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Der dritte und letzte Band von Frank Schulz' Hagener Trilogie Bodo Morten ist nach längerem Aufenthalt im Sanatorium nach Griechenland ausgewandert. Dort führt er nun seit fünf Jahren ein ruhiges Leben: viel meditieren, viel schwimmen, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Frauen. Bis Monika Freymuth auftaucht. Die Bodo abstößt und fasziniert. Und ihn an jemanden erinnert. Bodo weiß nur einen Ausweg. Er macht sich, bewaffnet mit einer Fünf-Liter-Bombe Ouzo, auf in die Berge, um das Orakel zu befragen. »Ein mit nicht mehr zu übertreffender Souveränität komponiertes Buch.« FAZ
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Seitenzahl: 686
Frank Schulz
Hagener Trilogie III
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Frank Schulz
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
Motto
Erläuterung
Prolog
Erster Gesang Das Ei der Nyx
I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel
IV. Kapitel
Zweiter Gesang - Das Lächeln des Schäfers
V. Kapitel
VI. Kapitel
VII. Kapitel
VIII. Kapitel
Dritter Gesang - Der Ruf des Dionysos
IX. Kapitel
X. Kapitel
XI. Kapitel
XII. Kapitel
XIII. Kapitel
XIV. Kapitel
XV. Kapitel
XVI. Kapitel
XVII. Kapitel
Vierter Gesang - Die Saga Melancholia
XVIII. Kapitel
XIX. Kapitel
XX. Kapitel
XXI. Kapitel
XXII. Kapitel
XXIII. Kapitel
XXIV. Kapitel
Fünfter Gesang - Die rechtmäßige Hybris
XXV. Kapitel
XXVI. Kapitel
XXVII. Kapitel
Sechster Gesang - Das Panigyri
XXVIII. Kapitel
XXIX. Kapitel
XXX. Kapitel
XXXI. Kapitel
XXXII. Kapitel
Siebter Gesang - Happy-End
XXXIII. Kapitel
XXXIV. Kapitel
XXXV. Kapitel
XXXVI. Kapitel
XXXVII. Kapitel
XXXVIII. Kapitel
Anmerkungen
Zum Gedenken
Inhaltsverzeichnis
In Liebe Renate gewidmet …
Inhaltsverzeichnis
… ein graubehaartes Paar – und dennoch:
getanzt muss werden!
Euripides Bakchen
Heiterkeit, güldene, komm!
du des Todes
heimlichster, süssester Vorgenuss!
Friedrich Nietzsche Die Sonne sinkt (Dionysos-Dithyramben)
… und zeige dich mächtiger
als die unbezwingliche Liebe!
Longos Daphnis und Chloe
Seufz!
Hera Lind Das Superweib
Inhaltsverzeichnis
Gr.Bakchen (lat. Bacchantinnen): jene fünf Nymphen, die den Gott Dionysos (lat. Bacchus) aufzogen; später verallgemeinernd für glühende Anhängerinnen des dionysischen Kults der Ausschweifung.
Inhaltsverzeichnis
Ich war einmal ein Prinz, und obwohl nur zweitbester Schütze in meinem kleinen Reich, war ich tausendmal glücklicher als der beste, der König – denn meine Prinzessin hatte Augen so grün wie das sonnige Wasser im Mühlenteich. Sie war die Schönste weit und breit, tausendmal schöner als die Königin, und ich bis über beide Ohren in sie verliebt. Ich war zum ersten Mal im Leben verliebt. Und wer weiß: Wäre ihre Mutter nicht bald nach dem Schützenfest fortgezogen mit ihr, ich wäre vielleicht für immer im Dorf geblieben – mit ihr, meiner Prinzessin.
Doch ich wuchs heran, wurde erwachsen und zog in die große Stadt. An meine Prinzessin erinnerte ich mich immer seltener, bis ich sie fast vergaß. Ich lebte mein Leben, so gut ich konnte; viele, viele Jahre vergingen. Eines Tages wurde ich sehr, sehr krank. Als es mir besser ging, zog ich in ein wärmeres Land.
Dort lebte ich wie im Paradies. Wie im Paradies lebte ich dort – bis eine Fremde kam, eine Fremde mit Augen so grün wie einst das sonnige Wasser im Mühlenteich meines kleinen Reichs.
Inhaltsverzeichnis
Frost beschlägt Monikas linke Schläfe; plötzlich schwirrt das linke Trommelfell wie eine Bogensehne, von der ein Pfeil schnellt, und dann bohrt sich ein Eiszapfen ins Herz – so ein Gefühl war es, als das Echo sie traf; das Echo der Erkenntnis, frei zu sein.
Die Betäubung durch den Schock dauert nicht lang. Ihr Herz fängt an, rasend zu pumpen, um den Fremdkörper auszuschwemmen, doch das Geschoß löst sich in Kälte auf und flutet die entlegensten Blutgefäße, und Monika beginnt derart zu schlottern, daß die Servolenkung mit Zuckungen antwortet und das Getriebe mit Stottern auf die Pedalbefehle ihres krampfenden Fußes.
Da öffnet sich ein Rastplatz, weitet die Kurve weit nach außen aus. Ein Gummiquieken, zwei hart federnde Doppelschläge, Knirschen von Schotter. Gelblicher Staub steigt hinter den Scheiben auf. Schlüssel rum. Die Gehörnerven dröhnen. Sie stößt den Schlag nach außen, klimmt am Holm hinaus, das Armfleisch bibbert; keuchend lehnt sie sich gegen den Kotflügel, und auf ihre Haut prallt – mit der trockenen Wucht einer Kaminsauna – die antike Hitze jenes ionischen Nachmittags.
Monika sackt in die Hocke. Sie langt nach einem kartoffelgroßen Stein; für einen Augenblick trösten sie sein Gewicht, die griffige Form und Rauhheit – doch gleich darauf fletscht sie zischend die Zähne und läßt ihn fallen, so aufgeheizt ist er. Die Staubschäfchen schweben davon; Monika starrt hindurch und über die Chausseekurve hinweg auf zwei Zypressen, die sich in eine Rißwunde im ockerfarbenen Gestein des Berges schmiegen. Von der abgewandten Seite der Limousine her vernimmt sie ein Rasseln, pfeifende Obertöne geben den Takt. Zikaden. Sonst Stille wie in einem Alptraum.
Ausgekühlt vom Schock der Freiheit war Monika; ausgekühlt vom falsch regulierten Klima im Auto, ja noch von der Klimaanlage der Apollonas II – der Fähre Triest–Igoumenitsa – und der des Autozugs Hamburg–Villach tags zuvor; ausgekühlt vom verhagelten Frühjahr Norddeutschlands, ja von den gesamten acht Monaten ihrer operettenhaften Krise. Manchmal hatte sie zu spüren gemeint, wie Rauhreif auf ihren Knochen knisterte.
Nun spürt sie, wie ihre Haut auf Armen und Schenkeln, auf Hals und Wangen die sengende Strahlung nicht länger abzuwehren versucht, sondern aufzunehmen – aufzusaugen. Sie spürt, wie ihre Haut ihr Blut erwärmt, ihr Blut ihr Fleisch und ihr Fleisch ihre Knochen. Sie spürt, wie sie auftaut.
Ihr Herzschlag beruhigt sich. Sie stemmt sich am Radkasten empor und wartet, bis der Schwindel sich legt. Sie stützt sich auf der Kühlerhaube ab, als sie um den Wagen herumstakst, jenem rasenden Gezirp nach. Mitten durch die Glut der Luft spült eine warme Brise, gesättigt von Duft nach wildem Salbei. Ihm entgegen stolpert sie über den steinigen Boden, auf eine Lücke im Oleander zu, dessen Sippe immer wieder auf der Strecke durchs Küstengebirge Spalier gestanden hatte; Büsche mit pompösen Rüschen, deren unterschiedliche Färbungen Monika entzücken: purpurne, rosafarbene, lachsfarbene sowie zwei Arten von Weiß, eines, dem das Rosé der Staubgefäße einen ebensolchen hauchdünnen Schimmer verleiht, und ein leuchtendes Blütenweiß.
Plötzlich – aus dem toten Winkel, mit direktem Kurs auf ihr linkes Ohr – ein knurrendes Insekt. Sofort trudelt Monika um ihre eigene Achse, Ohrfeigen verteilend; Ellbogen erhoben, Kopf eingezogen, verhofft sie einen trügerischen Moment; reißt in frisch aufflammender Panik das Kinn hoch, um eine Attacke von unten zu parieren, und so geht das noch eine Weile weiter, bis der zuständige Gott den Kampf gelangweilt abbricht.
Mit wiederum erhöhtem Puls, den Hals vorgereckt, den Blick trotz der dunklen Brille mit der Hand gegen Süden abgeschirmt, tritt sie an die Hangkuppe heran. Platte Plastikflaschen, ausgemergelte Eistüten und Kippen im Gestrüpp. Doch da hinten, da unten, tief unter dem Hochofen der Sonne hingegossen, eine gras- und efeu-, moos- und olivgrüne Ebene, getigert von kostbaren Schattenstreifen, durchkreuzt von sandhellen Wegen. Der Südhorizont eine dunstige Gratkette, doch der Westen das Tor zum gleißenden Meer, bewacht von zwei Berghügeln, Leibern kolossaler Ungeheuer – eine Art Schildkröte das eine, knollig verknoteter Lindwurm das andere. Als hätten sie sich einst Aug’ in Auge niedergebeugt, um zu saufen oder zu kämpfen, wären aber zu Stein verflucht worden und im Laufe der Äonen überwuchert von Busch und Nadelwald. Auf dem Rücken des Lindwurms ein Ruinengemäuer; drauf, drinnen und drumherum Konfettikäfer – Touristen.
Zwischen den beiden Hügeln leuchtet ein saphirblauer Meerbusen, umkurvt von weißblondem Strand, und dessen halben Bogen entlang wiederum schwingt sich ein Hain von Eukalyptusbäumen mit angerosteten Kronen. Daran geschmiegt, erstreckt sich ein Haufendorf, ein schiefes, offenes Labyrinth aus hellen Häuschen und Häusern, fast alle karminrot gedeckt.
