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So umstritten der Wettlauf der Männer an den Bergen der Welt war – Höhenrekorde, Speedklettern, Seven Summits und 14 Achttausender –, so aufschlussreich ist die Konkurrenz der Frauen. In den Medien werden ihre Nationalität und Popularität gegeneinander ausgespielt, Motivation, Stil und Moral infrage gestellt. Von Hettie Dyrenfurth bis zu Wanda Rutkiewicz und Gerlinde Kaltenbrunner, von Junko Tabei, der ersten Frau auf dem Everest, bis zu Lynn Hill, die klettert, was vor ihr keinem Mann gelang: Wir begleiten die erfolgreichsten Alpinistinnen – bis eine von ihnen alle 14 Achttausendergipfel erreicht. Aber faszinierender noch als die »Siege« ist das Selbstverständnis, mit dem Frauen innerhalb von 100 Jahren in die Machozone über 8000 m eingedrungen sind. Das erste umfassende Werk zur Geschichte der Frauen am Berg.
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Mit 145 schwarz-weiß-Abbildungen
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienen aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe Dezember 2012
ISBN 978-3-492-95134-0
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv: Im Duck Yong
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für Nives Meroi
Nach der Besteigung des Lhotse – ihn bestieg ich 1986 als letzten der 14 Achttausender – lud ich meine Mutter nach Kathmandu in Nepal ein. Sie war zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alt, und gemeinsam flogen wir in einem Sightseeing-Flugzeug über den Himalaja, bis in Sichtweite des Mount Everest. Aber erst mein auf diesem Flug geäußertes Versprechen, keinen so hohen Berg mehr besteigen zu wollen, ließ sie diese Berge erkennen. Bis dahin hatte sie ihre Augen geschlossen gehalten, die jetzt, im Widerschein der Firnfelder, jenen Glanz zurückgewannen, der in den vielen Jahren der Angst und Sorge um mich verloren gegangen war.
Meine Mutter Maria Messner hat neun Kinder großgezogen, von denen zwei in den Bergen umgekommen sind. (RM)
Mount Everest, von Nepal gesehen (RM)
Reinhold Messner mit Tochter Magdalena auf dem Weg zum Lhotse-Basislager (RM)
»Mehr als die Alpinisten selbst bewundere ich ihre Frauen …«
Wanda Rutkiewicz
»…, und ihre Mütter.«
Reinhold Messner
»Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie viel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben im Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war.«
Friedrich Nietzsche
»Mein eigener Verstand war die beste Instanz dafür, zu entscheiden, was ich konnte und was nicht. Mit dieser Einstellung ist es nicht allzu schwierig, die eigenen Träume zu verwirklichen.«
Reinhold Messner
Nicht diejenige, die als erste Frau alle 14 über 8000 Meter hohen Berge bestiegen hat, wird die Beste ›aller Zeiten‹ sein.«
Edi Koblmüller
»Eine Gruppe aus verschiedenen Nationen hatte sich zusammengeschlossen, und alle halfen mit, das gemeinsame Ziel zu erreichen.«
Gerlinde Kaltenbrunner
»Ich hatte es mir so anders vorgestellt. Ich hatte gedacht, dass ich nach oben kriechen würde, auf meinem Eispickel aufgestützt, und dass ich mich das letzte Stück am Pickel hochziehen müsste, recht heroisch das Ganze. Dass ich die letzte Etappe einfach so dahintänzeln würde, hätte ich mir in meiner wildesten Phantasie nicht ausmalen können.«
Cecilie Skog
Seit einem Vierteljahrhundert haben ein Dutzend »bergverrückter« Frauen einen Wettlauf veranstaltet, der immer wieder neu definiert wurde: »Erste sein« beim »Projekt 14«. Die Achttausender waren dabei ein Tummelplatz, an dem nicht nur Tourismus, sondern auch Feminismus gespielt wurde. Nichts aber war schlimmer als Heroismus und Machismo an den höchsten Bergen der Welt.
2010 endlich sind Frauen ganz oben angekommen, und sie sind dabei so gut, wie Männer sich fühlen mögen, wenn sie jene belächeln, die unten geblieben sind. Diese Frauen nun umgibt etwas unfreiwillig Heroisches, und schon so manche hat vom Mann als Teufel gesprochen, der sie unter sich gezogen hätte, nachdem sie es aus eigener Kraft ganz nach oben geschafft hat.
Nach Unfällen allerdings, die an den höchsten Bergen der Welt meist in Katastrophen enden, sehen die Helfer dieser Frauen schlecht aus. Unsicher grinsend berichten sie vom Ende der »Karawane der Träume«, wie sie Wanda Rutkiewicz als Prozession für die Rettung der Frau inszeniert hatte, oder vom »Status 14«, den zwei Europäerinnen ausgerufen hatten, ehe die konkrete Hoffnung bestand, ihn als Erste zu erreichen. Als antizipiere allein schon die Ankündigung Selbsterhöhung und künftigen Ruhm. Dass sie sich damit in die Nähe jener Hochstapler bringen, die das Spiel 25 Jahre zuvor vorgemacht haben, verweist auf schlechten Geschmack. Denn wer mit möglichst vielen Menschen in Zielsetzung und Moral übereinstimmen will, opfert mit diesem Hang zur Normierung auch Individualität und Ausstrahlung. Dabei hatten Frauen doch bessere Voraussetzungen als wir Männer, aus dem »Spiel der Leiden« in der Todeszone emanzipiert hervorzugehen! Warum wieder dieser Bierernst, diese Ellenbogentaktik, die gegenseitigen Beschuldigungen? Warum so viel Misstrauen zwischen den Rivalinnen? Steckt die Poesie nicht in ihrer Verletzlichkeit, die Schönheit ihres Tuns nicht unter dem Schleier des Vielleicht? Ich frage mich, warum wir Männer mit all unserem Imponiergehabe kopiert werden müssen. Um als Frau das Spiel mitspielen zu können? Ich jedenfalls bin selten so kritisiert worden wie 1989, als ich meine kleine Tochter ins Basislager unter die Lhotse-Südwand mitgenommen habe.
