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Der zweite Band von Frank Schulz' Hagener Trilogie Für seine Freunde ist Bodo Morten – 38, verheiratet, angestellt – aus dem Gröbsten raus. Wenn da nur nicht immer diese quälende Migräne wäre. Als er eines Tages den Job verliert, gerät sein Leben außer Kontrolle. Er verlässt das Haus und kehrt nicht wieder. Seine Frau macht sich auf die Suche, und sie findet Zeichen eines abenteuerlichen Doppellebens, das Bodo offenbar schon seit Jahren führte … »Ein Meisterwerk der literarischen Hochkomik. Schulz hat schlicht das beste Buch des Jahres geschrieben.« Süddeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 943
Frank Schulz
Hagener Trilogie II
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Frank Schulz
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Erster Teil - Vorm Wald
Konvoi ins Kaff
Die Totenuhr
Nachtigall für Arme
Ruderin in Handschellen
Das blaue Relief
Der alte Hüü
Zweiter Teil - Die Journale
Herbstjournal 1994
Winterjournal 1995
Frühjahrsjournal 1995
Dritter Teil - Im Wald
Das Jucken der Fontanellen
Mondgeheul eines Schafs im Wolfsfell
Der Nagnag
Epilog
Lexikon für Laien
Geflügelte Worte aus dem Lateinischen und Griechischen
Niederdeutsche Sätze und Passagen
Das Lied von »Burlala«
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Babe, Baby Baby, I’m gonna leave you
I said Baby, you know, I’m gonna leave you
I’ll leave you in the summertime
Leave you when the summer comes a-rollin
Leave you when the summer comes along
Ba-Ba-Ba-Ba-Ba-Ba-Bab’m-Baby I wanna leave you
I ain’t jokin’, woman, I’ve got to ramble
O yeah, Baby Baby, I’m leavin’
You ain’t got to ramble
I can hear it callin’ me the way it used to do
I can hear it callin’ me back home …
Led Zeppelin, Babe I’m Gonna Leave You
Gegen den Strich des Weizenfeldes drang, vom jenseitigen Rain, Schafsblöken herauf. Unentwegt entströmte der Pappelkrone dahinten jene Korona von Gegenlicht, in der das Mückenvolk hier vorn seine rituellen Tänze aufführte, und die beiden Grillen am Rande des Hohlwegs, der den Weizen von dem kleinen Forst trennte, girrten ebenso stetig ihre einsilbigen Verse. Immer noch schwebten Sporendaunen umher und schwirrten, mit unberechenbaren Quantensprüngen, vereinzelt Libellen hindurch – nur der Specht wartete nun in irgendeinem Wipfel ab –, als ein Kuckuck seinen kindischen Ruf aus dem Wäldchen hören ließ.
Schweiß versiegelte Anitas blasse Stirn. Wie in Harz gegossen verharrten sie und die andern vor der nagelneuen Einfriedung des Gehölzes, noch damit befaßt, den Auftritt jenes bizarren Trios zu verarbeiten, das ihren Hamburger Suchtrupp offensichtlich verfolgt hatte – bis auf die niederelbische Geest, bis hierher, die sanfte Anhöhe hinauf zum Wäldchen –, da hörten sie im Dickicht, einen Steinwurf weit hinterm verriegelten Stahlgittertor, das Geräusch zertretenen Gezweigs.
Und erneut. Sie fuhren herum. Gleich darauf ein Kommando, das gedämpft, beinah technisch verzerrt wirkte: »Janus!! Sitz!! Aus!!« Dessenungeachtet huschte ein massiges Phantom über die verschattete Lichtung auf sie zu – der Pfotengalopp kaum hörbar auf dem Nadelteppich, beinah deutlicher der Niederschlag von aufgestobenen Erdbröckchen – und noch im selben Augenblick krallte im Maschendraht des Gatters ein Hund, schwarz und schwer wie ein Kalb. Schußartiges Blaffen krachte aus seinem Rachen.
Mit einem leisen Akkord von Schreckenslauten wichen sie, im Block, ein Stück zurück. »JANUS!! AUS!!« herrschte die Stimme, nun zwar lauthals, nach wie vor aber membranenhaft dumpf, fast wie aus einem Kurzwellenradio. »HIERHER!!« Diesmal schlich das Tier geduckt und mit dem Hintern wackelnd nach seinem Herrn zurück, der unterdessen ebenfalls aus dem Unterholz aufgetaucht war und auf die Pforte zwischen sich und den anderen zu marschierte.
Er war nackt bis auf Gummistiefel und Badehose. Um den Hals trug er ein Lederband mit Schlüssel und auf dem Kopf einen großen schwarzen Motorradhelm (daher die Gedämpftheit der Stimme). Kein Bierbauch mehr, wie verdampft. Die Haut gebräunt, verschwitzt und von Gestrüppkratzern gezeichnet. In der Rechten hielt er waagerecht einen Spaten, dessen Stichblatt mit frischer Erde verschmiert war. Die letzten beiden Schritte seines Anmarschs brachten ihn aus dem Tritt. Wie um sich der vergangenen zehn Tage zu vergewissern, wandte er sich mit erhobenem Kinn halbwegs nach seiner Spur um, schwang den Spaten schließlich linkisch auf die Schulter und schaute mit rückwärtsgeneigtem Helmkopf wieder durchs mannshohe, maschendrahtverschweißte Stahlgitter, schaute her zu Anita und den andern. Und dann ging etwas mit seinen Augen vor – vielleicht beschlugen auch nur, trotz des offenen Visiers, die Brillengläser –, und er senkte das Kinn und machte jene Bewegung, die sie so schnell nicht vergessen sollten, gerade weil sie so unscheinbar war: Er hob die freie Hand, die Finger gekrümmt, an den Hinterkopf, um sich zu kratzen; anscheinend hatte er nicht daran gedacht, daß er diesen Helmballon trug, und als er das glatte, harte, kühle Material an den Fingerkuppen spürte anstatt dünner, warmer Behaarung, ließ er den Arm fallen, so daß die Geste wie ein matter Gruß wirkte.
»Mufti …«, sagte Anita.
Er inhalierte heftig einen halben Liter Luft durch die Nase – hielt eine Sekunde an – und atmete noch heftiger aus; und dann sagte er in jener gequetschten Stimmlage, durch die er gewöhnlich versuchte, einen cholerischen Anfall aufzuhalten: »Großer Bahnhof. Wa? Ganz großer Bahnhof, wa?«
Ächzend vor unterdrückter Tobsucht versuchte er, den Helm mit einer Hand herunterzureißen, vergeblich; schließlich flogen erst Spaten, dann Helm und Brille davon – und spätestens in dem Moment erkannten sie ihn, hätten ihn auch mit verbundenen Augen erkannt: an seiner Wut.
Ganz großer Drecksack, dachte Satschesatsche, obwohl – oder gerade weil – es hart war, ihn da rumoren zu sehn wie Rumpelstilzchen, halbnackt, mit Motorradhelm und Spaten in einem Wald, nachdem er zehn Tage lang verschollen gewesen war: Bodo »Mufti« Morten, sein ältester Kumpel. Ich. »Ganz großer Drecksack«, murmelte Satsche schließlich, denn meinetwegen hatte er – etwa anderthalb Stunden zuvor, im Elbtunnel – einen schlimmen Angstanfall erlitten. Er hatte nur wenige Sekunden gedauert, war ihm aber mit einer derartigen Wucht zugestoßen, daß er noch monatelang innerlich schlotterte, wenn er nur daran dachte.
Seit sieben oder acht Nächten bereits hatte Satsche wegen meines Verschwindens Alpträume gehabt, und sieben oder acht Minuten bevor der kleine Konvoi in den A7-Stau geraten war, hatte ihn seine eigene Schweigsamkeit zu ängstigen begonnen. Dennoch sprach er erst, als die scheunentorgroße Einfahrt des Elbtunnels direkt vor ihnen lag. »Achtung, meine Herrn«, sagte er, als er für ein paar Meter wieder Gas geben konnte, »wir dringen ins Arschloch zur Welt ein.«
Er trieb den Audi im zweiten Gang Leos Volvo hinterher. Während das Raunen des Getriebes rasch an- und knurrend wieder abschwoll, zog er seinen grobschlächtigen Ellbogen ein und drückte auf eine der Armaturen. Wimmernd schloß sich die Fensterscheibe und dämmte den Lärm des Verkehrs ein, der aus der gegenläufigen Tunnelröhre heraus- und Richtung Norden vorbeidröhnte, und nun wirkte das Fauchen des Lüftungsgebläses um so geräuschvoller. Satsche kratzte sich am Hinterkopf. »Mann, ich schwitz wie –«
»Wir dringen bitte wo ein? Mäßigen Sie sich, Herr Bartels!« Heiner hatte sich doch noch entschlossen, auf Satsches erstes seriöses Plauderangebot seit ihrem plötzlichen Aufbruch einzugehen. Heiner pflegt jedes Wort abzuschmecken und würde nie mit vollem Mund reden, und in diesem Fall hatte er besonders lang gebraucht, weil auch er seit Tagen von Grübeleien heimgesucht wurde.