»Oooh«, macht Monika.
Dabei kann sie von dort oben noch nicht einmal erkennen, daß die Südgrenze jener Siedlung der lieblichste Fluß der ganzen Provinz, ja vielleicht ganz Griechenlands entlangströmt. Gerade mal eine Narbe im Geflecht des Talgrüns zeugt von seinem Verlauf flußaufwärts; die Mündung am Südansatz der lagunenartigen Bucht verbirgt sich hinter den Felsbrocken einer Art Mole, die schnurgerade die Bucht vom Schädel der Schildkröte trennt. In deren Nacken thront die Kapelle der hl. Helena, auf der landab-, meerzugewandten Seite ihres Panzers aber, für Monika dort oben also unsichtbar, die Villa Arkadia.
So hatte das schlichte Haus sein Bewohner getauft, eingewanderter Deutscher; ein Sonderling. Frührentner, doch auf Nachfrage bezeichnete er sich, wiewohl selbstironisch, lieber als Privatgelehrter. Es handelte sich um einen gewissen Bodo Morten, kurzum: um mich.
Natürlich waren jenem Anblick von Kouphala, selbst seinem bloßen Ruf, schon fabelhaftere Figuren als ich oder Monika gefolgt – solche halb Mensch, halb Motorrad wie der rasende Erwin und Strong Man zum Beispiel. Schöne Bakchen wie die stolze Karin und die gütige Manu. Wirrköpfe wie der unausweichliche Sven, Sommerresidenten wie der flinke Ingo, Rekonvaleszenten wie der traurige Stephan und viele, viele andere Alltagsabenteurer. Schwaben und Sachsen, Rheinländer und saufende Bayern; Briten, Italiener, Belgier und Österreicher, ja selbst der eine oder andere Schweizer und Amerikaner.
Schon immer da aber waren sie, Barchefs wie der lachende Sotiris und Papagallos wie der verdammte Panos, brave Bauern wie Kosta (genannt »brava«) und sonnige Gastwirte wie Kosta (genannt »del sol«), Fischer wie Spyros der Ältere – und, vor allem, Spyros der Jüngere.
Spyros der Jüngere. Unterm rechten der beiden pantherschwarzen Pinsel seines Schnauzbarts erschien, wenn er lächelte, ein Grübchen, in das sich weibliche Wesen, mochten sie auch grad Menarche oder längst Menopause hinter sich haben, zu stürzen pflegten wie nackt von einer Klippe … Stimmt’s, Spyro? Ein Modellathlet von Fischer war er, mit einem weich anmutenden Schopf schwarzer Haare, und die Färbung seiner Iris erinnerte mich stets an die Forellen im Bach meines Heimatdorfs auf der niederelbischen Geest. So voller Leben und Bravour waren diese Augen oft, daß ich mir manchmal vorkam wie ein Schmarotzer.
Manchmal aber krümmten sich seine Brauen wie zwei Raupen, die sich in die Quere kamen. Dann stand er da, Kinn auf dem Schlüsselbein, die Fäuste in die Hosentaschen gerammt, »wiell niecht merr lebben«, und mit Worten vermochte ihn niemand aus seiner Umnachtung zu befreien. Dann schnallte er seinen Nierengurt um, stieg in den Sattel seiner Kawasaki und drehte den Hahn auf, daß man das irrwitzige Geheul durchs ganze Tal schallen hörte, durch die Berge bohren und bis hinaus aufs Meer hallen.
Zurückgekehrt, stieg er von dem tickenden Tier, die Augen glitzernd vom zügellosen Kampf mit der Schwermut, und eine Stunde später lachte er über die Blödheit eines Dorfköters, bis ihm die Wangen feucht wurden. Sein Lachen, auch das herzlichste, war nur ein Hecheln und Glucksen, und doch bescherte es noch dem verdruckstesten der Touristen ein Pfingstgesicht – zu dessen eigener Überraschung. Ab sofort war auch der, wie wir alle, ihm ergeben, und Spyros der Jüngere ging leichtherzig damit um, doch keineswegs leichtfertig. Er war das Herz der legendären Taverna Plaka[1] am Acheron, denn so hieß (und heißt) er, jener Fluß.
All diese schlichten, seelenvollen Menschen, die waren schon immer da, da unten in Kouphala, das alabasterfarben und rotgetupft, hingebettet zwischen Grün, Blond und Blau, heraufstrahlte in sagenhafter Helligkeit und Wärme, herauf zu jener Fremden dort droben. Zu Monika.
»Da«, wispert sie, »fahr ich jetzt hin.«
Und wer wollte es ihr verübeln.
Ich. Ich wollte es ihr verübeln, stimmt’s, Spyro?
O ja, ich entsinne mich jenes Abends, an dem sie im Gefolge Kosta bravas auftauchte. Ich entsinne mich, wie unschuldig jener Abend bis dahin gewesen war, entsinne mich genau der Abfolge jener harmlosen Begebnisse: erst Karins und Manus Geplänkel, dann der Auftritt des unausweichlichen Sven, dann Karins erstes fürchterliches Gelächter dieses Sommers, endlich die frische Brise entlang dem Fluß und Karins Travestie einer Fernsehwerbefigur für Telefonsex, schließlich Auftritt Spyros’ des Jüngeren sowie Auftritt Spyros’ des Älteren mit seinem Hühnerei-Kunststückchen – und dann, dann sie, die Fremde, die geheime Botin des Anfangs vom Ende meiner Zeit am Ionischen Meer. Monika.
Schlimm … Nai, málista[2]: schlimm die Zwangsläufigkeit, die jeder Vergangenheit innewohnt – als hätte es gar nicht anders kommen können!
Wie üblich saßen wir am Fluß, im Garten der Taverna Plaka. Eine einzelne Grille zirpte ihre Hymne an die Friedlichkeit. Sie verbarg sich im Eukalyptusbaum, einem der wenigen bis ins Dorf versprengten Abkömmlinge des Waldes am Strand, in nächster Nähe des Unterlaufs der einzige. Sein Flitterlaub duftete würzig, doch es hing schlaff herab. Windstärke null. In einer Astgabel steckte eine Lampe. Ihr Schein strich übers sanft schwankende Ruderhaus von Spyros’ Kutter und zauberte eine pastellgrüne, wabernde Lache vor den Bug.
Der Fluß drängte meerwärts. Seine Wellen aber, zäh wie Olivenöl, wölbten sich nur träg, und wie immer, sobald es zu dämmern begann, riefen die Reflexionen der Kämme jenes Licht-Spiel hervor, das ich so liebte: Auf dem Röhricht am jenseitigen Ufer schien sich ein breites Rad zu drehen. Zu sehen war nur die obere Hälfte und waren nur die Speichen, grünlich-goldene Strahlen, und wenn sie die fransige Oberkante der Schilfhecke erreichten, wurden sie vom Dunkel dahinter gekappt, und danach fuhren sie wieder bis auf volle Länge aus. Ach, wie sehr ich es liebte, mich von dem Anblick einlullen zu lassen … stimmt’s, Spyro?
Frei von Rinde und Bast, wirkte der hellgraue Stamm des Eukalyptusbaums wie der Schenkelknochen eines Brontosaurus. Fußsohlenwarm sein Holz, gegen das ich mich stemmte, um mit dem Stuhl kippeln zu können, nur eine Idee abseits des Tischs, an dem Karin und Manu saßen. Ich schleuderte mein kompológi[3], ließ seine Stahlperlen Zeige- und Mittelfinger drosseln, anderthalbmal her, anderthalbmal hin, und verfolgte jene Laune der Physik. Hob ich den Blick, sah ich die Klinge des Mondes – jenseits des Flusses, links vom Schattenriß des Schildkrötenhügels.
Die bunte Kette von Glühbirnen, im Karree durch die Kronen der Baumwollpappeln und Platanen gezogen, funzelte ihre grünstichige Tivoli-Beleuchtung auf die zwei Dutzend Tische im Garten. Bis auf unseren waren sie unbesetzt. Sie hatten Stahlbeine und eine aluminiumüberzogene Holzplatte, und die meisten wackelten. Mit dem Wert all der Hundert-Drachmen-Münzen, die ich in meiner Zeit am Ionischen Meer unter ein Bein geschoben und vergessen hatte (Kronkorken konnte man nicht so fein abstufen), hätte man die gesamte Taverna Plaka frisch bestuhlen können – was nicht zu ihrem Schaden gereicht hätte: Drei, vier Stuhlgenerationen koexistierten hier; die altehrwürdigste verfügte über Stahlgestänge und orangefarbene Plastiksitzschalen, daneben gab es Vollplastiksessel in Hellgrün, Hell- sowie Dunkelrot und Violett (beziehungsweise, wie Karin sich ausdrückte, »Blutergußfarbe«).
Kein Mopedgeknatter im Dorf, kein Bouzoukigeklimper; selbst für Fernsehgeplärr war es den Bewohnern Kouphalas zu heiß. Wie immer um diese Jahreszeit war die Sonne gegen neun untergegangen, doch die Brise, die gewöhnlich Stunden vorher die Ufer des Acherons beatmete, ließ an diesem Abend lange auf sich warten. Von meinem Chronographen las ich ab, daß jetzt, um zehn vor zehn, noch 32,7 Grad Celsius herrschten. Obwohl die Saison noch gar nicht recht im Gange war, ächzte das Land bereits unter der ersten Hitzewelle des Jahres. Seit knapp zwei Wochen glühte die Luft vom Tagesbrand der Sonne bis tief in die Nacht hinein nach. Sie war trocken, die Luft, aber tonnenschwer. Sie quetschte förmlich das Wasser aus den Leibern.
»Hoffentlich«, ächzte Karin, »bringt Spyros bald mal ’n Verdauungsouzo …«
Das Emblem der Taverna Plaka war ein Klischee vom schnauzbärtigen, fischenden Griechen, und obwohl rasterartig wiederholt, lugte es auf dem Tischtuch aus Papier nur einmal vollständig hervor zwischen den Aschenbechern, Wein- und Wassergläsern, Retsina- und Anderthalb-Liter-Wasserflaschen aus Plastik, benutztem Besteck und Tellern, von denen Karin, Manu und ich selbst noch die Ölreste mit Brot aufgetupft hatten. Im Körbchen nur mehr eine krümelbesäte Serviette, auf einer Servierplatte aus Edelstahl Kabeljauköpfe und -skelette, rosafarbene Garnelenhülsen und -füßchen.
