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Der erste Band von Frank Schulz' Hagener Trilogie Vier Freunde treffen sich turnusmäßig in einer Hamburger Kneipe zum Skat – einer davon ist unser Held Kolk. Dem Postboten widerfährt eines Tages, wovon jeder Postbote träumt, der gern zweimal klingelt: Eine blonde Traumfrau lädt ihn zum Verweilen ein. Ist nicht länger nur das Pils Kolks blonde Braut? Die Freunde der Becherrunde staunen – und einer wundert sich … »Schulz zählt zu den genauesten, unterhaltsamsten, wortgewaltigsten Autoren des Landes.« Stern
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Seitenzahl: 353
Frank Schulz
Hagener Trilogie I
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Frank Schulz
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Hinweise zum Text
Widmung
0. Guter Vorsatz
1. Die Symmetrie der Kronkorken
2. Titties and Beer
3. Kneipenpiranhas
4. Dreimal schwarzer Kater
5. Magenbitter
6. Rote Rosen, rote Lippen, roter Sekt
7. Zwischen Koma und Amok
8. Rausch der Gegenwart
9. Ausgenüchtert, eingeschüchtert
0. Üble Nachrede
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Hajo, Jürgen, Andreas und Fieten gewidmet
Inhaltsverzeichnis
Strapse! Schwarze Strapse!!
Sein Blick zuckte beinah blitzlichtschnell wieder zurück auf den blaßgescheckten Fliesenboden. Eine dumpfe Schmerzdrohung des Nackenmuskels ließ ihn innehalten. Dann strich sich Kolk entschlossen über die noch regenfeuchte Stirn, stabilisierte seine Hocke mit einem ungelenken Hinternhüpfer auf der anderen Ferse und fuhr vorsichtig fort, weitere Briefe zusammenzufingern, die ihm aus der umgekippten Ledertasche gerutscht waren. Stieß die Kanten der Kuverts zehnmal, und zweimal zusätzlich, und sicherheitshalber nochmal auf die kühlen Bodenfliesen. Der Arterienlärm in seinen Gehörröhren schwoll auf und ab …
Nichts. Sie tat gar nichts.
Weshalb hatte er nicht gehört, wie die Tür geöffnet wurde? Wohl wegen des enormen Blutdrucks, den – besonders in dieser Haltung – der hundsgemeine Vormittagskater ausübte. Bloß dieses laszive Hacken-Klackklack hallte noch von den kahlen Wänden des Sexualzentrums seines dunstigen Hirns wider.
Kolk stopfte den papiernen Postkeil zurück in die Tasche, fummelte an einem gesonderten Umschlag herum und wartete, nestelte hier, stopfte und rüttelte dort.
Nichts.
Nur ein wohnungstürgedämpftes Staubsaugerbrummen von weiter oben, wahrscheinlich aus dem ersten Stock.
Aber sie stand da in seinem Nackenrückraum, eine einzige Sekunde hatte ihm das Bild auf die Netzhäute gebrannt: tiefschwarze Lackpumps, mit stilettförmigen Absätzen. Zwei schmale Riemchen über den Spann geschnallt. Die straffen und dann in bauchigen Kurven aufstrebenden Formen hauchdünnschwarz verhüllter Waden. Wohlgestaltete Wölbungen zweier Knie, woran sich das feinsinnliche Gewebe schmiegt wie ein kunstvoll strukturierter Farbauftrag. Und schließlich wachsen unter jener befremdlich vertraulichen, synthetisch dunklen Zweithaut zwei Schenkel empor – und auf halbem Weg plötzlich dieser zutiefst private Beginn der noch dunkleren schmalzylindrischen Nylonzone, die das Ende der Bestrumpftheit verkündigt. Aufreizend nachthaftes Niemandsland bis an die wie gebördelten Säume, von silbrig blinkenden Häkchen über warzkleinen Knöpfen zu Golden-Gate-ähnlichen Spitzwinkeln gerafft, von wo aus endlich samtschwarz gerüschte Bänder parallele Scheitellinien über nunmehr nackte kräftige Oberschenkel ziehen, die mattseidig schimmern. Honigfarben. Zart. Verschwenderisch geschwungen die Bögen, immer runder schwerer üppiger das Fleisch unter der Weichhaut – bis dorthinaus, wo sich der pulsierende Biesenwurf eines schwarzen Dessousröckchens senkt und nur knapp das verwunschene, struppige kleine Nest verbirgt. Ein stoffliches Knistern kitzelt die Membranen des Mittelohrs. Und mit einem herben Luftzug weht in seichten Wellen eine organische Duftbrise herüber, welche Schmeck- und Riechpapillen wie eine aphrodisische Prise bestäuben …
Als ihm eine Gänsehaut wuchs, drehte Kolk den Kopf in den Nacken, die schwere Tasche unter dem Arm. Langsam erhob er sich aus der Hocke – unbeabsichtigt langsam, da ein Stich in der Hüfte ihn zwang, den gescheiterten Aufsprungschwung, der Überraschung vortäuschen sollte, durch Beinmuskelkraft zu kaschieren. »Ein äh ein ein Einschreibm«, nuschelte er.
Blond. Langes gewelltes Haar um ein makelloses Gesicht mit vollen Wangen und Stubsnase. Am Ohrläppchen hängt eine bunte Feder. Lange dunkle Wimpern, die wie Fächer eines fremden Lilliputplaneten auf- und niederwedeln. Grüne Augen. Kinngrübchen. Schlanker, kräftiger Hals. Ein goldener Kreuzanhänger an dünner Kette bildet in kleinem Maßstab die Form eines halbverschütteten, sanften Reliefs nach, von dem nur die Schlüsselbeinflügel noch zu sehen sind. Fester, runder Busen mit schattiger Schlucht. Volle Schultern, über deren Kuppen rutschende Spaghettiträger. Vollblutrote, feuchte Lippen öffnen sich. »Du, ich hahb n guhdgekültiß Bier im Kühlschrang, kühl«, blinzelte sie und lächelte. Sie hatte spitze Eckzähnchen.
Kolk traute seinen Augen nicht. Aber seinen Wünschen.
Uff. Da haben wir’s wieder. Werd einfach nicht klug. In meinem hohen Alter noch nichts weiter im Kopf als Saufen, Sex und Schwank. Eigentlich sollte ich mich schämen.
Wenn man nur seinen Wünschen traut … Ja nu, insgesamt gesehen, bin ich vielleicht bloß deshalb doch noch so alt geworden. Fünfundvierzig immerhin, fast. Zwar geht’s mir nicht gut, aber dabeisein ist alles, oder? Gar nicht gut geht’s mir. Im Grund genommen geradezu schlecht, besonders bei diesem Wetter. Hab wieder das Gefühl, als ob mir jemand Luft zwischen Hirnnuß und Schädelschale pumpt, bis zur scheinbaren Prallheit, perfid kurze Zeit wartet und weiterpumpt. Pump, pump, pump … Pump, pump, pump … Auch das geht nun schon jahrelang so, seit dieser Hyperfete Anno Neunzehnhundertkommnichtdrauf … egal. Jedenfalls hab ich mir, wenn’s wieder mal meinen Schädel aufbläst, angewöhnt, die Schuld daran einem Schlagersänger, Feuilletonisten oder Politiker in die Schuhe zu schieben. Oder auch mal einem Nachbarn. Je nachdem. Nicht ganz sauber, nicht ganz fair, lindert aber für ’n Weilchen. Das Leben ist schließlich auch nur ein Spiel.
