Odin - Harry Eilenstein - E-Book

Odin E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Ein Buch über Odin den Schamanen, über die Runen, über die Astralreise, durch die der Schamanismus entstanden ist, über Odins Vorgeschichte seit der Altsteinzeit, über seine Verwandlung zum Kriegergott, über ihm verwandte Götter bei anderen Völkern, über die Heilung von Traumas, über Ahnenkult und Familienaufstellungen, über Odin in den Märchen der Gebrüder Grimm, über das, wozu Odin heute werden könnte ... und über noch mehr ...

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Bücher von Harry Eilenstein:

- Astrologie (320 S.)

- Photoastrologie (64 S.)

- Handbuch für Zauberlehrlinge (408 S.)

- Der Lebenskraftkörper (230 S.)

- Die Chakren (100 S.)

- Meditation (140 S.)

- Drachenfeuer (120 S.)

- Hathor und Re:    Band 1: Götter und Mythen im Alten Ägypten (432 S.)    Band 2: Die altägyptische Religion – Ursprünge, Kult und Magie (396 S.)

- Muttergöttin und Schamanen (140 S.)

- Christus (60 S.)

- Odin (284 S.)

- Kursus der praktischen Kabbala (150 S.)

- Eltern der Erde (450 S.)

- Blüten des Lebensbaumes:    Band 1: Die Struktur des kabbalistischen Lebensbaumes (370 S.)    Band 2: Der kabbalistische Lebensbaum als Forschungshilfsmittel (580 S.)    Band 3: Der kabbalistische Lebensbaum als spirituelle Landkarte (520 S.)

- Über die Freude (100 S.)

- Das Geheimnis des Seelenfriedens (252 S.)

- Von innerer Fülle zu äußerem Gedeihen (52 S.)

Kontakt

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für Odin

Vielen Dank, Konni Grunwald, für das gründlicheKorrekturlesen und das Glätten meines Stils.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil – der Stamm des Weltenbaumes

Odin – der Göttervater

I 1. Odins Erscheinung

I 2. Odin in der Götter-Edda

I 3. Die Struktur der Lieder der Götter-Edda

I 4. Odin der Jenseitsführer

I 5. Schamanen und Seherinnen

I 6. Galdir, Seidir und Skaldenkunst

I 7. Odin der Weise und Runenkundige

I 8. Odin der Gott der Berserker

I 9. Odin und andere germanische Gottheiten

I 10. Odin und andere Schamanengötter

I 11. Odin der Krieger

Zweiter Teil – die Wurzeln des Weltenbaumes

Odin – seine Herkunft

II 1. Schamanen in der Altsteinzeit

II 2. Die mesopotamischen Ackerbauern

II 3. Die Indogermanen

II 4. Odins Alter

Dritter Teil – die Zweige des Weltenbaumes

Odin – seine Erben

III 1. Grimms Märchen

III 2. Gandalf und andere Zauberer

Vierter Teil – die Blätter des Weltenbaumes

Odin – Möglichkeiten

IV 1. gestern und heute

Ahnenkult und Familienaufstellungen

Seelenteile und Traumata

Alben und Hellsehen

Jenseits und Psyche

Jenseitsreise und Astralreise

Seherin und Traumreise

Krafttier und Instinkte

Runen und Symbole

Muttergöttin und eigene Mutter

Seele und Selbst

Anrufungen und Urbilder

Landschaftsbewußtsein und Urvertrauen

IV 2. Eigene Visionen und Erlebnisse

Fünfter Teil – die Blüten des Weltenbaumes

Odin – Skaldenmet

Hymne an Odin

Hymne an Baldur

Hymne an Loki

Hymne an Thor

Hymne an Freya

Hymne an Idun

Hymne an Ymir

Hymne an Audhumbla

Hymne an die Midgardschlange

Hymne an Hrungnir

Sechster Teil – die Früchte des Weltenbaumes

Odin – selber leben

Erster Teil – der Stamm des Weltenbaumes

Odin – der Göttervater

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Odin, Thor, Baldur, Freya und die gesamte germanische Mythologie in Deutschland zumindest als Sagen und als “Volksgut” noch lebendig. Durch das Dritte Reich, das diese germanische Mythologie benutzt und in ihrem Sinne umgedeutet hat, um damit seine Ideologie zu stützen, sind diese Wurzeln unserer Kultur leider in Verruf geraten – man schüttete um 1945 das Kind mit dem Bade aus und trennte sich nicht nur von dem Nationalsozialismus, sondern auch gleich von allem “Germanischen”.

Glücklicherweise hat sich das Verhältnis zu unseren germanischen Wurzeln in letzter Zeit wieder ein wenig entspannt, so daß zu hoffen ist, daß sie bald wieder gleichberechtigt neben den keltischen, römischen und christlichen Wurzeln unserer heutigen mitteleuropäischen Kultur stehen können.

Der besondere Wert der germanischen Kultur für die Bewohner von Deutschland und den umliegenden Gebieten ist es, daß die germanische Kultur zumindest zu einem großen Teil in der Landschaft wurzelt, in der sich heute Deutschland befindet. Der übrige Teil der Germanen lebte in ähnlichen Landschaften weiter im Osten und in den kälteren Gebieten von Dänemark, Island und Skandinavien.

Im Grunde haben alle Mythologien als Grundthema das Verhältnisses zwischen Diesseits und Jenseits und beschreiben es auch auf recht ähnliche Weise. Daher sind auch alle Mythologien letztlich in derselben Weise “nahrhaft”. Sie unterscheiden sich jedoch sehr in ihrem jeweiligen Stil – die ägyptische Mythologie ist vom Nil und der Wüste geprägt, die der Eskimos von Eis und Schnee, die der Inder unter anderem vom Dschungel, die der nordamerikanischen Plains-Indianer von der Prärie und die der Tibeter von den hohen Bergen.

Eine Mythologie kleidet sich also in das Gewand der jeweiligen Landschaft und der sich aus dieser Landschaft ergebenden Lebensweise. Die germanische und die keltische Mythologie entsprechen am stärksten der heutigen deutschen Landschaft, wobei die Landschaft und das Klima in der germanische Mythologie ein gutes Stück rauher ist als das heutige Klima in Deutschland. Die Lebensweise hat sich allerdings sehr geändert – aber die grundlegenden Fragen, die eine Mythologie beantwortet, sind dieselben geblieben:

Was kommt nach dem Tod?

Gibt es im Jenseits tatsächlich unsere Ahnen und die Götter?

Wie kann ich Kontakt zu ihnen bekommen?

Können sie uns in unserem Leben helfen?

Woher kann ich wissen, daß es wirklich mehr als das Diesseits gibt?

Es gibt noch einen weiteren Grund, sich einmal mit der germanischen Mythologie zu beschäftigen: Die Märchen und Sagen, die auch heute noch fast jeder in seiner Kindheit erzählt bekommen hat, und auch solches Brauchtum wie den Weihnachtsbaum und den Weihnachtsmann. Irgendwann erfährt dann jedes Kind, daß dies alles nur Kindergeschichten waren und daß es den Weihnachtsmann gar nicht gibt. Aber man erfährt als Kind in aller Regel nicht, was es denn mit dem Weihnachtsmann und den Zwergen in dem Märchen “Schneewittchen” eigentlich auf sich hat und warum Rapunzel in einem Turm gefangen gehalten wurde – und in der Regel weiß dies auch niemand mehr…

Diese Bilder stehen in der Psyche der meisten Menschen auf einem Abstellgleis mit dem Schild “beliebte kollektive Lügen”. Durch die Beschäftigung mit der Mythologie unserer fernen Vorfahren können diese Bilder aus den Märchen, den Sagen und dem Brauchtum wieder verstanden werden und sie haben wieder die Möglichkeit, lebendig zu werden.

Schließlich ist es immer hilfreich, sich das Leben von verschiedenen Positionen aus zu betrachten und die verschiedenen Antworten zu vergleichen, die die Menschen im Laufe der Zeit auf die wesentlichen Fragen des Lebens gefunden haben.

Um diese Antworten und diese Weltbeschreibungen besser verstehen zu können, ist es förderlich, sich auch die Vorgeschichte der germanischen Religion näher anzusehen und ihre Entstehung aus der Religion der Indogermanen zu betrachten. Die Indogermanen sind ihrerseits ein Ableger der frühen Ackerbauern in Mesopotamien während der Jungsteinzeit, deren Kultur ihrerseits eine Weiterentwicklung der religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen der Altsteinzeit sind. Viele der zentralen germanischen Vorstellungen über die Welt und die Götter lassen sich tatsächlich bis in diese fernen Zeit vor mehr als 200.000 Jahren zurückverfolgen.