Die Frau, die dem Berg zuruft, dass sie ihn besteigen will, gibt es seit mehr als hundert Jahren: Sie schaut wie der Mann nach oben und in die Ferne und verschließt die Augen dabei. Wenn ich nur schon oben wäre! »Ist was?«, fragte ich einmal. Es ging um die erste Damenbegehung der Macho-Nordwand. Keine Antwort. Woran denkt eine Frau, wenn sie in die Unendlichkeit starrt? Als Mutter zuerst an ihre Kinder daheim. Wie wir Väter auch: »Bestimmt vermissen sie mich.« Damit sind wir beim Zurückkommen: »Das Wiedersehen in ein paar Monaten wird rührend sein.« »Alle da«, heißt das bei meiner Kleinsten. Mein Egoismus wird damit aber nicht sanktioniert, nur weil ich ein Mann bin.
Unser aller Ziel ist die Rückkehr ins Tal. Auch deshalb wird der Gipfel mit dem Erreichtsein unbedeutend. Die ganze Welt liegt dann unten und hinter den Bergen. Der Gedanke an das Zurückkommen in diese scheinbar grenzenlos abgesicherte Welt verleiht uns die Energie, das wahre Ziel zu erreichen: unser Zuhause. Als müssten wir uns aber auch das Nachher hart erarbeiten, ist der Abstieg oft schwer. Männer stehen den Frauen dabei nicht im Weg. Denn keine noch so erfolgreiche Frau verdrängt den Mann von seiner Position. Wenigstens nicht beim Bergsteigen. Frauen und Mädchen haben heute gleiche Ausgangsbedingungen dabei. Endlich! Seit die alte Männerherrlichkeit lächerlich geworden ist, wird die Gleichstellung der Geschlechter am Berg Realität, anders als in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Der typische Bergsteiger von einst – »stark, wettkampforientiert und leistungsfähig« – konnte mit seinen monotonen und einseitigen Verhaltensmustern keine Frau über sich dulden. Heute hingegen ist es Frauen wichtig zu wissen, dass sie »männlich« sein können, ohne dabei ihre weibliche Identität zu verlieren. Die Rolle der modernen, starken und weltoffenen Bergsteigerin ist vereinbar mit jenen Männern, die auch nur bergsteigen. Denn Bergsteigen wird nach wie vor als zweckfreies Tun verstanden, auch wenn es heute mehr Sport als Abenteuer ist, mehr Wettkampf als Erholung.
Der Mensch hat keine Bestimmung. Wir sind, wie wir sein können, Männer wie Frauen, und alles, wozu wir nicht imstande sind, sollten wir anderen überlassen. Am Berg vor allem, weil Gefahren nicht eliminierbar sind und jede Besteigung, die nicht selbstbestimmt durchgeführt wird, nichts wert ist. Möglichkeit und Wirklichkeit müssen zuletzt also zusammenfallen. Vor allem an den höchsten Bergen. Zielsetzung und Stil bei der Ausführung sind dabei allerdings eine rein private Angelegenheit.
Die Südkoreanerin Oh Eun-Sun zum Beispiel, die am 27. April 2010 als erste Frau ihren 14. Achttausender-Gipfel erreichte, hat nie behauptet, ihre Besteigungen »by fair means« zu wagen. Ihren »Wettlauf um den Titel, die Erste auf allen 14 Achttausendern zu sein«, deshalb als »Pfusch« abzutun, ist unfair, ja Verleumdung. Wenn es dabei aber darum geht, den Ruhm der Rivalin aus der eigenen Nation zu mehren, ist es billiger Populismus. Auch wenn die beiden anderen Anwärterinnen nun – Miss Ohs aussichtsreichste Konkurrentinnen Gerlinde Kaltenbrunner und Edurne Pasaban – beteuerten, der Südkoreanerin keinen Wettlauf zu liefern, waren auch sie Teil des Spiels: Denn die Mittel und Wege, Miss Oh ihren Erfolg streitig zu machen, sind vielfältig.
Ja, Miss Oh bestieg die beiden höchsten Achttausender mit Flaschensauerstoff, was derzeit beim Höhenbergsteigen durchaus üblich ist. Sie ließ sich einmal im Helikopter zum Basislager fliegen, was die anderen beiden gelegentlich auch taten – und wer von den dreien stieg nie am kurzen Seil von Guides? Wer ohne Sponsoren? Die Zweifel allerdings, die an Oh Eun-Suns Gipfelbesteigung des Kangchendzönga, des dritthöchsten Berges der Erde – auch von Alpinisten aus Korea? – angemeldet werden, sind ohne eindeutige Beweisführung inakzeptabel. In ihrem Heimatland spricht man deshalb von einer »Verschwörung«. Nives Meroi hielt sich vornehm aus jeder Polemik und dem klammheimlichen Wettstreit um die Gunst der Medien heraus. Edurne Pasaban heute auch.
Oh Eun-Sun, die in Dschingis Khan ihr Vorbild sieht, war kompromisslos auf ihr Ziel fokussiert. Die Überlebenskünstlerin mit ihrer drängenden Ungeduld, die seit 2008 alle Mittel und Hilfen nutzte, um schnellstmöglich an ihr Ziel zu kommen, stürzte dabei nie in die Misere der Zweifel ab. Sie kommt aus einer anderen Kultur als der unseren. Nicht Sisyphos ist ihr Held, sondern der mongolische Eroberer. Sie lernte so auch den »Gipfel der Verzweiflung« nie kennen, den der Spitzenbergsteiger Reinhard Karl im Nichterreichbaren sah: »Den wahren Gipfel erreichst du nie.« Ihrem Streben schien ein objektiver Sinn anzuhaften, ohne den kleinsten Anflug von Selbstzweifel. In Europa ist es die Neugier, die uns aufsteigen und dabei philosophieren lässt, in Asien ist es das Göttliche im Menschen. Das Staunen dabei ist eine Form der Sehnsucht. Unser Ziel wird nur um des Ziels selbst willen erreicht, nicht etwa zu irgendeinem Zweck. Hinterher aber – sogar dann, wenn »der Tod für die Dauer eines Augenblicks überwunden war« –, braucht es für keine Kultur eine Rechtfertigung. »Die 14 Achttausender« sind also als objektiver Maßstab für die »Größe« einer Bergsteigerin völlig untauglich. Trotz ihrer Höhe! Und trotz der Reaktionen, mit denen wir Männer 1986 erhöht oder lächerlich gemacht wurden: Sie taugen höchstens als objektives Zahlenspiel. Jede Objektivität aber ist doch tödlich langweilig. Nicht nur beim Bergsteigen. Was zählt, ist die subjektive Erfahrung dabei.