Dennoch, wir Frührentner sind ein zähfideles Völkchen. Wir verstehen zu leben. Savoir-vivre, eh? Der Whiskey hier, Weihnachtsgeschenk von Heiner – »Mithh den besten Wünschen für 2002!« –, schmeckt exorbitant. Damit kann ich selig-sutje ins neue Jahr und selbiges mir den Buckel runterrutschen. Prosit, Zweitausendzwei! Schluck. Day is grey – the night is Black & White. Manche Sprüche vergißt man auch nach zehn Jahren noch nicht. Bin ein kulturbewußter Rentner. Savoir-vivre, eh?
Zweitausendzwei?!? Satschesatsche, fällt mir grad ein, fuhr mal einen schon damals ziemlich alten, eierfarbenen BMW 2002 TI. Der war so geräumig, daß … ach, egal. Jedenfalls ist das so scheißlange her, da trug er noch die Haare über die Ohren.
Wann fing es eigentlich an, daß wir aufhörten, Silvester gemeinsam zu planen? Muß auch schon länger her sein. Darf man gar nicht drüber nachdenken, wie lange.
Was zeigt die Uhr? 21.57. Jetzt tanzt Kolk wahrscheinlich schon nach irgendwelchen Shanties, mit Manu, bei Hinni auf’m Saal, Satschesatsche ist mit Mara und den Kindern sonstwohin – nach Mecklenburg, glaub ich –, und Heiner hat seine inzwischen wohl fünfzigste Gespielin nach Amrum entführt, um dieser barbarischen Silvesterballerei zu entgehen, Weiserweise. Nur ich Hammel hocke hier. Und der Whiskey.
Wo ist der denn eigentlich abgeblieben? Hallo! Whiskey! Hierher! Whiskey! Kommst du mal hierher!?! So ist’s brav. Ah.
So. Heizlüfter wieder an, Füße aufs Fensterbrett. So.
Diese Latschen, oder Puschen, sagen wir Hausschuhe, trag ich übrigens bestimmt schon, na, fuffzehn Jahre. Gut gehalten. Sehen vertraut aus, wie sie da auf meinen gekreuzten Quanten wie Hasenlöffel wackeln. Und sich in den dunklen Scheiben spiegeln. Wie die beiden Lampen. Und das Bücherbord. Und die alte IBM. Ich nicht, ich sitz im toten Winkel.
Was ist lauter, der unsichtbar schnürende Regen oder das Gelärm von drüben? Beides jedenfalls überlagert das scheinbare Summen des glasigen, leicht verzerrten Bilds meines eigenen Zimmers, gespiegelt in den alten verzogenen Fensterscheiben. Das Summen kommt in Wahrheit vom Heizlüfter (und aus meinem geplagten Kopf), und der Regen von ziemlich weit oben, wo eine Art Oberflächenspannung geplatzt zu sein scheint. Und das musikübermalte Labergelächter rührt von drüben, von der anderen Seite des düster triefenden Innenhofs, strömt aus drei Fenstern, heute als einzige in der neo-so-und-so-istischen fünfstöckigen Fassade hell erleuchtet – riesige Panoramafenster, mit der protzigen Balkonterrasse davor, wo nachmittags noch dieser dicke dumme Lümmel in seinem SHIMMER-SHIRT ganze Containerladungen von Böllern abschoß –, in der dritten Etage, fast auf gleicher Höhe mit mir, obwohl ich im vierten Stock wohne. Nur hängt bei uns die Decke niedriger. Dies ist ein altes Arbeiterhaus, von 1905.
Mal ähnelt der Anblick der spiegelnden Scheiben einer Doppelbelichtung – die drei Fenster, vollgestellt mit grünen Pflanzen (dahinter schwarzgekleidetes Schickvolk, dahinter weiße Wände – Black & White, ha!), und darübergeblendet meine Bücher (jedes einzelne so groß wie einer der Typen da drüben), meine beiden Lampen, meine IBM und meine Hasenlöffellatschen. Mal so, Doppelbelichtung; und dann wieder scheint mein Zimmer holographisch im Dunkel hinter der Scheibe zu schweben, spiegelverkehrt, aber reale zwanzig Meter von den drei hellerleuchteten Fenstern mit den grünen Pflanzen, schwarzen Klamotten und weißen Wänden entfernt. Mal so, mal so. Je nach Pupillenzoom.
Es regnet. Und regnet. Und lärmt. Gegen den graubraunen Himmel geistern ein paar windgeschüttelte verzweigte Schattenrisse vom kahlen Gewirr der Ahornkrone.
Whiskey! Bei Fuß!
»Trinken« und »Trost«. Fangen so ähnlich an und hören so verschieden auf. Ich frage mich Verschiedenes, und es läuft immer auf Ähnliches raus. Was soll das alles, frag ich mich dann und antworte: Was soll’s. Frag mich mal, und ich sag dir: Frag mich nicht.
Mit wem red ich eigentlich. Mit meinen Puschen? Ha, sieht wirklich so aus, als ob sie zuhörten, indem sie wie Hasenlöffel wackeln, im Pumprhythmus dieses Jemands. Seit heut nachmittag ist es übrigens diese dicke dumme pubertätsverpickelte Knallcharge vom Balkon drüben, die ich für meine Kopfschmerzen verantwortlich zu machen geruhe. Mein Gott, ist das schön, solche Leute von ganzem Herzen zu verachten – und gleichzeitig handfeste Schuldzuweisungen vorzunehmen. Das ist nämlich der eigentliche Clou an der Sache. Schmerzstillend ist das.
Komm zu mir, Whiskey, Schätzchen, ich bin noch nicht ganz bei Trost. Whiiiskey! Whiskey? Ah, da. Komm ruhig näher. Kuscheln wir ’n bißchen, aber ganz vorsichtig, ihr rotbrünetten Bräute geht doch mitunter ’n bißchen zu scharf ran an so’n alten Freier wie mich, hehehe … Aber nur zu, wenn wir was gelernt haben, so ist es Drogen trinken, nein? Muß also vorher was essen: Die beiden schlappen Würstchen vom Sieger des ANUGA-Flönz-Cups (von 1988 schon, ausgerechnet, außerdem leider in der Disziplin Thüringer Blutwurst), Heino Bäcker (der heißt wirklich so), reichen vermutlich kaum. Die Dose Bleifisch? Bäh. Egal, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, wie ein gewisser G. Wendehals † alias Großer Blöder Vollidiot vor gut und gern so-und-so-viel Jahren einem Haufen durchgeknallter Karnevalsdeppen vorzuwinseln sich erdreistete … Das hat er nun davon. Aber wem sag ich das.
Den schwarzen Klamotten da drüben sicherlich nicht. Würden mir auch gar nicht zuhören. Da stehen sie. Niemand kann derart virtuos stehen. Die größten Steher des Jahrtausends. Eine Stehung jagt die nächste. Nur faseln können sie vermutlich noch besser. Von ihren dollen Datschen wahrscheinlich; Genies der Idiotie, ich schwör’s. Oder auch von der reichlichen Versicherungsknete, die sie für ihre Amischlitten – grad wieder groß im Kommen – abkassiert haben. Mindestens drei davon hab ich vergangene Woche drüben, auf der anderen Seite, gesehen, von den letzten Bäumen der Willy-Brandt-Allee geknifft wie Omas Sofakissen. Am Montag war der Sturm vorerst vorbei. Seither regnet es.