Durch die Vergleiche wird zum einen die gemeinsame Grundstruktur aller Mythologien deutlich und zum anderen auch der besondere Stil der germanischen Mythologie. Dieser “doppelte” Blick auf die Mythologie ist die Haltung, die heute in Bezug auf alle Dinge notwendig geworden ist: Zum einen die Betrachtung und die Berücksichtigung des Ganzen und der Zusammenhänge und zum anderen die Betrachtung und die Wertschätzung des Individuellen.

Erst wenn die Gleichberechtigung aller einzelnen Wege und Stile und Lebensweisen deutlich geworden ist und zugleich auch die Individualität eines jeden einzelnen Weges geschätzt wird, kann es zu einer Kooperation von Individuen kommen – was in unserer heutigen Zeit zur Bewältigung der anstehenden Probleme dringend gebraucht wird.

Um zu diesem Ziel beizutragen, habe ich dieses Buch geschrieben. Mein Wunsch ist es, ein wenig dabei mitzuhelfen, die germanischen Wurzeln unserer Kultur wieder etwas salonfähiger zu machen und ihre grundlegende Verwandtschaft und Gleichartigkeit mit den Mythologien aller Völker auf der Erde deutlich zu machen.

Und es ist mein Wunsch, zu zeigen, wie man wieder in der Landschaft, in der man wohnt, Wurzeln schlagen kann, wozu auch die alte germanische Mythologie und die Märchen gehören, die diese Landschaft und das Leben in ihr beschreiben.

Letztlich beruht jede Mythologie auf den spirituell-magischen Grunderlebnissen der Menschen, die auch in heutiger Zeit noch genauso erlebt werden wie können wie früher. Bei der Integration dieser Erlebnisse in den Alltag und in die eigene Weltanschauung ist es hilfreich, wenn man dabei auf die Bilder der Märchen und Sagen zurückgreifen kann, die diese Erlebnisse beschreiben. Und es ist hilfreich, wenn man dabei eine Bilderwelt benutzen kann, die einem sowohl vertraut ist als auch mit der Landschaft übereinstimmt, in der man lebt.

Die zentrale Gestalt der germanischen Mythologie ist der Göttervater Odin, in dem sich die wesentlichen Fäden dieser Mythologie verbinden und der im Zentrum der wichtigsten Fragen und Themen steht. Daher möchte ich die germanische Mythologie, ihren individuellen Stil und ihren Zusammenhang mit anderen Mythologien am Beispiel von Odin beschreiben.

Mein Ziel mit diesem Buch ist es nicht, zu einer Rückkehr zu einer germanischen Lebensweise anzuregen, sondern mitzuhelfen, die germanische Mythologie aus ihrer weitgehenden kollektiven Verdrängung zu befreien und dadurch die Möglichkeit mitzuerschaffen, sich des reichen Bilderschatzes wieder bewußt zu werden, den fast jeder aufgrund der alten Sagen, Göttergeschichten und Märchen in sich trägt, und diese Bilder in sich selber wieder zu etwas Lebendigem werden zu lassen, das einen praktischen Nutzen hat und das sich auch immer weiter entwickeln und sich mit anderem verbinden kann.

Dadurch kann eine lebendige innere Bilderwelt entstehen, die auch in die heutige Zeit paßt und die die Möglichkeiten zu spirituellen und magischen Erlebnissen verdeutlicht und auch dazu anregt, nach ihnen zu streben.

Letztlich hat jedes Buch nicht nur eine auf die Gesellschaft bezogene Motivation zur Veränderung der allgemeinen Situation, sondern auch eine ganz private, persönliche Motivation, aus der heraus es geschrieben wurde. In meinem Fall ist dies meine Verbundenheit mit der Natur und einige Erlebnisse mit den Runen und mit den germanischen Göttern, von denen ich am Ende des Buches ein wenig berichten werde.

Harry Eilenstein         

Wintersonnenwende 2009

I 1. Odins Erscheinung

Odin wird in den Mythen als ein älterer Mann geschildert, der oft umherwandert und Riesen, Zwerge, Menschen und andere Götter trifft. Dieses Wandern ist ein wesentliches Merkmal des Göttervaters in der germanischen Mythologie.

Odin hat wie jeder Mensch zwei Augen, aber eines seiner Augen ist blind – meist wird das linke Auge als das “tote Auge” dargestellt. Odin hat eins seiner Augen geopfert, um alles Wissen zu erlangen. Das einzige Wissen, für das man ein blindes, also totes Auge benötigt, ist das Wissen über das Jenseits.

Es ist ein weltweit verbreiteter Brauch, daß man Opfergaben, die man in das Jenseits senden will, zerstört, also zerbricht oder verbrennt, und dann meistens noch in einen Sumpf oder in ein tiefes Wasser wirft, die als Eingang zum Jenseits angesehen werden. Die Logik hinter dieser Handlungsweise ist einfach: Wenn ein Mensch stirbt, geht er ins Jenseits – wenn man ihm ein Schwert nachsenden will, muß man es ebenfalls töten, d.h. zerbrechen und wie den Leichnam des Toten in die Erde oder in den Sumpf legen.

In dieser Weise wird auch ein Auge, das für das Diesseits stirbt, für das Jenseits lebendig. Odin kann also mit seinem rechten Auge das Diesseits erforschen und mit seinem linken Auge das Jenseits. Odin ist ein Wanderer in zwei Welten – er reist durch das Diesseits und durch das Jenseits.

Die Zweizahl ist eine grundlegende Symbolik in fast allen Mythologien und bezieht sich fast immer auf Diesseits und Jenseits, auf Tod und Wiedergeburt, auf Körper und Seele.

Daher verwundert es nicht, daß sich in der Darstellung des Odin die Zweizahl so ausgeprägt wiederfindet: Er hat ein lebendiges und ein totes Auge, er hat zwei Raben als Begleiter und ebenso zwei Wölfe und er hat ein achtbeiniges Pferd, das demnach durch die Zusammenfassung von zwei Pferden zu einem entstanden sein wird. Odin wird also ganz betont als ein Mann dargestellt, der in zwei Welten, im Diesseits und im Jenseits zuhause ist.

Die Wölfe, Schakale und Hunde sind in der Mythologie wie im realen Leben die Begleiter der Menschen, die Beschützer des Hauses und die Fährtensucher. Daher sind sie auch in fast allen Mythen zu den Begleitern der Jenseitsreisenden oder zu den Jenseitsführern selber geworden. Die beiden Wölfe, die Odin begleiten, sind also eine weitere Betonung seines Lebens in zwei Welten.

Die beiden Raben des Odin haben einen sehr weit zurückliegenden Ursprung und zugleich einen Entstehungsgrund, der sich auch noch heute jeden Tag mehrfach ereignet: das Nahtod-Erlebnis. Wenn man z.B. vom einem gallopierenden Pferd stürzt und mit seinem Fuß im Steigbügel hängenbleibt, ist es sehr wahrscheinlich, daß man eine spontane Astralreise erleben wird, d.h. daß man sich plötzlich außerhalb von seinem Körper wiederfindet und selber von oben her beobachtet, wie man da von dem Pferd hilflos mitgeschleift wird.

Von Menschen, die klinisch tot waren, aber dann doch wieder zum Leben erweckt werden konnten, wird fast immer dieselbe Geschichte erzählt: Sie haben ihren Körper verlassen und schwebten über sich. Schließlich entfernen sie sich von ihrem Körper und kamen an einen Übergang, eine Grenze, die meistens ein Fluß ist. Auf der anderen Seite warteten ihre schon verstorbenen Verwandten auf sie und grüßten sie und oft befand sich zwischen ihnen auch eine leuchtende Gestalt. In diesem Augenblick fühlten sie sich aber zu ihrem Körper zurückgezogen und schwebten dann noch kurz über ihm, bevor sie sich wieder in ihm wiederfanden.

