden und zwar exakt so eine, wie die, von der er in der Nacht geträumt hatte. Er war so verliebt in seine eigenen Einfälle. Zähneknirschend hatte Karl-Dieter die Tannen gefällt und Äpfel an grüne Laubscheiben genagelt … Nur die Aussicht auf zwei Wochen Nordseeluft hatten ihn durchhalten lassen. Wie hatte er sich auf Spiekeroog gefreut und nun dieser Schock!
Stumm ging er an der Seite von Mütze am Meeressaum entlang. Die Weite des Horizonts, das ewige Spiel der sich übermütig überschlagenden Wellen, der Muschelteppich zu ihren Füßen, all das erfreute ihn jetzt nicht mehr. Konnte es nicht einen Urlaub ohne Leiche geben? Schweigend schritten sie voran, bis sie am Badestrand vorbeikamen. Alle Strandkörbe waren vergittert, kein Wunder bei dem Wetter. Der Wind hatte wieder zugenommen, trieb feine Regenschauer über die Insel. Morgen sollte es sonnig werden, aber selbst diese erfreuliche Aussicht konnte Karl-Dieters Stimmung kaum heben.
»Schau mal«, sagte Mütze plötzlich und blieb stehen. Er deutete auf einen der Strandkörbe in der vorderen Reihe, der von einem Sandwall umgeben war. Karl-Dieter, der auf die Ferne nicht gut sah, kniff die Augen zusammen. »Ich werd nicht mehr«, sagte Mütze kopfschüttelnd, »komm mit!«
Die beiden traten näher heran. Jetzt erkannte auch Karl-Dieter, was auf dem Sandwall geschrieben stand. Fein säuberlich hatte jemand mit kleinen Muscheln einen Gruß gelegt: »Moin, Mütze! Moin, Karl-Dieter!« – Das ABC-Geschwader! Das konnte nur vom ABC-Geschwader stammen. Erneut spürte Karl-Dieter, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Wie sehr hatten sich die drei auf das Wiedersehen gefreut und nun lagen sie kalt und steif in der dunklen Gepäckhalle. Nie wieder würden sie den Sonnenuntergang auf Spieker-oog erleben, nie wieder ihre Zehen in den heißen Sand bohren. In diesem Moment schwor sich Karl-Dieter, alles dafür zu tun, ihnen einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.
* * *
»Karl-Dieter, ich bitte dich, halt dich zurück«, sagte Mütze während sie gegen den Wind ankämpfend weiterschritten, »wir gehören schließlich nicht zur Verwandtschaft.«
»Sie haben doch niemanden außer uns, das weißt du doch«, erwiderte Karl-Dieter, »nein, wenn sie schon so tragisch sterben mussten, so sollen sie wenigstens eine schöne Beerdigung bekommen.«
Karl-Dieter ging es nun besser. So war es immer. Nichts war schlimmer, als einer Situation passiv ausgeliefert zu sein. Konnte man sich einbringen und Pläne machen, war alles nur noch halb so schlimm. Das sah man doch überall, zuletzt beim Umgang mit den Flüchtlingen, der so viele ratlos gemacht hatte. Die einen hatten die Ärmel aufgekrempelt und geholfen, die anderen hatten stumm vor der Glotze verharrt und die Bilder der einreisenden Menschengruppen wieder und wieder an sich vorüberziehen lassen. Aktivität war die beste Therapie. Nichts half besser, Ängste und düstere Gedanken zu verscheuchen, davon war Karl-Dieter überzeugt.
Mit lebhaftem Schritt ging er nun den Strand entlang, viele Ideen kamen ihm, wie man die Feier zu einem Fest werden lassen konnte. Immerhin handelte es sich um eine dreifache Beerdigung, schon deshalb war ein besonderer Aufwand gerechtfertigt. Und als Bühnenbildner verfügte er über reichlich Erfahrung und Ideen für die Inszenierung einer solchen Feierlichkeit. Gleich morgen wollte er sich mit dem Inselpastor zusammensetzen. Beschwingt bückte er sich und griff nach einer glänzenden Schwertmuschel. Die Insulaner würden staunen!