O ja, sie, die Verdienenden, drüben, wo ziemlich genau »die Grenze zwischen Ottensen und Ottensen« – wie ausgerechnet die BILD-Zeitung nach den Weihnachtsunruhen schmissig zu texten sich offenbar gezwungen sah –, sie vertreiben die Bösen Geister des alten Jahres. PAFF! PAFF! Hinaus damit, jawoll! Nur zu! Jetzt fangen sie schon an zu johlen. Wie spät ist es denn – noch keine 21.59, ihr Affen. Übertönen gar noch die Bässe ihres QV-Cockpits. Sie feiern. Was denn überhaupt. Den Untergang des Abendlandes, oder was.
Whissie, Darling, mach mich ein bißchen feucht von innen. Jawoll, schockartig. Brennend, beißend. Da hilft nur noch Gegenfeuer.
Die sind wirklich so was von … Mannmannmann, guckt sie euch an. Hört mal auf zu wackeln. Guckt sie euch an, Puschen. Ich weiß nicht mal, woher Briketts für diesen Winter nehmen – die HEW warten mit der Stromrechnung wenigstens bis September – und die entkorken da eine Pulle Schampus nach der anderen.
Guckt euch das an, der fallen da gleich die Titten raus. Unglaubliche Unverfrorenheit. Da will ich doch gleich mal mein Fernglas … Ach, fickt euch doch selbst ins Knie …
Schluck.
Neenee … Nee, diese Sache mit Kolk und dieser Sabrina und so, das war schon n echtes Ding, beinah ne Art moderner Heimatschwank – falsch: Heimatlosigkeitsschwank, ne Schnurre, ne Säufernovelle –, jedenfalls eins von dem, das wir immer wieder mit reichlich Süffisanz aufs Tapet brachten und unser Dasein und Dagewesensein beglaubigen soll. Große Worte. Ha.
Wenn mich nicht alles täuscht – was allerdings offengesagt in letzter Zeit ziemlich häufig vorkommt –, gibt’s für solche Legenden sogar nen soziologischen Ausdruck. Ist das nicht schön?
Schluck. Ach Whiskey, ich dich auch …
Nee, als er Sabrina damals diese Postkarte mit dem nackten steifen Schwanz drauf zustellen mußte … Also, so ne Art Fotografie war das, nein, es war eine Fotografie, vielleicht zehn mal fünfzehn Zentimeter groß, schwarz-weiß, das glatte Fotopapier wellte sich schon, mit einem steil aufgerichteten Schwanz als Motiv, wie ein knorriger Ast mit dicken Adern, mit gespaltener Kuppe am Ende, gekräuseltem Schamhaar drum herum, fussligem Hautsäckchen mit eierförmigen Hoden undsoweiter, naja, man weiß ja wie sowas aussieht. Jedenfalls adressiert an eine gewisse Sabrina Kommnichtdrauf (– gut, was? Sabrina Kommnichtdrauf, ha!), da muß wohl die Phantasie mit dem guten alten Kolk durchgegangen sein. Von sowas spintisierten sie ja alle. Strapse! Schwarze Strapse! Tiefschwarze Lackpumps, hauchdünnschwarz verhülltes Fleisch etc. etc. Zumal der – vorerst – unbekannte Absender was von dein weißer Schleim, dein Stöhnen und Schrein … Mach mir auf in deinen schwarzen Strapsen … (da haben wir’s wieder: Black & White) geschrieben hatte. Mieser Stil, klar. Unreine Reime, dreimal »dein« und so. Trotzdem kein Wunder, daß Kolki außer solchen und ähnlichen Karten gern mal ein Einschreiben hatte zustellen wollen, um der Empfängerin die persönliche Unterschrift nicht nur abfordern zu dürfen, sondern von Amts wegen gar regelrecht zu müssen, Und dann …
Schlürpf …
Whiskey! Ins Glas! Nicht in die Zigarrenkiste (Weihnachtsgeschenk von Satsche)! O Mann … Na, der Schädel läßt langsam Luft ab. Hurra.
Nee, davon haben sie alle phantasiert. Bei Lütt un Lütt in einer der bevorzugten Eckkneipen, in der Kantine, beim Postsortieren morgens um sechs, von Mann zu Mann beim Auspuffwechseln … Auch wenn die altgedienten Zusteller spöttisch abwinkten, bestenfalls solidarisch-schelmisch wider besseres Wissen »Woiß beschoid?« grienten, sobald wieder mal jemand davon anfing, hielten sich manche dieser Legenden hartnäckig. »Echd Alder. Die Tühr gehd auf und sie schdehd da … Mann, Mann, Mann …« Selbst Satschesatsche erzählte hin und wieder die eine oder andere Schote – allerdings ehrlicherweise aus zweiter Hand.
Wie war doch gleich der soziologische Ausdruck dafür …?
Komm einfach nicht drauf. Einer der begnadetsten Phantasten jedenfalls war übrigens Rudi, der Arsch, wie sich zu besonderer Gelegenheit herausgestellt, obwohl er nie Briefträger gewesen war, sondern gerade mal ein paar Monate beim sogenannten Langholzverteilen ausgeholfen hatte. Rudi, der Arsch … Tja.
Tja, war n echtes Ding. Kommt, Puschen, auf euer Wohl. Wir machen jetzt mal Puschenprosa. Satschesatsche würde wahrscheinlich sagen, »Haß kein Frisöhr dehm daß erzehln kannß?« Nee, hab ich nicht. Brauch ich auch nicht mehr. »Ohda ne Puddßfrau?« hätte er früher vielleicht alsdann gescherzt, kann’s sich heutzutage aber auch nicht mehr erlauben.
So war das damals. Kolk lag womöglich im Bett und zimmerte sich aus biologischen Gründen diese Phantasieszene zurecht, war just beim verwunschenen struppigen kleinen Nest zugange – und da klingelte das Telefon. Das konnte nur einer sein. Kolk wälzte sich zur Seite, hob den Hörer ab, und Satschesatsche brüllte ihm ins Ohr:
»Haß geknaggd ohda waß! Alda? Alda, iß doch scheiße äy hier rumzuknaggknnn!! Du brauchß Geschlechdßfakehr!! Junge Alda, soll ich dir n Fuffi pummbm? Määänsch Kolki, alta Kubbfa’schdecha! Schön ein blahsn lassn? Wa? Aw[1]geil Alda. So richdich schön ein luddschn lassn. Wa? Wa?? Aw Mann Junge kommehr, ich leih dir n Fuffi, echdjeddß, ich leih dir n Fuffi und du –«
Kolk grinste und rieb sich die dicken Augenlider. Brummte was in die Muschel und zog die Bettdecke höher. Satsche verstand ihn nicht. »Wa? Wadd iß? Wa? Wa?? WAAA???«
»Ich sach iß ja eisch äy. Leihß mir n Fuffi, echd?«
»Klaaah! Klahdoch Alda! Kennß mich doch! Ich leih dir n Fuffi und denn läßdu dir aba so richdich schöhn …«
Aber Kolk war nur einmal dem maroden Charme eines muffigen Puffs erlegen. »Nie wieda«, winkte er ab. »Wiesohdn?« hatte ich ihn mal gefragt. »Die sind mir zu fasaud«, hatte er gegrinst. Kolk ist Romantiker.