Diese Astralreise findet auch jede Nacht während des Schlafes statt – allerdings unbewußt. Es gibt eine Reihe von Methoden, durch die diese Astralreise erlernt werden kann, die in einem späteren Kapitel beschrieben werden. Das Erlebnis der Astralreise hat fast immer eine tiefgreifende Wirkung auf die Menschen, die es erlebt haben. Durch dieses Erlebnis zeigt sich ganz deutlich, daß man mehr ist als der eigene Körper, daß man eine Seele, einen Astralkörper hat, in dem sich das Bewußtsein unabhängig von dem materiellen Körper bewegen kann. Daher löst ein solches Astralreisen-Erlebnis die Angst vor dem Tod weitestgehend auf. Die Menschen, die ein solches Erlebnis hatten, finden auch in aller Regel mehr zu sich selber und werden gelassener und freundlicher und liebevoller – einfach weil sie beginnen, aus einer größeren inneren Tiefe heraus zu leben.

Was macht nun ein Steinzeit-Mensch, wenn er von einem Bären angefallen worden ist, seinen Körper schon verlassen hatte und sich selber unter sich liegen sah, aber dann doch noch von seinen Stammesgenossen gerettet wurde und ihnen dieses Erlebnis erzählen will? Nun, er wird sagen, daß er wie ein Vogel war. Daher findet sich in allen Religionen die Seele als Vogel, als Mensch mit Federkleid, als Vogel mit Menschenkopf, als Mensch mit Flügeln (Engel) usw. dargestellt – die Seele kann fliegen.

Somit verwundert es nicht, daß Odin von zwei Raben begleitet wird. Die Verbindung mit den Ahnen und dem Jenseits wird durch die mit dem Nahtod-Erlebnis verbundene Astralreise hergestellt, weshalb man davon ausgehen kann, daß Odin zu der Astralreise fähig ist – was eben durch die Raben als seine Begleiter ausgedrückt wird. Eigentlich würde ein Rabe genügen, so wie auch ein Wolf und ein Pferd genügen würde – die Zweizahl ist dadurch entstanden, daß Odin als Wanderer in zwei Welten dargestellt werden sollte.

Das Pferd des Odin hat ebenfalls eine lange Vorgeschichte, die allerdings nicht ganz so weit zurückreicht. Zunächst einmal ist das Pferd Odins Reittier – was bei den Germanen eine durchaus übliche Fortbewegungsmethode war. Des weiteren ist Odin der Fürst der Götter und als solcher steht ihm natürlich auf jeden Fall ein Pferd zu. Das Pferd muß aber noch eine weitere Bedeutung haben, weil die anderen Asen und Wanen in der Regel zu Fuß gehen.

Da Odins Pferd Sleipnir eigentlich zwei Pferde ist, kann man davon ausgehen, daß auch Odins Pferd einen Bezug zu der Jenseitsreise haben wird. Zunächst einmal fällt dabei auf, daß die Germanen und auch ihre Vorfahren oft Pferde bei der Bestattung wichtiger Personen opferten – sie töten sie und begruben sie mit den Menschen oder sie töteten die Pferde und ließen sie in Sümpfen versinken. Dadurch befanden sich die toten Pferde dann an demselben Ort, an dem sich auch die toten Menschen aufhielten – eben im Jenseits.

Von einem solchen Pferdeopfer bis zu der Vorstellung, daß der Tote auf dem Pferd, das ihm als Opfergabe ins Jenseits mitgegeben wird, in die Unterwelt reitet, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Wenn nun vor einem solchen Hintergrund ein Gott als Wanderer in beiden Welten dargestellt werden soll, ist es naheliegend, diesen Gott als einen Reiter auf einem Pferd darzustellen.

Nun gibt es noch eine weitere Symbolik, die das Pferd vor allem bei den frühen Indogermanen hatte. Wie das Wort „Wiedergeburt“ schon zeigt, gibt es die weltweit verbreitete Vorstellung, daß die Toten im Jenseits von der Muttergöttin wiedergeboren wurden. Es lag nun nahe, eine solche Wiedergeburt im Jenseits durch eine vorherige „Wiederzeugung“ zu ergänzen. Ein solches Motiv findet sich auch den meisten alten Mythologien wieder.

In den frühen Kulturen bis zum Ende der Jungsteinzeit stellte man die Fruchtbarkeit der Großen Mutter, die die Seelen im Jenseits gebiert, dadurch dar, daß man ihr die ganze oder teilweise Gestalt einer Kuh gab. Entsprechend hatte der Tote, wenn er sich im Jenseits mit der Großen Mutter vereinte, die Gestalt eines Stieres, der daher damals das wichtigste Opfer bei einer Bestattung war. Bei den Indogermanen trat dann das Pferd an die Stelle des Stieres.

Daher ist anzunehmen, daß Sleipnir unter anderem auch die Zeugungskraft des Odin darstellt, durch die er und die Toten allgemein im Jenseits ihre Seele zeugten. Dieses Motiv wird später noch ausführlicher dargestellt werden.

Odin ist auch mit dem Bären verbunden, wie manche Abbildungen zeigen. Die Männer, die Odin verehrten, wurden wegen der Bärenfelle, die sie trugen, „Bärenhäuter“, also „Berserker“ genannt.

Wenn man sich in den verschiedenen alten Religionen der Welt umsieht, kann man feststellen, daß es in den meisten früheren Kulturen einen Mann gab, der das Fell des größten Raubtieres trug. Diese Großraubtiere waren der Bär, der Löwe, der Panther, der Tiger, der Puma, der Jaguar und in Ozeanien der Orca.

Anfangs war es der stärkste Jäger, der durch das Fell des von ihm erlegten Großraubtieres auf magische Weise die Stärke dieses Tieres herbeirief.

Die meisten Männer, die das Großraubtierfell tragen, sind jedoch Schamanen, d.h. die Menschen, die in das Jenseits reisen und Kontakt mit den Ahnen aufnehmen und die Seelen aus dem Jenseits zurückholen können. Die Schamanen als die stärksten Magier oder die stärksten „spirituellen Spezialisten“ übernahmen von dem „stärksten Jäger“ die Raubtierfellsymbolik.

Noch später wurde diese Symbolik von den Königen als den „stärksten politischen Personen“ übernommen.

Man kann das Tragen des Großraubtierfells als symbolischen Namenszusatz auffassen: „X der Große“.

Odin wird also durch das Bärenfell, das er bisweilen trägt, und durch den Bären, der auf manchen Abbildungen hinter ihm steht, als ein Schamane dargestellt, was ja ganz seinen bisher beschriebenen Wanderungen in den beiden Welten entspricht. Manchmal wird Odin auch mit einem normalen Mantel oder Umhang, der nicht mehr als Bärenfell erkenntlich ist, dargestellt – allerdings nie ganz ohne Umhang, sodaß man seinen Mantel als den Nachfolger seines Bärenfelles ansehen kann.

Eine enge Verbindung besteht auch zwischen Odin und dem Weltenbaum, an dessen Fuß er dem Riesen Mimir sein linkes Auge opferte, um Wissen zu erlangen. Nach einer anderen Mythe hing Odin neun Tage lang an dem Weltenbaum, bis er die Geheimnisse der Runen erkannte.

Der Weltenbaum steht in der Mitte der Welt und verbindet Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits. Er ist daher der Weg zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten und ist als solcher natürlich der bevorzugte Weg, den ein Wanderer zwischen den zwei Welten, wie auch Odin einer ist, benutzt.

Wenn das Diesseits auf der Erde ist und das Jenseits im Himmel, muß die Verbindung zwischen beiden etwas senkrechtes sein – was zu der Assoziation mit einem hohen Baum führt, da der Baum in der Natur das „Senkrechteste“ ist. Der Weltenbaum ist also auf dieselbe Weise entstanden wie die Seelenvogelsymbolik: durch den Versuch, ein „unsichtbares“ Erlebnis wie die Astralreise bzw. einen materiell nicht vorhandenen Zusammenhang wie den zwischen Diesseits und Jenseits bildlich zu beschreiben.

Ein anderes Bild in der germanischen Mythologie für die Verbindung zwischen Himmel und Erde ist die Regenbogenbrücke Bifröst.

Ein bekanntes Motiv im Zusammenhang mit Odin ist die „Wilde Jagd“, bei der Odin und die Toten auf ihren Pferden im Gewitter durch die Luft reiten und dadurch das Donnern verursachen. Die Vorstellung eines göttlichen Ursprunges des Donners ist weit verbreitet - die christliche Variante dieses Themas ist die Redewendung, das beim Donnern „Petrus im Himmel kegelt“.

Die Pferde von Odin und den Toten sind hier wieder die Helfer bei der langen Reise ins Jenseits. Das Fliegen der Pferde durch den Himmel zeigt, daß es sich hier letztlich um das Bild einer Astralreise handelt.