* * *
Aus den Fenstern von Kap Horn, dem Restaurant der Linde drang sanft und warm das Licht. Die oberen Fensterfelder waren bunt verglast, was den anheimelnden Eindruck noch verstärkte. Das alte Inselhotel, das auf eine über 150-jährige Geschichte zurückblicken konnte, atmete noch den Geist längst vergangener Zeiten, ein Refugium für Nostalgiker, die dennoch nicht auf moderne Annehmlichkeiten verzichten wollten. Als die Freunde die Norderloog entlangschlenderten und schon zum Eingang der Linde abbiegen wollten, kam ihnen ein alter Freund entgegen. Ahsen. Dem Wetter zum Trotze schleckte er an einem Mega-Eis, das aus kunstvoll aufeinandergesetzten stacheligen Kugeln bestand, die sich oben sogar verzweigten. Das war doch nicht etwa …
»Den Kaktus müsst ihr unbedingt probieren«, lachte er, während seine Oberlippe bereits von grünen Bartstoppeln geziert wurde. Er wollte schon weitergehen, da fiel ihm etwas ein. »Ach übrigens, ihr geht doch morgen früh sicher zum Strand, könnt ihr mir einen Gefallen tun?«
»Na sicher, Herr Kollege, was ist es denn?«, sagte Mütze jovial.
Ahsen griff in seine Dienstjacke und zog einen kleinen Schlüssel mit Bart hervor, an dem ein grüner Plastikanhänger befestigt war. »Der Strandkorbschlüssel der drei Toten. Könntet ihr ihn bitte zurückgeben? Ich muss morgen früh zum Festland, Fortbildung für Inselpolizisten in Harlesiel.«
»Fortbildung? Was steht auf dem Programm?«
»Nur der übliche Kram. Umgang mit herrenlosen Strandsachen und Neuerungen zur Straßenverkehrsordnung auf Strandwegen.«
Mütze musste grinsen. Klang wirklich spannend.
»Keine Sorge, Ahsen, bilde dich nur in aller Ruhe fort! Wir kümmern uns um den Schlüssel.«
* * *
Nacht über Spiekeroog. Nur das gedämpfte Rauschen der Brandungswellen war zu hören. Wie herrlich schläft man doch auf der Insel. Vor allem, wenn man weiß, dass die alten Hexen nicht mehr sind. Was mussten sie auch in Dingen herumschnüffeln, die sie nichts angingen? Nun hat das Meer seine Arbeit getan, lautlos und gründlich, sehr gründlich. Und niemand wird je den geringsten Verdacht schöpfen. Was für eine wunderbare Nacht!
Montag
»Um Himmels willen, Karl-Dieter! Was ist los?«Mütze fingerte nach dem Schalter und knipste die Bettlampe an.
Schweißnass hing Karl-Dieter an seinem Hals. Nur mühsam begriff der Ärmste, wo er war.
»Ich hab was Schreckliches geträumt«, murmelte er.
»Bestimmt, dass die Waage wieder ein Kilo zu viel anzeigt«, gähnte Mütze.
»Idiot!«, protestierte Karl-Dieter.
»Es waren doch wohl nicht zwei?«
Beleidigt warf sich Karl-Dieter auf die andere Bettseite, dass die Federn quietschten.
»Nun sag schon, Knuffi, was ist es denn gewesen?«
Doch Karl-Dieter hatte keine Lust mehr, Mütze seinen Traum zu erzählen. Er hätte sich wohl auch nur lustig darüber gemacht. Manchmal könnte er ihn an die Wand knallen. Ob das bei allen Beziehungen so war, nach so vielen Jahren?
Was für ein entsetzlicher Traum! Ganz deutlich hatte Karl-Dieter seine alten Freundinnen vor sich gesehen. Völlig durchnässt und mit toten Augen hatten sie auf einer schmalen Sandbank gestanden und mit ihren gichtigen Händchen verzweifelt gewunken, während die Flut unaufhaltsam stieg. Immer noch klangen ihm ihre Stimmen im Ohr. »Karl-Dieter, räche uns!«, hatten sie gerufen, »Karl-Dieter, räche uns!«
»Rette uns, werden sie gerufen haben«, sagte Mütze. Natürlich hatte Karl-Dieter ihm nach einer Schmollminute doch alles erzählt.