Die Kerbe an ihrer Nasenwurzel verlieh Manus Grinsen eine grimmige Note. »Ich denk’ … Ich denk’, du willst in diesem Urlaub überhaupt keinen Ouzo mehr trinken.« Bis von dieser Kerbe nur mehr eine Blesse übrigbleiben würde, sollte es noch ein paar Tage dauern. Ihr von der Natur gewelltes, dunkles Haar, durchschlängelt von Silberadern, bog sich hinters Ohrläppchen, das mit einem silbergefaßten Stein geschmückt war, einem Stein so dunkelblau funkelnd wie ihre Augen – ein Geschenk ihres Mannes, meines alten Freundes Kolk.
»Wer sagt das?« Mit einer zappeligen Kreisbewegung zog Karin den Folienstreifen von der Gauloises-Packung und legte ihn neben den Aschenbecher, mitsamt den beiden unterschiedlich großen Teilen der Cellophanhülle.
»Wer das sagt? Du sagst das! Du sag-, du hast das gesagt! Gestern abend!« Bei leichter Erregung, ganz gleich, ob angenehmer oder unangenehmer, stammelte Manu ein wenig.
»Da war ich ja auch besoffen.« Karin riß mit ihren purpurnlackierten Nägeln ein Quadrat aus dem Falz des Silberpapiers, zerknüllte es zwischen Daumen- und Zeigefingerkuppen und stopfte es in die Cellophanhülle, das Deckelchen hinterher. Dann zwirbelte sie die Hülle am offenen Ende, schlang den Folienstreifen um den Zipfel, schlug einen Knoten hinein … ein winziges Schleifchen dazu … Gestern um diese Zeit hatte sie schon einmal ein solches Tütchen gebastelt. Heute präsentierte sie es Manu – als Zeugnis dafür, daß sie mit sich und der Welt im reinen sei.
In der Tat kein geringes Kunststück, angesichts Tatterichs und langer Fingernägel, die ich während der Prozedur aneinanderschaben zu hören meinte. Als der Schauder auf meinem Rücken verronnen war, fragte ich sie: »Hast du eine oder zwei Packungen geraucht, seit gestern abend.«
»Drei«, sagte Manu; »Quatsch«, sagte Karin. Und dann begannen beide gleichzeitig zu lachen, ohne auch nur einen Blick getauscht zu haben.
Nur einen Moment lang war ich verblüfft; dann ahnte ich, sie wußten selbst, daß es eigentlich um etwas ganz anderes ging: Karin trachtete ihrem noch zuckenden Kater den Garaus zu machen, und Manu war bereits ärgerlich vor Erwartung, welches Manöver Karin diesmal fahren würde, um ohne Gesichtsverlust die nötige Dosis Ouzo ordern zu können. Darum ging es, um Karins Beschaffungs-Chuzpe. Mit der haltlosen Anschuldigung auf einem Nebenschauplatz verfolgte Manu lediglich den Zweck, schon mal wider den Stachel zu löcken, und daß der Versuch so plump ausfiel, aber wenigstens prompt, amüsierte sie beide.
Karin entzündete eine Zigarette. Manu stahl ihr eine, obwohl sie filterlose Zigaretten haßte, und weil sie filterlose Zigaretten haßte, gab ihr Karin Feuer. Karin blies eine Rauchbö in die reglose Luft. Manu ließ den Qualm aus ihren schmalen Nüstern sickern. Zwei reizende Drachen auf Urlaub.
Seit dem Winter hatte ich mich danach gesehnt, die beiden Grazien wiederzusehen, nach all der langen Zeit wieder einmal ihren norddeutschen Zungenschlag zu genießen, und seit dem vorangegangenen Abend waren sie da, die stolze Karin und die gütige Manu … Málista[4] – stimmt’s, Spyro? –, ich hatte mich auf sie gefreut. Die beiden kannte ich viel zu lange, als daß von ihrer Eigenschaft als Geschlecht noch hätte Gefahr für mein mönchisches Seelenheil ausgehen können, und selbst jene unheimliche, typisch weibliche Form der beinah telepathischen Auseinandersetzung beeinträchtigte kaum die gynäkologische Gelassenheit, die ich mir in meiner Zeit am Ionischen Meer anmeditiert hatte.
Vorsichtig versuchte ich, mich in Karins Ich einzufühlen. Es schien ungut beeinflußt – von Blutvergiftung, Magengrimmen und einer Art Schleudertrauma: das gestrige Gelage zur Feier ihrer Ankunft. Das hatte ihr Manu schlecht vermiesen können, da die es selbst genossen. Doch jetzt spürte ich deutlich, daß Manus alljährliche Urlaubsmission, die Windsbraut von Schwägerin im Zaum zu halten, an Karins Stolz nagte. Ja, Karin ging fast kaputt unter den Gewalten, die sie hin- und herrissen: dort ouzoloses Utopia, das mit Genugtuung winkte, hier würdeloses Schlaraffenland, das mit Ouzo winkte. Ersteres am Ende eines Ozeans der Entbehrung, letzteres bewacht von einem Höllenhund. Na ja, »Höllenhund« … Ein Chihuahua, verglichen mit ihrem inneren Schweinehund, einer Bulldogge mit stechendem Blutdurst. Ja, jener Manu-Chihuahua nagte an Karins Stolz, doch andererseits nagte Karins ganzes Leben an Karins Stolz.
Deshalb kam er ihr wie gerufen, der ohnehin unausweichliche Sven. Angezogen mit einer Camouflage-Hose, barfuß und vor allem baren Oberkörpers, damit sich die teuren Tätowierungen amortisierten; wie immer im Teewagentempo, stolz darauf, daß er sich nicht von der bösen, bösen Zeit im Hier und Jetze knechten ließ (weswegen er nie eine Armbanduhr trug), erschien er, der unausweichliche Sven, und bewarb sich zur Abwechslung als nützlicher Idiot.
»Zwennibaby!« krähte Karin. »Das muß begossen werden!« Sie federte aus dem Stuhl, stürzte sich auf den Neuankömmling und stempelte seine Wangen mit Kußmündern.
Normalerweise wirkte Svens Grinsen, als hätte er grad eine Wette verloren. Nun war er so baff, daß er strahlte wie ein Bräutigam: Seine Intimfeindin begrüßte ihn mit Küßchen? Im vergangenen Sommer hatte sie ihn oft schlimmer gedemütigt als ein Hund einen Baum! Er legte die Handflächen aneinander, führte sie an die Nase und verbeugte sich. »Und? Allit im grün’ Bereich?«
»Setz dich«, kommandierte Karin und wiederholte, für den Fall, daß Manu nicht aufgepaßt haben sollte: »Das muß begossen werden.« Wie ich mit Blick auf den Fluß sitzend, versuchte sie, sich nach der Taverne umzudrehen, bölkte aber nur ihre eigene Schulter an: »Spyro! Ouzo, paragallo[5]!«
Von dem geduckten Gebäude der Taverne trennte den Baumgarten eine unbefestigte Straße. Diese staubige Promenade des Dorfes, quasi der Kiez von Kouphala, zog sich durchs Westend von Süden bis Norden zwischen den Tavernen und ihren Gärten hindurch, parallel zum Acheron. Piepsend hüpfte ein Spatz hinüber, bis auf die zementierte Fläche vorm Haus. Sein Instinkt war offenbar gestört, die Artgenossen hatten sich längst zur Ruhe begeben. Ein Gecko, grün wie ein Spielzeug, huschte den blauen Fensterrahmen entlang aufwärts über die weiße Hauswand und verschwand irgendwo unter der weinumrankten Pergola. Je ein leeres Frappé-Glas mit Schaumresten und Strohhalm auf den Tischen beidseits der weit geöffneten blauen Türflügel, die sich so oft zu späterer Stunde in Lungen des Trubels verwandelten.
Manu schüttelte Sven die Hand. Ich nickte ihm zu. Wir hatten uns bereits vor einer Woche begrüßt. Überaus zurückhaltend.
Trotz all meiner Übungen in Gelassenheit ging er mir auf die Nerven, vor allem mit seinem Geschwafel von Aszendenten, Karma und paranormalen Phänomenen. Er war selbst eines, allerdings (falls sich das nicht widerspricht) ein weit verbreitetes. Ja, er ging mir auf die Nerven, und die Schönheit seiner Stimme – einer Stimme wie aus der Baßpfeife einer Orgel – machte das nicht wett (im Gegenteil, denn wer sieht schon gern Silbergabeln im Mist wühlen). Unausstehlich die Affenliebe, mit der er selbst ihr lauschte. Manchmal legte er sogar den Kopf schief wie ein Vierzehnjähriger, der verzückt an einem Elektrobaß herumzupft.
Wenn er die Wahl zwischen zwei Gesichtsausdrücken hatte, entschied er sich garantiert für den dämlicheren. Am schlimmsten aber war folgende Macke: Wandte er sein Gesicht beim Schwafeln seinem Gegenüber zu, ließ er die Augenlider runter wie ein hochnäsiger Butler – und kriegte sie nicht wieder hoch. Zwar vibrierten sie ständig, als ob er sie jede Sekunde heben wollte, tat es aber erst, wenn er den Blick wieder abwandte. Als zivilisiertes, höfliches Gegenüber des unausweichlichen Sven war man gezwungen, einem Hohlkopf beim Brummen zuzuschauen.
Aufgrund von Einfühlung bekam ich heraus, daß es Sven die Konzentration raubte, sähe er beim Schwätzen seinem Gegenüber in die Augen. Höchstwahrscheinlich hatte er es als Kind gehaßt, Ohrfeigen kommen zu sehen, und haßte es heute, sich die Konzentration für seine gewichtigen Gedanken rauben zu lassen, nur weil er Ohrfeigen kommen sah. Hochverdiente.