So war das damals. Er hielt gerade sein Mittagsschläfchen nach dem Dienst. Und Satschesatsche weckte ihn, denn es war schon achtzehn Uhr durch. Satsche wußte, wann er ausgeschlafen haben müßte. Er wollte die Bestätigung des Skattermins einholen. Vielleicht würde Heiner noch anrufen – »Hadd Wehdl die blöde Sau schohn angeruhfm?« fragte Satschesatsche, und in der Betonung bereits blühte die unverbrüchliche Freude darauf, einen zu dreschen –, und dann würde Kolk noch Bodo anrufen, und sie könnten am Sonnabendabend einen anständigen Skat dreschen. In der »Glucke« natürlich.
Bodo bin ich. Bodo Morten.
Skatdreschen, die dichtgestaffelten Karten eine nach der anderen auf den Tisch geknallt –: »Und den, und den, und den – und den zuletzthh!«
»Dadd kann meine Oma auch, Wehdl du Wiggßa!«
Und Heiner ungerührt : »Mithh dreien, Schpiel vier, Schneider fünffff …«
Immer wieder qualmverhangene Kneipen. Die »Boile«, die »Glucke«, die »Bürste«, das »Reybach«, Oft genug zum Ausgang getorkelt, und draußen Satsches verzweifeltes Stöhnen, während er an einen Baum pinkelte : »Daß mann auch dauand ühba Weiba rehdn muß!«
Und natürlich: Rudi, der Arsch. Rudi-der-Arsch. Rudi Mentzen, das Rudiment. Ruuudi, der alte Quatschkopp. »Schüüüüßdaw«, hätte er das kommentiert, »manche brauchn echdn Waffmschein daw. Hh!«
Gesoffen, und geredet. Hauptsächlich gesoffen. Aber auch geredet, geredet, geredet.
»Höa auf äy, ich kannß echdnich mehr höan.«
»Yaw. Iß doch imma derselbe Scheiß.«
»Waß giebß nich alleß für ne Scheiße äy, dadd bringd doch niggß da jehdeßma wieda –«
»Ja lohß, fang an.«
»Womidd.«
»Aufzehln.«
»Na imma derselbe Scheiß ehbm. Ehdß zum Beischbiel. Zu’alla’ehrßd.«
»Yaw. Und die gannße Umweldkagge.«
»Ohzohnloch.«
»Daß gehöhrd zuhr Umweldkagge du Dobbl’ihdjohd.«
»Nein nein, da gebe ich Alfred rechthh. Das muß man differenzieren.«
»Halldß Maul Wehdl.«
»Na’a Ossdn. Die Haddschibullahß un so.«
»Atohmkriech. Imma noch. Atohmkraffdwergke imma noch.«
»Der Mobb! Huhligännß, Neonahzieß un dadd gannße Krobbzeuchß.«
»Ehdß.«
»Hatten wir schon.«
»Halldß Maul Wehdl. Dadd zehld füa zwei.«
Sie einigten sich auf zwölf. Seither, wenn einer auf einen Spiegelartikel, einen Reportbeitrag, eine Sterngeschichte zu sprechen kam – einer blieb immer stumm dabei, winkte irgendwann ab und sagte: »Die zwölf Bedroh’ungn«, und damit hatte sich’s vorerst (Satschesatsche bevorzugte allerdings die poetische Abweichung »Planehdtnpiß«). Heiner und Satsche schmeckte das Bier nicht mehr (wenn Heiner mal eins trank), Kolk und Bodo um so besser.
Das war die Zeit, in der sich die Geschichte ereignete, die ich euch jetzt erzähle, liebe Puschen. Man könnte sie »Säufernovelle« nennen. Oder »Das Geheimnis um Alfred Kolks fast taubes linkes Ohr«. Oder »Im Schatten der zwölf Bedrohungen«. Oder »Das Gift der blonden Braut«. Oder so.
Moment, ich schenk mir noch ’nen Whiskey ein, und dann erzähl ich euch die Säufernovelle um Kolks fast taubes linkes Ohr, das er dem Gift der blonden Braut verdankt. Ich weiß nicht warum. Mir liegt daran, sagen wir mal. Ich erzähl sie euch einfach. Und zwar so, wie sie wirklich war. Es ist Zeit für gute Vorsätze. Und es wird eh die ganze Nacht lang regnen.
So. Noch ein bißchen die Pumpe des dummen kleinen Dussels ölen, und los. So.
Inhaltsverzeichnis
Wer kennt jenes Gefühl, das plötzlich im Zwerchfell kitzelt, wenn man gewahr wird, weshalb jemand, den man lange kennt, sich wieder mal so und nicht anders verhält? Obwohl einem genau dieses gewisse Benehmen oft genug auf die Nerven ging? Ein köstliches Gefühl, dem ich am liebsten durch verknalltes Kichern Ausdruck verleihe …
Ich sollte es jedenfalls wieder einmal haben, lange nachdem Kolk, und zwar mit Manuela, in unser heimatliches Nest auf der Geest zurückgekehrt war und bereits ein Gör nach dem anderen verursacht hatte. Es war letztes Jahr im Mai gewesen, einem dieser schwülen, verregneten Frühsommer, wie sie in fast jedem der letzten Jahre vorgekommen waren. Ich hatte mir einen Wagen geborgt und fuhr – die Autobahn boykottierte ich – gemächlich durchs Alte Land, das immer noch von den Schäden der schlimmen Januarflut gezeichnet war, schließlich durchs Dollerner Moor, und ab hier begann ich, wie üblich, ruhiger zu atmen. Das liegt an den gelbleuchtenden Rapsfeldern, über die man weit hinweg blicken kann. Am Mischwald auf der Südwestseite, einem der wenigen, die noch alte Buchen haben – und Tannen, die ihre grünen Röcke heben –, mit einer lichten Höhe von mehr als fünf, sechs Metern. Und an den ehemaligen Kuhweiden, die sich zwei, drei Kilometer später bis an den Beeck hinunter in die Dämmerung erstrecken, wo sie von Knicks, Büschen, niedrigen Birken und verrottenden Zaunpfählen gesäumt werden.
Wenn der Steinbeck durchquert ist und die Hauptchaussee hinter mir liegt, seufze ich meistens. Dann beginnt die etwa tausend Meter lange Gerade auf unser Nest zu. Äcker und Feld, im Norden Weiden mit Knicks. Dahinter, im Schatten der Senke, die riesenhaften knorrigen Eichen, die im Paradies von früher stehen, wo sich der Mittellauf des Beeck hindurchschlängelt, über Steine plätschert, unter höheren Böschungen gurgelt, wo damals noch Kühe soffen. Dann kommt die erste Siedlung, vom Grün versteckt, dann große alte Bauernhäuser, mein Geburtshaus am Bahnübergang. Der Spritzenplatz mit Kühlhaus, die grüne Scheune.
Eine Minute später war ich bei Kolk.
Kolk und Manuela bewohnten ein Einfamilienhaus im »Hypothekenviertel«, das es damals noch gar nicht gab, als wir beide uns vor über dreißig Jahren beim Wettbewerb, wer nach einem Lungendurchschuß am besten sterben kann, kennenlernten. Hier, wo jetzt die »Brandenburger Straße« gut drei Dutzend Häusern Anschluß bot, war früher nichts als Kartoffelacker gewesen; nun Wohnhäuser, bis an den Bahndamm.