»Nein, ich bin doch nicht blöd! Räche uns!, haben sie gerufen.«
»Knuffi, sei nicht dumm. Was soll denn das für einen Sinn geben? Wie willst du sie denn rächen? Willst du auf die böse Flut eindreschen?«
»Ich weiß es doch auch nicht, ich erzähl doch nur, wie’s war.«
»Und jetzt wollen wir hübsch weiterschlafen«, gähnte Mütze und knipste das Licht wieder aus. Wie spät mochte es sein? Höchstens drei. Während Mütze wieder zu schnarchen begann, lag Karl-Dieter aber noch lange wach. Der Traum ging ihm nicht aus dem Sinn. Karl-Dieter glaubte noch an Träume.
* * *
»Du spinnst!«
»Tu ich nicht.«
»Und ob!«
»Ich spinne nicht, ich betreibe Trauerarbeit!«
»Wir werfen den Schlüssel jetzt hübsch in den Kasten.«
»Mensch, Mütze, jetzt sei doch nicht so! Drei Menschen sind auf entsetzliche Weise gestorben, drei gute Bekannte von uns, die ich sogar als Freundinnen bezeichnen würde. Und du willst einfach so zur Tagesordnung übergehen?«
»Also, meine Freundinnen waren sie nicht! Und deine Spinnereien machen die drei doch auch nicht wieder lebendig.«
Die Freunde standen im schönsten Mittagssonnenschein am hölzernen Räderwagen des Strandschlüsselverleihers, während sich alles an ihnen vorbeidrängte: fröhliche Familien mit Bollerwagen, den jüngsten Spross zwischen den Handtüchern verstaut, strandtaschenschleppende Väter, hüpfende Kinder mit erwartungsfrohen Käschern in der Hand, lachende Freundinnen mit schicken Sonnenbrillen, sich einen Volleyball zuwerfende Jungs, besorgte Großmütter, die mit gezückter Sonnenmilch auf Enkelkinderjagd gingen, und sehnige Opas mit verbeulten Strohhüten und verbrannten Nasen.
Mütze und Karl-Dieter bildeten einen Fels in der Brandung, strandhungrig schob sich alles links und rechts an ihnen vorbei. An der Schmalseite des Schlüsselwagens war ein kleiner Briefkasten angebracht, durch dessen Schlitz man nicht mehr benötigte Strandkorbschlüssel einwarf.
»Du wirfst den Schlüssel jetzt brav in den Kasten«, versuchte es Mütze ein letztes Mal, »denk daran, was wir Ahsen versprochen haben!«
Karl-Dieter setzte sich durch. Wieder einmal. Zu grausam erschien ihm die Vorstellung, dass in dem Strandkorb der armen Toten bereits heute wieder das lustigste Strandleben einkehren würde. Sicher, das Leben würde weitergehen, irgendwann würde in dem verwaisten Strandkorb wieder jemand sitzen und das Meer genießen. Aber eine kleine Zeit des Innehaltens, des Trauerns war jetzt eine Notwendigkeit. Nach dem Frühstück hatte Karl-Dieter ein altes schwarzes T-Shirt aus der Schublade gezogen und mit seiner Nagelschere in schmale Streifen geschnitten, die er am Strandkorb des ABC-Geschwaders anbringen wollte, sein ganz persönlicher Trauerflor.
»Trauerflor am Strandkorb, du hast Ideen«, schnaubte Mütze, beschloss aber, sich nicht weiter aufzuregen, dafür war der Tag zu schön. Über das tiefe Blau des Meeres rollten schneeweiße Schaumkronen auf den Badestrand zu, die aufgezogene Fahne der Rettungsschwimmer lud flatternd zum Bade ein, zahlreiche Wasserfreunde tummelten sich bereits im salzigen Nass und auch Mütze freute sich darauf, sich in die Wellen zu stürzen. Jetzt war nicht die Zeit für überflüssige Diskussionen. Und eigentlich war er es ja auch gewesen, Mütze, der den Schlüssel nicht hatte einwerfen wollen. Auf dem Weg durch die Dünen zum Strand hatte er den Fehler begangen, Karl-Dieter vorzuschlagen, den Strandkorb des ABC-Geschwaders zu übernehmen, schließlich war es nicht leicht, zur schönsten Hochsaison noch einen zu bekommen, noch dazu in der ersten Reihe.