»Wa?« krächzte Satsche. Sein Vater hat ihm eine kräftige, heisere Stimme vererbt, um die ihn manch anderer Rock-’n’-Roll-Amateur beneidet.
Heiner hob die Stirn und beobachtete, wie die Spitze des Dreierkonvois – mein schwarzer 69er Ford Taunus 20m TS mit der Beule hinten rechts, den Anita steuerte – ins schäbige Neonlicht der Weströhre eintauchte, wo dichtgestaffelte Rücklichtpärchen aufleuchteten, weiterglommen und erneut aufleuchteten. Leos Volvo folgte dem Ford, und auch Satsche trat wieder aufs Gaspedal. »Wa? Was hast du gesagt?«
Die Schattengrenze kappte die Helligkeit des Frühsommerabends, und Heiner nahm die Sonnenbrille ab und hakte sie an die Knopfleiste der Hemdbrust. »Ich sagte: Wir dringen bitte wo ein. Ich bat gewissermaßen um Mäßigung, Herr Bartels!«
»Bitte wo ein, bitte wo ein …! Ins Arschloch zur Welt!« schleuderte Satsche zurück und japste. Die Gemütsaufhellung, die ihm der Juxärger über Heiners Zimperlichkeit verschaffen sollte, blieb jedoch aus. »So hat Morten früher immer den Elbtunnel genannt. Das heißt, nur wenn wir nach Hamburg reinfuhrn. Jedesmal wenn wir aus’m Kaff zurückkamen und wieder nach Hamburg reinfuhrn. Orr, ich schwitz wie … wie ’ne Bockwurst, sach ich ma.« Er kratzte sich erneut, genau in der Mitte des graumelierten Haaratolls. Auf die Stelle, habe ich in meiner FREUNDSCHAFTSFIBEL einmal notiert, hat der Deubel sein Brennglas gerichtet, als er sich an Satsches Liebeskummer weidete.
Satsche kuppelte aus und rieb die Hände an den Shorts trocken; Pranken, die wohl nichts je lieber als einen Ball anfaßten – bei aller ungebrochenen Libido. Der kürzliche Befund einer Erbkrankheit hatte Hallensport für den Rest seines Lebens unterbunden, und Satsche konnte nicht umhin, darüber zu sinnieren, wie angenehm dieser Samstagabend hätte in weiblicher Gesellschaft verlaufen können, wenn die Sache mit mir, seinem ältesten Kumpel, nicht wäre.
Kai, als Sitzriese, war mit Rücksicht auf Heiners lange Beine und lädierte Bandscheiben in den Fond eingestiegen, obzwar er die Zugluft dort fürchtete. Seit dem Mittag, als er wegen eines Haars in der Speiseröhre unter der Dusche energisch hatte niesen müssen, konnte er seinen Nacken kaum mehr bewegen. Noch währenddessen hatte er gewärtigt, daß ihm der Typ Alltagskamerad, dem er solche Art tückische Unbill traditionell am liebsten erzählte, zu fehlen begann.
Wegen der Ventilation konnte Kai dem Gespräch da vorn nur mühsam folgen. Statt dessen musterte er Satsches perlmuttartige Fingernägel, die Striemen über den nackten Fleck in seiner Kurzhaarfrisur zogen. Kai, der ein paar Jahre jünger ist und für immer volles Haar behalten wird, hielt die Bierflasche zwischen seinen bloßen Oberschenkeln fest und beugte sich vor. »Phantomschmerzen? Beziehungsweise -jucken?«
Satsche legte wieder beide Hände aufs Lenkrad, schwieg und gab Gas.
Kai ließ sich mit dem Schwung des neuerlichen Starts zurückfallen, setzte die Flasche an und kiebitzte in den Innenspiegel. Satsches Lider, so viel sah er, bewegten sich über den blauen Augen mit jener Pseudogelangweiltheit auf und ab, welche, das wußte Kai aus jahrelanger Erfahrung mit seinem Squashpartner, mühsam die zum Siegen nötige Ruhe simulierte. Als der Audi wieder stand, erwiderte Satsche, ohne sich umzuwenden, aber laut genug: »Kann sein, daß ich Phantomschmerzen am Kopp hab. Warum fragst du. Hast du welche überm Kopp?« Satsche ist 14 Zentimeter größer als Kai.
»Besser als im Kopf«, sagte Kai – zwar ebenfalls vernehmlich genug, um sich nicht vorbeugen zu müssen, in Anbetracht seiner berüchtigten spitzen Zunge jedoch zu sanft, als daß Satsche damit gemeint sein konnte. Da Kai schon aufgrund der Pausenlänge erahnt hatte, daß Satsche die neckische Notengebung verkennen würde, lenkte er mittels dieser rhetorischenVolte auf das Ziel ihres Konvois zurück; auf mich. Bisweilen litt ich unter den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas, das ich mir im Mai 1988 unter Alkoholeinfluß zugezogen hatte, und nach allem, was sie eine halbe Stunde zuvor auf ihrer bereits dritten Krisensitzung vernommen hatten, war mein Verschwinden unter Umständen dem Zustand meines Kopfs zuzuschreiben.
Der monströse Blechwurm kroch tausendfach zergliedert weiter. Nervös ordnete sich Satsche dem Stop-and-go-Rhythmus unter. An der tiefsten Stelle jenes gekrümmten, gefliesten Schachts unter der Elbe war es, wo er plötzlich in Todesangst geriet. Das Herz hinkte panisch, in den Ohren lärmte das abfließende Blut – doch bevor Schlimmeres passierte, löste sich die Atemsperre wieder. Er rang nach Luft. Einen Augenblick lang sah er alles doppelt, und dann schlug das Herz – nach langem freien Fall – eineinviertelmal auf wie ein Medizinball, und das Blut schwärmte wieder ins Hirn zurück; was blieb, war banger Drang zur Selbstbeobachtung. Ein paar Meter über dem Himmel des Audis floß der megatonnenschwere Elbstrom.
Sie hatten die Siphonkehle hinter sich, und auf der leichten Steigung nahm die Schwerfälligkeit der peristaltischen Bewegungen des Verkehrs zu. Satsche spähte durch die Abgasschwaden, und als das helle Tunnelende nahte, streckte sich der Blechwurm und machte ganz allmählich Tempo. Mit 70 Stundenkilometern ging’s wieder ans Tageslicht.
Kai betrachtete die signalfarbenen Containerstapel zur Linken und weit dahinter den käferhaften Verkehr auf dem auf- und abwärts geschwungenen Traversenbogen der Köhlbrand-Brücke, die, verankert an mächtigen Stahltrossen und Verstrebungen, durch titanenhafte konvexe Pfeilerrauten hindurch hoch übers Hafengelände hinwegführte, und wandte dann, wegen des Nackenproblems den gesamten Oberkörper mitschwenkend, den Blick zur anderen Seite hinunter, wo Schienenstränge verliefen, Güter- und Güterkühlwaggons darauf, rote und grüne Lokomotiven vor sechsstöckigen Silos mit blinden Fenstern; die Kais säumten kahle Kräne, und auf bereiften Stelzen rollten Kabinen mit Flaschenzügen unterm Bauch zwischen vertäuten Frachtern und Gebäudequadern hin und her.
Auf der langgezogenen Waltershofer Abfahrt Richtung Petroleumhafen und Finkenwerder bemerkte Kai eine Gemeinsamkeit an ihrem Konvoi, die ihm eine Gänsehaut über die Arme trieb – vielleicht war’s aber auch die Luft, die durchs wieder geöffnete Fenster flatterte. »Wie ’n Trauerzug«, sagte er.
»Wie bitte?« Heiner drehte sich nach ihm um.
Kai beugte sich vor. »Unser Konvoi«, sagte er. »Wie ’n Trauerzug. Muftis Ford ist schwarz, Leos Volvo ist schwarz, und unserer ist schwarz.«
»Meiner«, sagte Satsche, »ist anthrazit.« Im selben Moment bemerkte er, daß Heidrun aus dem Heckfenster von Leos Volvo schaute. Eine Strähne ihres langen Haars, dem der Stich eines launenhaften Sonnenstäbchens eine violette Aureole verlieh, wurde in der Zugluft vom Hinterkopf über ihre Stirn geweht. Satsche winkte, und plötzlich fühlte er deutlich, was er schon lange unbewußt befürchtet hatte: daß ich – ganz gleich, wie dieser Tag enden würde – seiner, Satsches, Erinnerung an unser Kaff die Unbescholtenheit geraubt hatte, so daß er diese Strecke an den Ort unserer Jugend für lange Zeit nicht mehr ohne Unbehagen würde fahren können.
