Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen - Frank Schulz - E-Book

Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen E-Book

Frank Schulz

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Beschreibung

Onno Viets sticht in See! Frank Schulz schickt seinen eigenwilligen Privatdetektiv auf Kreuzfahrt. Aberwitzig und überbordend, sprachgewaltig und – ja – ergreifend. Als Onno – Mitte 50, Hartz-IV-Empfänger, überzeugter Nichtschwitzer und ungeschlagen an der Pingpong-Platte – zumindest in Hamburg-Eppendorf – sich im Jahr 2012 zum ersten Mal zwischen zwei Buchdeckeln ausbreitete, um es gleich mit dem »Irren vom Kiez« aufzunehmen (zumindest privatdetektivisch), prophezeite Harry Rowohlt der deutschen Gegenwartsliteratur, dass sie sich spätestens jetzt »endgültig warm anziehen« könne. Auch andere Kollegen (Wolfgang Herrndorf: »Spitzenbuch!«) und die Presse (FAS: »Die Welt ist danach nicht mehr die gleiche«) verfielen dem ganz speziellen Viets'schen Charisma. Und nun hat Frank Schulz einem der wohl außergewöhnlichsten Privatdetektive der Literaturgeschichte einen neuen Fall auf den noppenbesockten Leib geschrieben. Noch immer leidet Onno unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, ausgelöst durch die Turbulenzen seiner ersten Ermittlungen. Da trifft es sich gut, dass der exzentrische Künstler Donald Jochemsen – Vetter von Onnos bestem Freund – nach Begleitung für eine Mittelmeerkreuzfahrt sucht. Er hat sein alterndes Herz an eine junge Sängerin verloren, die auf dem Schiff arbeitet, leidet aber zugleich unter einer stark ausgeprägten »Viktimophobie«. Kein Wunder, dass er sich nach Beistand sehnt. Was die beiden auf dem Schiff erleben, schwankt zwischen der ersehnten Entspannung (Onno) und paranoid-misanthropischen Schüben (Donald), bis etwas Erschütterndes geschieht, das der turbulenten Reise ein abruptes Ende – und ganz andere Dinge in Gang setzt. Frank Schulz schreibt wie kein Zweiter. Seine Sprache strotzt vor Ideen, Witz und Eleganz. Ein fulminanter zweiter Onno Viets, ein großer Roman.

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Seitenzahl: 312

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Frank Schulz

Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Frank Schulz

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoErster Akt Parlicke, parlocke!1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Zweiter Akt Ringelpiez der Schlümpfe4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Dritter Akt Baumelnde Seelen10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Vierter Akt Der Odysseus des Schmerzes20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Fünfter Akt Der Mann im Spiegel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Sechster Akt Person über Bord38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)Siebenter Akt Kuß44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. KapitelNachspielNachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)MottoDank
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Des Meers Gedicht! Jetzt könnt ich mich frei darin ergehen,

Grünhimmel trank ich, Sterne, taucht ein in milchigen Strahl und konnt die Wasserleichen zur Tiefe gehen sehen:

ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl.

Die Rhythmen und Delirien, das Blau im rauchigen Schleier,

verfärbt sind sie im Nu hier, versengt sind sie, verzehrt:

so brannte noch kein Branntwein, kein Lied und keine Leier,

wie hier das bittre Rostrot der Liebe brennt und gärt!

Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff (übertragen von Paul Celan)

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Kasper Putschenelle:

Sünd ji all dor?

Volk:

Jooor!

Kasper Putschenelle:

beiseite Davon stinkt dat hier ok so. laut Denn ropt mol all hurroooh!

Volk:

Hurroooh!

Üblicher Auftakt im Hamburgischen Handpuppentheater des 18./19. Jahrhunderts

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Erster AktParlicke, parlocke!

 

 

 

 

Hurra! Denn ja: Wir sind ja alle da. Alle, alle sind wir da. Hurra!

Oder etwa nicht? Irgend jemand nicht da?

Tot? Okay, da kann man nichts machen. Arm, krank, schwach, doof? Nun, da gälte es eine differenzierte Untersuchung des Sachverhalts. Wehe aber dem unter uns, der nicht da ist, weil er etwa nicht mag oder nicht will – warum auch immer. Oder auch nur dem, der zu spät kommt. Den bestraft das Leben, und das Leben kann verdammt grausam sein. Nein, nein, es beißt die Maus keinen Faden ab – besser, wenn wir alle da sind. Hurra!

1

Es konnte nicht gutgehen. Es konnte nicht gut ausgehen, ganz und gar nicht gut ausgehen, und wer wußte es, wußte es von Anfang an?

Christopher Dannewitz. ›Stoffel‹. Dr. jur. Dannewitz, Rechtsanwalt und Notar, Sports- und langjähriger Busenfreund des Titelhelden. In einem Wort: ich. O Gott, ja …: ich.

Ganz abgesehen davon: War es nicht geradezu zwingend, daß die Schlüsselrolle in der unausbleiblichen Tragödie eine Schießbudenfigur spielte? Ein Kasper à la Vetter Donald?

O doch. Ein Schauspiel sah ich spielen, das alt war wie die Zeit …

 

Vetter Donald. Tja.

Ach, wie soll ich sagen? Vetter Donald war ein … war ein …

Oder umgekehrt: Vielleicht konnte man gar nicht anders als werden wie Vetter Donald, wenn man nun mal Donald hieß statt Helmut oder Rüdiger und, zumal in der Provinz, zu einer Zeit eingeschult worden war, als Donald Duck Hochkonjunktur hatte. Kinder sind Faschisten. (Und richtig rund ging’s, als sein zweiter Vorname ruchbar wurde.)

Immerhin hatte Donald Maria Jochemsen als ABC-Schütze jener Buxtehuder Grundschule noch niedlich ausgesehen (sofern Fotos aus den 60ern nicht generell täuschen). Oder wenigstens schnieke. Kein Vergleich jedenfalls mit der Schießbudenfigur, die mir am Sonnabend, den 12. Oktober 2013, begegnete – wie alle Jubeljahre wieder im kulturellen und subkulturellen Hamburg; diesmal im Kammertheater Tremolo.

»Vetter Stoffel.«

»Vetter Donald.«

Wir haben uns nie sonderlich geschätzt. Verlangte allerdings auch niemand. In puncto Verwandtschaft war unsere Sippe mit einer Toleranz gesegnet, die sich von Gleichgültigkeit allenfalls durch ein Goldzahnblecken unterschied.