»Du spinnst!«, hatte Karl-Dieter protestiert, »das geht ja gar nicht! Hast du denn keinen Sinn für Pietät? Außerdem, was sollen denn die Leute denken? Sollen wir uns als Profiteure des Todes beschimpfen lassen?«
So mieteten sie sich ihren eigenen Strandkorb, den letzten, den es noch gab, vergewisserten sich, dass das ABC-Geschwader seine Miete schon im Voraus bezahlt hatte und gingen dann den Plankenweg hinunter zum Strand. Während Mütze barfuß lief, vermied es Karl-Dieter, seine Aldiletten vor dem Erreichen des Sandes auszuziehen, hatte er sich doch beim letzten Urlaub einen Spreißel in seine empfindlichen Fußsohlen eingetreten. Das Ding hatte sogar zu eitern begonnen, bis es Mütze mit brutaler Gewalt herausgezogen hatte. Mütze verspürte nicht die geringste Lust, sich an Karl-Dieters Trauerritualen zu beteiligen und verabschiedete sich schnell, um den eigenen Strandkorb zu beziehen. Am Korb des ABC-Geschwaders angekommen, der die hübsche Nummer 123 trug, stieg Karl-Dieter vorsichtig über die Sandmauer der umgebenden Burg, zog die T-Shirt-Trauerflorstreifen aus den Taschen seiner Strandhose hervor und begann, sie am Plastikgeflecht des Korbes zu befestigen.
»Was tuan denn Sie da?«, ertönte eine misstrauische Stimme in seinem Rücken.
Karl-Dieter drehte sich um. Aus dem benachbarten Strandkorb 127 beugte sich ein knochiger, älterer Mann und blickte über den Rand seiner Sonnenbrille.
»Kannten Sie sie … ich meine, kannten Sie Ihre Strandnachbarinnen?«, stotterte Karl-Dieter.
»Ja, freilich«, sagte der Mann in bayerischem Dialekt, »aber wieso kannten?«
»Furchtbare Geschichte, ich kann’s selbst noch gar nicht richtig fassen. Die drei sind gestern auf tragische Weise ums Leben gekommen.«
»Himmel Herrgott Sakra!«, entfuhr es dem Mann, »Alle drei auf einmal?«
»Ein furchtbares Unglück, ein Unfall. Sie müssen sich bei Ebbe verlaufen haben und sind im Meer ertrunken. Die drei sind alte Bekannte von mir, wissen Sie … wir waren befreundet.«
»Ja, mei, a solchernes Unglück!« Der Mann schüttelte entsetzt den Kopf. »Dann müssen Sie der Herr Mütze sein.«
»Nein, nein«, erwiderte Karl-Dieter und über sein gutmütiges Gesicht huschte ein schmerzliches Lächeln. Dann deutete er auf den zweiten aus Muscheln geschriebenen Namen. »Der hier bin ich, Karl-Dieter. Bring nur rasch etwas Trauerflor an.«
»Trauerflor … freilich, freilich … lassen Sie sich nicht stören.«
Interessiert schoben sich drei Gesichter aus dem Strandkorb 119 nach vorne und beobachteten die Szene, drei kleine Männer mit asiatischen Gesichtern, Japaner vielleicht oder Chinesen. Ein etwas überraschender Anblick, war Spiekeroog doch fest in deutschen Urlaubshänden. Aber wer weiß? Vielleicht hatte ein chinesisches Urlaubsmagazin einen Geheimtipp verraten.