Heidrun lächelte kurz, glitt wieder in die vorige Haltung und strich die Strähne zurück; sie verwendet solche Gebärden nicht gern. Heidrun fühlt sich am sichersten, wenn sie gerade sitzt, die Arme verschränkt, den Kopf leicht seitlich geneigt. Sie verspürte ein Sausen in den Knien. Der Blick nach rückwärts war ein sinnloser Reflex gewesen; sie vermißte ihren Mann an ihrer Seite, den sie seit zwanzig Jahren liebt. Ursprünglich hatte sie im Anschluß an die Krisensitzung nach Lübeck weiterfahren wollen, wo er ein Konzert gab. Sie alle hatten nach der Krisensitzung ursprünglich andere Plane gehabt, und nun fuhren sie alle ins Kaff, so verteilt, daß jedes Glied des Konvois – für den Fall verkehrsbedingter Trennung – einen kundigen Führer besaß.
»Ich mein …« Iggy preßte die Lippen aufeinander und drehte den dunklen Kopf langsam hin und her. Die Brille mit den selbsttönenden Gläsern drückte bei jedem Hin gegen die Kopfstütze, so daß der Steg die schwarzen Brauen berührte, wo deren Wurzeln sich zu einem gespaltenen Büschel aufkräuselten. »Ich mein, was will er denn in ’nem Wald oder was weiß ich. Oder … was weiß ich. Das war nun auch noch, also, wo ich so dachte … Das gibt’s doch alles gar nicht.«
Heidrun schloß für zwei Sekunden die Lippen, während sie mit den Augen, die braun wie Wintereicheln sind, ein J nachzeichnete. Dann zeigte sie wieder das untere Drittel ihrer Schneidezähne – ein erschöpft, aber stets wachsam schlafendes Lächeln.
»Irgendwo muß er ja sein.« Leo löste eine Hand vom Lenkrad und fuhr sich mit den schlanken Fingern durchs naturkrause Haar – eine unwillkürliche, keine gefällige Geste, obwohl er durchaus Grund zur Eitelkeit hätte. Die Intelligenz in der hellen Iris mit den Katzenpupillen jedoch – spätestens sein warmblütiges Lachen – bewahrt ihn vor dem etwaigen Verdacht, man begegne nichts als einem sonngebräunten Beau. »Irgendwo muß er abgeblieben sein … das heißt ja nicht unbedingt, daß er die gesamten zehn Tage dort verbracht hat.«
»Stimmt.« Iggy schaute wieder geradeaus. Er beließ die Hallen, Schlote und Förderbänder am Rand des Gesichtsfelds soweit wie möglich als Schemen; als temperamentsverwandter Exkollege von mir verband er ähnlich zwiespältige Erinnerungen wie ich mit der hiesigen Gegend am Hamburger Südufer der Elbe.
»Diese Geschichte«, Leo unterbrach sich mit einem verschmitzten Gluckslaut, »von dem »mutmaßlichen Versicherungsvertreter und der Kopfnuß und der Beule im Ford kannte ich noch gar nicht. Ich hab ihn eigentlich nie so erlebt, obwohl wir uns ja auch schon reichlich drei Jahre kennen – das heißt, seit ich überwiegend auf Mallorca lebe, seh ich ihn ja auch nicht mehr so häufig. Jedenfalls war mir nie klar, daß er ein solcher Heißsporn –«
»Cholerisch war er schon immer«, schaltete sich Heidrun überraschend entschieden von hinten ein.
»Tatsächlich?«
»Klar«, sagte Heidrun, »aber in anderer Hinsicht hat er sich verändert. Zwar hat er sich schon immer über alles mögliche aufgeregt, aber er hat sich nie so aufgeführt wie in den letzten Monaten; solche … Possen …« Heidrun schaute aus dem Fenster, die Ellbogen in den Handschalen, »Wie ’n … alterndes Enfant terrible. Zum Beispiel neulich, vor ’n paar Wochen …«
Heidrun sprach tastend; längeres Reden zu Leuten, die sie nicht häufig sieht, ist ihr nicht sehr angenehm; kommt sie aber einmal in Schwung, könnte sie oft stundenlang weitermachen. »Also, ich hab ja ’n Laden, in Stade.«
Die beiden Männer gaben ein kenntnisversicherndes Summen von sich.
»Und die Hamburger Filiale läuft inzwischen besser als das Haupthaus. Anita und ich verstehen uns gut und arbeiten bestens zusammen, ich kenn sie ja nun schon fast so lange wie Mufti. Na jedenfalls, seit Mufti arbeitslos ist, mäkelt er an ihrer ›Karriere‹ rum wie ’ne Karikatur von ’nem Macho; weiß er natürlich selber, aber er meint eben, das wär sozusagen selbstironisch, und neulich, mit der sogenannten Gründonnerstagsaffäre, hat er dem Ganzen also wirklich die Krone aufgesetzt.« Heidrun seufzte diskret. »Wir hatten ’ne ziemlich wichtige Textilvertreterin zum Umtrunk eingeladen, bei Nita und Mufti zu Hause, private Sphäre und so. Wir sitzen und plaudern noch so und wollen grad mit den ziemlich heiklen Verhandlungen anfangen – da kommt plötzlich Mufti rein und fläzt sich, trotz Dusche noch sichtlich von seinem Nachmittagsschoppen gebeutelt, fläzt sich im Bademantel in ’n Sessel und macht Anstalten, sich in unserer Anwesenheit die Fußnägel zu schneiden.«
»Nää!« stieß Iggy aus, wie von ungebetener Belustigung behelligt, Leos Grinsen entstammte einem stilleren Genre.
Heidrun fuhr fort. »Völlig kindisch. Und unsere – recht gesetzte – Geschäftsfreundin, die sich, tja, durchaus düpiert fühlte, sagt: ›Schlimmer wird’s nicht?‹ Und bevor sich Nita von ihrem Schreck erholen kann, zieht Mufti ’n Flunsch und wedelt mit der Nagelschere und sagt: »Keine Bange, mein Pimmel ist schon beschnitten!««
»Nääää!«
Leo schüttelte den Kopf. »Unmöglich, der Mann …« Nach einer Pause sagte er: »Und ihr wißt nicht, woher er das ganze Geld hat? Hat er euch das nie erzählt?«
»Nää, nää, nää«, stöhnte Iggy melancholisch, »was weiß ich … Und das Schärfste ist ja wohl der Zwiebelzwist, zwischen ihm und Satsche, neulich. Da kann man sich nur noch … nää.« Auf einmal wurde ihm ein bißchen flau, und unwillkürlich drehte er sich nach dem Audi um, als suche er Trost in der Bestätigung, daß Satschesatsche nach wie vor folgte.
Diesmal winkte Satsche nicht. Kai, der sich seinen Aufenthalt auf dem Rücksitz gerade mit der zweiten Halbliterflasche Bier so behaglich wie möglich gestaltete, bot Heiner einen Schluck an. »Nein danke«, lehnte der nasal ab, »ich habe bereits einen unter dem Hut.« Er hatte auf der Krisensitzung ein Alsterwasser zu sich genommen.
Kai platzte mit einem seiner lauten Gelächter heraus, die auf einem tief verinnerlichten Drang zur Auslotung der selbstironischen Fähigkeiten des Gegenübers fußen und deren entwaffnende Spontaneität Leuten, die nicht auf dem Quivive oder wenig selbstbewußt sind, mitunter sauer aufstößt. »Unter dem Hut!« wiederholte er eine Oktave höher. Sein Entzücken beruhte auf diesem neuerlichen Beispiel von Heiners förmlichem Deutsch, das weder verschliffene Konsonanten noch verschluckte Endungen zuläßt, also auch keine selbst in Schriftsprache legitimen Zusammenziehungen wie unterm. Sogar harte Endkonsonanten werden aufs h genau betont.
»Ist ja gut, ist ja gut«, gab sich Heiner beleidigt, nahm ein Papiertaschentuch aus der Brusttasche des Hemdes und schneuzte sich, achtgebend, daß sein den kantigen Kiefern angeglichener Bart nicht in Mitleidenschaft gezogen würde.