Manuela und Kolk wohnten in einem gemütlichen Haus mit ein paar Zimmern, zwei Terrassen und einer Garage (»Kahpord« nannte sie Kolk stolz). Anfang der neunziger Jahre hatte er es in Eigenarbeit und mit Nachbarschaftshilfe gebaut – sowie der Unterstützung des Staates, der damals mal wieder für junge Familien alle möglichen Prämien, Gratifikationen und zinsgünstige Kredite zu vergeben hatte. (Seitdem fragte mich Heiner, wenn er sich nach Kolk erkundigen wollte, jeweils nach »Kleiner Biber«. »Waßßßß, machthhh, kleiner Biber?« – Kleiner Biber, weil, wie Heiner zu sagen pflegte, Kolk sein Haus »mithh dem Schwanthhßßßß« gebaut habe.[2]). Ein Rasen mit einigen Blumenrabatten am Rand zog sich bis an den ginster- und buschbewachsenen Bahndamm, genau dort, wo wir als Jungs »Kauboi un Ihnjahna« gespielt hatten. Das Haus hatte weiße Sprossenfenster und eine grüne Holztür mit massivem Messingschild, das Satschesatsche und ich ihm zum Richtfest geschenkt hatten.
Ich war abends gegen acht angekommen. Jetzt saßen wir in der Küche. Alle Türen sperrangelweit offen, aber die Luft stand. Die beiden jüngsten Kolks alberten mit ihrem Erzeuger herum. Die drei älteren – so meldete Manu – verwüsteten gerade das Kinderzimmer. Wir schwiegen meistens und lauschten dem kindlichen Lärm.
Mit Kolk und Manu zu schweigen, ist angenehm. Wir tauschten nur hin und wieder ein paar Neuigkeiten aus, im Grunde belanglose, und amüsierten uns über Joe, den Cocker, und die Lütten, die rüpelhaft mit ihm umhertobten, sein Fell zausten, ihn an den langen, flusigen Ohren zogen und am buschigen Schweif festhielten, rapsblond wie sie waren, dreckig von oben bis unten, in Erwartung der drohenden Nachtruhe betont charmant –, und schlürften unsere heißen Getränke (Kolk und Manu ihren steifen schwarzen Kaffee, ich Tee).
Und irgendwann kam’s dann.
»Pabbaaa?«
»Wadd iß.«
»Warum höaß du auf eim Ohr schläääächd?«
»Wadd iß?«
Die Beharrlichkeit, mit der Kolk die Frage seiner Sprößlinge abbügelte, entsprach der Verstocktheit, auf die Manuela stieß, wenn sie dieselbe Auskunft zu erhalten begehrte, indem sie ihm ins unter immer noch verhältnismäßig langen, wenn auch angegrauten blonden Haaren verborgene rechte Hundert-Prozent-Ohr flüsterte : »Sach doch ma Alfrehd du Ahsch. Wohehr kommd daß.«
Ein schätzungsweise 125-Dezibel-Schalltrauma ließ ihn nur noch mittlere Frequenzen wahrnehmen – und ziemlich enervierende Ohrgeräusche, »Summ’m, Brumm’m, Feifm und Piebpm«, wie Kolk präzisierte.
Manu hat mir seine Antwort mal erzählt: »Knallschahdn, vom Bunndt«, habe er geantwortet.
Das wüßte ich aber.
Knallschaden! Ich kenne ihn länger als Manu, und ich wußte genau, daß er nach seiner Entlassung aus dem »Wehrdienst« an nichts dergleichen zu leiden hatte: Die Schießübungen, die »Bundeswehr« überhaupt, hatten ihm zwar alle möglichen Schäden zugefügt – einen »Knallschaden« jedoch gewiß nicht. Wir haben uns schon gekannt, da nuckelten wir noch Cola durch Strohhalme. Und außerdem hatte er mir seine Version der Geschichte um sein fast taubes linkes Ohr vor ziemlich genau einem Dutzend Jahre erzählt, an diesem denkwürdigen Abend in der »Boile« nämlich.
Wie dem auch sei: Ich mußte also vor mich hin gnickern, als die beiden kleinen Weizenköppe kurz vorm Schlafengehn auf Kolks handballgroßen Knien rumturnten und quengelten, und Kolk sich zwecks routinierter Kinderabwehr taub stellte.
Grundsätzlich war das kein ungewöhnlicher Zug von ihm. Tausendmal, insbesondere in unserer langen, zu langen Sturm- und Drangzeit, hatte er mich mit hinhaltenden, ausweichenden Antworten oder gar nonchalantem Schweigen auf unbequeme (meinethalben auch dumme) Fragen bis zum Weltschmerz gereizt. Oder er setzte sein Liegt-nicht-in-meinem-Zuständigkeitsbereich-Gesicht auf. Dann schimpfte ich ihn zumeist – wahrheitsgemäß, übrigens – einen »Be’amdtn«. Es handelte sich um eine Mischung aus Stolz und Trotz, die er an den Tag legte, sozusagen eine Art »Strotz«.
In Fällen wie diesen allerdings, an denen ich nur als Außenstehender beteiligt war, störte es mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, jener angenehme Zwerchfellkitzel stellte sich ein.
Als Kolk merkte, wie und worüber – dafür kannten wir uns gut genug – ich mich amüsierte, grinste er. Kurz darauf gab er Heinz (Heinz!) und Herta (Herta!!) je einen Klaps auf die nackten Hintern und nuschelte: »Sow. Ab jeddß.« Über das Protestgemaunze hinweg, immer noch grinsend, sah er mich an. Ich wußte, was jetzt kommen würde.
»N Bier?«
Das würde noch mal auf seinem Grabstein stehen, gottweißdas. Allerdings mit Ausrufezeichen.
Manuela griff sich die beiden Gören und verbrachte sie ins Bett, indem sie je eines dieser quietschenden und quakenden Miniaturmonster am Arm packte und die Treppe hinaufzog, Stufe für Stufe, zum Vergnügen der beiden, das freilich kurz vorm oberen Absatz panischem Gewimmer wich. »Neeeee …«
»Nich Heia Mamaaaa …«
Kolk und ich wanderten in unausgesprochener Übereinstimmung in die Stube. Joe Cocker[3] folgte uns hechelnd und ließ sich mit einem kleinen Lärm unter den Tisch fallen. Endlich konnte ich mir eine Zigarre anzünden; Kolk schlurfte zurück in die Küche, nachdem er die Terrassentür weit geöffnet und seine Filterzigaretten auf dem flachen Tisch abgelegt hatte. Die Eisschranktür klappte, es klickerte gläsern; dann klingelten zwei dünnwandige Gläser, und kurz darauf latschte er, immer noch grinsend, auf Puschen wieder ins Wohnzimmer, in den riesigen Pfoten je eine kühl beschlagene schlanke Flasche Warsteiner nebst einem seiner konkaven Lieblingsgläser. Er stellte sie vor mich hin, schlenderte an die Hausbar, kam mit einem Flaschenöffner und vier Filzdeckeln – Untersetzer fand er »schbießich« – zurück und ordnete das Getränkeensemble bedächtig zu einer gefälligen Geometrie. Dann drehte er die Gläser mit den Aufdrucken wie auch die Flaschen mit den Etiketten frontal zum Betrachter. Als er sich schnaufend in den Sessel fallen ließ, beschrieb sein bronzefarbener Schnauzer mit den aschigen Enden, immer noch den geraden, buschigen Haarbalken unter seinem gewaltigen Fleischzinken; er grinste und grinste. »Tscha Bodo, so iß dadd«, nuschelte er.