Vielleicht war es ein und derselbe Entwicklungsabschnitt gewesen, in dem er außerdem den Ehrgeiz entwickelt hatte, jede einzelne seiner Windpockenpusteln abzupulen. Wangen und Stirn sahen aus, als hätte sie jemand bis hoch in die modische Vollglatze mit einem Luftgewehr beschossen. Karin stach mit ihrem geschliffenen Fingernagel in die Aura um seinen Schädel und sagte, die Satzmelodie vom anonymen Putzteufel aus Hamburgs Peripherie borgend: »Gediegen, so ’ne Frisur, aber man sieht ja jeden Dreck.«
Richtig, dachte ich, das war es, was mich bei der Wiederbegegnung so irritiert hatte: Letztes Jahr hatte Sven noch auf neongelbe Gel-Fasson geschworen. Nun rieb er sich über einen blanken Kopf. »Cool, wa?« Allerdings brachte er es nicht fertig, den prüfenden Blick auf seine Handfläche zu unterdrücken, ob tatsächlich etwaiger Schmutz abgefärbt habe.
Schon sah Manu sich genötigt, erneut einzugreifen. Das Pathos ihrer Maßregeln gegen Karin war abgestuft, je nach Tragweite von deren Entgleisungen. Taktlosigkeit zum Beispiel versuchte Manu ungeschehen zu machen, indem sie rasant das Thema wechselte. In diesem Fall mißlang dies. Ihr geriet ihr eigenes Assoziationsvermögen in die Quere, und so erzielte sie den gegenteiligen Effekt: »Wo äh, fällt mir grad ein, wo war, wo war noch mal diese äh, diese irre Tropfsteinhöhle, die wir letztes Jahr –«
In der Tat: Svens Schädel, er mutete ein wenig wie ein Tropfstein an. Málista, in seiner Ovalität, in seiner Verschwitzt- und Gepunztheit ähnelte er durchaus der Kuppe eines Stalagmiten.
Das sah offenbar auch Karin so. Jedenfalls brach sie in eines ihrer Gelächter aus, die im ganzen Dorf gefürchtet waren. Und schon war Svens Freude über den vermeintlichen neuen Karin-Respekt wieder dahin. Ging schon wieder genauso los wie letztes Jahr. Und das Jahr davor.
Ich fühlte mich in Sven ein. Deutlich zu spüren, daß er Karin haßte, vor allem natürlich wegen ihres rußigen Lachens. Nie konnte Sven seines Selbsts sicher sein, wenn Karin in der Nähe war. Karin schien von lustigen Stolpersteinen umzingelt, für Sven rätselhafter als die Lehre von der Wiedergeburt. Nanosekunden, bevor das Getöse jeweils losging, duckte er sich.
Er kam sich so unberlinerisch klein vor, wenn er miterleben mußte, wie sehr sich Augenblicke dehnen konnten. Denn zunächst stieß Karin – gleich einer Löwin den Kopf nach hinten werfend – ein Quarren aus, ein kehliges Harrhh, welches unmittelbar ins Geräusch eines Dudelsacks überging, der aus dem letzten Loch pfeift. Sobald die Atembö unter den höchsten Zwerchfelldruck geriet, drang ein Schnarren aus der Luftröhre. Sven übte sich in Duldungsstarre, hypnotisiert von dem bebenden Zäpfchen tief drunten in Karins Schlund. In seiner Miene spiegelten sich abwechselnd geheuchelte Mitfreude und echte Betrübnis wider, verknüpft durch Wangenzuckungen – desto heftigeren, je näher Karin dem Lungenvakuum rückte. Denn die Stille während jener Krampfpantomime, das war der schlimmste Moment bei diesen Attacken.
Sicher, danach würde die Furie, indem sie den Schock der Pointe verwand (die ihm auf ewig schleierhaft bleiben würde), das Dreifache an Atü aufbieten. Dann würden ihre Stimmbänder peitschen wie Teppichklopfer. Was scheußlich genug werden würde, sicher. Doch dieses Erstickungsdrucksen zuvor – das war wie das Warten auf den elektrischen Stuhl. Diese makabre Stille … eine sirrende Mücke, die sich nicht in die Autan-Sphäre traute … die Grille … das Quietschen vom Reifenfender zwischen der angefaulten, kaiähnlichen Bohle und dem Gatt von Spyros’ weiß-blauem Kutter … zwei grinsende Visagen … eine gekrümmte, stumm zuckende Furie … Diese Stille, das war die Heimat seines Blackouts. Bei all den comicartigen Tagträumen von sich selbst als einem sanften Helden – als einer Art rhetorischem Judoka, der des Gegners eigenen Schwung gegen diesen wendet –, bei all diesen Träumen kam in der Realität nichts als heraus.
Stotterte er auch noch »Dit-dit« oder »Wat-weeß-ick«: Öl in Karins Feuer. Allerdings war dann ohnehin alles zu spät. Mit dem Furor einer Turbine holte sie Luft, und der Tumult brach mit dreifacher Gewalt los, und Sven sah sich endgültig bloßgestellt. Jeder der Gäste aus den benachbarten Tavernengärten, glücklicherweise momentan nur zwei, starrten das Opfer dieses Höllenspektakels an. Und eines – davon war Sven überzeugt – stand für diese Zeugen felsenfest: Dieses Opfer mußte ein besonders rares Exemplar von Depp sein, wenn eine attraktive Dame in den besten Jahren dessentwegen derart ihre Fassung verlor.
Ich beobachtete ihn. Seine Wünsche tränten ihm geradezu aus den Augen: Brächte er doch wenigstens ein glaubwürdiges Schmunzeln fertig, um unbeteiligt zu wirken! Kopfschütteln führte zu gar nichts, wenn die Wangenspasmen es als verkniffen entlarvten. Im vorigen Jahr hatte er mal einen Versuch unternommen, mit aller Härte zurückzulachen, aber den hatte Karins Lache geschluckt wie Feuerwerk einen Knallfrosch, und seither mußte Sven mit dem Bewußtsein von einem doppelt so nichtigen Ich leben.
Nein, es blieb nichts, als diese Vergeltungsschläge für all seine Verfehlungen früherer Leben mit eingezogenem, geschorenem Kopf abzubüßen. Mit einem bißchen Glück kam er in den Genuß eines Schulterklopfens Spyros’ des Jüngeren, sofern der dabeisaß. Oder in die Obhut der gütigen Manu, indem sie als Nebenklägerin auftrat – was ihr, Manu, im Besitz nützlicherer Kenntnisse vom Feind, leichter fiel als ihm, Sven. Leider jedoch prallte auch die raffinierteste Gegenattacke von Karins Charakterschild ab wie das Echo von einem Berg, vorausgesetzt, der Konter hatte den Krach überhaupt durchdrungen.
Denn so gewaltig wie Karin lachte kein Gerüstbauer und kein Bürgermeister. Ein Gib-mal-einer-Feuer-für-meine-Zigarre-Gelächter. Anläßlich eines Gelächters von solchem Schlage hatte Freud einst die Kastrationsangst entdeckt. Nicht, daß Sven sich je als Spießer betrachtet hätte, ganz im Gegenteil, immerhin trug er ein chinesisches Drachen-Tattoo auf seinem muskulösen Kreuz zur Schau und je ein Tribal-Motiv auf den Schultern. Immerhin war er alljährlich Passagier eines Tantra-Wagens auf der Love Parade. Immerhin ging er nicht dem geringsten geregelten Job nach. Nein, als Spießer betrachtete Sven sich weiß Gott nicht – aber so wie Karin lachte man als Frau nun einmal nicht. Viel zuviel Yang.
Ja, »Zen-Zwen«, wie Karin ihn schimpfte, haßte Karin, obwohl Haß die Erleuchtung vereitelte, »Karma schafft«. Ein Grund mehr, Karin noch leidenschaftlicher zu hassen. Was wiederum Karma schaffte.
»›Irre Tropfsteinhöhle‹, ich werd’ nicht wieder …« Ächzend hielt Karin sich den Bauch.
»Is ja jut, is ja jut«, murrte Sven. Wenigstens nach dem Grund fragen, warum das so komisch zu sein schien? Einen Teufel würde er tun; er war ja nicht blöd.
»Verklag mich doch«, krähte Karin im Schweiße ihres Angesichts, »aber mach bloß den Kopp zu.«
Ich bewunderte sie. Von außen wirkte ein Luftdruck auf sie ein wie im Test-Zentrum der NASA, in ihrem Innern arbeiteten Herz und Lunge, Leber und Milz seit vierundzwanzig Stunden auf Hochtouren gegen erhebliche Konzentrationen an Nikotin und Teerkondensat und Blutalkohol – doch von alldem ließ sich die stolze Karin nicht unterjochen. Dann lachte sie sich eben notfalls tot.
Auch ich schwitzte, allein von der Anstrengung meiner Einfühlung. Doch nun drang ein Rauschen an mein Gehör, als flüchtete weiter flußaufwärts ein Schwarm Nymphen ins Schilf; gleich darauf wisperte das Laub über unseren Köpfen, und dann nahm der Zephyr den ganzen Garten in Besitz, ja sämtliche Parzellen am Fluß, endlich, und gleichzeitig räkelten wir uns, der unausweichliche Sven – froh, daß der Spuk vorbei war –, die gütige Manu, die stolze Karin und ich. Anschließend senkte Karin die hellblau bestäubten Lider über ihre haselbraunen Augen und summte sinnlich angesichts der Brise, und wo sie grad dabei war – und überhaupt, schließlich hatte sie Urlaub –, trennte sie die Lippen und entließ jenes nasale, schlußbehauchte sexuelle »Ahh«.
Manu mußte erneut grinsen, und ich fühlte mich in sie ein. Sie mochte ihre Schwägerin, und wenn die aus heiterem wie trübem Himmel ihre Faxen machte, liebte sie sie. Allerdings konnte sie’s nicht leiden, wenn Karin mit ihrem Ruf als langjähriger Bardame kokettierte. Schließlich waren sie keine fünfzehn mehr, ja nicht mal fünfunddreißig. Und Karin, um die Wahrheit hinauszutrompeten, nicht mal mehr fünfundvierzig.