»Hab ich eigentlich erzählt«, begann Satsche – laut genug, daß auch Kai auf der Rückbank ihn verstehen konnte –, »daß Morten neulich, bei unserm Auftritt in Niendorf, als er mich mit seiner Zwiebelscheiße da so genervt hat – daß der da geheult hat? Der hat richtig geflennt!«
»Echt?« Kai wurde sofort wieder ernst, auf jene Art Reflex, der von den Ansprüchen an gespanntes Bewußtsein, aufmerksamen Austausch und fundierte Parteilichkeit erzwungen wird – an der Psychologischen Fakultät atmosphärisch allgegenwärtige Ansprüche. »Was ist denn mit dem Kerl bloß los!«
»Ich weiß das nicht«, sagte Satsche. »Ich komm von der Bühne runter – das war nach dem letzten Stück vor der Pause – und geh zu ihm da zu der Bierbude, weil ich dachte, er ist besoffen … vielleicht war er das auch, weiß ich nicht … und ich sach: ›Äy Morten, was’n mit dir los‹, und er kuckt mich an, und ich dachte, ich spinne: Der heult da Rotz und Wasser! Ich … ich war richtig erschrocken, ich sach: ›Was ’n los?‹, und er … was hat er denn noch gesagt … ich weiß nicht genau, irgend so was wie: ›So ’n schönes Straßenfest« oder so was …«
Während Heiner versuchte, die Knie unter der Ablagekonsole zu lockern, fragte er: »Hast du das gewisse Lied gesungen? Er hat mir mal –«
»Das kann sein!« Satsche ging fast physisch ein Licht auf. »›My Village‹ …«
Satsche sprach das V wie ein angelsächsisches W aus, aber Kai hütete sich, ihn durch persiflierende Wiedergabe erneut zu reizen. Statt dessen sagte er: »Diese Ballade über euer Dorf, oder?«
»Genau!« Satsche begann den Refrain zu singen. »But I was steppin’ away … Yes, I was steppin’ awahay …«
Heiner massierte seine Bandscheiben, so gut es ging. »Worum geht es denn eigentlich genau in dem Stück?«
»Ach … da ist ’n Typ, der sich an sein Dorf erinnert, wo ihn alle auf der Straße beim Namen kennen und grüßen, und da gibt’s ’n lake und ’n river und ’n forest …«
»But irgendwann« – Kai konnte denn doch nicht an sich halten – »steppt er auf und davon.«
»Durch das arsehole to the world«, fügte Heiner hinzu.
»Jedenfalls«, sagte Satsche, »hab ich ihn dann noch mal gefragt, ob er heult oder was, und dann fing er eben an, von wegen ›vielleicht kommt das ja von den Zwiebeln, die du mir noch nicht bezahlt hast‹ und diese Scheiße …«
Die Durchquerung Finkenwerders – Tempo 40, »Ampeln, Pampeln, Zampeln«, stöhnte Satsche – schien endlos, obwohl sie kaum viel mehr als fünf Minuten dauerte. Den Deich entlang wurde der Konvoi wieder schneller. »Der hat geflennt«, sagte Satsche, »wie ’n Schloßhund. Mann, ich schwitz vielleicht.«
In meinem Ford hatte während der Fahrt durchs Alte Land – bald näher am Elbdeich entlang, bald weiter ins Marschland hinein – vorwiegend Conny geredet. Nur einmal, als sie nach Westen abbogen, hinauf auf die Geest, war Anita höhnisches Schnauben entfahren.
Conny schmiegte ihr frauliches Kinn an die Kopfstütze. »Was«, fragte sie.
Anita deutete auf das Radio. Der Moderator eines Lokalsenders hatte gerade eine satirische Bemerkung über die Landfriedensbruchs-Klage gegen eine Skandalfigur der Hamburger Schickeria gemacht, die sich am Pfingstsonntag auf dem Anleger Teufelsbrück dem Geschlechtsverkehr hingegeben hatte. »Nellie Vandenhoek«, sagte Anita, »eine von Muftis Lieblingsfeindinnen. Weißt du? Von der ich dir gestern erzählt hab …«
Erst wieder zu Beginn der etwa tausend Meter langen Geraden, die direkt ins Kaff führt, hauchte Anita einen Satz ähnlicher Länge gegen die Windschutzscheibe. Weicher Seitenwind zauste ihren schwarzen Schopf und wehte Wiesengeruch über ihre bloße Schulter in den Fond, wo André saß.
Er lehnte seinen rechten Arm auf Connys Arztkoffer und den Hinterkopf an das stilgetreue Kissen mit dem aufgestickten Kfz-Kennzeichen, um den Nacken von den Strapazen der Anreise aus Mittelamerika zu entlasten. Das Rauschen der Eichenkronen und das satte Grunzen des Sechszylinders verhinderten, daß Anitas Worte ihn erreichten. Er fragte nicht nach. Auch als Conny sich nach ihm umdrehte, verharrte er in der bequemen Haltung – nur sein Adamsapfel glitt einmal auf und nieder.
»Mitgekriegt?« sagte Conny.
»Nee«, sagte André und versuchte, durchs mit siebzig Stundenkilometern vorbeihuschende Gebüsch einen Blick vom anderen, langsamer passierenden Ende der Weide zu erhaschen, vom Schatten, den die knorrigen Eichen dem Mittellauf des Bachbetts spenden, wo der Beeck über Steine plätschert, unter Böschungen gurgelt, wo damals, in unserem Knabenparadies, die Kühe soffen.
Conny deutete diese elliptische Kopfgeste an, die früher die langen Ponyfransen aus der Stirn geschleudert hätte. »Nita hat gesagt, zuletzt hätte Mufti von euerm Kaff nur noch wie über eine Mutti geredet, die für jeden die Beine breit macht.«
»Sauerei«, brummte André mit einem Grinsen. Welches sich, fand Conny, angenehm von meiner Verbitterung über die zunehmende Besiedelung unseres Kindheitshorts – früher ein Handwerker-, Arbeiter-, Bauern- und Hausfrauendorf – abhob; eine folkloristische Verbitterung, die senilen Eseln anstehen mochte – jedenfalls kaum einem angeblich kritisch aufgeklärten 38jährigen, der ohnehin seit fast zwanzig Jahren in einer Millionenstadt lebte.
Andrés dunkler Bart funkelte feucht, als ein laubgesägtes Fleckenmobile aus Sonnenlicht darüber hinwegflimmerte. »Sag mal«, sagte Conny, die ihn weiterhin nachdenklich aus großen türkisfruchtigen Augen beobachtete, »tropenfest wirkst du aber nicht gerade …«
André schaute grinsend aus dem Seitenfenster, um einen Traktorfahrer zu grüßen, den er kannte, der wiederum ihn jedoch nicht so schnell zu identifizieren vermochte, und brummte: »Das kommt von der Currywurst.« Er hob die Rechte, die seit kurzem nur noch das ketchupfleckige Papierknäuel hielt. Vor dem Fernfahrerimbiß in Dollern hatte er sich von Satsche aus dem Audi heraus einen »verdammten Verräter« schimpfen lassen müssen. Durch einen solchen »Fremdkauf« diskriminiere er Hinni, den Gastwirt unseres Kaffs. André hatte seit dem pappigen British-Airways-Frühstück überm Atlantik nur ein Stück Kuchen gegessen. Ihm war flau gewesen, und er hatte vorausgesehen, daß wenig Muße für Hinnis »begnadigtste Currywurst der nördlichen Atmosphäre« (Satsche) verbleiben würde, wären sie erst einmal im Kaff.
Kurz bevor der Konvoi mit dreifach doppeltem Reifenschlag den Bahnübergang überquerte – auf dessen Nordsteig immer noch das offene Wartehäuschen aus verwitterten Brettern stand, obwohl der Nahverkehr längst von Omnibussen übernommen worden war –, passierte er das Doppelhaus, in dem meine Großmutter heute noch lebt, hochbetagt und betreut von einer meiner beiden Schwestern. Dort bin ich geboren – der Kohlenhändler hatte gerade abgeladen, als die Hebamme eingetroffen war, und vor lauter Einfühlsamkeit eine ganze Flasche von Opas Grogrum getrunken. Das Grundstück schmiegt sich, ein paar Stufen tiefer, in den Winkel zwischen Straße und Bahndamm wie eine Plattform; nach zwei Metern Gefälle schließt ein halber Morgen teils sumpfiges, teils dräniertes Gelände an, das sich, durchfurcht von Gräben und mit turmhohen Pappeln und Tannen bewachsen, bis ans Ufer des Beecks erstreckt. Am Rand des Plateaus hatte einst ein Hühnerstall gestanden, in dem ich als Kind oft hockte, den Geruch von Heu und Gefieder in der Nase, und vom Hühnerfutter naschte, würzige, winzige Zylinder eben handvollweise pampigkaute und, voll überlegener Zuneigung das Getucke der Hühner nachahmend, durchs Astloch in der Bretterwand lugend Phantasien ausbrütete, wie es dort wohl sein mag, wohin der rote Schienenbus gleich fahren wird.
Der Konvoi hatte die Andreaskreuze hinter sich gelassen, folgte der flachen S-Kurve zwischen Feuerwehrhaus und grüner Scheune und bremste, unter der riesigen Dolde eines doppelstämmigen Kastanienbaums, schließlich vor jener Kreuzung ab, in deren nordwestlichem Karree seit eh und je Hinni Heitmann und Sohn ihre Gaststätte betrieben.