»Ow Mann«, brummte ich und zog an meiner Zigarre.
Kolk beugte sich stöhnend vor und wuppte zum zigsten Mal in seinem Leben per Öffner Kronkorken von Bierflaschen, nahm das leise puffende Zischen mit grunzender Genugtuung entgegen und schenkte sich schließlich ein. Ich mir auch. Während der schneeweiße Schaum senkrecht über den Glasrand hinaus aufschnellte, ohne daß auch nur ein Flöckchen überlief, um schließlich unendlich wohltuend langsam und knisternd in sich zusammenzufallen, bis ein genau dosierter Nachguß aus der jetzt feuchter perlenden Flasche eine bildschöne Krone aufs goldfarbige Getränk zauberte –, währenddessen steckte sich Kolk eine leichte Zigarette an und schob die beiden Kronkorken hin und her. Wenn er eine Hand brauchte, um an seiner Zigarette zu saugen, ließ er die Deckel millimetergenau bündig nebeneinander liegen, in einer Flucht mit Bierfilz eins, Bierfilz zwei, Zigarettenschachtel und gleichfarbigem Feuerzeug.
Anschließend hob er vorsichtig das Bierglas an, hielt kurz inne, um mich anzublicken, und goß das glitzernde Elixier alsdann unter Schaum und Schnauzer hindurch in seine Kehle, und wie weißgott so viele Male hüpfte sein Adamsapfel zweimal stärker, einmal schwächer, bis Kolk ächzend das Glas absetzte. Anderthalb Zentimeter Bierpegel verblieben – wie gottweiß wie oft. Er wischte sich die Schaumflocken aus dem Bart, grinste und murmelte eine Oktave tiefer: »Genau so. Jawoll.« Dann zog er an seiner Zigarette, die leise rauschte, und sagte: »Und? Wadd machd Hambuich?«
Ich meinte zu wissen, was er meinte. Er meinte meine und seine Zeit in Hamburg, insbesondere aber wahrscheinlich diesen Abend vor zwölf Jahren in der »Boile«, unser bisher letztes gemeinsames Großbesäufnis, als er mir die Geschichte von seinem tauben linken Ohr erzählt hatte, und das anschließende Debakel im »Reybach«. Und ich dachte, er wüßte, daß ich es wußte. Ich dachte, er genösse dieses gemeinsame kleine Geheimnis, an das ich vorhin mit meinem Gekicher gerührt hatte und das zu allem Überfluß durch den Umstand bekräftigt und beschworen wurde, daß die Biersorte des heutigen und des damaligen Abends zufällig dieselbe war.[4]
Nun war es beileibe nicht so, daß wir uns zwölf Jahre nicht gesehen hätten. Nicht einmal war es das erste Mal seitdem, daß diese Sache mit seinem Ohr und Sabrina und Rudi und Werner F. zur Sprache kam. Weshalb sie nun heute eine so »enthh, zückend sentimentale Färbung« (wie Heiner sich vielleicht ausgedrückt hätte) erhielt, weiß der Kuckuck. Vielleicht, weil es in stillschweigendem Einvernehmen schon jetzt klar war, daß wir seit langem mal wieder die Gelegenheit wahrnehmen würden, uns gemeinsam gehörig die Lampe zu begießen. Vielleicht, daß zehn Jahre Kindererziehung ihn daran gehindert hatten.
Kolk war bereits ein Jahr linksohrig taub gewesen, als wir uns damals in der »Boile« verabredet hatten. Viel zu früh, um sieben, als es noch hell war. Wir bestellten zwei große Warsteiner vom Faß, und ich fragte Kolk, weshalb er noch in seiner Postjacke rumliefe. Das war doppelt fies von mir. Erstens, weil Kolk wohl einer der letzten Zusteller, jedenfalls der jüngeren Generation, war, die während ihres Dienstes noch diese Postjacketts statt Zivilkleidung trugen; und zweitens, weil ich wußte, weshalb er sie jetzt noch, lange nach Feierabend, anhatte: Ich hatte ihn nachmittags, als ich von der Uni kam, knapp neben dem Kiesweg im Park am Weiher liegen sehen; sternhagelvoll, das erkannte ich auf den ersten Blick daran, daß seine Fahrradklammer noch am Hosenbein klemmte, die er ansonsten nach Dienstschluß verschwinden ließ. Ich stieg hastig vom Rad, weil er von weitem aussah, als läge er im Koma; als ich näher kam, vernahm ich allerdings ein wenngleich rachitisches, so doch beruhigend vitales Schnarchen. Sein Säufermaul klaffte weit, und nicht einmal eine dicke haarige Fliege, die übers rötlich stoppelige, besabberte Kinn lief, vermochte ihm eine Reaktion zu entlocken. Er war weit vom geläufigen Rückweg aus der City Nord abgekommen – normalerweise fuhr er über Winterhuder Marktplatz und dann am UKE vorbei.
Seltsam. Monatelang sieht man sich so gut wie gar nicht, und dann, am Tag der telefonisch vereinbarten Verabredung, gleich zweimal.
Ich überlegte kurz, ob ich ihn wecken sollte – mir gingen die angewiderten Blicke der bummelnden Passanten auf die Nerven –, unterließ es aber. Das gelbe Posthorn-Emblem auf dem Jackenärmel war vom Weg aus nicht zu sehen – nicht, daß noch jemand auf die Idee käme, es würde sich um einen Arbeitsunfall handeln – womöglich in Form eines Volontärs des Eimsbüttler Wochenblatts, ›humor‹- und kamerabewaffnet. Es war warm – wir hatten Mai –; sollte er seinen Rausch ausschlafen. Mit einem schalen Gefühl von Resignation verzog ich mich.
»Wieso haßdn noch die Possdklamodde an«, hatte ich also gefragt, obwohl ich mir natürlich zusammenreimte, daß er bis vor kurzem noch am Weiher gepennt hatte.
»Possdklamodde?« nuschelte er, und ich wußte, daß es zwecklos war, ihn noch strotziger zu machen. Ich unterdrückte vorläufig das Verlangen, ihn zu veralbern – obwohl ich meinte, mir nach seiner unbotmäßigen Rumsumpferei des letzten Jahres durchaus das Recht dazu anmaßen zu dürfen.
Er trommelte mit den Fingern auf dem Tresen, bestellte, weil’s ihm zu lange dauerte mit dem Bier, vorab einen Tequila bei Horst. Er hatte, das weiß ich noch, das Problem, den rechten Daumen ruhig zu strecken, und das Salz krümelte zur Hälfte aus der Mulde zwischen seinen mächtigen Handwurzelknochen und der Daumensehne, bevor er es auflecken konnte.