Für meinesgleichen – Chris Bonington, Doug Scott und viele andere – war das Höhenbergsteigen vor vierzig Jahren Abenteuer. Wir waren dabei so wenige, und alles war so geheimnisvoll, dass wir nicht merkten, wie das Spiel zum Sport mutierte. Plötzlich standen Athletik, Speed, die Passage im Fokus des Interesses und nicht mehr das Überlebthaben am oberen Rande der Welt. Neben den Spitzenathleten, zu denen die besten Bergsteigerinnen heute zählen, tummeln sich inzwischen aber Tausende Touristen »in eisigen Höhen«. Saison für Saison werden es mehr. Sie haben ganz einfach eine Reise dorthin gebucht und sind bereit, für das Eliminieren all dessen zu bezahlen, was für uns vor vierzig Jahren unbedingt dazugehörte: Exposition, Schwierigkeit, Anstrengung, Gefahr. All das war einst umsonst und zugleich Bedingung für unsere Art von Grenzgang. Dazu Hans Zippert in einer Glosse vom 11. März 2010 in der Tageszeitung Die Welt: Es sei »diskriminierend, wenn ältere unternehmenslustige Menschen den Gipfel des K2 oder des Mount Everest nicht mit dem Rollator erreichen könnten«.
Mit der Zahl als einzig möglicher Wertung nun droht die Gefahr, dass nur noch das »Summited« Geltung hat. Mit dem höchstmöglichen Erfahrungspotenzial ginge damit auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Zweck verloren. Bergsteigen verkäme zum berechenbaren Sport und zuletzt zur totalen Gedankenlosigkeit. Dass unser Sicherheitsbedürfnis wächst, ist eine Erscheinung unserer Zeit. Es ist gleichzeitig aber dieser Widerstreit im heutigen Höhenbergsteigen – in einen Gefahrenraum aufbrechen zu wollen, den es zugleich nicht mehr geben soll –, der mir nicht einleuchten will.
Die Achttausender von Herzog, Hillary oder Tichy existieren deshalb nicht mehr, weil ihre Wege Jahr für Jahr zu Pisten ausgebaut werden. Nicht nur für Frauen. Vor allem von Männern für prestigehungrige Männer. Denn es ist immer mehr das Prestige, das man vom Dach der Welt holen will.
Dieses Prestige ist nun zum Ein und Alles auch für Frauen geworden. Umso mehr, als schon der Plan, alle Achttausender zu besteigen, höchstmögliche Anerkennung versprach. Dieses Ziel füllte die Anwärterinnen aus, bestimmte ihr Denken, Fühlen und Tun. Bis zur Lähmung. Sie ließen sich vom »Allerwichtigsten in ihrem Leben« so hoch hinauftragen, dass sie, als Erste oben angekommen, nicht ahnen konnten, dass ein gemeiner Sturz sie aus ihrer »Unsterblichkeit« reißen könnte. Es darf am Berg aber keine Wette geben, die nicht das Überleben zum Inhalt hat. Denn nicht, dass nichts ist, dass wir trotz allem überleben – vorläufig wenigstens –, nährt den Geist, mit dem sich zurück vom Gipfel tanzen lässt. Unser Begrenztsein also ist das Mythische: Im Staunen, das die Welt als Wunder begreift, wird uns da oben zugleich unsere Nichtigkeit bewusst. Die Tibeter sehen den Himalaja deshalb seit jeher als »Tanzplatz der Götter«. Im Sturm auf 8000 Meter Meereshöhe oder auf dem Gipfel der Ausweglosigkeit gibt es keine Glückseligkeit, nur Momente des Staunens angesichts der Rätselhaftigkeit der Welt sowie der Abgründe in der menschlichen Natur.
Mit der Absicherungshysterie allerdings schrumpft das Erfahrungspotenzial in den Bergen, schwindet der Abgrund. Und dies, obwohl der Sauerstoffpartialdruck konstant bleibt. Auch das Interesse dafür! Im »Grenzbereich Todeszone«, einer menschenfeindlichen Welt jenseits der Zivilisation, empfinden wir unser Überleben als Wunder, das Sein als Ausnahmezustand. In jedem Augenblick. Es ist diese Unmittelbarkeit, die jeden Eifer vertreibt und gleichzeitig unsere vitalsten Instinkte weckt, die das Bergsteigen trägt. Alle Illusionen und Selbsttäuschungen, die unser Dasein bis dahin vielleicht gestützt haben, sind dann ausgelöscht. Verdrängt von jenem verrückten Daseinshunger, welcher der Wunschlosigkeit gleichkommt. Frauen sind dabei ebenso erfahrungsbereit wie wir Männer. Ich freue mich deshalb auf ihre Berichte aus der Todeszone, auch weil Frauen feinfühliger sind als wir hypochondrischen und eifersüchtigen Spitzenbergsteiger. Es sind inzwischen ja Frauen – Elizabeth Hawley, Bernadette McDonald, vielfach Karin Steinbach Tarnutzer –, die von den Emotionen der Männer am Berg schreiben; was erst, wenn Frauen ihr eigenes Bergsteigen vorbehaltlos offenlegen.
Nur was uns wirklich interessiert, belebt uns. Und je mehr es uns interessiert, umso lebendiger sind wir dabei. Gleichgültig, wofür wir uns stark machen, wichtig ist das »Wie viel«. Auch das »Wie oft«? Nicht unbedingt. Denn Intensität hat mit Qualität und nicht mit Quantität zu tun. Wer es in den »14. Himmel« schafft, wird unsterblich sein – das glauben nur jene, die schon immer alles getan haben, um die eigene Leistung zu einer messbaren Größe zu machen. 14 mal 8000 Meter aber ist nicht olympisches Gold, auch kein Weltmeistertitel, es ist gar nichts. Nur diejenigen, die zurück sind aus dem wahren »Grenzbereich Todeszone«, wissen, wie kurzlebig Unsterblichkeit ist.