Als sich Karl-Dieter wieder um seinen Trauerflor kümmerte, fiel sein Blick in das Innere des vergitterten Strandkorbs. Auf der Sitzfläche lag eine Zeitschrift. Karl-Dieter zögerte kurz und warf einen hastigen Blick zum Nachbarstrandkorb, dann schloss er das Gitter auf. Die Zeitschrift war vom Regen durchnässt. Sie bestand aus lauter Kreuzworträtseln.
* * *
»Vielleicht das letzte Lebenszeichen unserer Freundinnen«, sagte Karl-Dieter, als er Mütze endlich gefunden hatte. Ihr Strandkorb befand sich im östlichen Teil des Badestrands, weit entfernt von der Strandburg des ABC-Geschwaders.
Ungläubig und mit leicht angewiderter Miene starrte Mütze auf das durchnässte Heft. »Würde es dir etwas ausmachen, das Lebenszeichen außerhalb unseres Korbes zu deponieren?«
»Ich wollte das Heft ohnehin in die Sonne legen«, sagte Karl-Dieter beleidigt.
Er hatte bereits versucht, die Zeitschrift durchzublättern, sehr vorsichtig und behutsam, manche der durchnässten Seiten aber waren schon zerrissen, so dass er das Heft schnell wieder zusammengelegt hatte. Vielleicht konnte man es für die Traueransprache nutzen. Um fünf Uhr war er mit dem Inselpastor verabredet, besser gesagt mit dem Inselvertretungspastor, denn der eigentliche Inselpastor machte Urlaub in den Bergen. Karl-Dieter wollte dem Pastor Material für seine Rede liefern und die Details der Beerdigung absprechen. Da man nicht viel über das Leben des ABC-Geschwaders wusste, war jeder Hinweis wertvoll, da kam das Rätselheft wie gerufen. War ein Rätselheft nicht eine wunderbare Metapher für das Leben? Steckte nicht auch unser Leben voller Rätsel, die gelöst werden wollten? Manchmal glückte das und manchmal glückte es nicht. Und wenn es nicht glückte, war das wirklich schlimm? Erst dadurch bekam das Leben doch seine Würze. Wie langweilig, wenn sich alle Rätsel lösen ließen.
»Ich weiß nicht, was an einem durchnässten Heft eine Metapher sein soll«, sagte Mütze und rieb sich seinen trainierten Körper mit einem Frotteehandtuch trocken. Er hatte Karl-Dieter schon so oft gesagt, er solle seine Handtücher nicht bügeln. Mütze liebte es, wenn sie knochenhart waren. Aber Karl-Dieter erwiderte darauf stets nur, gebügelt würden sie besser duften, eine Argumentation, die Mütze wiederum nicht verstand. Er benutze seine Handtücher zum Trocknen und nicht, um daran zu riechen. Ach Mütze! Er war und blieb ein Prolet.
Karl-Dieter erhob sich ächzend und legte das Rätselheft zum Trocknen auf das Dach ihres Strandkorbes, nicht ohne es vorsichtshalber noch mit seinen Aldiletten zu beschweren. Wie schnell war auf Spiekeroog etwas davongeweht! Der Inselvertretungspastor würde staunen. Die schönste Metapher für die Beerdigungsrede würde sich vielleicht aus dem letzten Rätsel ergeben, mit dem sich das ABC-Geschwader beschäftigt hatte. Vielleicht war es nur zur Hälfte ausgefüllt. »Nicht alle Geheimnisse können wir auf Erden lösen«, hörte er den Inselpastor schon sagen, »in einer anderen, einer besseren Welt aber wird uns Antwort auf all unsere Fragen gegeben werden.« Karl-Dieter sank neben Mütze in den Strandkorb und beschloss, ein Nickerchen zu halten. Kaum aber hatte er seinen Kopf zurückgelehnt, da tauchte wieder das ertrinkende ABC-Geschwader vor seinem inneren Auge auf. »Räche uns«, rief es ihm zu, »räche uns!«
* * *
Friedreich Schwertfeger, der Vertreter des Inselpastors, war ein Schwabe, den es, seitdem er sich im Ruhestand befand, jeden Sommer als Urlaubsvertretung auf die Insel zog. Er war ein Alt-68er, der keine Friedensdemo ausgelassen und sich in Mutlangen zusammen mit prominenten Anti-Atomkraft-Aktivisten festgekettet hatte. Es gab ein Pressefoto, das ihn Arm in Arm mit Heinrich Böll zeigte. Wegen des Protestes hatte man ihn, im Gegensatz zu den prominenten Teilnehmern, für einen Tag in Arrest genommen. Die Aktion hatte die kleine Gemeinde von Apfeldingen, der er vorstand, einem Bauerndorf auf der Schwäbischen Alb, für etliche Jahre tief gespalten. Die einen hatten ihn für verrückt erklärt, die anderen hätten ihn am liebsten in den Heiligenstand erhoben.