Später, nach einem weiteren Schnaps und dem zweiten Bier, das er in ausgezeichneter Feinabstimmung so in Auftrag gab, daß es fast gleichzeitig mit dem letzten Schluck des ersten Halben fertiggezapft war –, später wurde er ruhiger. Man könnte fast sagen: gelassen. Noch eine Lage später gar, für seine Verhältnisse, ausgelassen. Und beim vierten Halben (und dritten Tequila) geradezu gesprächig. Irgendwann wechselte er sogar ohne Murren den Barhocker mit meinem, damit er seinen schweren Schädel nicht wie ein Uhu drehen mußte, um meine Einwürfe oder Nachfragen besser hören zu können. Und das, obwohl wir dadurch unsere bequeme Haltung bei jeder Kunstpause aufgeben mußten – denn er trank mit rechts, mit hochgewinkeltem Ellbogen (weil er sich als Kind mal die Schulter gebrochen hatte), und ich gewöhnlich mit links (weshalb, weiß ich nicht); und wenn wir begeistert einen tiefen Schluck aus unseren Gläsern nahmen, mußten wir uns halbwegs einander zuwenden, um Zusammenstöße zu vermeiden. Dies wiederum war Kolk zu intim. Er blickte lieber geradeaus beim Trinken. War er so gewöhnt. Außerdem, könnte ich mir denken, wurden ihm die Unterbrechungen zu bedeutungsschwanger, da wir gewissermaßen uns am laufenden Band zuzuprosten gezwungen waren. Daß er trotzdem den Platz mit mir tauschte, war folglich eindeutiges Zeichen für Bedürfnis nach Publikum. Seine bevorzugte Sauf- zugunsten einer kommoden Erzählhaltung aufzugeben! Und das Kolk!
Allerdings hielt er sich für seine trinkrituellen Einbußen an der prosaischen Detailtreue schadlos. Besonders anfangs beherrschten eher fahle Farben seine Schilderung, und zwar an Stellen, die er – wenn er schon mal in Stimmung war – anläßlich manch anderer Anekdote feuerwerksähnlich zu gestalten pflegte. Auch litt sein Erzählfluß noch unter künstlichen Stockungen; die Dramaturgie verhunzte er bereits im ersten oder zweiten Satz, indem er die Pointe preisgab.[5] Nachdem die Tequilafrequenz sich der des Biers wie von Geisterhand angeglichen hatte, lieferte er jedoch – schon locker lallend – den größten Teil der fehlenden Mosaiksteinchen nach. Und da ich in der ganzen Angelegenheit auch nicht gerade ahnungslos war – ganz im Gegenteil –, konnte ich mir ein übersichtliches Gesamtbild zusammenpuzzeln (wie ich meinte). Richtig, Kolk hatte, als jener unsägliche Popsong – »Hott görl, hott görl« – dumpf aus den Boxen der »Boile« brabbelte, mit der Erzählung des Geheimnisses um sein fast taubes linkes Ohr begonnen, das ein Jahr zuvor seinen Ursprung gehabt hatte.
»Fieng daß nich alleß midd diesa Possdkahte da …, ich mein dieseß Fohdo, midd dem ehrigierdtn Schwannß drauf … fieng daß nich alleß damidd an?«, fragte ich Kolk zwölf Jahre danach.
»Waß«, nuschelte er, verlegen grinsend, und ordnete die sechs eingedellten Kronkorken zu immer neuen symmetrischen Figuren rund um die Bierfilze. Die leere Flasche stand nun nicht mehr ganz korrekt im Zentrum des Deckels.
Und dann, ungeachtet Kolks heuchlerischer Nachfrage, rollten wir die ganze Geschichte nochmals auf. Hauptsächlich ich. Dachte ich jedenfalls. Bis dahin hatte noch alles seine Ordnung.
»Doch doch mein Lieba«, drohte ich ihm peinlich neckisch, »damidd fieng daß an damallß, im holldn Mei …«
Inhaltsverzeichnis
Schwer schnaufend schob er sein klapperndes Fahrrad in den Korridor, zog die gelbgestrichene Wohnungstür hinter sich zu und stellte es gegen die Wand, so daß der linke Griff der Lenkstange, die Rundung des Gepäckträgers und der Vorderreifen in die abgewetzten Schmutzmulden in der Rauhfasertapete paßten. Er keuchte schwer, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel seiner Dienstjacke von der Stirn, knipste das Licht im dämmrigen Flur an und lief japsend ins Wohnzimmer. Öffnete die Balkontürflügel weit zur Sonne, ging zurück in den Flur und entledigte sich der Jacke. Setzte sich in der Küche an den Tisch und murmelte zischend »Aw scheise äy«, rieb sich mit dem Unterarm erneut die Stirn und ließ den Atem in einen ruhigeren Rhythmus gleiten.
Das war eindeutig wieder mal zu spät, zu viel und zu unvernünftig gewesen, gestern abend, Bloß wegen der Indianerfrau. Leck mich am Arsch Marie.
Schließlich hörte er auf zu schnaufen, holte ein letztes Mal tief Luft und atmete ruhiger. Sein durchblutetes Gesicht entspannte sich, nahm einen blöden Ausdruck an – Mund halb offen, Augen halb zu –, und ein brachiales Niesen platzte aus ihm heraus. Noch eins. Und noch eins. Es pfiff ein wenig beim Einatmen. Er atmete ruhiger.
Er starrte auf den Abwasch, der sich auf der Spüle stapelte, und schüttelte den Kopf. »Siffbuhde«, nuschelte Kolk. Er gähnte gewaltig.
Kolk erhob sich und öffnete die Kühlschranktür. Eine zerknitterte Senftube und ein einzelnes Ei, ein Tuppertopf mit einem Wurstzipfel darin, eine Flasche Selters und zwei Sechserpack Jever-Pils, ein Plastikpott mit ranziger Margarine und ein angebrochenes Paket Knäckebrot.
»Scheise«, nuschelte Kolk und knallte die Tür zu. Öffnete sie wieder und nahm kopfschüttelnd das Knäckebrot raus. Dann raffte er sich auf, warf einen Blick auf die Armbanduhr, zog eine andere Jacke über und stieg die Stufen des muffigen Treppenhauses hinunter.
Wieder umgarnte ihn die milde, warme Luft. Eine dicke schwarze Drossel pfiff von einem Baum vor der Verwaltungsschule auf der anderen Straßenseite. Aus dem nach altem Fett stinkenden Imbiß drang grölendes Gelächter aus der offenen Tür, und Schlagermusik jammerte. Kolk ging langsam; vereinzelt kamen Leute in Autos oder zu Fuß von ihren Wochenendeinkäufen zurück. Heute keine Grüppchen geschminkter Mädchen in neuester Mode, keine Jungs, die alle einen ähnlichen Gesichtsausdruck zu tragen schienen; die Parkplätze meistenteils frei – die Schule war samstags geschlossen. Kolk ging langsam um die Ecke des Blocks, die eine geräumige Vitrine beherbergte, seit Jahren mit unmodischen Sofas und Sesseln gefüllt. Im Winter waren die Schaufenster mit Reif beschlagen. Handgeschriebene Schildchen mit Texten wie »Es lohnt sich! Polstermöbel aufarbeiten und beziehen« standen auf den Simsen.
Von hier sah er die braun-grüne Markise von FEINKOST RUPPMANN. Der Chef war bereits dabei, die Obst- und Gemüsestiegen abzubauen.