Am Freitag, dem 6. August 2010, war Gerlinde Kaltenbrunner auf dem Weg zu ihrem letzten Achttausender-Gipfel, dem K2 im Karakorum. Vor ihr kletterte der 35-jährige Fredrik Ericsson, ein Extremskifahrer aus Schweden. Im »Flaschenhals«, einer Steilstufe in mehr als 8000 Meter Höhe, verlor der Mann, der ungesichert über ihr kletterte, der die Spur trat, der sich schemenhaft gegen die Sérac-Wand abhob, plötzlich den Halt: Er rutschte, fiel, versuchte, sich mit ein paar Bewegungen ins Gleichgewicht zu bringen, stürzte aber in immer größeren Sätzen an Kaltenbrunner vorbei in die Tiefe, verschwand … Die Frau schaute ihm entsetzt nach. Es war kein Halten mehr. Kein Laut zu hören, nur ein fernes Rauschen, dann Stille, absolute Stille.
Bildteil On Top
Alexander Burgener, der Bergführer von einst! (RM)
Mount Everest, Mallory-Route, Gipfelgrat (RM)
Mit Elizabeth Hawley 2004 in Kathmandu (RM)
Zitate Kapitel 1
»Die erste Frau sein, die auf allen 14 Achttausendern war, muss ich Gott sei Dank nicht. Das machen Oh Eun-Sun, Gerlinde Kaltenbrunner und Edurne Pasaban unter sich aus. Mit Profibergsteigerinnen will ich mich gar nicht messen.«
Alix von Melle
»Als Einzelperson war ich erst recht davon abhängig, mir die Expeditionsgenehmigung mit anderen zu teilen, weil ich diese hohen Kosten allein nicht hätte tragen können.«
Gerlinde Kaltenbrunner
»Ich bin weder eine Schiedsrichterin noch Richterin, ich bin Archivarin, und ich sammle Berichte der Bergsteiger.«
Elizabeth Hawley
»Miss Bristow zeigte uns alten Alpine-Club-Mitgliedern, wie man leicht und sicher über steilste Felsen klettert, und während der kurzen Pausen, in denen wir anderen unsere Atemwerkzeuge wieder zur Ruhe brachten, fand sie noch Muße, zu fotografieren … Wir gingen bis zur höchsten Spitze empor, winkten eventuellen Freunden, die uns von der Mer de Glace aus vielleicht beobachteten, und beglückwünschten die erste Dame, die je auf diesem wilden Turm [auf dem Crepon!] gestanden hatte.«
Albert Frederick Mummery
»Wenigstens in der gnadenlosen Höhe des niedrigen Luftdrucks und Sauerstoffdefizits ist die nicht messbare Welt noch in Ordnung. Das Scheitern im Sturm kann mehr zählen als der Gipfel bei Superbedingungen.«
Edi Koblmüller
Auch das Bergsteigen ...
Auch das Bergsteigen braucht von Zeit zu Zeit Heldenstorys. Heute sind es nicht mehr unbedingt Machos, sondern »humane« Wesen, die Zukunft suggerieren, indem sie sich die Gegenwart nehmen. Den Wettlauf um die 14 Achttausender, den die Männerwelt vor 25 Jahren vorgemacht hat, machten in den letzten Jahren ein paar Frauen nach. Obwohl sie, wie man sehen kann, die Aufmerksamkeit dafür aus der Vergangenheit schöpften.
Es ist müßig, darüber zu streiten, ob es die Medien, die Fans der Heldinnen oder die Akteurinnen selbst waren, die das Spektakel antrieben, die Parallelen zu den Männerspielen von früher sind unübersehbar: Auch ihre Ingredienzien: Rivalität, Neid und Ehrgeiz. Ging es doch um jene »Unsterblichkeit«, die hinter öffentlicher Aufmerksamkeit vermutet wird. Dass aber wieder gestorben wurde, um zu siegen, ist für mich ein Grund, hinter die Kulissen zu schauen – auch weil viel zu viele Erwartungen auf die prognostizierten Siegerinnen projiziert wurden.
Mich erreichte die Todesnachricht von Go Mi-Sun am 15. Juli 2009. Sie kam direkt aus Pakistan, wo es schon Mittag war. Die koreanische Bergsteigerin wurde offiziell für tot erklärt, nachdem sie seit dem 11. Juli als vermisst galt: umgekommen am Nanga Parbat. Auch ein Österreicher, Wolfgang Kölblinger, stürzte damals auf der Kinshofer-Route ab. Er wurde bis heute nicht gefunden.
Als Marketing-Instrument ist diese Art Höhenbergsteigen mit Vermissten und Toten zwar fragwürdig, als Nachricht aber taugte sie für Schlagzeilen, vor allem seit zwei Südkoreanerinnen im Kampf um den Titel »Erste Frau auf allen 14 Achttausendern« mitmischten.
2009 also lieferten sich zwei koreanische Bergsteigerinnen ihren internen Wettlauf um den ersten Platz im »14. Himmel«, wie Jerzy Kukuczka das Spiel an den höchsten Bergen der Welt genannt hatte.
Noch wenige Monate zuvor waren »Miss Oh« und »Miss Go« völlig unbekannt gewesen. Kaum jemand in der Szene kannte ihre Namen, während heftig darüber diskutiert wurde, ob die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die Spanierin Edurne Pasaban oder die Italienerin Nives Meroi es als erste Frau auf alle 14 Achttausender schaffen würde. Ob jetzt mit oder ohne Flaschensauerstoff, Sherpa-Unterstützung und Fixseilen gestiegen wurde, beide wollten die Erste sein: Oh Eun-Sun und Go Mi-Sun. Go Mi-Sun, eine begabte Wettkampf- und Sportkletterin, erreichte zehn Achttausender-Gipfel innerhalb von nur zweieinhalb Jahren. Eine unglaubliche Gewaltleistung! Im Frühling 2009 stand sie auf Makalu, Kangchendzönga und Dhaulagiri! Anschließend wollte sie die beiden Gasherbrum-Gipfel, den Nanga Parbat und die Annapurna besteigen. Der Stil interessierte sie dabei wenig. Nur Erste werden zählte – bis sie tot war. Miss Go war aus dem Rennen.