Manu drückte ein Auge zu und gluckste, und Karin schob die Zungenspitze über die Lücke zwischen den Schneidezähnen und ließ ihren Kopf in den Nacken sinken. Ihr mittelblondes Haar – längst zwar nachgefärbt, doch immer noch seidenfein – entblößte die Mulden unter den Ohren. Sie winselte lüstern.
Ich schaute zweimal hin, es war so: Sven wurde rot. Der Shiva-Jünger errötete, als stünde er unter anaphylaktischem Schock. Das also wiederum schien ihm zuviel Yin. (Mir allerdings auch.)
Manus Glucksen steigerte sich zu einer Art Gegacker, und in dem Moment bemerkte ich, daß es sich aus einer weiteren Quelle speiste: Von hinten auf Karins Rapunzelhaar zu nämlich pirschte nun Spyros der Jüngere, den Zeigefinger auf Kante an den Kußmund gedrückt und die schmalen Hüften um Stuhllehnen und Tischkanten herumschwenkend.
Karin, albernerweise (Nachdurst? Hormone?) angespornt durch das Lachen ihrer Schwägerin, schabte mit den Fingernägeln über ihre blassen Oberschenkel hinauf zum Kleidsaum aus königsblauer Satinseide.
Manus Lachen erstickte, begann aber eine Oktave höher erneut.
Um die nächste Stufe der erotischen Eskalation zu vertonen, saugte Karin Luft zwischen den Zähnen ein, doch dann öffnete sie die Augen, urplötzlich argwöhnisch über das Ausmaß ihres Show-Erfolgs – oder weil sie die Gegenwart Spyros’ spürte. Sie rappelte sich im Stuhl hoch und drehte sich um.
»Zahnsmerrzen, mein Satz?« sagte Spyros der Jüngere, weil sie doch so gezischt hatte, und griff ihr in den Nacken.
Karins Gelächter folgte prompt. »Zahnsmerrzen?« äffte sie in der ersten Atempause Spyros’ Akzent nach. Viele Griechen sprechen Sch-Laute, in ihrer Sprache unbekannt, als stimmhaftes S aus. »Ich zeig dir gleich mal«, zwitscherte sie wie ein Archaeopteryx, »wo ich gerrrn Smerrrzen hätte … Harrhh …!«
»Karin!« Manus Rüffel ging unter. Spyros der Jüngere zeigte seine Heiratsschwindlerzähne. Für einen Dorfgriechen hatte er ungewöhnlich gesunde. Unterm rechten der schwarzen Pinsel seines Schnauzbarts erschien das berühmte Grübchen.
»Du mein Adon-, Adonnnysos!« schnurrte die stolze Karin und nestelte, ihm die Kehle darbietend, an seinem Kragen. »Mach mal dein Hemd zu. Siehst ja aus wie ’ne geplatzte Negerpuppe! Bringst uns mal ’n Üzchen?«
»Geia sas!«[6] rief jemand von hinten. Wir drehten uns um. Spyros der Ältere war vors Haus getreten, Spyros’ Großvater. Wir winkten, der unausweichliche Sven wie ein Schiffbrüchiger (Ablenkung, selige Ablenkung …).
»Geia sou, Spýro!«, rief ich. »Polý sésti apópse!«[7]
»Viel cheiß«, bestätigte er.
Spyros’ des Jüngeren Vater war 1984 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Da war Spyros der Jüngere dreiundzwanzig gewesen und seine Schwester Elevtheria, ein Nachkömmling, den Soula noch im Alter von vierzig unter bedenklichen Umständen geboren hatte, gerade mal ein Jahr alt.
Spyros der Jüngere belud Hand und Unterarm mit benutztem Geschirr.
»Loipón, tría Oúza«, sagte er. »Esý, philé mou? Neró i sóda?«
»Neró, lígo neró«,[8] sagte ich.
Dann tigerte er zum Haus zurück, um die Bestellung auszuführen. Neben seinem Grübchen war dieses Tigern ein weiteres, das die Frauen verrückt machte. »Ki’esý, Pappoú«, hörten wir ihn Spyros den Älteren im Vorbeigehen necken, »ti tha pieís?«
»Típota, típota …«
»Kanéna mikró, mikroútsiko Ouzáki?«
»Phíge«[9], knurrte der Ältere grinsend. Abschließendes Japsen vor Entrüstung.
Kurz darauf balancierte Spyros der Jüngere elegant ein Tablett mit einer Flasche Pilavas, drei leeren Ouzo- und vier vollen Wassergläsern herbei. »Apó ména«[10], lächelte er.
Manu sagte: »Und du?«
»’Ochi[11].« Er machte diese vornehme griechische Verneinungsgeste: Nase anheben, Lider senken, vielleicht ein winziges Schnalzen, ein fast zärtlich tadelndes. »Geia mas[12].«
»Und Opa?«
Spyros der Jüngere zeigte sein Grübchen. »Iest miede. Alte Mann.«
»Von wegen«, sagte Manu. »Ich weiß, was los ist: Der hat noch genug von gestern!«
Spyros der Jüngere räumte es lächelnd ein und tigerte mit dem leeren Tablett ins Haus zurück. »Mann«, schnurrte Karin, hinter ihm herspähend, »der hat aber auch ’n knattergeilen –«
»Karin!«
»– Charakter!« Grinste und fragte ihre Schwägerin: »Wieso hat Opa gestern gesoffen? Hab ich gar nicht mitgekriegt.«
»Ach, da … da gibt’s ’n Problem mit irgend ’ner Behörde oder was. Also ist er mit ’ner; mit ’ner Fünfkilobombe Pilavas im Rucksack zu diesem mysteriösen Theo nach Vrachovouni gepilgert. Jesus, ’n Kater bei der Hitze heute, in seinem Alter …«
»Auha«, machte Karin und reckte den Hals: »’Ela, Spýro[13], ’n klitzekleines Üzchen! Ist gut für die Eier!« Sie spielte auf jene kleine Geschicklichkeitsprobe Spyros’ des Älteren an, die er mit Hühnereiern in Szene zu setzen pflegte; doch der Doppelsinn war natürlich klar.
»Karin!« raunte die gütige Manu, diesmal wirklich böse.
»Wiesooo«, raunte Karin, »versteht der doch gar nicht.«
»Aber der junge Spyros vielleicht, du Schnepfe!«
»Dit is doch viel zu heieß für Ouzo«, warf der unausweichliche Sven ein. »Dit … kann der Körpa von den alten Herrn doch übahaupt nich adsorbiern.« Er kapierte es einfach nicht. Da fehlte einfach ein Enzym.
»Den katálava …«[14]
Ich wandte mich nach rückwärts. »I Kárin eípe na pieís oúzo … äh, eínai kalá gia ta avgá!«[15] Ich hatte weder eine Ahnung, wie ich Karins Uzerei hätte wiedergeben können, noch hätte ich das je getan. Spyros der Ältere war in einer Kultur aufgewachsen, zu der noch ganz selbstverständlich die ventéta[16] gehörte, und einen 78jährigen Patriarchen auf diese Weise zu frotzeln, zumal als Touristin – wie wohlgelitten auch immer –, war schon grob. Glücklicherweise beziehen Griechen avgá[17] keineswegs auf ihre archídia[18], auf die Karin zu mindestens einundfünfzig Prozent angespielt hatte.
Spyros der Ältere rief, er brauche keinen Ouzo für sein Kabinettstück, und drückte das Kinn aufs linke Schlüsselbein. »Elevthería … Elevthería, pou eísai! ’Ela lígo, koúkla mou!«[19]
In der Tür erschien seine Enkelin. Schüchternheit verschmolzen mit Schönheit, ein hinreißendes Mädchen. Ich hegte die lautersten Onkelgefühle für Elevtheria. Zum ersten Mal war ich ihr begegnet, als sie grad in die Schule kam – damals, vor zehn Jahren, bei meinem ersten Aufenthalt hier, zusammen mit Anita, damals noch meine Frau. »Nai, Pappoú?« Sie schnappte sich das leere Frappé-Glas vom Tisch, an dem ihr Großvater saß.
»Phére éna avgó.«
»Na bitte. Jetzt macht er’s wieder. Das wollte ich doch bloß«, brummte Karin.
»Wat machta wieda?«
Gleich darauf kam Elevtheria mit einem weißen Ei und drückte es ihrem Großvater in die Hand. »Evcharistó, paidí mou.«[20]
»Ach, dit machta wieda«, sagte Sven. »Dit is … dit find ick … weeß ick … irjendwo beinah ooch zenmeeßich, wa? Ha’ ick selps ma vasucht, aba wenn de gloobst, daß ick dit ooch bloß ansatz–«
Karin fuhr ihm übers Maul. »Ha’ ick jesaacht: Arsch melde dir?«
»Na jut, kieken wa dem Meesta eenfach ma zu, wa? Datta sich ma konzen–«
»Maul, Zwen«, sagte Karin, »sonst hagelt’s Fratzengeballer. Aber nicht zu knapp.«
Weil ich mal eine kurze Sven-Pause brauchte, aber auch, weil die Wassertrinkerei ihren Tribut forderte, machte ich mich auf den Weg zum Klo.
Selbst an einem so heißen Abend wie heute, selbst mit einem Kater trug Spyros der Ältere über seinem dünnkarierten Hemd einen braunen Pullover zu langen beigefarbenen Hosen samt braunen Socken in Halbschuhen. Er hatte hagere Schultern und weißes Haar, links gescheitelt. Sauber rasiert und ohne ein Tröpfchen Schweiß auf der Stirn, hielt er durch seine braune Brille Ausschau nach einem Aschenbecher; ich, der ich grad hinzukam, nahm einen vom Nebentisch und stellte ihn umgedreht vor ihn hin.