Ich war von der Toilette gekommen, wo es wie üblich etwas länger gedauert hatte – die Drüse, die Drüse –, und das Foyer war bereits so gut wie leer gewesen. Nur noch die Studentin hinter der Glastheke und davor der Prinzipal im Gespräch mit einer Vogelscheuche mit Zylinderhut, die mir das schiefe Kreuz zukehrt. Ich habe die Klinke der Ausgangstür schon gepackt und nicke den andern einen Abschiedsgruß zu, als die Scheuche mich anruft. »Vetter Stoffel.«

Da ist mir aber bereits von selbst aufgegangen, an wen mich die Rückansicht mit den verqueren Schultern erinnert. Allerdings hat er offenbar gehörig abgespeckt. »Vetter Donald.«

»Du hier. Vetter Stoffel. Ich dekompensier gleich.«

»Tja. Vetter Donald. Wie geht’s.« Und schon hab ich mich seinem Sprech angepaßt. Unter seiner Würde ist es nämlich recht eigentlich, bei Fragen die Satzmelodie am Ende anzuheben.

Was Vetter Donald an Charme fehlte, machte er durch Hüte wett. Und sog. Bandana-Tücher. Und Schirmkappen sowie Basken-, Bommel- und Ballonmützen. An diesem Abend trägt er einen Chapeau claque, von der Art, wie ihn der einstige Gitarrist von Guns N’ Roses zu tragen pflegte.

Nun, letztlich war alle Maskerade glimpflicher als der grau bekränzte Eierkopf. Auf dem, wie ich mich auch diesmal wieder unleidlich erinnere, recht zentral eine Schweinswarze zutage träte, so leuchtend wie der Punkt auf einer Orientierungskarte: Sie befinden sich hier.

Allegorisch gesprochen, war genau das Vetter Donalds Kardinalproblem: In welche Sphären auch immer er entfloh – stets befand er sich hier. Meine Frage nach jenem seinem Befinden ist entsprechend geheuchelt. Hohn pur.

»Die Dämonen, die Dämonen«, raunt Vetter Donald, denn wenn es nicht mich interessiert, wen sonst? Tante Edith düngt schon lange die Radieschen von unten, und seine Lebensgefährtin hat ihn, wie ich kurz darauf erfahren werde, verlassen. »Die Dämonen«, raunt Vetter Donald zum dritten Mal, und er wird es ein viertes und fünftes Mal raunen. »Sie haben mich nach wie vor im Griff, die Dämonen. Die Dämonen, sage ich.«

 

An jenem Abend war meine eigene Verfassung instabil. Von heute aus betrachtet absurd, daß ich Vetter Donalds Drängen auf ein gemeinsames Gläschen nachgab – mal ganz abgesehen davon, daß ich sicher sein zu dürfen glaubte, beide zahlen zu müssen. Donald Maria Jochemsen, demnächst 55, stadtbekannter Veteran der analogen Boheme. Stets hart am Rand des Existenzminimums, weil zeit seines Berufslebens in nahezu allen Sparten der schönen Künste »unterwegs« (wie man in unseren heimatlosen Zeiten zu sagen pflegt). Dabei, übrigens, mehrfach wenn nicht Identität, so doch Pseudonym gewechselt.

 

Durch harten schwarzen Nachtregen stiefeln wir um die Ecke in die Bar Libelle. Noch ist sie lotterleer, doch gegen ein Uhr wird sie voll sein bis zum Stehkragen. Genau wie wir. »Reine Physik«, wird Vetter Donald sabbern. »Kommunizierende Röhren.« Raaanfsik. Komsirööön.

Zu leiern begonnen hat er allerdings bereits nach dem ersten tiefen Schluck von seinem ersten Gin Fizz. Ungute Wechselwirkung mit Tranquilizer und Antidepressivum, die ihm den x-ten Neuanfang erleichtern sollen.

Seinen Totengräberhut übrigens wird er die gesamten dreieinhalb Stunden unseres Aufenthalts nicht abnehmen. Wird eh alle halbe Stunde zum Rauchen raustorkeln.

Den Auftakt aber hat er keineswegs mit dem Dämonen-Thema bestritten, sondern mit gleichwohl düsterer Miene gefragt: »Wie fand’st denn du den Theaterabend.«

Anders als das Haupthaar sind seine Räuberbrauen pechschwarz geblieben, oder er färbte sie. Die Augen im toten Winkel, nur kolossale Tränensäcke hinter dick und schwarz gerahmten rechteckigen Lupen.

2

Gegeben worden war Kasper Spackennacken. Uraufgeführt im Internet, hatte sich das animierte Handpuppenspiel ruck, zuck zum Click-Hit entwickelt. Der Untertitel lautete Arien und Szenarien aus Vulgarien. Fünf- bis achtminütige plebejische Possen mit surrealem Anstrich. Moderne Fassungen jener Nachspiele, die – meist ohne inhaltlichen Bezug – im Anschluß an Dramen des traditionellen europäischen Theaters bis Ende des 18. Jahrhunderts gezeigt wurden. Die versauten Sprüche, Kalauer und Pointen gaben dem alten anarchischen Affen in mir durchaus Zucker.

Bald war Spackennacken zum Feuilletonthema avanciert, und selbst die bürgerlichen hatten erkannt, daß Autor DJ Sacknaht die bis heute grassierende Inkarnation des onkelhaften Kinderkasperles vom Kopf auf die Beine gestellt hatte. Zurückgestutzt hatte auf die Wurzeln seines obrigkeitsfeindlichen Urahnen Kasper Putschenelle. (Der Beiname verdankt sich der Verballhornung von Pulcinell, dem Ururahn aus der neapolitanischen Commedia dell’Arte.) Der als Spitzbube, Trunkenbold und Totschläger auf den hamburgischen Marktplätzen des 18. und 19. Jahrhunderts sein Unwesen trieb. Vermittels Identifikationsangebot mit Witz und ›Pritsche‹ (dem Kaspertypischen Prügelfetisch) für Schadenfreude, Triumphgefühle und Allmachtsphantasien des geknechteten Pöbels sorgte.

Entsprechend beherzt hatte Meister Sacknaht das moralisch-pädagogisch agierende Ensemble des 20. Jahrhunderts gegen den Strich gebürstet. Kasper Proll, Gretel Schlampe, Großmutter nymphoman, Wachtmeister schwul, der Teufel depressiver Berliner, und neben ähnlich (zum Teil allzu wohlfeil) abgefeimten Mutationen von Krokodil, Hexe, Seppel usf. betraten neue Protagonisten die Bude – so etwa Schneekönig, Kasper Muckefuck oder der Lude von Buxtehude, der zwar Bomberjacke mit Fellkragen trägt, am Kinn aber ein Rasierpflästerchen mit Swarovski-Steinchen, um den Hals ein Goldkettchen mit stilisiertem Geier als Anhänger und unterm Arm die Wirtschaftswoche.

Als das Tremolo eine theatralisierte Version ankündigte, hatte ich mir vorgenommen, sie zu besuchen. Und sie hatte mich amüsiert. Die Bühne war von einer Kasperbudenfassade gerahmt und die Schauspieler folglich nur oberhalb der Gürtellinie zu sehen gewesen. Sie hatten Köpfe aus Pappmaché getragen und das Ungelenke der Handpuppenvorbilder brillant imitiert.