Bei den Griechen fand dieses Motiv eine noch deutlichere Ausformung in dem geflügelten Pferd Pegasus, das sich auch oft in der kretischen und kleinasiatischen Mythologie dargestellt findet. Der Name „Pegasus“ bedeutet „Brunnen“ und das Flügelpferd ist der Sohn des Meeresgottes Poseidon. Da die Unterwelt in den meisten Mythen als Wasser, Insel im Meer oder zumindest als Land hinter dem Jenseitsfluß dargestellt wird, wird auch Pegasus, der durch seinen Namen und seinen Vater Poseidon eng mit dem Wasser und mit dem Bereich unter der Erde (Brunnen) verbunden ist, als ein Helfer auf dem Weg ins Jenseits erkennbar. Als Flügelpferd führt er seinen Reiter ins Himmels-Jenseits und als „Brunnen“ führt er ihn in die Unterwelt. Pegasus ist sozusagen der griechische Bruder des Sleipnir.

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen des Odin ist sein Speer, der ihn als einen Krieger kennzeichnet. Der Speer war vor der Erfindung des Schwertes um ca. 1.500 v.Chr. und auch noch lange danach die wichtigste Waffe. In den skandinavischen Felsritzungen, die noch aus der Phase vor der Bronzezeit stammen, in der die Herstellung von Schwertern erst möglich wurde, ist des öfteren ein speertragender Mann dargestellt, der möglicherweise Odin als speertragenden Gott mitgebildet hat.

Schließlich findet sich Odin als Fürst der Götter auch hin und wieder einmal auf einem Thron dargestellt. Dieser Thron steht in Walhalla, also in dem großen Saal, in dem Odin die in der Schlacht gefallenen Krieger um sich versammelt. Es ist anzunehmen, daß diese Versammlung der toten Krieger ursprünglich alle Toten umfaßte, da Odin ja der Gott ist, der Diesseits und Jenseits verbindet und ursprünglich offenbar ein Schamane war, der sich nach und nach zum Gott „vergrößert“ und „standardisiert“ hat und dann das Kriegshandwerk als „Zweitberuf“ erlernte.

Schließlich wird Odin auch immer wieder als „Donnerer“ dargestellt, obwohl dies meist eine Qualität seines Sohnes Thor ist. Der Blitz und der Donner sind in fast allen indogermanischen Mythen Kennzeichen des Königsgottes. Blitz und Donner als Himmelsphänomene kennzeichnen diese Königsgötter zugleich als Himmelsgötter. Da der Himmel aber um spätestens 3.000 v.Chr. in Europa und dem Nahen Osten die Unterwelt im tiefen Wasser oder unter der Erde weitgehend ablöste oder zumindest ergänzte, kennzeichnen Blitz und Donner den Gott, der über sie verfügt, auch als einen Jenseitsgott.

Bezeichnenderweise ist es Pegasus, der in der griechischen Mythologie dem Zeus Blitz und Donner bringt, die dann dessen wichtigstes Abzeichen werden. Das Jenseitsreisepferd und der Blitz und der Donner gehören offenbar zusammen, da sie beide auf das Jenseits verweisen.

I 2. Odin in der Götteredda

Die Edda ist der älteste ausführliche Text, der über die germanische Weltanschauung berichtet. Sie wurde um ca. 1.200 n.Chr. in Island aufgezeichnet und ist die wichtigste Quelle unserer heutigen Kenntnisse über die Religion der Germanen. In den Liedern und Geschichten der Edda erscheint Odin im Zusammenhang mit den verschiedensten Wesen, die seinen eigenen Charakter deutlicher werden lassen.

Der Name „Edda“ bedeutet „Urgroßmutter“. Möglicherweise ist dies eine Anspielung auf die Seherinnen, die in der Edda des öfteren auftreten und teilweise auch die Sprecherinnen der Lieder sind - „Urgroßmutter“ könnte evtl. ein Ehrenname für eine Seherin sein. Die Seherinnen spielten in der germanischen Religion und Gesellschaft eine große Rolle. Aber diese Auffassung der Herkunft der Bezeichnung „Edda“ ist unsicher.

Im Folgenden werden die einzelnen Szenerien, in denen Odin auftritt, kurz dargestellt. Es empfiehlt sich, diese Texte auch einmal selber zu lesen, vor allem die Götterlieder der Edda, da man nur dann die spezielle Stimmung dieser Texte erfassen kann.

Der Seherin Gesicht

In dieser Vision einer germanischen Seherin wird Odin an verschiedenen Stellen erwähnt.

In der ersten dieser Stellen wird gesagt, daß Odin den beiden ersten Menschen, die Ask („Esche“) und Embla („Ulme“) hießen, die Seele gab – was für einen Wanderer zwischen zwei Welten auch die passende Aufgabe ist. Die zentrale Tätigkeit aller Schamanen und der zu Göttern erhobenen Schamanen ist das Zurückholen der Seelen der Verstorbenen aus dem Jenseits zu den Lebenden, damit diese weiterhin bei ihren verstorbenen Ahnen Rat und Hilfe finden können.

An der nächsten Stelle in dem Lied wird Odin als der Kriegsherr beschrieben, der seinen Speer in das Heer der Feinde wirft.

Dann folgt eine Strophe, in der zunächst gesagt wird, daß Heimdalls Horn unter den Wurzeln des Weltenbaumes liegt. Da Heimdall der Wächter der Regenbogenbrücke ist, die vom Diesseits zum Jenseits führt und der Weltenbaum dieselbe Funktion in der mythologischen Geographie hat, ist diese Zusammenstellung zunächst einmal ganz plausibel.

Die Funktion des Wächters am Jenseitstor (Heimdall) ist in der Regel eine Weiterentwicklung der Jenseitsführerfunktion (Odin). In derselben Weise hat sich auch die Bedeutung des Hundes oder Wolfes bisweilen von der erwünschten Jenseitsführerfunktion aufgrund der allgemeinen Scheu vor dem Tod auf die gefürchtete Funktion des Jenseitswächters verschoben – wie z.B. bei dem griechischen Höllenhund Cerberus. In der germanischen Mythologie findet sich ein „Bruder“ des dreiköpfigen Cerberus, der am Styx den Eingang zur Unterwelt bewacht: der vieräugige Höllenhund Garm, der den Eingang zur Unterwelt Hel am Jenseitsfluß Gjöll bewacht.

Die Vieräugigkeit des Höllenhundes Garm entspricht möglicherweise dem in der Mythologie beliebten Motiv der Zweiköpfigkeit, das sich z.B. auch bei dem römischen Gott Janus findet: Ein Gesicht schaut ins Diesseits und das andere Gesicht schaut in die entgegengesetzte Richtung ins Jenseits.

Man kann also vermuten, daß Heimdall wie Odin zu dem Typ des „vergöttlichten Schamanen“ gehört. Dazu paßt auch, daß er wie Odin des öfteren als Kulturbringer für die Menschen auftritt und die Menschen manchmal sogar allgemein die Heimdallssöhne genannt werden. Das Horn des Heimdall, auf dem er bläst, um die Götter in Asgard zu warnen, wird ursprünglich ein Symbol der Zeugungskraft des Stieres und der Fruchtbarkeit der Kuh gewesen sein, die beide bei den ersten Indogermanen noch eng mit den Toten bzw. mit der Muttergöttin verbunden waren. Aus dem Symbol des Hornes wurde dann das heute meist eher als kitschig empfundene Füllhorn – der Schoß der Muttergöttin, aus dem jetzt nicht nur die Seele, sondern die gesamte Welt entspringt. Schon in den Höhlenmalereien der Altsteinzeit findet sich eine Frau mit einem Kuhhorn in der Hand, das wohl auch schon damals ihren Schoß dargestellt haben wird.

Eine späte, schon patriarchalisch ungedeutete und dämonisierte Variante dieses Füllhorns ist in der griechischen Mythologie die Büchse der Pandora, aus der alles Leid und aller Zwist in die Welt gelangte.

Auf die beiden Verse, die Heimdall beschreiben, folgen in dieser Strophe des Liedes zwei Zeilen und anschließend noch zwei Strophen über Odin, die auf die Quelle des Mimir anspielen, in die Odin sein geopfertes Auge legte, um seine Allwissenheit, d.h. sein Wissen über das Jenseits zu erlangen. Diese Quelle ist hier wie Brunnen, Sümpfe und allgemein alle tiefen Wasser ein Symbol des Einganges zur Unterwelt.