Zwischen 1997 und 2007 hatte Oh Eun-Sun, ihre Konkurrentin, fünf Achttausender bestiegen, darunter den Mount Everest und den K2, beide mit Flaschensauerstoff. 2008 erreichte sie innerhalb nur eines Jahres die Achttausender-Gipfel Makalu, Lhotse, Broad Peak und Manaslu. Im Frühjahr 2009 gelangen ihr Kangchendzönga und Dhaulagiri, im Sommer der Nanga Parbat und der Gasherbrum I. An der Annapurna, die sie noch für den Herbst 2009 geplant hatte, war sie schließlich im Frühjahr 2010 erfolgreich.
Die Südkoreanerin beschäftigte Helfer, Träger, die Fixseile verlegten und Lasten schleppten. Aber das ist inzwischen an den Normalwegen der Achttausender Alltag. Seit Jahren schon werden zweimal jährlich Pisten auf die Gipfel von Cho Oyu, Broad Peak und die Gasherbrum-Achttausender gebaut, am Mount Everest sogar von Süden und Norden – für Gruppenreisen, wie sie der erfolgreiche deutsche Reiseunternehmer Ralf Dujmovits organisiert, der inzwischen selbst auf allen 8000er-Gipfeln gestanden hat. Für seinesgleichen ist diese Art von Infrastruktur Voraussetzung für den Erfolg und die Sicherheit seiner Klienten. Selbst wenn eine der Achttausender-Rivalinnen auf alle Steighilfen hätte verzichten wollen, an den Normalwegen der höchsten Berge wäre sie allerorten darüber gestolpert. Sogar in der Südwand des Shisha Pangma hängen an den Schlüsselstellen fixe Seile, denen nicht auszuweichen ist, weil sie nun einmal da sind. Das ist natürlich nicht die Schuld der bergsteigenden Frauen, im Gegenteil, es ist die Folge einer Entwicklung, die selbst die höchsten Gipfel der Welt einer breiten Schar von Bergsteigern zugänglich machen sollte. Auch der Helikopter, der Ausrüstung und Expeditionsmitglieder ins Basislager fliegt, gehört heute zur Logistik eines solchen Unternehmens, vor allem dann, wenn man sich vorher bereits akklimatisiert hat. Miss Oh zum Beispiel flog 2009 per Helikopter ins Basislager am Dhaulagiri, und nachdem ihre Landsmännin Miss Go tödlich abgestürzt war, bestieg sie im gemeinsamen Diamir-Basislager einen Hubschrauber, um ins Tal zu fliegen und von dort zu ihrem nächsten Achttausender zu marschieren. Am Abruzzigletscher wartete ihre zweite Hilfstruppe für die Gasherbrum-Besteigung. »Wir sind uns nicht sicher, ob sie den Berg endlich schafft«, lautete die letzte Nachricht ihrer Betreuer aus dem Nanga-Parbat-Basislager.
Inzwischen gab es Fragen zum Tod von Wolfgang Kölblinger. Angeblich erreichte er den Gipfel zusammen mit der koreanischen Expedition um Miss Go gegen sechs Uhr abends. Beim Abstieg aber sei er verloren gegangen. Abgestürzt: »Spuren im Schnee deuten an, dass Wolfgang an einem steilen Hang abglitt. Möglicherweise in 8060 Meter Höhe.«
Nachdem Go Mi-Sun den Gipfel mithilfe von künstlichem Sauerstoff erreicht hatte, stürzte auch sie ab, ebenfalls im Abstieg, auf einer Höhe von 6200 Metern, nahe Lager 2. Im Basislager herrschte Chaos. Man war schockiert. Dass sich aber einer der Sherpas von Miss Go ernsthafte Erfrierungen an seinen Händen zugezogen hatte, interessierte niemanden.
»Go Mi-Suns Körper wurde am Messner-Couloir gesichtet«, las ich in den Zeitungen. Ein Journalist rief mich an und fragte, wo diese Stelle sei.
»Es gibt in der Kinshofer-Route kein Messner-Couloir«, antwortete ich.
Es wurde vermutet, ein Fixseil sei entfernt worden. Ausgerechnet in dem Bereich, in dem sie dann fiel. Andere kritisierten die späte Stunde ihres Gipfelgangs: Aufbruch von Lager 4 angeblich gegen drei Uhr früh!
Mit elf bestiegenen Achttausendern wurde die 41-jährige Miss Go für ein paar Stunden bekannt. Zu spät! Als Außenseiterkandidatin im Wettlauf der Frauen um alle 14 Achttausender wollte sie ihr Ziel zwar in sehr kurzer Zeit erreichen, übernahm sich aber dabei. Zuletzt hatte sie ihr Glück verspielt. Ihr elfter Gipfel blieb ihr letzter. Wie damals, 1986, für Marcel Rüedi auch. Unwahrscheinlich, diese Parallele!
Ob er es hätte schaffen können oder nicht, der Schweizer wagte 1986 eine bewundernswerte Aufholjagd. Nur zu verständlich – wer wäre nicht gern Erster geworden! Es ist aber nie so, dass dem Wagemutigen Wunder zuteilwerden. Sonst wären sie am Ende die normalste Sache der Welt. Wunder sind wählerisch und belohnen zumeist die, die ihr Ziel mit Vorsicht und wiederholt verfolgen. Nie die Getriebenen, selten die Genies, dann und wann Spieler wie mich.
2009 hatten es einschließlich Ralf Dujmovits 16 Höhenbergsteiger geschafft, auf allen Achttausendern zu stehen. Im Mai 2010 waren es bereits 22, darunter die ersten beiden Frauen. Seit 1986 war die Zahl der »Rekordhalter« so groß geworden, dass alle Welt auf den Namen der ersten Frau wartete, die den vakanten Platz in der Galerie der »unsterblichen Pioniere« einnehmen würde. Vor allem deshalb tobte dieser beispiellose Konkurrenzkampf. Schließlich ging es nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um wirschaftliche Chancen. Und dies, obwohl lukrative Sponsorenverträge, Vortragsreihen und Buchveröffentlichungen weniger von der Zahl der bestiegenen Achttausender als vielmehr vom Charisma der Heimgekehrten abhängen. Seit 200 Jahren schon werden Frauen-»Höhenweltrekorde« vermeldet. Zu Stars unter den Bergsteigerinnen aber wurden nur jene, die etwas taten, was ihre männlichen Kollegen nicht konnten.