Er griff nach dem Ei und probierte, es mit der kugeligen Basis auf dem Aschenbecher zu plazieren. Die Haut um die ausgestülpten Knöchel und Gelenke seiner Hände hatte die Farbe eines im Alter erbleichenden Schwarzen. Ich blieb vor den blauen Türflügeln stehen und schaute zu. Geduldig tarierte Spyros der Ältere das Ei immer wieder aus zwischen seinen langgliedrigen Fingern. Keine Spur vom vortägigen Ouzo-Mißbrauch. Die Wimpern, schwarz und lang, senkten sich … ein angedeutetes Blinzeln … nein, es stand noch nicht. Einmal hatte er es anderthalb Stunden lang versucht. Aber jetzt, nach zwei, drei Minuten schon, blinzelte er mehrfach, breitete langsam die Hände aus und erhob sich – vorsichtig, um nicht an den Tisch zu stoßen. Das Ei ruhte lotrecht auf dem Aschenbecher.
»’Etsi.«[21]
Ohne zu Karin, Manu und Sven hinüberzuschauen, die vom Fluß her Beifall zollten, setzte er eine filterlose Papastratos in Brand.
»Zenmeeßich. Absolut zenmeeßich«, quakte es von da herüber.
»Tóra«, sagte Spyros, »tóra tha pió éna ouzáki!«[22]
Ja, es war der idyllischste Abend, den man sich nur wünschen konnte. Doch dann – just als ich, vom Klo zurück, vor die Tür trat, um zum Tisch zurückzukehren –, da passierten zwei Dinge: Das Ei kippte und rutschte mit einem kalkigen Geräusch vom Aschenbecher, schaukelte zweimal und ruhte. Und gleichzeitig kam Kostas, der brave Bauer, mit seinem Moped herangeknattert, auf dem Sozius eine hübsche, blasse Frau in teuren Leinenhosen, schwarzem T-Shirt und Schuhen mit halbhohen Absätzen. Ihr Haar war so glatt und blond wie die Roggenhalme, die meine Mutter einst für mich bügelte, damit ich zu Weihnachten Strohsterne daraus basteln konnte; und ihre Augen – das sah ich, als Kostas sie zu unserem Tisch führte –, ihre Augen waren grün.
Ein Moped knattert heran, ein Ei fällt um – ich weiß noch, ich empfand das als ulkig. Etwa in der Art, wie ein Kintopp-Kuß im Ploppen eines Korkens endet. Albern, ich war dreiundvierzig Jahre alt; aber immerhin war ich fähig, die Gleichzeitigkeit eines größeren, lauten Ereignisses (knatterndes Moped) und eines kleineren, leisen (umkippendes Ei) überhaupt zu erfassen. Und genügend Heiterkeit des Gemüts daranzusetzen, um einen Zusammenhang der beiden Ereignisse heraufzubeschwören. Zu so etwas war ich lange Zeit nicht in der Lage gewesen, vor meiner Zeit am Ionischen Meer – so redete ich mich damals heraus.
Heute aber hege ich den Verdacht, daß meine Albernheit noch einen ganz anderen, noch viel alberneren Grund hatte. Heute kommt sie mir ganz so vor, als sei sie ein Rückschritt in die pubertäre Anstrengung gewesen, die eigene Erregung vor sich selbst zu verschleiern, wenn ein schönes Mädchen auf der Bildfläche erscheint. (Vielleicht hört das nie auf.)
In den folgenden anderthalb Stunden stellte jenes »Mädchen« meine Menschenkenntnis, mein Einschätzungs- und Einfühlungsvermögen auf eine lästige Probe. An jenem Abend wurde ich noch nicht schlau aus ihr, der Fremden. Monika. Ihr Auftritt war voller Widersprüche für mich. Einer bestand darin, daß ich ihre Widersprüche eigentlich gar nicht knacken wollte, es aber versuchte.
Kostas hatte Spyros den Älteren mit lässigem Respekt gegrüßt, und Monika war vom Gepäckträger gestiegen. Ihr Teint nun rosig, ihre Arme blaß, und sie neigte den Kopf tiefer als nötig, um ihre Hose abzuklopfen. Der Riemen ihrer Handtasche rutschte in die Ellenbeuge. Nur flüchtig prüfte sie ihren Hosenboden, um ihn nicht über Gebühr ins Licht zu setzen – oder womöglich ungebührlich. Ihr Haar ordnete sie mit den Handgelenken.
Linksknöpfer, raunte ich stumm in mich hinein. Wie mochte so eine ausgerechnet der gute alte Kostas auf seinen fettigen Blechklepper gequatscht haben?
Karin räusperte sich schon mal. Manus Hypnoseversuch verpuffte.
Neuankömmlinge hatten bei Karin keinen leichten Stand. Ihrer Ansicht nach lag die Beweispflicht bei denen, wenn es um deren Aufenthaltsberechtigung ging. An Karins Busen war reichlich Platz, selbst für die dümmsten, langweiligsten und häßlichsten Kreaturen, aber sie mußten ihn sich verdienen. Daß die wenigsten ausgesprochen wild darauf waren, juckte Karin ganz und gar nicht – wie auch immer: Wehe, es versuchte jemand, zum Beispiel mit Ranschmeißen, zumal ein anderes schönes Weib.
Eine seiner Pranken in Monikas Rücken, mit der anderen auf die Tischrunde weisend, geleitete Kostas sie her. Er trug ein blaues Trikothemd mit weißen Querstreifen, rote Shorts mit weißen Längsstreifen und grüne Turnschuhe mit weißen Querstreifen. Seine schwarzen Haare auf dem Kopf und die feineren, gekräuselten auf Armen und Beinen schienen sich zu sträuben, ja selbst die Stoppeln im wie geschnitzten Gesicht – aber aus Freude, Freude über das Wiedersehn. Im drallen Zwerchfell vornehm gedrosselt, blinkte das Hurra aus jedem seiner goldenen Eckzähne wie ein Saxophon im Scheinwerferlicht. Sein Timbre aber, wiewohl resonanzvoll, klang wie immer: ähnlich einem Tonband, das ein wenig zu schnell läuft. »Geia sas, vre paidiá! Ti kánete? Kalá?«
»Kalá, kalá, esý?«[23] Karin und Manu glucksten und reckten ihm ihre Wangen entgegen. Kostas hielt ihre Hände, während er sich wieder aufrichtete. »Ti kánete? Wie getts? Alles gla, alles?«
Erst dann – ein Zugeständnis an deutsche Sitten, in griechischen Landen gilt kírioi próta[24] – begrüßte er per Handschlag Sven. Zum selben Zweck kam er sogar zu mir herüber, wiewohl wir uns beinah täglich sahen.
Während Kostas’ Begrüßung hatte ich die Fremde unauffällig gemustert: die Augen unter den hellen Wimpern Smaragde (wenngleich ein wenig verölt); Wangenbeine und hübsches Kinn die Rundungen eines Herzens. Doch die vollen Lippen fälschten das Lächeln stümperhaft, schuld daran ein Ψ-förmiges Relief zwischen den hellen Brauen. Sie stemmte die Finger in die Weichen, die kleinen zitterten; dann verschränkte sie die Unterarme, so daß die Oberarme ein Dekolleté modellierten; sie ließ ihre Hände wieder fallen und drehte sich halbwegs zur Seite und schaute unter die Baumkronen, die zaubrisch verfärbt waren von den bonbongelben und lampiongrünen, roten und blauen Glühbirnen.
Dann erlöste Kostas sie. Im Eifer, bescheiden zu wirken, geriet seine Geste eine Nuance zu waidmännisch. »Statten«, sagte er: »Diese iest Freimut!«
»Freimut?« tutete Karin wie ein Fagott, und dann, den Lachkrampf mit eigener Hand aufhaltend: »Angenehm! Horst-Herbert!« Und auf Manu, Sven und mich deutend: »Schorschi, Susi und Strolch. Haarrh …«
Während die Fremde, Zeigefinger und Daumen der Rechten auf den Schlüsselbeinen, das Mißverständnis mit Kostas klärte, versuchte Manu, Karins Getöse mit einem Schlangenblick abzuwürgen – vergeblich natürlich –, und nachdem Karin sich beruhigt hatte, nachdem jedem Mitwirkenden der richtige Vorname zugepuzzelt, der Nebentisch angekoppelt und zwei Stühle herbeigezerrt worden waren, nötigte Kostas die Fremde namens Monika Freymuth auf den Platz neben Sven. Bevor er sich selbst als Puffer zwischen sie und Karin plazierte, stemmte er die Fäuste in die Seiten und schalt Karin: »Nix komms ein Tagg.«
»Wie, nix komms ein Tagg«, machte die, ihre Nachwehen in Empörung ummimend; »erstens sind wir erst seit gestern hier, und zweitens wissen wir doch gar nicht, wo du wohnst.«
Manu beherzt dazwischen: »Was machen deine Schafe?«
»Schaffe … immer essen … Heu, Mais, ich hab noch die Feld, immer so mit Trecker … Bonnen, immer spritzen …« Er legte einen reichlich unscharfen Agrarbericht vor – und dann erzählte er, sich setzend, an Frau Freymuth gewandt: »Ich hab’ hundert Schaffe, immer Fuß so. Putzen, Milch, eine, andere, nimms Heu, polý douleiá[25]. Ich hab noch finfzenn Ziege extra. Ja! Milljonärr, aber kein Geld!« Er meckerte. »Frieh ungeferr sieben Uhr in Stall alle nimms mit Hand. Ja immer. Ungeferr halbe Stunde fertig alles. Was! Komms ein Tagg, fier kontrollieren! Ich bin Bauer, aber viele Verstand!« Er meckerte noch einmal. »Ich bin immer lustig, Entschuldigung …« Und meckerte ein drittes Mal.
Mir schien, daß sich ein wenig Gelöstheit in das Lächeln der grünäugigen Fremden stahl. Sie steckte sich eine Damenzigarette an, eine von der Sorte mit weißem Filter, die mich stets an Sanitätsbedarf erinnerte.
Sie siezte uns. Sie sagte kaum etwas von Belang; nur einmal, in einer Gesprächspause, in der man ihr deutlich ansah, daß sie sich angesprochen fühlte, an mich gewandt: »Interessante Kette.« Ich erklärte ihr, daß es sich um ein Kompologi handele, die traditionelle Form des Rosenkranzes, mit dem hier jeder dritte Mann herumspielte.