Im südöstlichen hatte früher, bevor die anschließenden Besitzer dort vor über zwanzig Jahren einen Obstgarten angelegt hatten, Kolks große Heu- und Strohscheune gestanden und im nordöstlichen, direkt der Dorfschenke gegenüber, bis 1972 ein Milchbock – an der Buchenhecke, die das ehemalige Gehöft Fieten Fitschens umgrenzte. Berstend vor Langeweile und glucksend vor Lust pflegten wir seinerzeit auf diesem Milchbock zu hocken, geplagt von vor Endorphinen strotzenden Körpersäften … Tod und Teufel kannten wir nur vom Hörensagen, wir hatten andere Sorgen. Über Nacht waren uns auf der weltabgewandten Seite der Schenkel Haare gewachsen. Schon zum Frühstück hatten wir Lampenfieber, und bis in den Schlaf quälten uns manche Mädchenmelodien, nachdem wir unsere Taschentücher mit Monogramm mißbraucht hatten, Konfirmationsgeschenke wohlwollender Tanten …
»Aha«, sagte André und deutete auf den Kneipenvorplatz. Die kleine Kolonne stoppte, und im tänzelnden Gang nervlich angegriffener Pot-und-Alko-Freaks kam Volli herüber, die Arme verschränkt, als ob er trotz der Schwüle fröre.
Anita stieg aus. Sie waren gleich groß, und sie glichen sich in ihrem feingliedrigen Körperbau, der auf den zweiten Blick jene Zähigkeit ahnen ließ, die insbesondere kleineren Menschen nicht selten eigen ist – wie zum Beispiel auch Kai. Anita und Volli wirkten beinah wie Geschwister – die Gesichtsorgane attraktiv geformt, das Haar dicht; glatt und von Natur aus dunkel die Haut. Anita gab ihm die Hand. »Bist du sicher, daß es Mufti war, den du da in Kolks Wald gesehen hast …? Entschuldigung, ich bin Anita, wir haben vorhin miteinander telefoniert.«
Volli verschränkte die Arme wieder über der flaschenförmigen Ausbuchtung in seinem Jackett und hob verlegen die Schultern an. Sein struppiger Vollbart vibrierte. Er blinzelte durch die Nickelbrille und ließ den Blick über die drei PKWs mit Hamburger Kennzeichen schweifen. Satsche, über seinen Popeye-Arm aus dem Fenster des Audis gelehnt, krähte: »Äy Gerdsen, bis’ nich’ ganz dicht hier?«
Volli vollführte eine Viertelwendung. Noch bevor er den markanten Kopf mit Schnauzer entdeckte, hatte er das rauhe Röhren erkannt.
Plötzlich verwandelte sich Vollis schüchterne Mimik. Seine Miene erstarrte – die Brauen in biblischem Schmerz gerunzelt, die Augen dichtgekniffen – dann wurde der Schädel von einem Spasmus erfaßt, der ihn in unterschiedlich dauernden Winkelzügen vom Hals zu reißen drohte, und schließlich entfuhr ihm überraschend guttural der Satz: »SEI DU MAN GANZ RUICH MIT DEI’M KLEIN’N TITT!« Er schickte ein in die Faust genuscheltes »Nag, nag« hinterdrein und errötete.
Aus meinem Ford, auf dessen Rückbank gerade Conny Platz nahm, damit der Beifahrersitz für Volli frei würde, drang das krachende Lachen Andrés.
Satsche kicherte heiser. In dieser Gruppierung – André, Satsche, Volli – waren sie sich seit zwei Jahrzehnten nicht mehr begegnet. Vollis gelungene Parodie auf Fieten Fitschen, ein damaliges Dorforiginal, wirbelte einen Hauch des alten Gemeinschaftsgefühls auf.
»Was war das denn«, fragte Heiner.
»Dasdenn dasdenn«, äffte ihn Satschesatsche in ebenso künstlicher Erregung nach. »Das kann man so schnell nicht erklären.« Er legte den ersten Gang ein. Volli stieg in den Ford. Anita fuhr los. Leo folgte ihr, und Satsche folgte Leo.
Und als Kai aus dem Heckfenster blickte, während Satsche seinen Audi auf die Straße lenkte, machte er eine Entdeckung. »Da ist er wieder«, sagte er baff.
»Wer.« Satsche schaute in den Rückspiegel. »Das gibt’s doch nicht!«
Heiner drehte sich um. »Tatsächlich!« Er keuchte einmal vor Verblüffung – ein abgeschnürtes Lachen.
»Das kann doch kein Zufall mehr sein!« Satsche nahm Gas weg, um zu sehen, wie sich der blaue Benz, der ihnen seit dem Alten Land folgte, verhalten würde. »Könnt ihr jemanden erkennen?« Diesmal war seine Aufregung echt.
»Zwei Frauen«, sagte Kai, »die eine offenbar nicht unattraktiv. Die andere häßlich wie ’n Ur. Und hinten sitzt noch ’n Typ, glaub ich.« Ihm war der Benz als erstem aufgefallen, bereits kurz nach Finkenwerder. Die Fahrerin hatte immergleichen Abstand gehalten und keinerlei Anstalten gemacht, den vorschriftsmäßig dahinrollenden Konvoi zu überholen.
Zufällig selbe Fahrtrichtungen sind in jener an Abzweigen eher armen Gegend nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlicher schon, daß einem – nach rund vierzig Kilometern – auch im Dollerner Moor noch jemand mit zehn PKW-Längen Distanz auf der Fährte blieb, zumal man ja zuvor einen Zwischenstopp am Imbiß eingelegt hatte. Als der Konvoi auf der Geraden ins Kaff eingelaufen war, war der Benz hingegen von der Bildfläche verschwunden gewesen.
Jetzt, hier im Kaff, reagierte er auf Satsches abrupt gedrosseltes Tempo, indem er auf Höhe des Sportplatzes einlenkte und stehenblieb, ohne daß jemand ausstieg. Satsche überlegte kurz und gab dann wieder Gas, vielleicht um den Anschluß an Leos Volvo nicht zu verpassen, wenngleich er den Weg zu Kolks Wald seit seiner Kindheit kannte.
»Orr, ich bin irgendwie so kaputt«, grollte Satsche mit keineswegs gesundheitlicher Besorgnis. Es war vielmehr eine umfassende Klage im Sinne von ›Möchte mal wissen, was hier eigentlich los ist …‹
Das war am Samstag, den 10. Juni 1995, gegen 19.30 Uhr. Zehn Tage war es her, daß ich mich von Anita, scheinbar mit dem Klischee vom auf Nimmerwiedersehen abhauenden Ehemann kokettierend, verabschiedet hatte: »Ich geh nur noch mal eben Zigaretten holen …«
Am Donnerstag, den 1. Juni 1995, war Anita wie üblich um halb neun Uhr morgens vom hysterischen elektronischen Alarm unseres Weckers geweckt worden. Ihr erster flüchtiger Gedanke galt der Erinnerung, daß ich gegen ein Uhr in der soeben vergangenen Nacht noch nicht wieder zurückgekehrt, als sie – aus einem Fernsehnickerchen erwachend – schließlich schlafen gegangen war. Ist doch noch in ’ne Kneipe, der alte Süffel, hatte sie sich gesagt. Etwa anderthalb Stunden zuvor hatte ich die Wohnung mit jener Bemerkung verlassen, die Anita mir so schnell nicht verzeihen sollte.
Das Bettzeug auf der Matratze in meinem Arbeitszimmer war unberührt. Es war so gut wie ausgeschlossen, daß ich die Nacht hier verbracht, schon aufgeräumt hatte und um diese Zeit aus dem Haus gegangen war. Das Fenster war gekippt und das Zimmer leidlich ordentlich, wie immer. Außer daß Jeansjacke und Baseballkappe an der Garderobe fehlten, fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf.
Als sie auf der Klobrille hockte, gab es jedoch eine mikroskopische Irritation im tagtäglichen Gewohnheitsgefüge aus Dutzenden von Kleinigkeiten. Im Prozeß der Blasenentleerung, der nach dem seelischen und körperlichen wie gewöhnlich auch das geistige Wachwerden einleitete, wurde ihr bewußt, daß sich die Sternchennudel nicht mehr an ihrem Platz befand; eine Teigrosette von vielleicht fünf Millimetern Durchmesser mit winzigem Loch als Nabe, die irgendwann in den Winkel zwischen Türrahmennut und Messing-Teppichleiste geraten war und sich der Kompetenz des Staubsaugers zäh entzog; eine minimale Unordnung, die Anita aus abergläubischer Faulheit nie beseitigt, weil sie ihren morgendlichen Blickfang gebildet hatte. Und nun war sie weg.
Sie rief Heidrun in der Stader Hauptfiliale an, wie fast jeden Tag. »Chique Tique, Ketz, guten Morgen.«
»Mufti ist heut nacht nicht nach Haus gekommen …«, sagte Anita.
»Nein?« sagte Heidrun. »Ist ja drollig … Wie das?«
Anita vernahm das leise Klappern einer Computertastatur. »Weiß ich nicht! Er ist gestern abend um halb zwölf oder so vom Sofa aufgestanden und hat gesagt, er geht nur eben noch mal schnell Zigaretten holen, und ist immer noch nicht –«
Heidruns furioses Gelächter wirkte manchmal kränkend, traf aber oft den Nagel auf den Kopf. Nie genauer als in diesem Fall.