Es finden sich in dieser Strophe somit alle drei Bilder des Weges ins Jenseits versammelt: die von Heimdall bewachte Regenbogenbrücke, der Weltenbaum und Mimirs Quelle.

In einer weiteren Strophe sagt die Seherin, daß Odin zu ihr kam, um sie zu befragen. Hier setzt sie sich offenbar mit der Unterweltsgöttin gleich, die Odin in dem Lied „Baldurs Traum“ aufsucht und um Rat fragt.

Schließlich findet sich in dem Lied auch noch eine der vielen Kenningar, also der beschreibenden Namen von Odin, der ihn als Gott der Krieger kennzeichnet: Siegvater.

Später in dem Lied steht der Vers „Odin murmelt mit Mimirs Haupt“ - hier scheint Mimir tot zu sein, da sich Odin mit seinem Schädel oder Haupt unterhält. Dies ist eine Umkehrung der Opferung eines Auges durch Odin, aber die Grundbedeutung, daß Odin hier in Kontakt mit dem Jenseits ist, bleibt bestehen.

Diese Szene erinnert an den in früheren Kulturen häufigen Schädelkult, bei dem die Schädel der Verstorbenen als Wohnsitz für deren Seelen im Wohnhaus aufbewahrt wurden, damit die Nachkommen ihre Vorfahren um Rat und Hilfe bitten konnten. Es ist möglich, daß hier eine Erinnerung an diesen alten Brauch vorliegt.

Baldurs Traum

In diesem Lied reitet Odin auf seinem achtbeinigen Pferd Sleipnir hinab nach Niflheim in die Unterwelt, wo er an dem Höllenhund Garm vorbei in die Unterweltshöhle ging, um dort von der Seherin die Bedeutung von Baldurs Alpträumen zu erfahren.

Zunächst einmal bestätigt diese Geschichte, daß Odin ursprünglich ein Schamane war, und zum anderen zeigt es, daß die Sprecherin in der „Seherin Gesicht“ und in Baldurs Traum entweder die Unterweltsgöttin oder eine ihrer Priesterinnen ist.

Diese Seherin nennt sich selber in dem Lied Wölwa oder Wala, aber Odin, der sich selbst Wegtam („Wegzähmer“) nennt, um die Seherin irrezuführen, erkennt am Schluß, daß die Seherin in Wirklichkeit die „Mutter dreier Thursen“ ist, womit vermutlich die Unterweltsgöttin Hel selber gemeint ist. Die Umschreibung „Wegzähmer“ oder „Wegbezwinger“ paßt gut zu Odin als einem Gott des Jenseitsweges, da die Reise auf diesem Weg die schwierigste aller Reisen ist.

Hel ist halb von normaler Hautfarbe und halb blauschwarz, also tot – hier findet sich wieder das Motiv der Zweiteilung bzw. des Paares, das auf Diesseits und Jenseits hinweist.

Auch die Seherinnen der Griechen wurden mit der Unterwelt assoziiert: die Seherin in Delphi, also das Orakel von Delphi, saß bei ihrer Weissagung auf einem dreibeinigen Schemel über einer tiefen Erdspalte, also am Eingang zur Unterwelt.

Von der Seherin erfährt Odin, daß sein Sohn Baldur von seinem blinden Sohn Hödur erschossen werden wird. Baldur, der sehende Gott, symbolisiert das Diesseits und entspricht Odins sehendem Auge; Hödur, der blinde Gott, symbolisiert das Jenseits und entspricht Odins totem Auge. Baldur ist auch der Sommer und Hödur der Winter.

Nachdem die Götter allen Wesen den Eid abgenommen haben, daß niemand Baldur verletzten wird, schießen die Götter aus Spaß auf den nun unverwundbaren Baldur, aber sie hatten vergessen, auch der Mistel diesen Eid abzunehmen und so schnitzte Loki einen Mistelpfeil, den er dann den blinden Hödur auf Baldur abschießen ließ.

Die Mistel als immergrüne Pflanze stellt wie bei den Kelten, den nahen Verwandten der Germanen, die Hoffnung im Winter auf ein neues Frühjahr dar.

Odin steht im selben Verhältnis zu Loki wie Baldur zu Hödur – sie sind Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Sommer und Winter, blühende, wachsende Pflanzen und laublose Pflanzen in der Winterzeit.

Die Geschichte von der Götterdämmerung, die den Kampf der Asen (germanische Götter) gegen die Riesen und gegen Loki beschreibt, ist ursprünglich eine Beschreibung des Kampfes des Sommers gegen den Winter, was sich unter anderem darin zeigt, daß nach dem Sieg der Asen Baldur aufersteht: Baldur ist der Gott der Vegetation, der jeden Herbst stirbt und jedes Frühjahr wiedergeboren wird. Baldur ist auch die Hoffnung der Menschen auf eine Wiedergeburt im Jenseits.

Baldur ist das Urbild der wiedergeborenen Toten und auch des Ackerlandes, Odin ist der vergöttlichte Schamane, und Loki bzw. Hödur ist der Gott der Wildnis.

Der Name Baldur bedeutet „der Leuchtende“ und weist auf den Sommer hin. Der Name Hödur bedeutet der „Hüter“ und weist wohl auf den Schutz in der Winterzeit hin, den der Wintergott den Menschen gibt.

Odin als betrogener Liebhaber

Diese kurze Geschichte erzählt davon, wie sich Odin vergeblich um ein Stelldichein mit Rind („Rinde“), der Tochter von König Billing („Axt-Riese“) bemüht. Später zeugte er dann aber doch noch mit ihr seinen Sohn Vali.

Möglicherweise ist auch dies eine Weiterentwicklung des Seelenzeugungsmotivs, aber dann wäre diese Geschichte doch schon sehr nah an eine moralische Geschichte über das Verhalten von Frauen geraten.

Die Erbeutung des Skaldenmets

Dieses Lied setzt die Kenntnis der eigentlichen Geschichte voraus und besteht fast nur aus Anspielungen darauf, wie Odin unter dem Namen Bölwerk als Schlange in den Berg zu der Riesentochter Gunnlöd gelangt und sich dort mit ihr sexuell vereinte und dann von ihr den Zaubertrank Odrörir erhielt und diesen dann mit zu den Göttern nach Asgard nahm.

Als der Riese Suttungr, der Vater Gunnlöds, nach Asgard kam, um den Trank zurückzufordern, schwor Odin ohne große Hemmungen auf seinen Ring, daß Bölwerk nicht in Asgard sei.

Dies ist auch wieder eine Reise des Odin nach Utgard, d.h. ins Jenseits. Die Seelenzeugung mit der Muttergöttin unter der Erde ist hier sehr deutlich zu sehen: die Vereinigung mit der Riesentochter im Berg. Der Zaubertrank ist der Göttermet, der die Unsterblichkeit, also die Wiedergeburt im Jenseits verleiht. Der Göttermet ist zugleich auch der Skaldenmet, also die Inspiration der Dichter, die hier offensichtlich als Parallele zu der Ekstase der Schamanen empfunden wird.

In der Prosa-Fassung der Götter-Edda des Isländers Snorri Sturluson findet sich eine etwas vollständigere Fassung dieses Liedes:

Nach dem Krieg zwischen den beiden germanischen Göttergeschlechtern, den Asen und den Wanen, bei dem die Asen der Wanin Freya-Gullveig ihr Gold (Symbol des Göttermets) abnehmen wollten, beschlossen die Götter ein Friedensabkommen. Nach damaligem Brauch spieen alle in ein Fass. Aus ihrem gesammelten Speichel erschufen die Götter ein Wesen mit dem Namen Kwasir.

Da Kwas der Name für den „Brottrunk“, das ein bierähnliches Getränk aus vergorenem, in Wasser gelegtem Brot ist, bei dem man den Gärprozeß in der Regel durch Speichel in Gang setze, ist anzunehmen, daß „Kwasir“ hier eine Personifizierung dieses Getränkes ist.

Durch die Endung „-ir“ kann man im Germanischen eine Ableitung von einem anderen Substantiv bilden: Eldr (Feuer) – Eldir (Aegirs Diener, der das Feuer entzündet), Bygg (Gerste) – Byggvir („Gerstenmann“), Orn (Adler) – Ornir (jemand, der sich in einen Adler verwandeln kann wie z.B. Odin), Kwas (Brottrunk) – Kwasir (Kwas-Lebewesen).