Zudem hatte der zynische Generalbaß der Stücke meine gedrückte Stimmung gelockert, und in der Bar Libelle also sehe ich mich aufgrund der Leichenbittermiene Vetter Donalds herausgefordert, besonders begeistert zu sein.

 

Und tappe in die Falle. Denn unter DJ Sacknaht firmiert niemand anders als – Vetter Donald.

»War doch ein Unding, die Inszenierung«, raunt er mit eitlem Funkeln aus blutunterlaufenen Bernsteinaugen, die nun, da er die Nase erhebt, monströs hinter den Lupengläsern aufquellen. »Eine hauptsächliche Dimension meines Werks besteht schließlich in einem großangelegten Versuch über Vulgarität. Vulgarität, sage ich. Wichtige Frage. Im ›Faust‹ …«

»Auha«, blaffe ich unter Schock. (All der artistische Quatsch, den er jahrzehntelang verzapfte – war da vielleicht doch was dran?) »Auch ein Herr Sacknaht kommt ohne ›Faust‹ nicht aus, was?«

»Im ›Faust‹, Vetter Stoffel«, setzt Vetter Donald neu an, lasziv geradezu, »stellt Gretchen Faust bekanntlich die Gretchenfrage. Und um sogleich vulgär zu werden, stelle ich quasi die Gegenfrage: Wie hältst du’s mit der Vulgarität. Gegen-Gegenfrage zunächst: Was ist denn überhaupt vulgär, ordinär, obszön und ähnliches. Ich will es dir sagen, Vetter Stoffel.«

Das habe ich befürchtet. Doch beschließe, aus Gründen der ureigenen Nervenpflege allem zuzustimmen, was Vetter Donald mir vorraunt.

»Ich will es dir sagen. Ich will es dir«, raunt Vetter Donald, »sagen.«

Und dann startet er seinen ›Versuch über Vulgarität‹.

 

»Und dieser Kretin von Regisseur«, raunt Vetter Donald satte 30 Minuten später, »hat diese hauptsächliche Dimension in meinem Werk doch überhaupt nicht kapiert. Der hat doch bloß auf Brüllwitz gesetzt. Obwohl man Theatergängern Zoten ganz anders vermitteln muß.«

»Immerhin, wir haben gelacht.«

»Aber«, raunt Vetter Donald, »an den falschen Stellen.«

Mehr als Buhrufe hassen Künstler Lacher ›an den falschen Stellen‹.

»Aber es gab vier Vorhänge.«

»Ach Vorhänge«, raunt Vetter Donald. »Vorhänge, Vorhänge.« Sein Raunen strahlt Souveränität aus, die sich jedoch mit seiner körperlichen Unruhe beißt. Ständig scheint er mit den Gesäßmuskeln zu mahlen – aufgrund mannigfacher Zipperlein konnte er in nüchternem Zustand nicht gut lange sitzen –, dehnt die Halswirbelsäule, macht sich gerade und sackt wieder zusammen und tattert und flattert die ganze Zeit.

3

Allein drei Gin Fizze braucht er, um den Spacken-Komplex erschöpfend zu vermitteln (und ich, um ihn zu verdauen). Allerdings hätten wir vier bis fünf gebraucht, hätte ich ihm nicht nach dem Munde geredet. So komme ich noch halbwegs wach und zurechnungsfähig in den Genuß der neuesten Nachrichten aus der Hölle seiner »Dämonen«.

Schon auf dem Buxtehuder Halepaghen-Gymnasium hatte Vetter Donald mit Drogen aller Couleur experimentiert. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und in seinen 20ern manche psychiatrische Episode absolviert. Spätestens seit seinen 30ern litt er unter grauen bis schwarzen Depressionen, zumeist induziert durch zügellosen Alkoholabusus. Berüchtigt die mehrtägigen Zechtouren (»auf Trebe« nannte er das) bis weit in seine 40er hinein. Folglich alle paar Jahre Anfall von depressiver Dekompensation. Ferner (neben einem ganzen Pschyrembel an physischen Defekten) unter (durch überfeinerten Haß teils hausgemachten) Neurosen, Hypochondrie, Agora- und Klaustrophobie, Misanthropie und vielem anderen mehr – zum Beispiel, und das ist für diese Erzählung ausschlaggebend, sog. Viktimophobie (siehe weiter unten). Nicht von ungefähr war sein Lieblingssong seit Anfang der 70er Black Sabbaths »Paranoid«.

 

Natürlich beharrt er, wie schon im Tremolo angedeutet, auch in der Libelle noch darauf, jene Dämonen hätten ihn »voll im Griff«. Derzeit aber werden sie anscheinend von einem 30 Jahre jüngeren Satansbraten namens Kristin Luise im Zaum gehalten.

»Kristin Luise.«

»Ja«, raunt Vetter Donald finster. »Ich bin verliebt.«

»Du. Ach. Na. Und was sagt Uta dazu?«

Seine langjährige, langmütige Lebensgefährtin. Kosename: Orang Uta. Bitte, sie rasierte sich nicht gern. Doch schließlich war Rauhbeinigkeit geradezu Grundvoraussetzung, um die artgerechte Haltung eines ranzigen alten Kamelwallachs wie Donald Maria Jochemsen zu bewerkstelligen.

»Hat mich verlassen«, raunt er. »Vor zwei Jahren.« Daher der Verlust von rund 18 Kilo Körpergewicht (»für jedes gemeinsame Jahr eins«). Fast wäre er draufgegangen am Trennungsschmerz. Aber jetzt will Vetter Donald »wieder mehr ins Leben eintauchen«.

Ich starre ihn an. Er starrt sein Glas an. Dabei knetet er unaufhörlich sein Stoppelkinn. Unaufhörlich schneit es Schuppen auf sein dunkles Leibchen.

»Sag mal«, entschließe ich mich zu sagen, »kommt dir das Koks schon aus dem Bart gerieselt?«

Mit der Rückhand klopft er sich ein bißchen ab. »Hefepilz«, raunt er düster.

Jedenfalls ist Kristin Luise Sängerin und Tänzerin. Und Mitglied der Entertainment-Crew an Bord eines Clubschiffs von FLIP Cruises. Seit vier Monaten führen sie eine Mail- und SMS-Beziehung.

»Mail- und SMS-Beziehung. Was ist das denn.«

»Wieso. Telefonieren ist dermaßen Neunziger. Und unpoetisch.«

Vetter Donald kramt ein iPhone hervor, wischt mit seinen zittrigen, nikotinfleckigen Fingern auf dem Display hin und her und findet endlich doch noch das gesuchte Foto. À la seconde steht sie da. Türkisfarbenes Trikot, rosafarbene Strumpfhosen, lilafarbene Stulpen. Brünettes Schätzchen, lächelnd. Nett bis kokett.