»MAHLZAID ßÖR«, brüllte er Kolk über die Schulter entgegen. Kolk betrat wenig später, nach ihm, den Laden. »Mahlzeid«, nuschelte er.
Er war der einzige Kunde. Die alten Damen hatten für ihren Fernsehsamstag bereits vorgesorgt, und Schüler, die sich gewöhnlich mit belegten Brötchen, Schokoriegeln und Dosenlimonade versorgten, gab es heute keine.
Herr Ruppmann hatte die Kisten im hinteren, mit Flaschen- und Konservenregalen vollgestopften Raum gebückt abgestellt, erhob sich nun ächzend und verschwand, die Hände aneinander reibend und laut »NAAA?« rufend vollends, bis er kurz darauf hinter dem Verkaufstresen wieder auftauchte. Seine blitzscharfen, knallblauen Augen stachen in Kolks verkaterten Schädel. Kolk wischte sich die Stirn. Der Krämer knüllte seine Schnabelnase und nestelte an der weißen Jacke.
»WADD KANNICH GEHNG DICH TUHN«, donnerte er.
Kolk stand unschlüssig da, eine Hand in der Taille, die ausgestreckte Faust auf die Kante der gläsernen Auslage gestützt, und starrte hinein.
»Häß schon maw däß Brawhdhehringsfieleh probiärd?« empfahl Ruppmann, gedämpfter, vertraulich.
»Neh.«
»Ainß aw. Ächd.«
»… mmm … guhd. Und … äh … Ach näh, gieb mier ma zwei Krahkaua und zwei Rund’schdügge. Und n halbeß Fund Budda. Und n Fierapagg Undaberch.«
»Ongkl Ehmiel – tring ihn mehßich aha rehglmehßich …«
»Yaw, hfm, genau …«
Während Ruppmann geschäftig wurde und über die Holzpalettenbühne hinterm Verkaufstresen klapperte, griff sich Kolk einen halben Liter Kakao aus der Kühlbox.
Mit der Rechten hackte der Kaufmann in die Tasten seiner Registrierkasse, mit links rückte er die Waren jeweils ein Stückchen zur Seite. Dabei bezeichnete er jede mit dem Namen. Beim Kakao hielt er inne, den behaarten Zeigefinger drauf. Kolk, die Geldbörse in der Hand, hob den Blick.
»ßör«, sagte Ruppmann verhältnismäßig leise und grinste schelmisch, wobei seine durchsichtigen Augen noch tiefer in der Stirn zu verschwinden schienen, »dadd iß ohne Algohohl, weiß du nä?«
Kolk grinste. »Yaw, yaw …«
»Yabb –«, hob Ruppmann die Schultern und breitete die Arme aus, »nich dadd der Körbär dadd nich annimmd …« Er stieß ein meckerndes Lachen aus.
Kolk schnaufte stoßartig durch die Nase. »Nehneh, dadd gehd schon klah …«
Ruppmann stopfte ihm die Sachen in eine Plastiktüte. Dann gab er ihm das Wechselgeld.
»Schühß Grohßär. Schöhneß Wochng’endeh. Bei dehn Wedda wa?«
»Yaw. Auch so. Schühß.«
Kolk verstaute den Underberg im Kühlschrank, nahm den letzten sauberen Blechtopf aus dem Schrank über dem Kühlschrank und füllte ihn mit Wasser. Während es sachte zu sieden begann, schlurfte er auf Socken ins Wohnzimmer und legte eine Platte auf. »Zappa« stand auf der Hülle. Bis die ersten Klänge ertönten, verharrte er, dann stellte er sich auf den Balkon, blickte, sich auf das Geländer, das er gestern abgeschmirgelt hatte, stützend, auf die kleine Nebenstraße hinab, auf die schattenverspiegelten Fenster der gegenüberliegenden Wohnungen und begaffte die große Blonde aus dem dritten Stock, wie sie ihren Campingtisch auf dem Balkon herrichtete. Sie trug einen engen, kniefreien Jeansrock und ein T-Shirt. »Tiddies änd Bier, tiddies and Bier«, murmelte Kolk halbsynchron mit der Musik, schlappte wieder in die Küche, ließ die Würstchen ins kochende Wasser gleiten und stellte die Gasflamme niedriger.
Er lag langausgestreckt auf der Kautsch und starrte auf den Fernseher. Von der Straße drangen Kinderstimmen herauf. Von irgendwoher dröhnte orientalische Musik. Die Balkontür klappte im leichten Wind knarrend gegen den Rahmen und fuhr quietschend wieder zurück. Kolk starrte auf den Fernseher. Zwei Frauen spielten Tennis, in kurzen, weißen Röcken. Auf dem Tisch ein Teller mit Senfflecken und Brötchenkrümeln, inmitten von Flaschen, Aschenbechern, Zeitungen und Zigarettenschachteln. Kolk rauchte.
Er holte tief Atem, hustete und drückte die Kippe mit einem angewiderten Gesichtsausdruck aus. »Irngwann«, nuschelte Kolk, »ma die fümmun’neunßich Kielo in Form bring …« Lauf am Strand von Loutsa im heißen Sand. Auf der muskulösen Schulter, dunkelbraun gebrannt, prangt ein schwarz-rot-blauer Pantherkopf. Schlank und leicht. Warm. Tauch in die grüne Dünung, schnell hoch wie ein Delphin. Salz. Schaum. Klare Augen.
Kolk hob die Beine, strampelte die Wolldecke von den Füßen und wälzte sich aus dem Sofa. Sein Glied spannte sperrig, klobig, verquer in den Jeans, als er sich eine grüne Flasche aus dem Kühlschrank holte. Er drückte sein Kreuz durch, schob das Becken vor, stöhnte und stand still. Die Flasche in der Hand, in der anderen den Öffner. Er blickte mit starren Augen auf eine bestimmte Kachel und zwirbelte seinen Schnauzer, ohne den Flaschenöffner wegzulegen. Diese Karte heut morgen …
DEIN WEISSER SCHLEIM. DEIN STÖHNEN UND SCHREIN. MACH MIR AUF MIT DEINEN SCHWARZEN STRAPSEN AN … Er war spät dran gewesen. Zu viel gesoffen gestern. Die Indianerfrau. Ach Scheiße. Kopfweh hatte er gehabt. Fünf nach sechs hatte er die Kennummer für den Fahrstuhl eingegeben. Zassi kuckte schon scheel. Und dann der Kater. Kopfweh. Wie eine dumpf spannende Klammer, festgeklemmt am hinteren Schädelknochen. Die Zunge ein filziger Pelz. Der Gaumen rauh und knochentrocken. Die Nervenspitzen hochempfindlich. Übler Schwindel hinter der Stirn. Die routinierten, flüssigen Bewegungen schmerzhaft. Manchmal schwillt der summende Saal zu einem hallenden Gewölbe, traumwandlerisch schwirren die Langholzverteiler mit ihren riesigen, sperrigen Karren aneinander vorbei.
»Moin Kolki. Wie siehß duhdn auß. Zufiel gewiggßd oda wadd. Oda zuwehnich. Hßß-ßß-ßß …«
»Halldß Maul Paul.«
Viel Post heute. Viel zu viel.
Was soll das denn. Bonni der Komiker.
»Bonni du aldeß Saggkgesichd laß mich midd sohm Scheiß zufriehn heud morng.«
»Hßß-ßß-ßß, ßß-ßß-ßß …«