Da die Götter selber dieses Getränk brauten, ist anzunehmen, daß es sich hier um eine Entsprechung zu dem Brauen des indischen Soma-Trankes, des persischen Haoma und des griechischen Nektar und Ambrosia handelt, die alle ein komplexes Rezept hatten. Die Symbolik dieser Tränke geht auf die Milch der Muttergöttin im Jenseits zurück, mit der sie die wiedergeborenen Toten nährt.

Manchmal wird Kwasir auch der weiseste der Asen oder der klügste der Wanen genannt.

In der oben beschriebenen Szene sind die Götter offenbar gerade dabei, den Kwas, den Göttermet, den Odhrörir, den Skaldenmet herzustellen – die, wie es scheint, als unterschiedliche Getränke und mit verschiedenen Rezepten bekannt waren.

In der Bronzezeit war es allgemein üblich, daß jeder Teilnehmer bei einem Friedensabkommen und bei der Herstellung von rituellen Rauschtränken in den Kessel spie, in dem dieser Trank bereitet wurde. Zum einen diente dies zur Fermentation, durch die die Gärung in Gang gesetzt wurde, aber zum anderen auch dazu, daß alle Teilnehmer durch das Trinken magisch miteinander verbunden wurde, da jeder mit dem Trunk auch etwas von dem Speichel aller anderen Teilnehmer in sich aufnahm – sozusagen eine „Blutsbrüderschaft light“.

Der von den Göttern erschaffene Kwasir zog nun durch die Welt und lehrte die Menschen viele Dinge, aber bei einem Fest wurde er von den beiden Schwarzalben (Zwerge) Fjallarr und Galarr ermordet. Aus Honig und aus dem Blut des Kwasir, das sie in zwei kleinen Kesseln auffingen, brauten sie einen Met, der jeden zu einem Dichter werden ließ, der von ihm trank.

Durch diese Szene wird noch deutlicher, daß hier die Entstehung des Göttermets erzählt wird, denn die „poetische“ Wirkung dieses Mets ist eine Weiterentwicklung des Wissens um das Jenseits, das dieser Met verleiht, da sein Trinken identisch mit der erfolgreichen Wiedergeburt ist. Aus der Fähigkeit zur Jenseitsreise wird erst das Wissen um das Jenseits und aus diesem dann das Wissen um die Verse.

In derselben Weise ist das große Wissen des Kwasir eine Ausweitung des Wissens um den Weg in das Jenseits.

Da Zwerge ursprünglich ein Bild für die Ahnen unter der Erde, also für die Verstorbenen im Jenseits sind, befindet sich der Trank nun im Jenseits unter der Erde – und vorher im Jenseits im Himmel in Asgard bei den Göttern.

Das Trinken dieses Mets, das zum Dichter macht, ist sozusagen die verkleinerte und irdische Form des Mythe, in der Odin aus Mimirs Quelle am Fuße des Weltenbaumes trinkt.

Den Namen Odhrörir, der häufig für den Göttermet gebraucht wird, kann man am präzisesten als „der zur Ekstase Anregende“ übersetzen, aber er wird oft auch einfach als „Rauschtrank“ und „Verjüngungstrank“ angesehen. Er ist daher eng mit den lebensspendenden Äpfeln der Göttin Idun verwandt und er ist auch eng mit Odin, dem Gott der Ekstase, verbunden.

Die beiden Zwerge ertränkten einige Zeit später den Riesen Gillingr und erschlugen seine Frau, wurden aber kurz darauf von Suttungr, dem Brudersohn von Gillingr gefangen und auf einer winzigen Insel im Meer ausgesetzt. Da boten die Zwerge ihm in ihrer Not den Met als Lösegeld, das Suttungr auch annahm.

Suttungr wohnte in dem Berg Hnitbjörg, in dem er den Met von seiner Tochter Gunnlöd bewachen ließ.

Das Ertränken des Riesen im Meer und das Aussetzen der Zwerge auf einem Eiland weist vermutlich auf die alte Vorstellung hin, daß die Unterwelt jenseits des Großen Wassers liegt – wegen dieser weltweit verbreiteten Ansicht wird auch der tote Baldur auf ein Schiff gelegt und ins Meer hinausgesandt.

Nun ist der Met in Utgard angekommen, wo die Riesen wohnen, und das nach Hel das zweithäufigste Bild in den germanischen Mythen für das Jenseits war. Hel war der Ort unter der Erde und Utgard war die Wildnis – beide ein „Jenseits von Midgard“, jenseits von dem bewohnten und kultivierten Bereich der Menschen.

Der Berg ist der Weltenberg, unter dem sich die Unterwelt befindet. Gunnlöd ist hier demnach die Unterwelts- und Muttergöttin. Hnitbjörg bedeutet „Stoßfels“ und bezieht sich möglicherweise auf ein Tor in ihm, dessen Flügel beim Schließen „zusammenstoßen“.

  Gunnlöd bedeutet „Einladung zum Kampf“, was eigentlich ein Name ist, der gut zu einer Walküre passen würde, wobei die Walküren eine Kombination aus der Muttergöttin und dem Seelenvogel sind.

Gillingr bedeutet „der Lärmer“ und Suttungr bedeutet „der vom Trank beschwerte“, was sich auf den Göttermet bezieht.

Um den Met für die Götter wiederzuerlangen, zog nun Odin nach Hnitbjörg, wo er unter falschem Namen die Knechte des Riesen Baugi dazu brachte, sich gegenseitig zu töten. Dazu schärfte er ihre Sensen mit seinem Schleifstein und warf ihn dann in die Luft empor – da alle Knechte Odins Schleifstein haben wollten, zerschnitten sie sich bei ihrem Kampf um den Schleifstein gegenseitig die Hälse.

Danach arbeitete er als Mäher auf den Feldern des Riesen und verrichtete die Arbeit von neun Männern gleichzeitig.

Da Odin auf seinem Weg in die Unterwelt die Sense in die Hand nimmt und dabei die Arbeit von neun Knechten verrichtet, wird hier das Ernten und der Weg in die Unterwelt zusammengefaßt – was ja durch den „Sensenmann“ ein auch heute noch gut bekanntes Bild ist. „Sensenmann“ ist auch einer der vielen Beinamen des Odin.

  Die Neun soll hier wohl als „über das vollständige Maß hinausgehend“, also „außergewöhnlich“ bedeuten, da die acht „vollständig, rund“ bedeutet.

Der Trick des Odin ist auch aus Griechenland bekannt, wo Eris, die Göttin der Zwietracht, auf einem Fest, weil sie nicht eingeladen war, einen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ mitten auf die Festtafel zwischen die Götter warf – worauf hin Hera, Athene und Aphrodite diesen Apfel für sich beanspruchten, was letztlich zu dem Ausbruch des Trojanischen Krieges geführt hat.

Als Lohn für seine Arbeit verlangt Odin von dem Riesen Baugi, für den er gearbeitet hat, einen Schluck von dem Skaldenmet, den Gunnlöd, die Tochter des Bruders von Baugi, bewacht. Aber Suttungr verwehrt dem Knecht seines Bruders von dem Met zu trinken.

Daraufhin überredet Odin Baugi, ihm mit dem Bohrer Rati ein Loch in den Berg zu bohren, durch das Odin dann in der Gestalt einer Schlange hineinkriecht. Nachdem er dort in der Tiefe des Berges sich drei Nächte nacheinander mit Gunnlöd vereint hat, gewährte sie ihm drei Schlucke des Mets, mit denen Odin alle drei Gefäße vollständig austrank. Daraufhin verwandelte er sich in einen Adler und floh erfolgreich nach Asgard vor Suttungr, der sein Adlerhemd angezogen hatte und ihn auch in der Gestalt eines Adlers verfolgte. In Asgard spie Odin den Met in die Schüsseln, die die anderen Götter dort bereithielten.

Die Verwandlung in eine Schlange, um in die Unterwelt zu gelangen, ist ein altes Bild, da die Schlange aufgrund ihres Kriechens auf der Erde, allgemein als „Erdtier“ galt, und aufgrund ihres Giftes als Todbringerin und aufgrund ihrer Häutungen als Symbol der Wiedergeburt. Zudem ist sie ein Symbol des Erdfeuers und des untersten Chakras sowie des Penis – den man für die Seelenzeugung ja dringend brauchte.

Nach dem Beischlaf mit Gunnlöd, der Muttergöttin, verwandelte sich Odin in einen Adler, also in einen Seelenvogel – so wie Thor in einem anderen Lied durch das Anziehen von Freyas Federhemd.