»Könnte deine Enkeltochter sein. Wenn sie nicht so hübsch wäre«, sage ich. Dann schäumt kurz Wut auf über so viel Beknacktheit. »Und? Hast du ihr schon ein Spermiogramm geschickt?«

Finster himmelt er das Foto an. Kennengelernt haben sie sich Anfang Juni, auf einer Vernissage in Vetter Donalds Stammcafé Altkanzler Schmidt. »Nächste Woche überrasche ich sie. Ja, ich habe eine Kreuzfahrt gebucht. Auf der Flipper IV. Sieben Tage westliches Mittelmeer. Palma de Mallorca, Alicante, Valencia, dann wieder Palma, dann Cannes und Barcelona und zurück. Kreuzfahrt, sage ich.« Halb stolz, halb versonnen schneit er vor sich hin.

Spackennacken hat seinem Erfinder Tantiemen eingebracht (inkl. Verfilmungsoption für Agora TV), und zwar »im fünfstelligen Bereich, im oberen fünfstelligen Bereich«. Erstmals in seiner langen Gespensterkarriere überhaupt bringt ihm einer von all seinen Gemälde-, Skulptur-, Performance-, Operetten-, Poesie-, Kopfstand- und sonstigen Versuchen auch Finanzen ein – außer wie üblich meist gar nichts, oft Ärger, selten ein paar Zeilen in Katalogen und Käseblättern sowie dünnen Applaus von Besoffenen und Irren.

Wie auch immer, aber …

»Kreuzfahrt? Kriegst du nicht schon Nasenbluten, wenn du zwei Etagen Fahrstuhl fahren mußt?«

Vetter Donald räumt ein, je näher der Termin rücke, desto mehr Angst vor der eigenen Courage zu entwickeln: das unstete Meer; die An- und Abreise nach Palma; überall Nichtraucherzonen – und vor allem »all die Fratzen, ich sage: all die Fratzen an Bord«. (Und ich sage: ausgerechnet er, die Mutter aller Fratzen, muß das sagen, und dann auch noch zweimal?)

Mit andern Worten: Man fragt sich, wie er denn überhaupt auf den Bolzen gekommen ist. Ach ja: Kristin Luise.

»Und?«

»Lora«, raunt Vetter Donald. »Lorazepam wird’s halbwegs regeln.« Doch würde dieses sein bevorzugtes Sedativum auch sein Hauptproblem regeln – das der oben erwähnten »Viktimophobie«?

 

Zeit seines Lebens litt er unter der Angst, Opfer einer Gewalttat zu werden. Kamen ihm nachts zwei Gestalten entgegen, wechselte er die Straßenseite. Starrte ihn in der Kneipe jemand an, ging er weg. Machte ein Achtjähriger im Park buh, kollabierte sein Zentrales Nervensystem.

Unter Alkoholeinfluß allerdings war ihm wurst, ob er geteert und gefedert in irgendeiner Gosse aufwachte. Auch mit Lora ging’s halbwegs.

Doch dann fiel ihm ein älterer F.A.Z.-Artikel in die Hände.

Kreuzfahrt-Kriminalität Der Tod fährt mit

Mit Urlaub auf Kreuzfahrtschiffen verbinden die meisten Romantik und Erholung. Tatsächlich verschwinden immer wieder Gäste spurlos von Luxuslinern. Kriminalität an Bord wird inzwischen zum Problem. Die Reedereien wollen davon nichts wissen.

Und der Lauftext begann wie folgt:

Es hatte als Traumreise begonnen und endete in einem Alptraum …

… und so weiter, und so fort.

Dann noch ein Artikel, der ins gleiche Nebelhorn stieß. Und noch einer. Und schließlich http://www.internationalcruisevictims.org/.

An dieser Homepage war alles dran: von US-amerikanischer Adresse über Spendenkonto bis hin zu einem Logo, das von der Windrose inspiriert war. Wirkte fast wie die Reklameplattform einer Sondersparte der organisierten Kriminalität.

Allein die Tatsache, daß es bereits eine International Cruise Victims Association gab, machte Vetter Donald tief betroffen. Was ihn aber schlaflose Nächte kostete, war das bewegte Element auf jener Website: ein Laufbanner mit Porträtfotos jener Kreuzfahrtopfer. Eine scheinbar endlos weiterzuckende Galerie.

Ab sofort sah Vetter Donald jede Nacht seine eigene Fratze dort eingereiht … ein Leichnam um den andern, der rücklings schlafwärts zog … Eine Perle des Narzißmus.

 

Und in dem Moment drängte sich mir jene fatale Schnapsidee auf. (Am Ende der Geschichte kam es mir vor, als hätte ich jene Formel vor mich hingewispert, die Vetter Donald zufolge Kasper Putschenelle zu rufen pflegte, um den Teufel zu provozieren: Parlicke, parlocke!)

 

»Ich hätte einen Leibwächter für dich!« sage ich – ja, gröle ich, weil ein neuerlicher Schwung Winterhuder Feiervolks die Bar Libelle akustisch vermüllt. »Sagt dir der Name Onno Viets noch was?«

»Onno Viets«, raunt Vetter Donald. »Der Onno Viets. Ich dekompensier gleich.«

Seit wir uns im Tremolo begegnet sind, hat er nicht ein einziges Mal gelächelt. Nicht mal gegrinst. Doch als der Name meines guten alten Sports- und Busenfreundes fällt, da hebt Vetter Donald das ausgequetschte Stoppelkinn, und aus dem physiognomischen Fiasko im tiefen Schatten der Zylinderkrempe schält sich der fröhliche Sechsjährige des 60er-Jahre-Fotos heraus.

 

Eine beeindruckende Präsentation der Macht des Viets’schen Charismas für Arme.

Nachspiel

Kasper Spackennacken mobbt den Hätschfonk-Fuzzi

Kasper

Tri, trorr, trullorrlorr! Tri, trorr –

Gretel

Mäch den Kopp zu, Späckennäcken! Ich will in Ruhe mein’ Oarsch epiliärn!

Kasper

beiseite Oarsch epiliärn? Wie schwul is’ däs denn. laut Oarsch epiliärn?! Wie schwul is’ däs denn!?

Gretel

Selbär schwul, dorr! Päß bloß äouf, dorr!

Kasper

Päß män selbär äouf, dorr!

Gretel

Äch, geh käcken, Späckennäcken! Odär meinstweg’n ein’ saufm!

Kasper

beiseite Däs läß ich mich doch nich’ zweimorr sorrgen. laut Päß bloß äouf, dorr! Sons’ geh’ ich nemmlich ein’ sauf’m!

Kommt an ’n Sparmarkt vorbei.

Vorm Eingang eine Ansammlung Handpuppen.

Kasper

Wäs dässen! ’n Fläschmob?