Es dauerte eine Sekunde, bis Anita verstand. »Sehr witzig.« Sie war nicht in der Stimmung, Heidruns humoristischen Trüffelfund zu würdigen.
Heidrun lenkte ein. »Der ist irgendwo versackt«, sagte sie. »Kommt wahrscheinlich gleich im Taxi vorgefahren, mit’m Luftballon an der Manschette, die Bierfahne gehißt, und dann ziehst du ihm eins mit’m Nudelholz über und –«
»Er ist noch nie über Nacht weggeblieben, ohne was zu sagen.«
Sie duschte, frühstückte und ging ins Geschäft. In der Mittagspause rief sie in unserer Wohnung an. Niemand nahm ab. Meine Ansage auf dem Anrufaufzeichner erschien ihr plötzlich unerträglich arrogant, und da sie keinerlei »Salme,Sermone,Suaden oder Tiraden auf der Lunge« hatte, legte sie auf.
Nachmittags versuchte sie vier-, fünfmal, mich zu erreichen. Vergeblich. Indes hatte das nicht viel zu bedeuten, da ich – zu insbesondere Satsches gelegentlichem Ärger – seit Monaten kaum noch ans Telefon ging.
Als ich bei ihrer Heimkehr immer noch nicht zurück war, ängstigte sie sich so sehr, daß sie Satsche und die anderen eine nach dem anderen abtelefonierte. Sie erreichte nicht alle und versuchte es später erneut und hinterließ Nachrichten. Und wählte ein paar weitere Nummern aus meinem persönlichen Verzeichnis. Die meiner beiden Schwestern sparte sie vorerst aus – wie auch Leos, der seit einem Jahr auf Mallorca lebte und den sie ohnehin nur flüchtig kannte.
Gegen Mitternacht hatte Anita ein »halbtaubes Blumenkohlohr«, ohne Erlös – abgesehen von Trost, Hilfsangeboten und solidarischen Sorgen.
Sie rief ein halbes Dutzend Krankenhäuser an. Und die Polizei, die ihr den Ratschlag gab, den morgigen Tag noch abzuwarten und mich dann bei der zuständigen Wache als vermißt zu melden. Erfahrungsgemäß aber würden »abgängige Ehegatten« nach kurzer Zeit »von selber« wieder auftauchen.
Weil sie unmöglich schlafen konnte, stieg sie in meinen Ford, der direkt vorm Haus geparkt war, und klapperte bis halb vier Uhr eine Reihe von Kneipen ab, das Harry’s die Glucke und einige andere in der näheren und weiteren Umgebung, ja sogar die Boile und das Reybach, obwohl ich dort, soweit sie wußte, seit langem nicht mehr verkehrte. Zwischendurch fuhr sie nach Haus, schaute kurz nach und fuhr wieder los – selbst die Reeperbahn einmal auf und einmal ab, ohne jedoch in eine Kneipe oder womöglich einen der Stripschuppen einzukehren. Die Chance, mich dort aufzufinden, schätzte sie, trotz eines gewissen Vorfalls im Dezember vergangenen Jahres, als ohnehin gering ein. Sie wußte nur nicht, wo sie noch suchen sollte.
Als sie in unsere Straße zurückkehrte, fand sie keinen Parkplatz, nicht mal einen illegalen, blieb mürb vom Grübeln, heiser vor verschluckten Tränen, von Appetitlosigkeit und Anstrengung entkräftet im Wagen sitzen und versuchte eine halbe Stunde lang zu weinen – umsonst. Ihr Gesicht tat nur weh. Sie rannte in die Wohnung, schaute nach und eilte wieder ins Auto und fuhr noch zweimal um den Block. Keine Lücke. Sie hockte in meinem Ford, wühlte im Handschuhfach herum, starrte auf die stillen Häuserzeilen, auf die schwach erleuchtete Senderleiste des Radios, träumte sich in eine Hoffnungsvision hinein, schreckte daraus wieder auf und unternahm einen neuen Versuch zu weinen.
Kurz vor Morgengrauen hörte sie, wie in der Nähe ein Motor gestartet wurde, und parkte auf dem frei gewordenen Platz ein. Zurück in unserer Wohnung, ließ sie sich aufs Bett fallen, dämmerte beim Geschrei der Meisen, Amseln und Dompfaffen weg – wobei sie bei jedem Hausinstallationsgeräusch, bei jedem Schritt auf der Straße, bei jedem Sinnesgaukel Herzklopfen kriegte –, schrak zehn Minuten später auf, weil jemand die Treppenhausbeleuchtung eingeschaltet hatte, döste erneut ein und war um halb sieben wieder wach.
Zu allem Grauen war an diesem Morgen auch noch die Totenuhr besonders aktiv, der »fünf Kubikmillimeter große Bunte Nagekäfer«, wie der Kammerjäger mir ein paar Tage zuvor erläutert hatte. In enervierend langen Intervallen klopfte das Ungeziefer mit dem Köpfchen auf den Boden, um ein Weibchen zur Paarung zu veranlassen. Dem Aberglauben in alten Überlieferungen zufolge kündete dieses in damaligen Wanduhren knackende Geräusch von der Ankunft des Sensenmanns. Da das Tierchen nicht lange lebe, lohne sich die aufwendige Bekämpfung nicht.
Als die Totenuhr an Anitas Nerven zupfte wie ein dämonischer Bassist, stand sie auf, ließ sich kaltes Wasser über Kopf und Handgelenke laufen und begann erneut, Krankenhäuser anzurufen. Und dann ihre schlaftrunkene Mitarbeiterin, der sie ohne nähere Erklärung die alleinige Verantwortung für den heutigen Tag übertrug. Und dann wieder einen nach dem anderen unserer Freunde, ohne Rücksicht auf die frühe Stunde.
Die darauffolgenden Tageszeiten waren so ausgefüllt mit Gebrabbel ihrer eigenen und anderer Stimmen und sinnlosen Aktivitäten, daß sie am Abend auf jenes endlosschleifenförmige Ewigkeitsweilchen zusammengeschnurrt schienen, in das man aus einer Vollnarkose ratscht, bevor die Welt wieder eingreift.
Dann endlich rief Satsche zurück. Die alarmierende Nachricht war bereits in mehrstimmiger Ausfertigung auf seinem Anrufaufzeichner aufgesagt. Es war Zufall, daß Satsche auf Anhieb auf Anitas beinah ständig besetzter Leitung durchdrang.
»Tja«, sagte sie, und obwohl sie ahnte, was er antworten würde, stellte sie dennoch zum x-ten Mal ihre Frage: »Weißt du, wo Morten steckt?« Wenn sie meinem ältesten Freund gegenüber von mir sprach, vermied sie – obwohl die meisten ihn bereits übernommen hatten – den Kosenamen, ihre Erfindung; vielleicht aus Respekt vor Satsches älteren Rechten.
Eine Stunde später begleiteten er und Kai Anita zur Polizeiwache Sedanstraße.
Der Beamte erinnerte sie an ihren Exgeliebten, meinen Vorgänger. Vierschrötig, deutlich ausgebildete Muskeln unter den kurzen Ärmeln und der falbe Flaumbart derjenigen Männer, die sich zeitlebens ihren Hals nicht zu rasieren brauchen; ein Lächeln mit rührend kleinen Zähnen und ein Blinzeltic, der ihr Vertrauen einflößte. Er spannte ein Formular in die Schreibmaschine und verlieh einem verdrossenen Seufzer im selben Atemzug versöhnlichen Charakter.
Er hackte mit zwei Fingerhaken dreimal in die Tasten, murmelte »den … zweiten, sechsten, neunzehn … fünfundneunzig«, warf einen Blick auf die Uhr an der schalen Wand und tippte weiter, blickte blinzelnd auf und fragte: »Wie heißt er denn?«
Anita kauerte auf einem Stuhl, flankiert von Satsche und Kai, die sich zurückhielten und einfach nur bei ihr waren. Sie buchstabierte – vor Hilflosigkeit dankbar, beflissen sein zu dürfen.
»Geboren?« Er sah auf, leicht gebeugt, die Arme in Pfötchenhaltung.
Anita schämte sich plötzlich wegen des Aufhebens. »Elfter zwoter … siebenundfünfzig.«
»Wo?« Er blickte jedesmal auf.
»In Stade. Einem Dorf bei Stade. Das liegt an der Unterelbe.«
»Ich weiß.« Er sah auf, legte die Hände auf die beigefarbenen Hosen und las blinzelnd vom Blatt: »Bewaffnet? Gewalttätig? Ausbrecher? BTM-Konsument? Ansteckungsgefahr? Geisteskrank? Prostitution?«
Anita lächelte schräg. »BTM bedeutet Betäubungsmittel? Tja. Wenn Fernsehen dazugehört …«
Kai schnaubte.