Der Pastor wohnte für die Dauer seines Inselaufenthaltes in einer Gästewohnung, die sich im schmucken Pfarrhaus in der Straße Bi d’Utkiek befand. Stets kam er allein nach Spiekeroog. Seine Frau hatte sich vor zehn Jahren von ihm scheiden lassen und war mit dem Fußballtrainer von Apfeldingen zusammengezogen, einem dreißig Jahre jüngeren Mann, was allgemein für Furore gesorgt hatte, vor allem, weil der Trainer zu allem Überfluss auch noch katholisch gewesen ist. Den Pastor hingegen hatte vor allem gestört, dass es sich bei seinem Nebenbuhler um einen Reserveoffizier gehandelt hatte, was er als persönlichen Angriff auf seine pazifistische Grundhaltung empfand.
Karl-Dieter fand sich pünktlich um fünf Uhr am Pfarrhaus ein. Friedreich Schwertfeger bat ihn in die kleine Wohnküche seines Gästeappartements, an deren Schmalseite Picassos Friedenstaube flatterte, und bot ihm einen Pott Kaffee an.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, Herr …«
»Karl-Dieter. Sagen Sie doch bitte Karl-Dieter zu mir.«
»Ist mir sehr sympathisch!«, sagte der Inselpastor, streckte seine Füße unter die Küchenbank und klapperte mit seinen Birkenstocklatschen. »Ich schlage vor, dass wir uns duzen. Unter Christenmenschen sollte das Du zur allgemeinen Anrede erhoben werden. Das Sie hat der Teufel erfunden, um die Menschen voneinander zu entfremden. Unser Herr Jesus Christus jedenfalls hat jeden geduzt, selbst Pontius Pilatus, das sollte uns Vorbild sein, also nicht der Pilatus, aber das Du. Ich heiße übrigens Friedreich. Aber nun erzähl, Klaus-Dieter, was du über unsere lieben Toten weißt.«
»Karl-Dieter.«
»Entschuldige, Karl-Dieter natürlich.«
Und so begann Karl-Dieter zu erzählen. Von seiner ersten Begegnung mit den drei Bottroper Seniorinnen auf Spiekeroog, von deren Witz und Cleverness, die dazu beigetragen hatte, bereits drei Inselmorde aufzuklären, und nicht zuletzt von den vielen guten Kochrezepten, die man ausgetauscht hatte. Karl-Dieter erzählte, bis ihm die Augen feucht wurden. Nur das Rezept für den angeblich besten Schokoladenkuchen hatte er bis heute nicht ausprobiert, was er dem Inselpastor aber verschwieg. Unter die erhitzte Kuvertüre solle man schlachtfrisches, noch dampfendes Schweineblut rühren, hatte das ABC-Geschwader augenzwinkernd empfohlen, eine Vorstellung, die Karl-Dieter körperliches Unwohlsein verursacht hatte. Sonst aber hatte von der ersten Minute an eine tiefe Seelenverwandtschaft zwischen ihm und dem ABC-Geschwader bestanden. Besonders ihr großes Herz würde ihm für immer im Gedächtnis bleiben. Die drei waren weder zusammengezuckt, noch hatten sie pikiert geschaut, als sie von seiner Männerpartnerschaft erfahren hatten, ja, sie hatten Karl-Dieter sogar freudig darin bestärkt, den Bund der Ehe anzustreben und sich auf ein gemeinsames Kind zu freuen.