Räuber

mit Zauberhut … ond Sä glauben ja gar näch, läbe Konsom-Äntärässäntinnän ond Konsom-Äntärässäntän – äch wäderhole: Sä glauben gar näch, was Sä alles sparen, wenn Sä säch för onsärän Räsen-Sparsack entscheiden!

Mob

Wieso nich’? Morr sehn! Wäs sporrn wiär denn älles?

Räuber

Non, das kommt darauf an. Jä mähr Räsen-Sparsäcke Sä kaufen, äch wäderhole: Jä mähr Räsen-Sparsäcke Sä kaufen, desto mähr sparen Sä natörlich! Bäs Sä selber Mälljonär sänd!

Mob

unter beifälligem Gemurmel Hört sich gut än.

Kasper

Und wäs is’ mit Mob-Räbätt?

Räuber

wankend Mmm … Mob-Rabatt?

Mob

unter beifälligem Gemurmel Jorr! Mob-Räbätt! – Genäou, Mob-Räbätt! etc.

Kasper

Jorr, Mob-Räbätt! Der Boni des klein’ Männes!

Räuber

nicht beherzt genug Non ja …

Kasper

zieht seine Schuhe aus und bewirft damit den Räuber Wüß ick doch! Hätschfonk-Fuzzi!

Mob

Genäou! skandierend Hätsch-fonk-Fut-zi, Hätsch-fonk-Fut-zi!

Räuber

Autsch! Äch … äch wäderhole … Autsch!

Kasper

Fläträit-Figgär!

Mob

Flät-räit-Figgär! Flät-räit-Figgär!

Räuber

Schuhen und faulen Eiern ausweichend Aber sähr värährte Konsom-Äntärässantinnän ond -Äntärä… autsch!

Kasper

Bummelt em op! Bummelt em op, den Ries’n-Sporrsäck!

Mob

Rie-s’n-Sporr-säck, Rie-s’n-Sporr-säck!

Kasper

Bummelt em an sien eigenen Mikrofon-Galgen op!

Mob

ungelenk skandierend Och nö, däs män nich’, orr-bär ’n Bäcks kricht-är! Och nö, däs män nich’, orr-bär ’n Bäcks kricht-är!

Kasper verdreht die Augen.

Geht in die Schänke.

 

Stunden später.

Kasper

lallend ’ch bin wieä dohorr!

Gretel

Päß bloß äouf, dorr!

Kasper

Und? Häs’ dein’ Oarsch ebillliärt?

Gretel

Nee! Der worr jorr ein’ saufm.

Kasper

Der is’och uuä’alt, der Wwwitz. Kennß den schon? Kommt ’n Mann zu’n Ääzt …

Gretel

Jede Weddeh: mit dreggige Füßeh.

Kasper

Norr und? Ällde Sporrßbremseh …

Beleidigt ab.

Nachspiel (in politisch korrekter Hochsprache)

Kasper Spackennacken entlarvt den Hedgefonds-Händler

Kasper

Tri, tra, trullala! Tri, tra –

Gretel

Bitte um Ruhe, verehrter Gemahl. Ich möchte mit Muße mein G…ß enthaaren.

Kasper

beiseite G…ß enthaaren? Wie albern ist das denn. laut G…ß enthaaren? Wie albern ist das denn?!

Gretel

Selber albern! Obacht, du!

Kasper

Obacht, du!

Gretel

Ach, geh austreten, Gemahl! Oder meinetwegen in eine Schänke.

Kasper

beiseite Das lasse ich mir besser nicht zweimal sagen. laut Obacht, du! Sonst gehe ich nämlich in eine Schänke!

Kommt an einem Supermarkt vorbei.

Vorm Eingang eine Ansammlung Handpuppen.

Kasper

Nanu? Ein sog. flashmob?

Räuber

mit Zauberhut … und Sie glauben ja gar nicht, liebe Konsum-Interessentinnen und Konsum-Interessenten – ich wiederhole: Sie glauben gar nicht, wie viel Sie sparen, wenn Sie unserem Mega-Vorteilspack den Vorzug geben!

Mob

Warum nicht? Lassen Sie hören! Wie viel sparen wir denn?

Räuber

Nun, je nachdem. Je mehr Mega-Vorteilspacks Sie erwerben, desto größer natürlich Ihre Ersparnis! Bis Sie logischerweise selbst zu den Millionären zählen!

Mob

unter beifälligem Gemurmel Hört sich gut an.

Kasper

Und wie sieht es mit Mob-Rabatt aus?

Räuber

wankend Mmm … Mob-Rabatt?

Mob

unter beifälligem Gemurmel Ja! Mob-Rabatt! – Genau, Mob-Rabatt! etc.

Kasper

Ja, Mob-Rabatt! Der Bonus des kleinen Mannes!

Räuber

nicht beherzt genug Nun ja …

Kasper

zieht seine Schuhe aus und bewirft damit den Räuber Wußte ich’s doch! Sie Betrüger!

Mob

Genau! skandierend Hedge-fonds-händ-ler, Hedge-fonds-händ-ler!

Räuber

Autsch! Ich … ich wiederhole … Autsch!

Kasper

Flatrate-Bordell-Besucher!

Mob

Flat-rate-Bor-dell-Be-su-cher! Flat-rate-Bor-dell-Be-su-cher!

Räuber

Schuhen und faulen Eiern ausweichend Aber sehr verehrte Konsum-Interessentinnen und -Intere… autsch!

Kasper

Lyncht es! Lnycht es, das Mega-Vorteilspack!

Mob

Me-ga-vorteilspack! Me-ga-vorteilspack!

Kasper

Lyncht es an seinem eigenen Mikrofon-Galgen!

Mob

ungelenk skandierend Ach-nein,-das-denn-doch-lieber-nicht,-aber-eine-Ohrfeige-bekommt-er! Ach-nein,-das-denn-doch-lieber-nicht,-aber-eine-Ohrfeige-bekommt-er!

Kasper verdreht die Augen.

Geht in die Schänke.

 

Stunden später.

Kasper

lallend Ich bin wieder zurück!

Gretel

Obacht, du!

Kasper

Und? Hast du dein G…ß enthaart?

Gretel

Nein! Das war ja in der Schänke.

Kasper

Die Pointe dürfte doch wohl lediglich im restringierten Code funktionieren. Kennst du den schon? Kommt ein Mann zum Arzt …

Gretel

Nein. Aber jedenfalls mit schmutzigen Füßen.

Kasper

Und wenn schon. Humorloses Weib …

Beleidigt ab.

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Zweiter AktRingelpiez der Schlümpfe

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Der Abend des 14. Oktober 2013 – ein Montag –, an dem ich Onno dann quasi offiziell zu Vetter Donalds Leibwächter ernennen sollte, war bereits ein paar Stunden früher zu einem denkwürdigen geworden. Aus ganz anderen Gründen, objektiv unwichtigen. Für uns aber, für die Alten Herren der Tischtennisabteilung im BSV Hollerbeck Eppendorf e.V. – vielleicht für Tischtennisspieler unserer unteren Mittelklasse-Liga allgemein –, waren es sehr gute Gründe.