Der Name des Bohrers, „Rati“, bedeutet wörtlich „der Nager“. Der Name des Riesen Baugi bedeutet „der Krumme“. Odins Deckname „Bölwerk“ bedeutet „Brunftwerk“, also „Liebhaber“ und bezieht sich auf seine drei Nächte mit Gunnlöd.

Der Trank befand sich in dem Lied nacheinander in verschiedenen Händen, wobei alle Orte das Jenseits darstellen, nur aus verschiedenen Epochen, sodaß in diesem Lied unter anderem der Wandel von der Muttergöttin-orientierten Religion (Wanen, Freya-Gullveig) zu der König-orientierten Religion (Asen, Odin) beobachtet werden kann.

BesitzerOrtNameEpocheGullveig (=Freya)Wanenheim (Unterwelt)Gold (Symbol des Göttermets)Freya-ReligionAsen und WanenAsgard (Himmelsjenseits)KwasirFreya/Odin-ReligionZwergeUnterweltSkaldenmetAhnen-ReligionRiesenUtgard (Jenseits)Göttermet, SkaldenmetAhnen-ReligionAsen und WanenAsgard (Himmelsjenseits)Göttermet, SkaldenmetOdin-Religion

Diese gesamte Szenerie ist von allen indogermanischen Völkern bekannt. Der heilige Trank ist in fast allen indogermanischen Religionen ein zentrales Thema: das Soma der Inder, das Haoma der Perser, Nektar und Ambrosia der Griechen, der Kessel der Cerridwen bei den Kelten usw.

Bei den Indern raubte Indra, Odins dortiger Kollege, den Somatrank in der Gestalt eines Adlers aus einem Versteck in einem Berg, wo er von einer Schlange bewacht wurde. Auch der Soma-Trank galt als Dichter-Inspiration. Bei den Germanen galt der Teil, der Odin in Adlergestalt bei seinem Rückflug nach Asgard aus dem Schnabel und auf die Erde fiel, als Dichtermet – die „Inspiration von oben“. Dieser Zusammenhang ergibt sich dadurch, daß die damaligen Skalden keine Dichter im heutigem Sinne waren, sondern die Bewahrer der mythologischen Lieder und Dichtungen, der Gesetze und der Geschichte des Stammes – und die Essenz dieses Wissens und der mythologischen Erzählungen war das Wissen über die Jenseitsreise.

Bei den Griechen war es ein Adler, der den Göttertrank dem jungen Zeus in sein Versteck in Kreta brachte. Auch Zeus kriecht einmal in der Gestalt einer Schlange in die Unterwelt zu Persephone, die dort eingeschlossen war.

Das Grimnir-Lied

In diesem Lied ist Odin unter dem Namen Grimnir („der Maskierte“) bei dem König Geirröd zu Gast, um dessen Gastfreundschaft zu prüfen. Der König erkennt den Gott nicht und ist mißtrauisch und läßt ihn acht Tage lang zwischen zwei Feuern sitzen und wartet darauf, daß sein Gast sich zu erkennen gibt. Nur Agnar, der Sohn des Königs, bringt Odin Speise und Trank.

In diesem Lied wird vor allem von Odin die Götterwelt beschrieben, während er zwischen den beiden Feuern sitzt.

In einer Szene dieses Liedes beschreibt Odin seine eigene Halle in Asgard, neben der ein Wolf hängt und über der ein Adler schwebt – eine Entsprechung zu den beiden Wölfen und den beiden Raben, die ihn begleiten.

In einer anderen Szene sagt Grimnir (Odin) dem Agnar, daß Odin nur von Wein lebt – vermutlich eine Anspielung auf den Göttermet, der alles ist, was die Ahnen und eben auch die Götter zum Leben im Jenseits bzw. in der Götterwelt brauchen.

Das Wafthrudnir-Lied

In diesem Lied bespricht sich Odin zunächst mit der Göttin Frigg und reist dann zu dem weisen Riesen Wafthrudnir, um sich mit ihm einen Wissenswettstreit zu liefern, bei dem sie ihre Häupter zum Einsatz setzten. Diesen Rätselwettstreit gewann Odin schließlich mit der Frage, was Odin seinem toten Sohn Baldur ins Ohr flüsterte, bevor man ihn auf den Holzstoß auf dem Schiff hob, auf dem er verbrannt wurde.

Dieses Wissen ist das zentrale Wissen Odins und aller Schamanen: Odin flüsterte seinem Sohn, d.h. dessen Seele die Anleitung zu, wie man ins Jenseits gelangt. Diese Sitte findet sich bei vielen Schamanen und zum Teil auch Priestern wie z.B. im tibetischen Bestattungsritual. Der Schamane oder Priester begleitet die Seele des Toten ins Jenseits, während er neben der Leiche sitzt und sozusagen durch sie hindurch mit der Seele des Toten spricht.

Dieses Lied ist wie „der Seherin Gesicht“ und das Grimnir-Lied wohl eine Gedichtform, in der das Wissen über die germanischen Mythologie in eine Rahmenhandlung gebettet ist, damit die damaligen Skalden es leichter auswendig lernen konnten. Diese drei Lieder sind also sozusagen „Merktexte“ bzw. kurze mythologische Lexika.

Der Name Wafthrudnir bedeutet „der im Verwickeln Starke“. Damit könnte gemeint sein, daß dieser Riese geschickt im Fesseln seiner Gegner ist, aber auch, daß es sich um einen sehr listenreichen Riesen handelt – was im ersten Fall zu seiner Stärke und im zweiten Fall zu seinem großen Wissen passen würde.

Odins Rabenzauber

In diesem Lied sendet Odin seinen Raben Hugin aus, wobei die Art des Fluges des Raben ein Orakel zu sein scheint. Anschließend reisen die gesamten Asen zu einer Weisen, die dadurch, daß sie als „Wächterin des Tranks“ beschrieben wird, die Muttergöttin sein muß – möglicherweise Urd an Mimirs Quelle.

Es wird in diesem möglicherweise unvollständigen Lied aber nicht klar, worum es eigentlich geht – außer um eine vergebliche Jenseitsreise, die damit endet, daß die Götter beschließen, erst einmal eine Nacht zu schlafen und dann am Morgen zu sehen, ob sie eine neue Idee haben.

In einem Vers sagt Odin hier, daß die Schicksalsgöttin Urd den Göttertrank Odhrörir bewachen soll, wodurch dieser Trank als mit Mimirs Quelle identisch bezeichnet wird, in der Urd, Verdandi und Skuld wohnen. Um aus dieser Quelle trinken zu dürfen, gab Odin Mimir sein linkes Auge, woraufhin er auch das Jenseits wahrnehmen konnte.

Hier findet sich der Zaubertrank Odhrörir in mehrfacher Weise als der Trank der Muttergöttin beschrieben, der den Zugang zum Jenseits, d.h. die Wahrnehmung des Jenseits, das Wissen über den Weg dorthin und das ewige Leben in ihm ermöglicht.

In einem anderen Vers wird beschrieben, daß die Asen auf Wölfen ritten. Hier wird der Wolf als Freund der Asen und besonders des Odin deutlich, wobei diese Freundschaft in mythologischer Hinsicht darauf gegründet sein wird, daß der Wolf dem Schamanen hilft, den Weg ins Jenseits und zurück zu finden.

Das Lied des Hohen

Dieses Lied enthält im ersten Teil 103 Strophen mit Ratschlägen für ein sinnvolles Verhalten in den verschiedensten Lebenslagen. Daran schließen sich noch 7 weitere Strophen an, in denen Odin selber über seine Reise zu Gunnlöd spricht, woraus man schließen kann, daß der Verfasser dieses Liedes auch die 103 ersten Sprüche Odin, dem „Hohen“, in den Mund gelegt hat, um ihnen Nachdruck zu verleihen.

Darauf folgen noch 28 weitere Sprüche für ein sinnvolles Verhalten im Leben, die ebenfalls von Odin gesprochen werden. In der letzten Strophe findet sich ein interessanter Hinweis darauf, daß man damals davon ausging, daß es in jedem Haus einen Hausgeist gibt, der dabei hilft, Streit zwischen den Familienmitgliedern zu schlichten.

Möglicherweise ist dies der Ahn, der einst das Haus errichtet hat – aus dieser Ansicht entstand die Vorstellung über die Kobolde, deren Namen wörtlich „Hausbeschützer“ oder „guter Hausgeist“ bedeutet und die durch ihre Ähnlichkeit mit den Zwergen recht sicher Ahnengeister sind.