Die Liste der Bergsteiger, die nach mir alle Achttausender bestiegen haben – Jerzy Kukuczka, Erhard Loretan, Carlos Carsolio, Krzysztof Wielicki, Juanito Oiarzabal, Sergio Martini, Park Young-Seok, Um Hong-Gil, Alberto Iñurrategi, Han Wang-Yong, Ed Viesturs, Silvio Mondinelli, Iván Vallejo, Denis Urubko, Ralf Dujmovits, Veikka Gustafsson, Andrew Lock, João Garcia, Piotr Pustelnik –, wird Jahr für Jahr länger, und neue Rekorde werden gemeldet: Der spanische Bergsteiger Juanito Oiarzabal stand bis 2009 24-mal auf dem Gipfel eines Achttausenders, Appa Sherpa bestieg den Mount Everest 20-mal. Jetzt aber holen die Frauen auf: Bis Ende Mai 2010 haben Oh Eun-Sun und Edurne Pasaban alle 14 höchsten Berge erklommen, Gerlinde Kaltenbrunner 13, Nives Meroi 11. Lange Zeit schien die österreichische Krankenschwester Gerlinde Kaltenbrunner die Nase vorn zu haben. Im Sommer 2009 aber musste sie 300 Meter unterhalb des K2-Gipfels umkehren und ihre Hoffnungen, wenn auch nicht ihre Ambitionen vertagen. Sie wolle nicht unbedingt die erste Frau auf allen 14 Achttausendern sein, betont sie inzwischen wieder und wieder. Sie wolle zuletzt nur auf allen Gipfeln stehen, auf allen ohne Sauerstoffmaske. Das ehrt sie, auch wenn heute nicht mehr der künstliche Sauerstoff, sondern Fixseilketten, fest installierte Hochlager und bestens geschulte Sherpaführer die entscheidenden Hilfen an den Achttausendern sind. Nicht zuletzt der Wetterbericht über das Satellitentelefon. Wenn Frau Kaltenbrunner aber sagt, sie lehne übertriebenen Ehrgeiz und Rekordjagden ab, warum dann die harsche Kritik an Miss Oh? Hätte sie ohne ihre eigenen hohen Ansprüche mehr Verständnis für die Mittel, mit denen die Südkoreanerin Oh Eun-Sun das Rennen für sich entschieden hat? Sie ist nicht umgekehrt, als es ohne künstlichen Sauerstoff nicht mehr weiterging, sieht sie sich doch als weiblichen Dschingis Khan, den nichts aufhalten kann.
Wir, die zweite erfolgreiche Generation an den höchsten Bergen der Welt, waren es, welche die Achttausender bedeutungsschwanger überladen haben. Sie wurden so zu Marken, mit Botschaften überhäuft. Jedes ausgefallene Expeditionsziel konnte zum Spektakel hochgejubelt werden. Jetzt endlich, mit dem Wettlauf der Frauen, wird entrümpelt. Auch weil es kaum noch Neuland an diesen wenigen, gezählten Gipfeln gibt. Und weil so viele – Männer wie Frauen – über die leichten Routen zum Gipfel kommen. Der Mythos bröckelt. Aufmerksamkeit aber bleibt die Währung, in der gerechnet wird.
Der Portugiese João Garcia bestieg 2009 mit dem Nanga Parbat seinen 13. Achttausender. Trotz starken Windes. Es war an jenem Samstag, an dem Miss Go starb. Ungefähr acht Bergsteiger kamen zum Gipfel – »summited«, wie es in der Fachsprache heißt: »Ziel erreicht«. Giuseppe Pompili und Adriano Dal Cin aber kehrten rechtzeitig um. Sie trafen dabei auf die andere Koreanerin, Miss Oh, für die der »Nanga« der zwölfte Achttausender werden sollte. Die Bergsteigerin war trotz des Sturms dabei, aufwärtszusteigen, sehr langsam, wie Pompili erzählte: »Der Himmel war klar, doch wehte starker Wind.« Es war auch sehr kalt.
Trotzdem schafft sie es bis zum Gipfel und zurück ins Basislager. Dort gab Oh Eun-Sun gleich ihr erstes Interview. Wie fühlte sie sich nach ihrem Erfolg?
»Müde.«
Sie hatte bis dahin allein 2009 drei Achttausender hintereinander bestiegen.
»Welcher war der schwierigste?«
»Der K2!« Aber der Gasherbrum I sollte noch schwieriger werden, weil sie ihn als letzten in dieser Saison, die so hart gewesen war, bestieg.
Wann und wo hat sie mit dem Bergsteigen begonnen?
»Als Studentin in Südkorea.«
»Ist es als Frau am Berg anders als für Männer?«
»Schwierige Frage.«
»Alle staunen über die Geschwindigkeit deiner Aufholjagd.«
»Auch ich bin überrascht über meinen Speed.«
»Wirst du ein Buch schreiben über diesen Erfolg?«
»Ja, ich denke darüber nach.«
Ja, Oh Eun-Sun gelang anschließend die Besteigung des Gasherbrum I. Er war ihr 13. Achttausender. Ihr blieb also nur noch die Annapurna, um die Liste der 14 vollzumachen. Miss Oh erzählt heute, dass sie nur am K2 und am Mount Everest künstlichen Sauerstoff verwendet hat und diesen Umstand bedauere. Wenn sie alle 14 Achttausender hinter sich gebracht habe, beabsichtige sie, die Gipfelbesteigungen an den höchsten Bergen ohne Flaschensauerstoff zu wiederholen. Abwarten, denke ich. Der Gasherbrum I oder auch Hidden Peak ist nach Kangchendzönga, Dhaulagiri und Nanga Parbat ihr vierter Achttausender-Gipfel im Jahr 2009. Kennt sie keine Zweifel?