Nach meinem ersten Versuch, mich in ihr Ich einzufühlen, wähnte ich mich noch ziemlich sicher. Mitte dreißig, schätzte ich (und verschätzte mich gehörig zu ihren Gunsten). Allein, und ist es nicht gewöhnt. Ein wenig Kummer, weil sie allein ist. Ein wenig Scham, wie ein Teenager auf einem Moped herumzuknattern, und Besorgnis, ob ihre teure Garderobe den Ritt überstanden hat. Wahrscheinlich geht sie bei nächster Gelegenheit zur Toilette, um’s zu überprüfen.
Zunächst aber erschien Spyros der Jüngere. Er legte je eine Hand auf Kostas’ und Karins Schulter und grub über deren Köpfe hinweg Frau Freymuth sein Grübchen, und selbstverständlich stürzte die sich hinein – mit einem Lächeln, das dessen vorherige Fälschung auf den Müll der Psychologie pfefferte. Und als die stolze Karin Spyros’ Unterarm mit beiden Händen ergriff, ihr Kinn in Frau Freymuths Richtung rammte und laut genug raunte, daß jeder am Tisch es verstand: »Gib der Neuen mal ’n Ouzo, damit sie ’n Grund hat, daß sie so breit grinst …« – da reagierte sie, wie ich es nach dem Ergebnis meiner ersten Einfühlung erwartet hatte: Ihr Lächeln ging in Flammen auf wie eine Orchidee aus Seidenpapier.
Ebensowenig überraschte es mich, wie lang sie sich zierte anzuerkennen, daß die gütige Manu sich bemühte zu retten, was zu retten war: Sven, Koberer seines Klubs der Karinopfer, hatte Frau Freymuth gefragt, noch während deren Wangen glosten von Karins Backpfeife: »Kannet seien, daß du ’ne Waagejeborene bis’?« Und sie dies bejaht – anscheinend gerührt, ja aufgewühlt, als habe er sie in letzter Sekunde vom Scheiterhaufen gezerrt. Von einem jüngeren Mann umstandslos geduzt zu werden nahm sie mit der für solche Fälle antrainierten Demut einer erretteten Aristokratin hin.
Daraufhin hatte Manu versucht, das anschließende Gespräch über den bösen Merkur und das Wassermannzeitalter zu bereichern, um erstens Karin durch Parteinahme zu bestrafen und zweitens den Einstand der Neuen zu befrieden, die ihr anscheinend durchaus nicht unsympathisch war. Mit mehr als einer Silbe aber ging wiederum die auf Manu erst ein, nachdem sie zwei Ouzos intus hatte plus ein Glas Weißwein. Bis dahin hatte sie so wenig gesprochen, daß ich nicht einmal einen gültigen Eindruck von ihrer Stimme gewann: Mal hatte sie den hysterischen Unterton aufmüpfiger Unterdrückter, mal tönte der eingeübte, angestrengte Alt, der eine gestandene Frau vorspiegeln soll, mal war es Mädchensopran. Nein, es hatte mich nicht überrascht, wie sie den Windschatten von Svens Redseligkeit und Manus Annäherungsversuchen nutzte, um Selbstsicherheit zu gewinnen.
Ich entschied, höchstens noch ein Weilchen zu bleiben. Ich würde meinen Stundenplan bereits wegen Karin und Manu um eine halbe Stunde überziehen. Diesem grünäugigen, aber spießigen Weib stand ein solcher Triumph nicht zu.
Doch dann ging eine Veränderung mit ihr vor.
Elevtheria und Spyros tischten für sie und Kostas knusprige Rotbarbe auf, fangfrisch fritiert, eingebettet in gebackene Tintenfischringe und Garnelen, samt einem Napf heißem Knoblauchöl extra; dazu eine Schüssel voll Salat aus hauseigenen, also unter ionischer Sonne gereiften Tomaten und Gurken, grünen Paprikastreifen, violetten Zwiebeln in Ringen so groß wie Zigeunerarmreife, mit schwarzen und grünen Oliven und Klötzen von Schafskäse wie aus mürbem Marmor, eine Schüssel voll selbstgemachten Pommes frites mit krossen Kanten, Schälchen mit Tsatsiki und Käsecreme, je ein Tellerchen gebackene Zucchini und, in Essig und Öl eingelegt, Peperoni, größer als Sardinen, ein Körbchen mit Weißbrot, außen herrlich derb, innen flockig, und vorerst ein weiteres halbes Kilo weißen Wein.
Und da wurde jene Frau Freymuth beinah gesprächig. Alkohol und Nahrung begannen ihr Timbre zu beleben. Das von Karin vergiftete Blut in den Wangen wich frischem. Und was ich dann mitbekam, überraschte mich denn doch: Sie sei auf der Durchreise, sagte sie auf Nachfrage Manus; morgen gehe es weiter; auf die Peloponnes. Mit dem Auto, ja.
»Mercädäs, metallic«, veranschaulichte Kostas stolz. »Apó Amvoúrgo. Von Hamburrg.«
Von Hamburg, ja. Appartement bei Ingo. Ihn, der abwesend war, habe Kostas besuchen wollen und statt dessen sie zum Wein eingeladen. Von Beruf? Äh – Reisejournalistin. Interessant? Ja, doch.
Wenn sie ein O oder U sprach, verspürte ich einen gewissen Drang, ihr Schmollmündchen nachzuäffen. Autobahn. Ingo. Journalistin.
Im Ich dieser Frau begann ich zu tappen. »Reisejournalistin« im »Mercedes« auf der »Durchreise«? Also waren ihre Beklommenheit, ihre Spätmädchenhaftigkeit nur Folgen von Reisestrapazen gewesen, und jetzt, körperlich gestärkt, erstarkte sie auch seelisch?
Ich wartete auf Hinweise, die meine Annahme erhärteten. Doch nun sprach etwas wiederum dagegen: ihre Verschämtheit und Tuntigkeit, als sie von einem Toilettenbesuch zurückkehrte und ihren Eindruck Manu zuraunte. Manu signalisierte Verständnis, doch Karin polterte dazwischen: »Das ist hier doch scheißegal! Oder kackst du Marzipankartoffeln!«
Und Frau Freymuths Wangen entbrannten erneut, und erneut spielte Manu Feuerwehr: »Nun hör, nun hör doch mal auf«, wies sie ihre Schwägerin zurecht, »das nervt dich doch selber, jedes Jahr, der Siff, und daß man das Papier in ’nen Eimer werfen muß, und so, oder nicht.«
»Ph«, machte Karin und bot Kostas eine Gauloise an.
Der hob die Pranken: »Eine halbe Jahre nix kapníso[26]. Nix mehr. Dick. Eine Jahre eine große Unfall mit Ellkawä, so Septembre … Dreimall so hier«, er zeigte auf seine Rippen, »mit einundachtzig Tonne Mais.« Er wandte sich Frau Freymuth zu. Gut möglich, sagte ich mir, daß er um Harmonie bemüht war. »Alte Ellkawä, alte Oppa. Schönne Abä’ess. Sechs Monnatt Krankenhaus. Rauchen nix von diese, aber ich rauchen so von Unfall so zwei, drei Monnatt, aber ich sprechen alleine: nix mehr. – Entschuldigung, kuksdu hier …«
Sein Blick folgte rasch seinem eigenen Finger, als habe er einen Käfer auf Frau Freymuths Brust entdeckt, und als sie im Reflex den Blick senkte, als klemmte sie sich eine Geige unters Kinn, versetzte sein Finger ihr einen sanften Nasenstüber. Er meckerte sich selbst in die Tasche. »Entschuldigung, eh? Káno pláka[27]. Ich bin immer lustig. Spasemach, eh?«
Daraufhin hatte ich eine weitere Verblüffung zu verarbeiten: Ausgerechnet bei dieser abgedroschensten Fopperei der jüngeren europäischen Flirt-Geschichte, da lächelte die Fremde zum zweiten Mal an diesem Abend ein echtes Lächeln. Ein solches Gesicht nannte man einst Antlitz, und es strahlte den höchsten Reifegrad der Fraulichkeit aus: Verschütteter Restschmelz vom Babyspeck des Teenagers mischte sich mit dem Charme erotischer Renaissance. Die Lippen hatten etwas Majestätisches, und das smaragdene Augenlicht, gerahmt von Roggengold, war voller Gunst und Huld.
Bevor ich gehen konnte, verstrickte Karin – kaltgestellt von ihrer Schwägerin und Kostas verachtend, der wie Manu und Sven auf die Grünäugige einredete – mich noch in ein Gespräch über unsere Heimatgemeinde. Karin, ihr Bruder und ich waren in demselben Dorf auf der Stader Geest geboren, unweit der Unterelbe. Wir plauderten darüber, wie Beeckdörp sich verändert hatte; wer alles gestorben war seit unserer Jugend, daß wenigstens Hinni, unser einziger Gastwirt, an die neunzig Jahre alt, am Zapfhahn waltete wie eh und je. Daß Kolki, mein alter Freund, ihr Bruder, Manus Mann, in drei Wochen nicht nur mit den fünf Kindern, sondern auch mit unserem alten Freund Satschesatsche nachkommen würde, der ebenfalls von dorther stammte. Und so weiter, und so fort.
Schließlich aber stand ich von meinem Stuhl auf, und während ich mein Kompologi schleuderte und halb besorgt, halb belustigt verfolgte, wie Karin schon wieder ouzoselig zu leiern begann, da wurde ich gewahr, daß Monika Freymuth nicht nur mit ungerichtetem Lächeln praßte. Sondern zwischendurch unmittelbar mich mit Blicken blendete; zutraulichen, ja zudringlichen Blicken. Etwas von Neugier lag darin, Staunen womöglich. Sie dauerten volle Sekunden, diese Blicke, tick und tack, tick und tack.
Am liebsten hätte ich gesagt: Ist was? Was ich aber sagte, war: »Na, dann gute Weiterreise.« Es war nicht einmal nötig, Trick 17 anzuwenden; jenen bestimmten Kniff, mit dem ich derlei Blicke abzuwenden vermochte. Denn die Frau war mir zwar ein Rätsel, doch eines in der Art von Geduldsspielen, die ich stets gehaßt hatte, eines, mit dessen Lösung gern Langweiler auftrumpfen, die ihre Witzmängel mit Fingerfertigkeit aufzuwiegen versuchen.