»Alkohol?« Der Beamte blickte auf.
»Nnnein.«
Satsche und Kai rührten sich nicht.
»Ja doch, er trinkt reichlich«, revidierte sie, »aber er ist wohl kaum Alkoholiker im medizinischen Sinne … Oder«, sie seufzte, »ach, wahrscheinlich doch …«
»Vermißt seit?«
»Vorgestern nacht. Mittwoch, einunddreißigster Fünfter. Etwa 23 Uhr 30.«
Er tippte aufmerksam. »Zweck der Ausschreibung …«, murmelte er, richtete den Schlitten aus und haute auf eine Taste, »Aufenthaltsermittlung. Größe?«
»Einsvierundachtzig.«
»Gewicht?«
»Weiß ich nicht. Fünfundachtzig oder so.«
»Statur?«
»Normal. Nicht gerade breit, aber recht stabil gebaut. Bierbauch gekriegt.«
»Haarfarbe?«
»Dunkel. Schon ein wenig angegraut.«
»Unveränderliche Merkmale? Zum Beispiel Narben?«
Anita überlegte. »Sein Haar wird schütter, und da, am Hinterkopf gibt’s auch eine kleine Narbe, ja. Und …« Ihr fiel nichts weiter ein.
»Muttermal am Kinn«, sagte Kai.
»Ja«, sagte Anita mit düsterer Sühne.
»Augenfarbe?«
»Grau.«
»Veränderliche Merkmale, zum Beispiel Bart?«
»Nein. Doch. Also … Brille. Er trägt eine Brille, aber keinen Bart.«
Es folgte eine weitere Reihe von Fragen nach Bekleidung, mitgeführten Gegenständen, etwaigem Gerichtsbeschluß, letztem Wohnort und Gründen des Verschwindens wie vermuteter Unglücksfall, Opfer einer Straftat, Familienstreit, Trunksucht, Hilflosigkeit, Furcht vor Strafe, Abenteuerlust, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Streuner, sonstige, unbekannt.
»Wir wissen es nicht«, sagte Kai. »Es gibt keinen offensichtlichen Grund.«
»Hatten Sie Streit?« fragte der junge Beamte zwinkernd. In dem Moment fiel Anita auf, daß ihr diese naheliegende Frage von keinem unserer Freunde überhaupt noch gestellt worden war. Eine Unlust, die heranschießende Furcht zu unterdrücken, im nächsten Moment überzuschnappen, gerann mit chemischer Unweigerlichkeit zu einer Vision von mir, der ich sie mit spöttischen schmalen Lippen auf die Schippe nahm. Sie wunderte sich, wie vertraut dieses Bild ihr war.
Und das ernüchterte sie wieder.
Sie lehnte Satsches und Kais Angebot, auf sie aufzupassen, ab.
Nachdem sie über vierzig Stunden mehr oder weniger wach gewesen war, schlief sie am frühen Samstagmorgen, den 3. Juni, fest ein, erwachte wieder, telefonierte mit ihrer Mitarbeiterin, schlief ein und erwachte wieder.
Nachmittags reiste Conny aus Gütersloh an. Sie spritzte Anita ein kombiniertes Beruhigungs- und Schlafmittel, räumte auf, kaufte ein – es war »langer Samstag«, und einige Supermärkte hatten geöffnet – und telefonierte mit Satschesatsche, mit Kai, mit Heidrun, mit Iggy und mit anderen, die sie zum Teil lediglich von Geburtstagsfeiern kannte.
Am Abend fand eine erste Versammlung statt. In der Hoffnung, Anhaltspunkte für ein Motiv zu finden, versuchte Anita aus dem Stegreif ein Gedächtnisprotokoll der vergangenen Wochen. »Ich hab mir den Kopf zerbrochen, aber … Die letzten drei Tage, bevor er abgehauen ist, da saß er jeden Abend leicht bedröhnt vorm Fernseher, wenn ich von der Arbeit kam, weiter nichts. Davor, das verlängerte Wochenende über Himmelfahrt, war ich ja verreist, vielleicht ist da irgendwas vorgefallen. Davor war sein melancholischer Anfall auf dem Frozen-Fromms-Konzert, und die Woche davor ist mir auch nichts aufgefallen, und das Wochenende davor war ich in London bei meiner Mutter, und …«
Sie brach ab. Niemand traute sich, mit den Schultern zu zucken; alle senkten die Köpfe, kniffen die Brauen zusammen und schwiegen, bis jemand den fruchtlosen Versuch einer gedanklichen Verknüpfung unternahm. Seufzer begannen mit Knacklauten, vom Blinzeln schmerzten die Augmuskeln.
»Und wenn er wieder hier auf der Matte steht«, beschwor Conny Anita am nächsten Morgen – Pfingstsonntag –, »wirst du ihm als erstes ein schönes Veilchen applizieren!« Sie klimperte mit dem tropfenden Geschirr gegen das ferne Dreiklanggeschmetter der Kirchenglocken an. Anita saß auf meinem Platz und konnte überhaupt nicht wieder aufhören zu weinen. Endlich.
Conny hob einen blauen Teebecher mit der Aufschrift Champ auf. »Ist das seiner?« Ihre Augen karfunkelten. Anita nickte und beneidete sie um den schweren, gutgefügten Leib einer Siebenkämpferin. Conny stellte den Becher zu den Tellern und Gläsern, die ich benutzt hatte, und spülte Anitas Besteck. »Was hat er gesagt?« Anita wagte keine Wiederholung. »Das hat er wirklich gesagt? ›Ich geh nur noch mal schnell Zigaretten holen‹?!« Conny knickte in der Taille ein und fletschte die starken Zähne.
Anita weinte leise.
»Mies genug«, grollte Conny und warf den Kopf nach hinten, als hätte sie ihre gelbe Mähne nicht schon vor Jahren abschneiden lassen, »sich klammheimlich zu verpissen, ’n feuchten Feudel um die Gefühle von Leuten zu scheren, die einem nahestehen. Aber die dann auch noch zu verarschen, das ist niederträchtig.«
»Hör auf«, weinte Anita, »vielleicht ist er tot …«
»Ich schwöre dir, der lebt«, sagte Conny, »der ist lebendiger, als uns lieb sein kann …«
»Du mußt los, wann fährt denn dein Zug …«
»Meine Irren können warten«, knurrte Conny. »Soll ich dir Valium dalassen?«
Fünf Tage später, am Freitagabend, den 9, Juni, war Conny wieder in Hamburg – für Samstag war die inzwischen dritte Sitzung des freundschaftlichen Krisenstabs geplant. Sie fand Anita in einer Verfassung vor, die es Conny schwermachte, ihr auch weiterhin Tatenwut als oberstes Gebot in einer schwierigen Lebenslage vorzuexerzieren. Wie Anita da stand – auf dem Sternbild aus Blutsprengseln im Teppich, unterhalb des vier Monate zuvor neu verkitteten Türscheibchens –, schien ihr Gemütsbild einander beißende Farben aufzuweisen: schwarzleuchtende Trauer, graue Schuld und Niedergeschlagenheit, aber auch dunkelroten Zorn, gelbes Entsetzen, blasse Gefaßtheit. Nach dem Essen berichtete sie Conny von den jüngsten Entwicklungen, die stattgefunden harten, seit sie das letzte Mal, am Vortag, miteinander telefoniert hatten.
In jenem Telefonat hatte Anita Conny bereits darüber informiert, daß die karteiführende Dienststelle der Leichen- und Vermißtenabteilung innerhalb der Inspektion für Kapitalverbrechen einen Beamten geschickt, der Keller und Boden des Hauses, in dem wir wohnten, durchsucht hatte. Er hatte Fragen nach den ehelichen und familiären Verhältnissen gestellt und aufgehorcht, als er vernahm, daß meine Eltern seit zwei Monaten in Kanada unterwegs waren.
Anita hatte die Entscheidung, dort nachzufragen, ständig vor sich hergeschoben – insbesondere, weil sie hellhörige Reaktionen fürchtete –; schließlich aber rief sie unter einem Vorwand doch bei der Kontaktadresse an und konnte aufgrund unbefangener Antworten Horst Mortens sicher sein, daß ich in Saskatchewan nicht aufgetaucht war. Genauso verfuhr sie mit ihren beiden Schwägerinnen. Sie hatte Angst vor dem Wirbel, den sie auslösen würde, wenn sie meine Schwestern – zu früh, wie sie sich sagte – einweihte; er würde Kreise bis nach Kanada ziehen. Die Mortens sollten sich der Reise so lang es ging erfreuen, und Anita hoffte schlicht täglich, daß sie mich heute aber finden würde. Doch je länger sie meiner Familie die Hiobsbotschaft vorenthielt, desto schwerer fiel es ihr, diese zwiespältige Entscheidung ihres zunehmend schlagenden Gewissens aufrechtzuerhalten.