»Nein, und weil keine Frau je alle diese 14 Gipfel bestiegen hat, hoffe ich, die Erste zu sein.«
»Und Angst?«
»Sie ist mein Überlebensinstinkt. Bin ich allein in unerschlossenem Gelände, befällt mich eine große Furcht. Meine Nerven sind dann aufs Äußerste angespannt, Hör- und Geruchssinn nehmen zu. Ich glaube auch, ein Auge für Leute zu haben. Ich wusste immer instinktiv, innerhalb weniger Sekunden, ob die Person vor mir gut oder schlecht ist.«
»Und wie motivieren Sie sich?«
»In mir ist eine Vision.«
»Haben Sie noch andere Vorlieben neben dem Bergsteigen?«
»Berge sind wie eine Idee, nach der ich mich sehne«, sagt die unverheiratete Rekordhalterin. »Einen neuen Gipfel zu sehen ist ähnlich, wie einen neuen Freund zu treffen. Ich fühle mich dabei nervös, besorgt, ja belastet – bis ich zu ihm gehe.«
Auch der K2, 8611 Meter hoch, steht wie die Gasherbrums im Karakorum. Schneemassen im Gipfelbereich machten 2009 jeden Aufstieg dort unmöglich. Niemand erreichte den Gipfel. Auch Gerlinde Kaltenbrunner musste umdrehen. Ihr Traum, im Jahr 2009 auf ihrem 13. Achttausender-Gipfel zu stehen, ging damit leider zu Ende. Trotzdem, Kaltenbrunner hätte sehr wohl die erste Frau mit 14 Achttausendern im Tourenbuch sein können. Auch wenn Oh Eun-Sun 2009 im Rennen vorne lag. Ihr letzter Gipfelgang, an der Annapurna, blieb riskant, weil gefährlich, und Kaltenbrunner war ohne Zweifel die stärkste Bergsteigerin unter den vier Anwärterinnen auf den Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde.
Bildteil Kapitel 1
G III und G II in der Gasherbrum-Gruppe im Karakorum (RM)
Gipfelblick mit Damen (etwa um 1850) (RM)
Gruppenbild mit Damen »ganz oben« (RM)
Wer ist die Stärkste am Berg? (RM)
Zitate Kapitel 2
»Wer als Wein- und Weiberhasser jedermann im Wege steht, der esse Brot und trinke Wasser, bis er daran zugrunde geht.«
Wilhelm Busch
»Man sollte das Bergsteigen nicht in ›Männer und Frauen‹ unterteilen. Bergsteigen bedeutet hochgehen und wieder heil herunterkommen – egal ob man eine Frau oder ein Mann ist. Es ist irrelevant.«
Elizabeth Hawley
»Eine wirklich gute Bergsteigerin war ich nie, nur recht geschickt, nicht ängstlich, sehr leicht im Gewicht und ungemein begeistert, also tauglich zum Mitgenommen-Werden. Dass es die Besten mehrerer Epochen taten, bleibt mein Stolz.«
Emmy Eisenberg, verheiratete Hartwich-Brioschi
»Auch wenn Edurne Pasaban und Gerlinde Kaltenbrunner vor Kurzem mit Kantsch und Lhotse die Gipfel ihres jeweiligen zwölften Achttausenders erreicht haben, sind sie nicht automatisch die besten Bergsteigerinnen der Welt.«
Edi Koblmüller
»Der Alpinismus ist weder europäisch noch männlich – der Alpinismus ist eine Möglichkeit.«
Reinhold Messner
»Was heißt überhaupt Geschlechterkampf? Natürlich sind die Mädchen ehrgeizig! Aber sind das die Männer nicht auch? Natürlich gibt es Wettbewerb – aber keine zähneknirschende Konkurrenz.«
Felicitas von Reznicek
Ob Miss Oh ...
Ob Miss Oh einen Kommunikationsberater hat, weiß ich nicht. Allein ihr Vorhaben aber versprach Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit, die sie groß erscheinen oder lächerlich machen konnte. Auch Frau Pasaban gab nicht vor, die Launen der Öffentlichkeit selbst beeinflussen zu können. Das machte ihr Fernsehteam, das sie so attraktiv wie möglich zeigen sollte. Und es ist heute der Mann von Gerlinde Kaltenbrunner, der bei den Medien für seine Frau Stimmung macht: lobend und fordernd zugleich. Seine Arbeit ist nicht nur eine Verheißung, mitunter auch eine Art Forderung, je nachdem, wie die Autoren zu den Konkurrentinnen stehen.
Der Frauenwettlauf in der Todeszone ging im Frühjahr 2010 also in die letzte Runde. Alle wussten es: Oh Eun-Sun aus Südkorea fehlte nur noch der Annapurna-Gipfel. Dann würde sie die erste Frau sein, die alle 14 Achttausender bestiegen hat. Ihre Rekordjagd aber war seit 2009 umstritten. Vor allem in Deutschland meldeten sich Kritiker, Zweifel wurden geschürt, Fachzeitschriften gifteten! Im Nu stürzte der Wettlauf aus der Erhabenheit in die Tiefe der Zeitungsspalten ab. Als komme es im Endspurt nur noch darauf an, schlechte Nachrichten über die Rivalin zu verbreiten und gute über sich selbst. Ausgrenzung ist aber nicht nur in der Lage, Streit zu provozieren, sondern auch Kraft. Es gab keinen Zweifel, Oh Eun-Sun war 2010 eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen aller Zeiten. Im Mai jedenfalls wollte die dann 44-Jährige ihre Rekordjagd krönen: »Die 8091 Meter hohe Annapurna ist der letzte Gipfel, der mir noch fehlt.« Ihre Aussage dazu war gleichzeitig eine Kampfansage. Verteidigen musste sie sich nicht. Ob sie wirklich 13 von 14 Achttausendern im Himalaja und im Karakorum bezwungen hatte, war nichts als eine Rätselfrage, mit der sie diskreditiert werden konnte. Und das Bild vom Kangchendzönga-Gipfel? Es sei überbelichtet, grobkörnig, sagten europäische Bergsteiger. Also kein Beweis? Da steht ein Mensch in Bergsteigermontur auf schneebedeckten Felsen: roter Overall, ein schwarzer Gurt um die Hüfte, dicke schwarze Handschuhe, Expeditionsschuhe mit Steigeisen, eine verspiegelte Schneebrille im Gesicht. Ist sie das? Wer sonst! Es sei nicht einmal zu erkennen, ob da ein Mann steht oder eine Frau. Und wo wurde das Bild gemacht? All diese Fragen können drei Sherpas beantworten, die sie fast bis oben begleitet haben: Dawa Wangchuk Sherpa, Pema Tshering Sherpa und Nurbu Sherpa. Oh Eun-Sun behauptete nicht, die Aufnahme sei eine Art Beweis. Das Foto aber zeigt sie wenige Meter unter dem Gipfel des 8586 Meter hohen Kangchendzönga im östlichen Himalaja, kurz »Kantsch« genannt. Es war windig am 6. Mai 2009, als sie und ihre drei Helfer sich dem Gipfel näherten. Widrige Verhältnisse! Nur minutenlang konnten sie und ein Sherpa wenige Meter unter dem Gipfel ausharren. Dieser Sherpa fotografierte. Diese Version zweifelte auch die Chronistin Elizabeth Hawley zuerst nicht an. Ernsthafte Zweifel an diesem Bild hingegen ließen die Hintermänner der Konkurrentinnen von Oh Eun-Sun wiederholen: Miss Oh arbeite mit unlauteren Methoden, vermarkte sich zu sehr, hieß es sogar bei einer Pressekonferenz in Seoul. Wie immer also, wenn eine(r) über die anderen hinaussteigt, steht unten die Moral als Auffangnetz der zu kurz Gekommenen schon bereit.