»Ein gemeinsames Kind? Mit den Verstorbenen?«, fragte der Pastor irritiert und ließ seinen Kugelschreiber klicken, mit dem er sich auf einem Block Notizen machte.
»Ein gemeinsames Kind mit Mütze natürlich, meinem Partner«, stellte Karl-Dieter klar.
»Natürlich, natürlich …«, sagte der Pastor und bog sich seine John-Lennon-Brille zurecht.
»Und das hier könntest du vielleicht auch noch für deine Ansprache gebrauchen«, sagte Karl-Dieter und zog mit andächtiger Miene das sonnengetrocknete Rätselheft aus seiner Strandtasche.
»Was ist das?«, wollte der Pastor verwundert wissen.
»Das letzte Lebenszeichen der drei Damen«, sagte Karl-Dieter stolz, »ein Kreuzworträtselheft aus ihrem Strandkorb, bitte sehr!«
Mit spitzen Fingern begann der friedensbewegte Pastor in dem welligen Heft herumzublättern. Auf seiner zerfurchten Stirn formte sich ein großes Fragezeichen. Was sollte er mit den alten Kreuzworträtseln anfangen? Pikiert schob er das Heft über den Tisch zurück.
»Ich danke dir, ich werd’s vielleicht erwähnen.«
Karl-Dieter war sichtlich enttäuscht, dass sich der Pastor nicht von seinem Enthusiasmus anstecken ließ, und steckte das Heft wieder ein.
Der Beerdigung sollte eine kleine Andacht im Eichenwäldchen vor dem Dünenfriedhof vorausgehen. Viele Trauergäste würde man ja kaum erwarten; für eine Extrafeier in der Inselkirche erschien der Aufwand daher zu groß, hatte Friedreich Schwertfeger gemeint. Karl-Dieter war vollkommen einverstanden. Eine Andacht unterm freien Inselhimmel wäre sicherlich ganz nach dem Geschmack des ABC-Geschwaders. Anschließend würde man alle, die Lust darauf hätten, noch zu einer Waffel in die Teestube einladen, auf eigene Rechnung natürlich, denn Geld für ihre Beerdigung hatten die Alten wohl kaum hinterlassen. Noch besser vielleicht aber war ein kleiner Imbiss am Strandkorb gegen eine kleine Spende.
»Bis dann also, Friedrich.«
»Friedreich!«
»Friedreich, entschuldige, und Dank für alles.«
»Geh mit Gott, Klaus-Dieter.«
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»Jetzt reicht es aber wirklich, Knuffi!«
Die beiden Freunde saßen im Garten der Givtbude, der hübschen Pizzeria neben dem Inselbuchladen. Durch das Laub der alten Linden fiel flirrend das Abendlicht auf die Tische, es war noch angenehm warm, wie überhaupt die Temperaturen an der See zum Abend hin kaum abfielen. Karl-Dieter schob die Leuchttüte mit dem Teelicht beiseite, um auf dem Tisch Platz für die dampfenden Pizzen zu schaffen. Er hatte sich schon gedacht, dass Mütze nicht begeistert sein würde und doch war er fest entschlossen, Totenwache zu halten. Sicher hatten die Alten nichts mehr davon, aber darum ging es nicht. Es ging darum, welchen Respekt man lieben Verstorbenen bezeugte. Sie nicht achtlos zu entsorgen, als sei der Tod ein Betriebsunfall, der in der Moderne nicht mehr vorkommen dürfte, darauf kam es an. Die Totenwache diente nicht der Seele der Toten, sondern der Seele der Lebenden. Abschiednehmen war ein behutsamer Prozess, dafür brauchte es Zeit.
»Und Rituale«, fügte Karl-Dieter noch hinzu, »die Moderne hat den Fehler gemacht, alle Rituale über Bord zu werfen.«
Der Kellner brachte noch zwei Salatteller. Nun wanderte die Leuchttüte auf den benachbarten Stuhl. Eine Nacht bei den Toten zu wachen, im Kerzenschein, zu beten, stille Lieder zu singen und seiner Freundinnen zu gedenken, was war daran verkehrt?