Es war das letzte Match des Abends. Die bleichen Kniekehlen leicht eingeknickt, steht Onno mit dem Rücken zu mir und Ulli ›Elefantenpeitsche‹ Vredemann (= EP). Auf durchgewetzten, karierten Noppensocken, die er wie gewöhnlich anstelle von Sportschuhen benutzte. Darunter trägt er – es hat keinen Sinn, das zu verschweigen – Strümpfe mit Comic-Motiv. (Später, während Onno unter der Dusche steht, wird Der schöne Raimund sie näher untersuchen. Mit niederschmetterndem Ergebnis.)

Übers Gesäß gezogen hat Onno fadenscheinige Original-80er-Shorts. Muster: vermasselter Idiotentest mit Klötzchen. Einst manisch bunt, nur mehr verblichen. Und über den in den letzten Jahren schwammiger gewordenen Torso ein babyblaues sogenanntes Muscle-Shirt. Das statt muscles aber einen blutergußfarbenen Fleck in der Trizeps-Gegend präsentiert – den männchenmachenden Pudel, seine Tätowierung, Tribut einer mythischen Wette anno 1969. Da war er knapp 15.

»Wird auch langsam dünner über der Fontanelle«, brummt EP. Er meint Onnos Zotteln, deren Verhältnis von Anthrazit zu Grau sich zudem umgekehrt hat in den letzten Jahren.

Wir sind bereits durch, d.h. EP und meine Wenigkeit. Unser Einzel habe ich glatt in drei Sätzen verloren. Kein Wunder, steckt mir doch immer noch die samstagnächtliche Sause mit Vetter Donald in den Knochen. Schon lang zu alt für derlei Unfug.

Nun hocken wir auf der Bank, EP und ich, sanft nachschwitzend und seelisch besenrein. Mit unparteiischer Spannung verfolgen wir die Begegnung von Onno ›Noppe‹ Viets und Raimund Böttcher.

In ähnlich lauernder Haltung wie Onno, doch tausendmal schöner, starrt Der schöne Raimund von der anderen Seite der netzgeteilten Tischtennisplatte aus stahlgrauen Augen herüber. Sein Schopf nach wie vor dicht und dunkelblond und ungefärbt – allerdings feucht, im Gegensatz zu Onnos. Onno lehnte Schwitzen ab. Anders als Onnos ist Raimunds Dreß denn auch von Schattenbrüsten verunziert. Nichtsdestoweniger zeugt er von ausgesuchter Qualität und Geschmack.

 

Blanker, rutschfester Boden. Entlang den Wänden Gummimatten und Klettergerüste und Basketballkörbe; taghelles Deckenlicht, himmelhohe Milchglasfenster an der Bankseite. Und doch wirkt die Halle so gar nicht karg auf uns. Fühlen uns wohl in diesem etwas schwülen Gemäuer, wo wir unsere chromosomatisch immer noch schwelende Tollheit jeden Montag für ein paar Stunden kontrolliert anzufachen vermögen, momentweise bis zur Verzückung.

Gut, wir sind inzwischen 47 und 55, 57 und 58. Lack blättert hier und da, da und dort hakt das Hauptrelais, suppen Flanschen oder geht die ein oder andere Muffe. Selten halten wir die vollen zweieinhalb Stunden durch wie früher. Doch wer uns nur in die Halle schlurfen sieht – geschweige wieder hinaus –, hielte nicht für möglich, zu welcher Schnellig- und Wendig- und blitzartigen Irrwitzigkeit wir Turbozombies, einmal warmgelaufen, in der Hitze des Spiels noch fähig sind.

 

Raimund führt 2:1 nach Sätzen und 10:7 nach Punkten. Mit andern Worten, er hat drei Matchpoints.

Und Onno noch einen Aufschlag. Um die nötige Ruhe dafür zu finden, balanciert er das Celluloidbällchen auf dem Belag seines Schlägers. Mit links. Onno war Linkshänder. Wie Raimund zu sagen pflegte: »Aus Überzeugung.«

Schließlich macht er eine seiner effetlosen, sehr kurzen Angaben. So daß er Raimund ans Netz zu hechten zwingt. Woraufhin Onno zwar riskant hoch, aber weit zurückschupft. Noch halb überm Tisch schwebend, muß Raimund sich für den Rückweg zur Grundlinie beeilen. Schafft es sogar halbwegs – und doch vergeblich: Der Ball touchiert exakt Punkt D, wo Länge und Breite der Platte zusammentreffen. Unberechen- und -erreichbar schilfert er von der Spitze ab, und Raimunds automatischer Schlag geht ins Leere.

Gesenkten Kopfes hebt Onno die Hand.

10:8. Noch zwei Matchbälle. Möglichst emotionslos hakt Raimund den Kantenball ab.

 

Seit längerem wieder einmal geht es hier – und das ist uns allen klar – um nichts Geringeres als einen historischen Sieg. Mit Ausnahme einer kritischen Phase galt Onno in unserem Verein als unschlagbar.

Brachte er im wirklichen Leben auch wenig zuwege, verfügte er doch über gewisse »Superkräfte« (wie ich es in meiner Rede zu Onnos 50. zum allgemeinen, auch Onnos Amüsement zu nennen beliebte), rund drei an der Zahl übrigens; wenngleich leider brotlose.

Zum einen das bereits erwähnte Charisma für Arme. Eine Eigenschaft, über die Onno im Vergleich zu seinen Mitmenschen in außergewöhnlichem, ja übernatürlichem Maße verfügte. Sie bewirkte, daß sich jede/r rund Einskommasiebte gern zu ihm gesellte und mehr oder weniger rasch zu erzählen anfing. Nicht nur die Mühselige und der Beladene, sondern rein arithmetisch mehr als die Hälfte aller, die ihm länger als fünf Minuten begegneten. Onnos Haselnußaugen (Muttererbschaft) strahlten Muße ab, unendliche Muße, und im Verbund mit seinem gütigen Grienen signalisierten sie die Urpotenz, des Nächsten Seele zu bezeugen.

Gut, diese Superkraft nützte ihm an unserem Trainingsabend wenig. Die zweite aber sehr wohl: rasiermesserscharfe Reflexe. Mit Hilfe jener – ungeachtet seines genetischen Phlegmas offenbar ebenso angeborenen – Fähigkeit zur millisekundenschnellen Reaktion bog er jedes Spiel um.