Macht sich Oh Eun-Sun zur besten Bergsteigerin der Welt? Nein, denn Extrembergsteigen ist kein Wettkampfsport, sie gilt aber als Rekordhalterin. Selbst wäre sie wohl nicht auf die Idee gekommen, sich dieses Attribut umzuhängen. In den Medien aber und in Internetforen werden Titel verliehen. Gleichzeitig weiß niemand besser als sie, dass Bergsteigen in diesen Dimensionen vielschichtig ist, zu sehr von der Natur abhängig, um bewertet werden zu können. Berge bieten den Akteuren fast nie vergleichbare Bedingungen, um zur Wettkampfarena zu taugen. Ein Marathon ist 42,195 Kilometer lang, und alle Teilnehmerinnen laufen bei gleichen Bedingungen. Wer Schnellste ist, gewinnt. Beim Sportklettern und bei Skialpinismus-Wettkämpfen ist es ähnlich. Am »Kantsch« dagegen sind die Bedingungen alle Tage anders, und die Akteure steigen nicht gleichzeitig auf. Ranglisten für die Besten gibt es also nicht.
Trotzdem bleibt die Frage: Wer sind heute die Besten der Welt? Christian Stangl als schnellster Besteiger des Mount Everest? Auch der Spitzenalpinismus entwickelt sich ja hin zum Wettkampfsport. Sportliche Aspekte wie Schwierigkeit und Schnelligkeit gewinnen also an Bedeutung. Mit intensivem Training, mentaler Vorbereitung und wissenschaftlich ausgetüftelter Ernährung vollbringen Profibergsteigerinnen inzwischen Höchstleistungen, die auch ich vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten habe. Man will und sucht den Wettbewerb, und offensichtlich braucht auch frau Ranglisten. Immer auch das Spieglein an der Wand? Trotzdem, niemand kann am Ende sagen, wer auf 8000 Meter Höhe die oder der Beste ist.
Vielleicht aber kann man die erfolgreichsten Alpinisten und Alpinistinnen benennen. Ist es die Frau, die die meisten Achttausender bestiegen hat? Nein, die Besteigung aller 14 Achttausender durch eine Frau wurde nur deshalb zur letzten Pionierleistung im Alpinismus hochgejubelt, weil es bei uns Männern auch funktionierte. Im Gegensatz zu 1986 aber ging es jetzt plötzlich um Stil, Maske und Bescheidenheit. Als müssten die Frauen ihre Ankunft auf dem Gipfel mit Videoaufnahmen und Fotos dokumentieren und anschließend einer Art Geheimloge vorführen, weil das öffentlich gemachte Dokument ja verwerflich sei. Stellen sich nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt Kathmandu nicht alle den kritischen Fragen der Chronistin Elizabeth Hawley, die seit bald fünf Jahrzehnten jede Expedition in Nepal hinterfragt? Sie kennt nicht nur die Bergsteigerinnen, sie kennt auch ihre Begleiter und Sherpas. Miss Oh hatte gipfelwärts am »Kantsch« drei von ihnen dabei. Sicher hätte sich einer – vielleicht gegen Geld? – verplappert, wäre die Koreanerin nicht ganz oben gewesen! In Pakistan, wo fünf Achttausender stehen, prüft vor Ort kein lokaler Chronist die Daten. Also was dort?
Beim Streit um die Gipfelfotos von Oh Eun-Sun geht es um die übliche Rivalität. Wie oft zwischen Bergsteigern: Sie haben sich immer schon argwöhnisch beäugt. Und plötzlich geht es auch um die Frage, wie das Ziel erreicht wird. Um welchen Preis? Als wäre das Bergsteigen immer noch eine alpine Domäne, war für fast alle klar, dass nur Europäerinnen, Frauen, die in ihrem jeweiligen Land als die besten Höhenbergsteigerinnen galten, um die Siegespalme rangen: die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner und die Spanierin Edurne Pasaban. Die Italienerin Nives Meroi, die elf der höchsten Gipfel im Himalaja und im Karakorum hinter sich hatte, blieb 2010 ja zu Hause. Ganz unerwartet aber war die koreanische Konkurrenz im Spieglein um die »höchste Frau« der Welt aufgetaucht, und schon wurde ein neues Spiel gespielt. Ad hoc vermieden es die zwei Frauen an der zweiten Stelle der Liste, sich als Konkurrentinnen zu bezeichnen. Kaltenbrunners Methode sei der Alpinstil: als klettere sie immer ohne die Hilfe von Sherpas, ohne die Fixseile, die heute allerorts hängen. Ohne zusätzlichen Sauerstoff aus der Flasche,
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