Mütze begann seine Pizza zu zersäbeln. Gut, dann eben auch noch eine Totenwache! Karl-Dieter war wirklich nicht zu stoppen. Sollte er nur! Dann würde er sich eben mit Ahsen einen lustigen Abend machen. Ahsen hatte ihn bereits gefragt, ob er Zeit habe, er käme mit der letzten Fähre vom Festland zurück. Nichts mache ihn durstiger als Fortbildungsveranstaltungen und im Blanken Hans stecke sicher noch das ein oder andere Pilsken in der Leitung.
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Es war schon spät, als Karl-Dieter mit dem Hafenmeister am Fahrkartenschalter vorbei das Kaiufer hinunter zur Gepäckhalle ging. Längst war die Sonne untergegangen, rot blinkten die Signallampen der Windräder vom Festland über das dunkle Wattenmeer herüber. Im Nordwesten aber, zur Seeseite hin, hing noch ein lichter Schleier. Nie wurde man auf Spiekeroog von der Nacht überrascht, nicht im Sommer. Die Dämmerung ließ sich hier unendlich viel Zeit.
Der Hafenmeister hieß Kai Bornekamp, wurde aber von allen nur Borni genannt. Er war ein gemütlicher Sauerländer, den es vor Urzeiten auf die Insel verschlagen hatte. »Alle echten Seebären sind im Grunde Landratten«, pflegte er zu sagen, »denkt an Freddy Quinn, den alten Österreicher, oder an Sascha Hehn, den Kapitän des Traumschiffs, den hat man mit Isarwasser getauft.«
Jetzt zog er seinen schweren Schlüsselbund aus der Tasche und schaute Karl-Dieter an, als wäre er nicht ganz bei Trost: »Und du bist dir wirklich sicher, dass du die Nacht mit drei Leichen verbringen willst?«
Borni duzte jedermann aus Prinzip.
»Ich werde bei meinen toten Freundinnen wachen, jawohl«, erwiderte Karl-Dieter und versuchte, entschlossen zu klingen.
»Wachen, so, so«, brummte Borni, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Er hatte schon manches erlebt, manch schräger Vogel machte auf Spiekeroog Urlaub, solch ein Wunsch aber war ihm noch nicht vorgetragen worden. Allerdings hatten auch noch nie drei Leichen in der Gepäckhalle gelegen, auf Spiekeroog wurde im Allgemeinen höchst selten gestorben. Knarrend öffnete sich die Stahltür, hohl antwortete das Echo. Bornemann ließ das Deckenlicht aufflammen. Im hinteren Teil der Halle sah Karl-Dieter das ABC-Geschwader liegen, sechs gelbe Gummistiefel zeigten ihm ihre Sohlen. Immer noch lagen die drei Alten dicht beisammen und hielten sich an den Händen.
»Selbst als wir sie nach hinten geschleppt haben, haben sie sich nicht losgelassen«, sagte Borni, »der Insel-Doc hat gemeint, die Totenstarre sei bei alten Menschen noch ausgeprägter.«
Karl-Dieter trat näher heran. Etwas würdevoller hätte man die Toten schon betten können, dachte er sich. Zwar lagen sie nicht mehr auf dem nackten Betonboden, doch auch die untergeschobene Holzpalette sah sehr unpassend aus für ein Totenlager. Noch dazu lagen die Leichen gleich neben einem Regal voller Eierlikörflaschen. Karl-Dieter beugte sich nieder. Die Muschelherzen, die er auf ihre Brust gelegt hatte, waren nicht mehr zu sehen. Vermutlich waren sie beim Transport runtergefallen, und keiner hatte es für nötig gehalten, sie wieder auf ihren Platz zu legen.
Bornekamp glaubte zu spüren, was in Karl-Dieter vor sich ging. »Die armen Tanten«, sagte er und versuchte, mitfühlend zu klingen, »was zum Geier hatten sie aber auch im Watt zu suchen?«
»Spricht was dagegen, dass ich ein paar Kerzen anzünde?«, fragte Karl-Dieter.