Trotzdem war mir ein wenig schwindelig, als ich über die Reling von Spyros’ unter meinem Gewicht tief krängenden Kutter ins Boot hinunterstieg, das ich dort vertäut hatte. Am jenseitigen Ufer drehte sich das geheimnisvolle halbe Rad aus Licht; meterlange Lichtspeichen fächerten sich über der Schilfpalisade auf, und ich ruderte mitten hinein und machte mein Boot an dem dortigen Pflock fest, und dann ging ich durch die duftende Nacht nach Haus.
Und in jener ersten Nacht nach ihrer Ankunft, da schlief ich noch so gut wie immer, dort drunten am Strand der Odysseus-Bucht. Als ich erwachte, allerdings … Oder war ich noch gar nicht wach? Schlief ich noch, nackt, aber doof wie ein Schaf, und träumte nur, wach zu sein? Jedenfalls war es dunkel, doch rosig durchpulst; und gerade, als ich zu grübeln begann, ob ich womöglich nur träumte zu grübeln, ich träumte wachzusein – da piepste es an meiner Schläfe.
Ich hob den Kopf ein wenig und tastete nach dem Knöpfchen an meinem Chronographen. Das Piepsen hörte auf, und sofort war die Stille lauter als vorher und hatte mehr Klang. Jetzt war ich wach, behielt aber die Augen geschlossen. Am Himmel des rosigen Dunkels, das mein Gehör nun sondierte, flocht ein Buchfink einen Violinschlüssel nach dem anderen, riesig im Vergleich zu dem Kutter am Horizont. Zu meinen Füßen Plätschern, etwas weiter Schwappen, im willkürlichen Rhythmus tiefen morgendlichen Friedens. Ich schlug das Laken zurück, die Augen nach wie vor geschlossen.
Mit einem Hauch Luft – erfrischender und milder als in der Nacht – strömte mir ein Duftpotpourri von verdorrten Algen und frischem Meerwasser in die Nase; im Zwerchfell umgewandelt in Kitzel des Glücks, schwärmten diese überallhin aus, und ich fühlte mich in meiner Haut, als wäre sie daunengefiedert. Mit voller Muskelkraft reckte ich mich, dehnte mich von den Finger- bis zu den Zehennägeln vibrierend auf zweieinhalb Meter Lebensgröße und ließ die Lebensgeister hellauf brummen, und dann, dann endlich hob ich die Lider und raunzte, stets mein eigener Herr: »Los, Morten, aufstehn!«
Natürlich konnte ich als Sterblicher nicht ahnen, daß ich mich bald mit dem Spitznamen »Buhmann« anreden würde; einem Spitznamen, den niemand anders als sie in die Welt setzen sollte. Und da ich die Existenz von Vorzeichen grundsätzlich verneine, glaubte ich auch an keins, als es an der Felswand weit oberhalb meiner Stirn einen harten Laut gab und zwei Wimpernschläge später einen spickenden Hieb direkt auf mein Geschlecht. Ich zuckte tulpenförmig zusammen. Ein Kiefernzapfen. Im Liegen machte ich eine halbe Schraube, federte in die Hocke und starrte den Abhang hinauf.
Leichthin wischte der Wind das Amphitheater der Natur aus, fuhr den Kiefern und Pinien unter ihre zartgrünen, unterwärts schattig abgestuften Kleider; fauchend ließen sie ein Bukett aus Harz- und Nadelduft entweichen.
»Bei euch piept’s wohl«, murmelte ich. Ein solcher Volltreffer war ihnen noch nie gelungen. Ich überzeugte mich, daß ihre Schäkerei glimpflich ausgegangen war, und stand auf.
Der helle Karst in der Nordwestkurve der Haffmuschel strahlte bereits vom Sonnenlicht wider. Seidenmatt noch das Aquarell des Buchtwassers, mit flüssigen Inseln in Türkis- und Flaschengrün. Am Horizont zwei kleine weiße Pyramiden von Seglern, darüber ein blaßrosa Schimmer, bevor hellblau der blanke Äther sich emporzuwölben begann, hoch über die dunstigen Flecken von Paxos und Antipaxos hinweg.
Ich schmeckte leicht gesalzenen Schleim auf den Bronchien. Ich versetzte meinen Kehlkopf in Schwingung, und das Sekret löste sich, begleitet von einem befriedigenden kleinen Knall. Ich schmatzte ein wenig. Dann nahm ich einen Schluck aus der Wasserflasche, stellte sie wieder ab und watete durch den beigefarbenen Zucker, dessen Temperatur den Füßen um diese Tageszeit noch wohltat.
Ich saugte die Morgenluft ein und blies Kohlenmonoxyd wieder aus, kratzte mich am Steiß, der seit Anfang Mai die Farbe von heller Bronze angenommen hatte wie jeden Sommer, und begann, einen Vers des göttlichen Giorgos Dalaras zu singen – »I soí, ach, i soííí-ííí …«[28] –; und dann, über eine zundertrockene Bank von angeschwemmtem Tang hinweg, tat ich den ersten Schritt ins kühlende, weiche Wasser. Den anderen Fuß setzte ich erst, als ich sicher auf dem vorderen stand, um rechtzeitig versteinerte Muscheln ertasten zu können, scharfes Gefels oder aalglatte Rundköpfe. Schritt für Schritt sank der Boden ab; mein Blutkreislauf jauchzte über den steigenden Pegel. Den Widerstand des Wassers brach ich mit sanftem Druck und meinem eigenen Gewicht, bis ich keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, und dann tauchte ich japsend unter, prustend wieder auf und ließ mich ein paar Atemzüge lang tragen vom Salz. Ich kraulte bis zu der kuriosen Grenzbarriere, die nur ortskundige Bootsführer zu überwinden vermochten – eine Reihe von Felsen, die dicht unter der Wasseroberfläche blieben, bis auf einen, der schwarz und schrundig aufragte, fast in der Mitte der Linie zwischen den beiden Krebszangen der Bucht. Das war der Sage nach der Stein, den der Kyklop nach dem Odysseus geworfen hatte, nachdem der ihn geblendet: … riß ab die Kuppe von einem großen Berge, schleuderte sie, und nieder schlug sie vorn vor dem Schiff mit dem dunklen Bug. Da wallte das Meer auf unter dem herniederfahrenden Felsen …
Ich überquerte das Riff und glitt in die gedachte Bahn, auf der ich die nächsten tausend Züge tun würde, von einer Buchtzange zur anderen, zweihundertfünfzig hin, zweihundertfünfzig zurück, und das gleiche noch einmal, im »Rückenbrust«-Stil, in der Bewegungsart des Brustschwimmens, jedoch in Rückenlage, meine Erfindung, soweit ich wußte.
Nach dreieinhalb Sommern hatte ich meine Schwimmübung derart vervollkommnet, daß ich kaum noch vom Kurs abkam. Ich lag waagerecht in der um diese Tageszeit meist nur wenig schaukelnden Bahn, so daß ich den jeweiligen Eckfelsen rücklings und kopfüber jederzeit anpeilen konnte: Ich brauchte die Augäpfel nur stirnwärts zu drehen. Meine Beine schoben mich froschartig voran, dann tauchten meine Arme gleichgerichtet ein und zogen mich voran, und so schob und zog ich mich rücklings durchs Wasser, riegelte mit tausend Nähten meine Bucht ab; nähte mit kraftvollem Schwung in gleichmäßigem Tempo, bis ich wie von selbst durchs schmiegsame, glucksende Element getrieben wurde – angenehm betäubt um die Schläfen, durchblutet bis in die Ohrläppchen, naß wie ein Otter –, und nach erfülltem Pensum passierte ich wieder die Barriere; kraulte noch ein bißchen oder machte toter Mann, und dann stakste ich wieder an Land, genoß das Gleichgewicht auf den Sandsocken, die strotzende Haut, die Macht meiner Atmung, und fühlte mich zugleich ermüdet und erquickt. Ich grunzte und brummte vor mich hin.
»So. Frühstück.« Meine Gaumenquellen begannen zu sprudeln beim Gedanken an den Karton mit prall gefüllten Müsli-Tüten, den Karin und Manu aus Deutschland für mich mitgebracht hatten; ich schlürfte beim Gedanken an samthäutige Pfirsiche, fest und doch saftig, an kühle Milch und goldenen Honig von der Insel Levkas.
Am Scheitelpunkt der Steilwand gab es eine kleine Grotte im Fels, die angeblich dem ganzen Dorf seinen Namen gegeben hatte: Kouphala – Höhlung. Ich pflegte ein paar Sachen darin zu lagern, einen Veteranen von Sportbeutel, der Kleidungsstücke und Handtücher hütete; eine Schachtel Kerzen, ein Bündel Fackeln, einen Haufen Feuerholz, Feuerzeuge; eine Taschenlampe und einen Helm mit einer Art Grubenlampe; einen aufgerissenen Sechserpack Gebirgsquellwasser in vom Transport ramponierten Plastikflaschen zu anderthalb Liter. Ein Paar Clogs, eine Schirmmütze. Keine Bücher; hier las ich nie.
Bei Hitzewellen übernachtete ich hier unten, und dann liebte ich es, als letztes vor der Reise in den Schlaf die Lichter eines weit dahinten vorbeiziehenden Schiffs zu betrachten, zu beobachten, wie unter der kosmischen Zeitlupe ein Trauerschleier über den Großen Wagen wehte, oder den charismatischen Sichelmond anzubeten, der aussah wie das gedrehte, leuchtende Spiegelbild des Strandes. Deshalb hatte ich meine Bettstatt außerhalb der Grotte eingerichtet: eine Isoliermatte, ein Laken, eine bezogene Wolldecke und ein heugefüllter Leinensack. Zu Anfang meiner Zeit am Ionischen Meer hatte ich ein federgefülltes Kissen verwendet, doch eines Tages empfand ich es plötzlich als obszön, am Strand in ein Federkissen zu atmen.