Auf seinen Noppensocken rochierte er, der jeglicher Vorhand entbehrte, fortwährend eng an der Platte (und also kraftsparend); schupfte, flippte, blockte stur weg, was ihm in die Quere kam, ja schmetterte mitunter gar – meist aus der Not heraus, was unter den grauenhaften Elementen seines unorthodoxen Spielstils am allergrauenhaftesten aussah. Zerstörer, der er war, griff er nie selbst an, sondern nahm das Tempo raus, wartete die Fehler des alsbald zermürbten Gegners ab und scherte sich einen Dreck um Ästhetik und Leidenschaft, sondern erntete stumpfsinnig jeden Punkt, der auch nur im entferntesten möglich war.

 

Aufschlag Raimund.

Raimunds Angaben-Repertoire war überaus vielfältig. Von aus der Vorhand ungeschnittenen kurzen Geraden bis zu per Rückhand extrem über- oder unterschnittenen langen Diagonalen verfügte er über ein gutes Dutzend Variationen.

Der einzige von uns, der gegen jede einzelne immun war, war allerdings Onno. Diesen Rückschlag bekommt er nichtsdestotrotz nur mit Müh und Not hin. Auch dieser Ball geht hoch zurück. Und weit. So weit, daß er schon so gut wie aus ist – hätte er sich, aufgrund von Raimunds eigenem Drall, nicht in der letzten Tausendstelsekunde entschieden, doch noch knapp sicht-, aber hörbar die Kante zu streifen.

Raimund geht in die Knie.

Gesenkten Kopfes hebt Onno die Hand. Diesmal dreimal so lang.

10:9. Noch ein Matchball. Raimund versucht zu lachen. Greint dann aber kurz auf. Beginnt eine kleine Wanderung. Malt mit den Sohlen einen gordischen Knoten auf den Hallenboden.

 

Gegen so was wie Onno zu verlieren – der reinste Alptraum. Zumal …

Wir übrigen drei hatten ihn eigentlich einst, vor elf Jahren war das, als Lückenbüßer rekrutiert. Für Doppelpartien brauchte man nun mal vier Spieler. Also hatten wir nach einem stabilen Opfer gesucht. Eins, das uns nicht langweilte und dem jeweiligen Sportsfreund ein passabler Doppelpartner zu sein vermochte, in den Einzelkämpfen jedoch gefälligst in acht von zehn Fällen verlor, zwecks Gruppenhygiene.

Wer andern eine Grube gräbt.

 

Aufschlag Raimund.

Genau der gleiche wie zuvor: Rückhand extrem überrissen, extreme Diagonale, extrem lang auf des Gegners nicht vorhandene Vorhand. Onnos Antwort sieht aus wie ein Anfall von Epilepsie. Dennoch prallt der Rückschlagball regelkonform vom Schläger ab, vollführt einen Zuckerhutbogen und streift mal so gerade eben auf Raimunds Seite des Tischs die – Kante.

Entschiedenes Murren von uns, von der Bank. So unzweideutig parteiisch, daß Raimund sich erlauben kann, einfach nur mit hängenden Armen dazustehen.

Gesenkten Kopfes hebt Onno die Hand. Erst die eine, dann die andere. »’schuldigung«, murmelt er. »Echt, nech? Tut mir leid, echt. Zorry.« Friedfertig rollt sein R – ein R wie geschaffen für eine Bitte um Verzeihung. Vervielfältigte man dieses R zu einer Endlosschleife, klänge es wie das Schnurren eines Katers.

Raimund beginnt eine etwas ausgedehntere Wanderung. Irgendein Fluchgebet, das er in den Boden schreibt. Diesmal nimmt er auch die Stimme zu Hilfe. Verstehen kann man ihn nicht, aber es klingt, als rollten Panzer durch die unweite Heino-Jaeger-Straße.

10:10. Null Matchpunkte für niemand. Oder zwei für beide.

 

Aufschlag Onno. Ein lahmer, ungelenker, sog. leerer, d.h. ungeschnittener Aufschlag. Pseudoanfängeraufschlag. Nichtsdestoweniger nicht einfach zu beantworten – erstens technisch, weil Umschalten auf kunstlos mitnichten einfach ist; zweitens Psychologisch, weil so etwas bei einem solchen Stand eine Provokation ist, die es zu ignorieren gilt.

Raimund schafft es. Schafft es sogar, den Ball relativ scharf zu flippen. Onno allerdings seinerseits. Doch mit so heftiger Netzberührung, daß die 2,7 Gramm leichte weiße Kugel über Raimunds Säbelhieb hinweghüpft. Höhnisch geradezu.

Wieder hebt Onno beide Hände. Diesmal kichert er zerknirscht. »Nee, okeh, ’ch, ’ch, ’ch … Mann, Mann …« Während wir von der Bank aus buhen, wandert Raimund die Ilias. Heftig atmend zwar, doch nur mehr stumm und in sich gekehrt. »Mann, Mann, Mann«, sagt Onno. »Nee oh nee … tut mir leid. Tut mir leid, nech? Echt. Zorry, echt.«

10:11. Satzball Onno.

 

Aufschlag Raimund.

Zum dritten Mal gelingt der knallharte, kometenschnelle, extrem lange diagonale Topspin-Aufschlag auf Onnos rührend hilflosen linken Ellenbogen. Onno wirbelt einmal um seine eigene Achse. Wieder kommt es irgendwie dazu (wie genau, weiß der Teufel), daß der Ball von seinem Schläger abprallt und mit hundertzwanzig Rotationen pro Sekunde bis fast an die Hallendecke aufsteigt – man hätte das Anfangsmotiv von Beethovens Fünfter pfeifen können, so lang ist er unterwegs –, von wo er mit immer noch hundert Umdrehungen pro Sekunde wieder herabsegelt, um auf dem Netzgrat zu landen, eine Spanne weit darauf entlangzuschnurren wie ein Weberschiffchen, nach Onnos Seite herüberzulugen, dann aber doch vom Schwung des extremen Dralls auf Raimunds hinübergezwirbelt zu werden, wo er am Netz entlangquirlend über die Platte rutscht und schließlich zu Boden tropft.

»MAAAAAAAAANN …! FAAAAAAAA…! Das … WAAAAAAA…!«

Draußen auf dem Pausenhof fällt eine Taube taub vom Baum. Und weil er seinem ältesten Freund den Schläger sonst an den Schädel gepfeffert hätte, holt Raimund aus wie ein Speerwerfer und schleudert die 180 Euro teure Kelle in die Luft, längs durch die Halle, vom Nord- zum Südpol, wo sie – unglaublich – durchs Netz des Basketball-Korbs fällt.

5

Ein denkwürdiger Abend, wie gesagt.

§ 22, Absatz 1 unserer Vereinssatzung verlangte in Wutmomenten Pietät. Respekt vor dem Schmerz, der Enttäuschung und Verzweiflung des Sportsfreunds – wie wir ihn ja auch durchaus gezollt haben. Ja, in schweren Fällen durfte der Geschädigte gemäß Absatz 3 gar Mitleid erwarten, und Trost.