Schließlich folgen noch 27 weitere Strophen, in denen Odin davon erzählt, wie er am Weltenbaum hing und die Geheimnisse der Runen erfuhr, die er dann in den letzten 18 Strophen im einzelnen beschreibt.

Dieses Lied ist also zweigeteilt: Die erste Hälfte befaßt sich mit dem normalen Verhalten im Diesseits und die zweite Hälfte befaßt sich mit dem Jenseits und mit den verschiedenen magischen Möglichkeiten. Die ersten Strophen entsprechen daher Odins sehendem Auge und die letzten Strophen seinem blinden Auge.

In dem zweiten Teil des Liedes wird beschrieben, wie Odin neun Nächte an dem Weltenbaum hing, d.h. er hing acht Nächte an ihm und fiel in der neunten Nacht von ihm herab. Die Acht ist hier wieder die Zahl der Vollständigkeit.

Odin war vom Speer verwundet, als er an dem Baum hing. Da „er selber sich selber geweiht“ war, wie er in den Versen sagt, zeigt zum einen, daß er der Gott ist, dem man sich weihte, wenn man die Weisheit der Runen und vor allem das Geheimnis der Jenseitsreise erfahren wollte, und zum anderen läßt dies vermuten, daß der Speer, mit dem Odin verwundet worden war, eben sein eigenen Speer war. Möglicherweise ist diese Speerwunde die Ursache dafür, daß Odin sich an dem Weltenbaum, also in der Nähe des Jenseits und des Todes befindet. Die Speerwunde könnte daher ein Sinnbild für ein Nahtod-Erlebnis sein.

Es ist beachtenswert, daß auch Christus von einem Legionär mit einem Speer verwundet wurde, als er am Kreuz hing. Es ist hier kaum zu entscheiden, ob dies eine Parallelbildung oder schon die Übernahme eines christlichen Motivs ist.

Als Odin endlich zur Erde niederfiel, trank er von dem Odhrörir, also von dem Unsterblichkeitstrank in Mimirs („Erinnerung“) Quelle zwischen den Wurzeln des Weltenbaumes, in denen die drei Schicksalsgöttinnen wohnen, woraufhin er die Runen erkannte. Das Niederfallen scheint demnach ein Ankommen im Jenseits zu sein, wo er von der Muttergöttin den Trank erhielt. Da Odins Runen-Wissen nach dem Trinken des Odhrörirs entstand, müssen auch diese Runen ursprünglich das Wissen über die Jenseitsreise gewesen sein – zumindest ist anzunehmen, daß dies die ursprüngliche Bedeutung dieser Mythe gewesen ist.

Das Harbard-Lied

Harbard ist in diesem Lied sehr wahrscheinlich Odin selber. Das Lied ist ein Zwiegespräch zwischen Harbard und Thor, wobei Harbard der Fährmann ist, der Thor über das Wasser bringen soll, sich jedoch weigert.

Da das Jenseits ursprünglich eine Wasserunterwelt war und dann nach und nach „verlandete“ bis das Land des Jenseits nur noch durch eine Fluß vom Diesseits getrennt war, wurde der Schamane zu einem Fährmann, eben zum Jenseitsfährmann. In der griechischem Mythologie findet man ihn als Charon, bei den Ägyptern prägt er die ältesten aller religiösen Texte, die an die Wände der Pyramiden geschrieben wurden, und selbst im Christentum hat er sich als der Heilige Christopherus halten können.

In dem Harbard-Lied tritt Odin nun als der Jenseitsfährmann auf, der dort am Fluß mit Thor streitet. Diese Szenerie war allgemein gefürchtet, denn wohin sollte man nach dem eigenen Tod als Seele gehen, wenn man von dem Jenseitsfährmann-Schamanen nicht ins Jenseits geleitet wurde?… man wurde dann zum Gespenst, das an seinem früheren Wohnort solange spuken mußte, bis man durch irgendein Ereignis erlöst wurde.

Deshalb war es im europäischen Mittelalter üblich, den Toten eine Münze zur Bezahlung des Jenseitsfährmannes unter die Zunge zu legen – was heute eine willkommene Datierungshilfe für die Archäologen ist.

Der Dialog ist allgemein eine sehr alte Literaturform, die sich auch in den ältesten Pyramidentexten findet, in denen der tote Pharao mit dem Jenseitsfährmann über die Bedingungen für die Überfahrt zum Jenseits hinüber verhandelt, ihn bittet, ihm schmeichelt und ihm droht.

In dem Lied erzählt Harbard unter anderem von einer Insel mit dem Namen „Allgrün“, wo er mit sieben Schwestern schlief. Dies wird wohl das alte bäuerliche Jenseitsparadies sein und die vervielfachte Muttergöttin, mit der sich dort die Toten vereinten, um ihre eigene Seele im Jenseits zu zeugen, die dann anschließend von der Muttergöttin wiedergeboren wird.

Diese „Vervielfältigung“ läßt sich bei Muttergöttinnen und auch bei Schicksalsgöttinnen, die sozusagen die Muttergöttin in einer Spezialfunktion sind, in verschiedenen Mythologien wie z.B. bei der ägyptischen Hathor beobachten – eine Göttin reichte nicht für alle Menschen aus.

In den weiteren Versen erzählt Odin, der offensichtlich auf der Jenseitsseite des Flusses steht, noch von weiteren Liebschaften mit schönen Frauen, die wohl auch eine erweiterte Fassung des Seelenzeugungsmotivs sind. Diese Entwicklung koppelt dieses mythologische Motiv schon fast ganz von der Mythe ab und läßt es beinahe als „Romanze“ eigenständig werden.

Schließlich erklärt Odin-Harbard auf Anfrage des Thor, daß er seine höhnischen Reden von den alten Leuten in den Wald-Wohnungen erlernt habe, woraufhin ihm Thor vorhält, das „Wald-Wohnungen“ ja eine nette Umschreibung für „Gräber“ sei. Dies bestätigt, daß Odin auf der Jenseitsseite des Flusses, die von den Germanen manchmal bildhaft „der Totenstrand“ genannt wurde, steht.

Der Name Harbard bedeutet „Kampfbart“, womit ein bärtiger Krieger oder auch die Streitaxt dieses Kriegers gemeint sein könnte – wahrscheinlich eine durchaus beabsichtigte und sich gegenseitig ergänzende Doppeldeutigkeit.

I 3. Die Struktur der Lieder der Götteredda

Der Aufbau und die Thematik der verschiedenen Götterlieder weist viele Ähnlichkeiten untereinander auf, sodaß man annehmen kann, daß sie Variationen und szenische Ausschnitte eines großen Themas sind, das allen diesen Liedern zugrunde liegt.

Der Seherin Gesicht

In diesem Lied wird aus der Sicht einer Seherin ein Überblick über den größten Teil der germanischen Mythologie von der Schöpfung bis zur Wiedergeburt Baldurs gegeben.

Mit dem schon etwas veralterten Begriff „Gesicht“ ist hier „Vision“ gemeint. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde die Fähigkeit, Visionen zu haben, auch „zweites Gesicht“ genannt, also eine zweite, andere Art zu sehen, die Odins Sehen mit seinem blinden Auge entspricht.

Baldurs Traum

In diesem Lied reitet Odin in die Unterwelt, um die Ursache für Baldurs Alpträume zu erfahren.

Das Skirnirlied

Hier reitet Skirnir ins Reich der Riesen, um dort für Freyr um die Riesentochter Gerda zu werben, wobei er durch eine Waberlohe, also eine Wand aus Feuer, reiten muß. In einer anderen Strophe wird diese Waberlohe das „rasende Feuer“ genannt.

Der Name Gerda kommt von Gerthrud und bedeutet „Speer(Ger) – Riese (Thrud)“ und im übertragende Sinne dann „starker Speerkämpfer“ bzw. „starke Speerkämpferin“. Der Name Skirnir bedeutet „Diener“ oder „Bote“. Freyr bedeutet „Herr“, „Freier Mann“.

Um die Zusage von Gerda zu erhalten, bietet Skirnir ihr zunächst elf goldene Äpfel an. Diese Äpfel erinnern an die goldenen Äpfel der Hesperiden in der griechischen Mythologie. Aber Äpfel spielen auch in der germanischen Mythologie eine wichtige Rolle: Die Göttin Idun pflückt von einem Baum die Äpfel, deren Verzehren den Göttern ewiges Leben gibt.