Insofern kommt es einem Affront gleich, daß EP und ich in dieses hellichte Gelächter ausbrechen. Doch einer derart unwahrscheinlichen Ballung von Slapsticks beiwohnen – drei Kanten- und zwei Netzbälle in Folge, und wie als Satyrspiel noch das! –, Zeuge bei der Geburt einer auf ewig köstlichen Anekdote sein zu dürfen? Da kann selbst Raimund selbst am Ende nicht umhin, kopfschüttelnd mitzulachen, während er durch die Halle tapert, um seinen Schläger wieder einzusammeln.

Herzergreifend, der Anblick dieses je älter, desto schöner werdenden, selbst in durchgeschwitztem Zustand stilvollen Mannes, wenn er einer solchen Perfidie der Physik erhobenen Hauptes begegnet.

Und es steht ja auch erst zwei zu zwei nach Sätzen. Er kann das Spiel immer noch für sich entscheiden.

 

Onno indessen … Normalerweise nahm er nach einem beendeten Satz im Stehen einen Schluck Wasser an der Bank und umgehend wieder Aufstellung. Diesmal setzt er sich neben mich. Kauert geradezu.

Zunächst bekomme ich gar nicht mit, was mit ihm los ist, und denke, er ruhe sich von der Aufholjagd aus. Er lache innerlich oder übe sich in Zerknirschung ob der unverdienten Gunst des Schicksals. Gekrümmt vom Amüsement über die unverhofften Szenen, halte ich meinen Kopf in den Händen und spüre mehr Onnos Präsenz, als daß ich ihn wirklich sehe. Spüre schließlich die Elektrizität, die sein Schlottern erzeugt.

Ich schaue ihn an. Seine Zotteln und Kinnstoppeln. Schaue in seine Guruaugen, die jedoch nur mehr aus Pupillen bestehen. »Onno?«

 

Wir kannten uns seit 1978. Raimund und er aber kannten sich, seit sie drei, vier Jahre alt waren. Ende der 50er, in einem Wilhelmsburger Sandkasten, hatten sie ihr Schäufelchen abwechselnd einander aufs Köpfchen gehauen – wie Dick und Doof, nur, der Legende nach, vollkommen stoisch, ohne Eskalation. Tränenloses Duell. Nach jedem mütterlichen Eingriff ging’s wieder von vorne los. Zünftige Besiegelung einer künftig unverbrüchlichen Freundschaft.

Blutsbrüder. Bis 1971 hatten sie gemeinsam Grund- und Realschule besucht, dann trennten sich ihre Entwicklungswege. Der (übrigens damals schon sehr schöne) Raimund lernte das Kaufmannsgeschäft von der Pike auf und machte schließlich in Zeitungsverlagen Karriere – bis zur heutigen Leitung der Anzeigenakquisition der Hamburger Abendpost.

Onno brach eine Lehre zum Klempner und Installateur ab, eine zum Radio- und Fernsehtechniker und eine zum Bürokaufmann; wurde Z4 bei der Bundeswehr; eröffnete mit dem Entlassungsgeld die legendäre Eimsbütteler Bierschwemme Plemplem; machte nach dem Konkurs einen auf Versicherungsvertreter (parallel immerhin, Achtung: Abitur auf dem zweiten Bildungsweg! Die einzige Unternehmung, die er je zu Ende brachte); schrieb sich als Student der Sozialpädagogik ein und anschließend der Soziologie (beides abgebrochen); fing diverse Jobs per Zeitarbeit an, sowohl kaufmännisch als auch gewerblich, und brach sie wieder ab oder wurde gefeuert; begann parallel diverse »Projekte« (kaufmännisch, gewerblich, ja künstlerisch) und ließ eins nach dem anderen versickern; pachtete einen Kiosk für Tabakwaren mit Lotto-/Toto-Annahme und ging diesmal erst nach acht Jahren Konkurs. Anschließend war er arbeitslos gemeldet, bis er freier Journalist wurde. Und wieder arbeitslos.

Und schließlich – übrigens aufgrund einer Eingebung aus dem Frühstücksfernsehen – Privatdetektiv.

Sein Verhängnis.

»Onno? Unterzuckert, oder was?«

 

Onnos Laufbahn war so voller Stolpersteine, Schlaglöcher und Erdrutsche übrigens nicht wegen Faulheit. Nicht, daß er nicht faul wäre. Onno war faul. Doch kämpfte er stets gegen seine Trägheit an. Ausdauernd war er. Er konnte nur nichts. Nichts so richtig.

Na und? Stand im Grundgesetz »Das Talent des Menschen ist unabdingbar«? Es hieß lediglich, »im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen Dienstleistungspflicht« möge der Bürger doch bitte schön arbeiten – und das versuchte Onno redlich. In einer glücklicheren Gesellschaft – einer, die wenigstens nicht darauf bestand, jedes einzelne Glied zum Koeffizienten der jeweiligen Konjunktur zuzurichten – wäre so was wie Onno durchaus kein Versager, sondern mit seinem gütigen Grienen, seinem Dackelblick und überhaupt umfassend sanften Wesen Anwärter zum Frühstücksdirektor der Weisheit.

Wohlgemerkt: Onno akzeptierte den niedrigen Grad seiner Eignung zum Broterwerb klaglos. Nichts lag ihm ferner, als die Verantwortung dafür anderswo zu suchen als bei sich selbst. Zwar stand ihm genügend politisches Bewußtsein zur Verfügung, um die Stütze des Staates ohne schlechtes Gewissen annehmen zu mögen. Doch niemals bisher hatte er den Anspruch auf selbsterwirtschafteten Lebensunterhalt aufgegeben.

Raimund litt unter Onnos lebenslanger beruflicher Dauerkrise mehr als Onno selbst. Wider besseres Wissen, wider sein seit den 70ern erworbenes besseres Wissen vermochte Raimund die allzu wohlfeile Illusion, Onno müsse sich bloß mal zusammenreißen, nicht endgültig zu begraben. Als wohlstrukturiertem, zielgeleitetem Leitenden Angestellten blieb es Raimund ein quälendes Rätsel, wie ein einziger Mensch mit halbwegs funktionablen körperlichen und geistigen Werkzeugen so viel Ungenügen, Ungeschick und Unvermögen auf sich zu vereinen vermochte wie Onno.

 

Kurzum, es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Onno angesichts von Raimunds billionstem Wutanfall in ihrer blutsbrüderlichen Biographie auf einmal physisch Angst vor ihm bekommt.

»Onno!« Ich rüttele an seiner unkontrolliert zuckenden Schulter. Sie ist schweißnaß – gewiß nicht vom Spiel. Freiwillig, wie gesagt, schwitzte Onno nicht. »Was ist denn los?«

Dumme Frage. Ich ahne es ja längst.