Der Kripobeamte hatte nach Verbindungen zur Unterwelt gefragt, nach Bekannten, die »vielleicht ein Segelboot oder ähnliches« besaßen, nach möglicher Suizidgefährdung, finanziellen Verhältnissen und Drogenkonsum und zuletzt, ob Anita Röntgenbilder von mir besäße. Er bat um die Adresse meines Zahnarztes sowie um eine Haarprobe aus meiner Bürste und kündigte den Besuch von Daktyloskopen an, die in der Wohnung Fingerabdrücke nehmen würden. Es würde sodann ein Abgleich mit unbekannten Leichen vorgenommen, »alle Vierteljahre wieder«. Er stellte in Aussicht, daß beim Arbeitsamt, wo ich als arbeitsloser Journalist registriert war, ein Suchvermerk hinterlassen würde. Und er versuchte Anita mit der Auskunft zu beruhigen, daß in Hamburg pro Jahr »höchstens zwischen zwei und fünfzehn Leuten« – je nachdem, »ob irgendwo ein Schiff gesunken ist« – länger als eine Woche als vermißt geführt würden. Eine Fahndung aber, so war Anita belehrt worden, würde – außer bei Kindern – nur im Fall begründeten Verdachts auf ein Verbrechen ausgeschrieben. Ein erwachsener Mensch habe das Recht, spurlos zu verschwinden.
Außerdem hatte Conny in jenem Telefonat erfahren, daß häufig Anitas Telefon läutete, ohne daß jemand sich meldete – ich? –, und daß eine kurze Suchmeldung mit Foto für die Montagsausgabe der Hamburger ABENDPOST geplant war. Diese Veröffentlichung bedeutete, daß Anita nicht nur sich ihren beiden Schwägerinnen würde offenbaren, sondern auch Nachfragen oder gelegentlich verstohlene Blicke von Nachbarn aushalten müssen.
Ebenso wußte Conny von der zweiten Krisensitzung, die – am Dienstag, den 6. Juni – bei Anita stattgefunden hatte. In deren Verlauf waren verschiedene Aufgaben verteilt worden.
Heidrun kannte jemanden, dessen Nichte bei der Niedersächsischen Sparkasse in Stade zur Bankkauffrau ausgebildet wurde, wo ich nach wie vor mein Hauptkonto unterhielt. Mein langjähriger Ansprechpartner bei der Nispa hatte sich unter Bedauern und mit dem Hinweis auf juristische Nickligkeiten »weigern müssen«, Auskunft über Kontobewegungen zu geben. Auskunft, die Aufschluß darüber erlaubt hätte, ob ich seit dem 1. Juni Geld abgehoben hatte. Jene Nichte nun sollte bestochen werden, einen Blick auf meine finanzielle Lage zu werfen. Seitdem wartete Anita auf Heidruns diesbezüglichen Anruf.
Andere Aufgaben – die Iggy übernahm – betrafen, soweit noch nicht geschehen, Nachforschungen bei einer Reihe von Bekannten aus journalistischen Kreisen, zu denen ich früher kollegialen bis freundschaftlichen, sporadischen bis regelmäßigen Kontakt gepflegt hatte. Die zentrale Figur jedoch, Iggys und mein ehemaliger Chefredakteur Eugen von Groblock, war unbekannt verzogen (ebenso wie Doc Brokstedt), und wegen des Eklats bei meinem Ausscheiden aus der ELBE-ECHO-Redaktion war es heikel, unauffällig Informationen einzuholen; dennoch hatte Iggy ein Telefonat mit der Herausgeberin geführt, das ihm zwar ohne Preisgabe peinlicher Fakten gelungen war, freilich aber wenig Ergebnisse erbrachte, mit Ausnahme des sicheren Gefühls, daß sie über mein Verschwinden nichts wußte.
An einen gewissen Lucas Lloyd hatte Iggy nicht gedacht.
Unter Leos Nummer auf Mallorca war zu dem Zeitpunkt niemand zu erreichen gewesen.
Satsche wiederum hatte am kommenden Abend ins Kaff fahren sollen, sich dort umhören, unter anderem einmal mehr in Hinnis Kneipe, und versuchen, Kolks Urlaubsadresse in Griechenland herauszufinden – ausgerechnet dieses Jahr war er nicht wie gewöhnlich bei Dimitri in Loutsa zu Gast, dessen Telefonnummer Satsche besaß –; doch dazu ist es nicht mehr gekommen.
»Was ist passiert«, fragte Conny also am Freitag, den 9. Juni 1995, gegen 20 Uhr – beunruhigt über Anitas düster gescheckte Ausstrahlung der Gedemütigten –, nachdem sie ihren Koffer abgestellt und sie, auf den dunklen Blutsprenkeln im Teppichboden stehend, umarmt hatte.
»Laß uns erst essen«, sagte Anita fest. »Später krieg ich nichts mehr runter. Ist gleich fertig.« Da sie in den vergangenen Tagen zwölf Pfund abgenommen hatte, begrüßte Conny ihren Vorschlag.
Während Anita dann allerdings mehr mit Käsefäden kämpfte als speiste, berichtete sie, am Morgen habe Leo Mufti per Anrufaufzeichner zu sprechen gewünscht. Auf ihren Rückruf hin habe er völlig entgeistert darum gebeten, dem morgigen Krisentreffen beiwohnen zu dürfen; er habe ohnehin in Hamburg zu tun und wolle versuchen, einen entsprechenden Flug zu buchen.
»Tut mir leid«, sagte Conny nach dem Essen, »daß ich gähne wie ein Nilpferd …«
»Tut mir leid«, sagte Anita lahm. »Die ganze Woche plagst du dich mit den Jecken rum, und dann mußt du dir auch noch am sauer verdienten Wochenende …«
»Uuuu …« Conny winkte ab, ließ schmatzend den Mund zuschnappen und sagte: »Halt den Schnabel. Sonst erkläre ich dich für jeck.« Sie saß auf meinem Fernsehsofa, die Schenkel schräg angezogen; auf dem Nähmaschinentischchen standen die benutzten Teller und die Auflaufform mit den grünen und gelben Speiseresten. Ein Glas Weißwein glitzerte im Kerzenlicht. Conny reckte den kräftigen Hals nach dem Stereoturm. »Musik?«
»Ich kann keine Musik mehr hören. Ich kann … unsere Musik kann ich momentan nicht hören.« Anita hielt ein feuchtes Tuch auf der Stirn fest, als sie ihren Kopf seitlich auf die Lehne des Zweisitzers bettete, der im rechten Winkel zum Fernsehsofa stand. Durch die geöffnete Fensterklappe strömte ein nach Efeu duftender Lufthauch, wie aufgerührt durch Getrappel und Scharren, Schwatzen und Gelächter von draußen.
Anita schloß die Augen und hörte, wie Conny aufstand. Als sie sich neben sie kniete und ihr übers Haar strich, quoll Tränenwasser unter den Lidern hervor wie Schweiß. »Ich kann nicht mehr«, wisperte sie. »Ich kann echt nicht mehr …«
Conny; sie strich ihr übers Haar und bot ihre kühle Wange. »Er hat ’ne Geliiiebte«, heulte Anita los, »offenbar schon seit Jahren, sie nennt ihn Böckchen und macht ihm Frikadellen, und … und ’n geheimes Kabuff hat er, von dem niemand was –«
»Ein was?« preßte Conny heraus, atemlos vor Wut auf mich, den egoistischen alternden Bengel, den ihre beste Freundin geheiratet hatte und den sie, Conny, noch nie recht hatte leiden können.
Schon lange ahnte sie, daß die Schwierigkeiten zwischen meiner Frau und mir tiefer reichten, als Anita zwar hin und wieder hatte durchblicken lassen – immer aber mit jenem Hauruck-Beiklang, der das Fluidum ihrer Stimme seit jeher bestimmt, Conny wiegte Anita, tupfte ihr mit dem Tuch die Rinnsale von den Wangen und ließ ihrem Weinkrampf die Zeit, die er brauchte. Nach einer Weile gingen die Schreie zu Beginn der Schüttelkrämpfe in Wimmern über, unterbrochen von knochigen Schluchzern, und diese schließlich in einen Schluckauf, der sie beide in Gelächter ausbrechen ließ.
»Ist es …« winselte Conny, »ist es eine von den Zwillingen?«
»Was für ZwIECKpff, Zwillinge …«
»Die aus der Knorrsuppenwerbung … ›Essen mit Lust und Liebe‹ …?«
»Wieso Essen … aIECKpff, ach so …«, heulte Anita und gnickerte nur noch tonlos in sich hinein. Zwei schöne Frauen, quinkelierend bestrebt, Schlamassel urbar zu machen.
»So.« Conny stand auf, hob Anitas Beine an, setzte sich und bettete sie über die ihren. »Jetzt erzählst du mir alles haarklein.«
Anita seufzte so schwer, daß es sie von den Nachwehen fröstelte. Sie streckte sich nach einem braunen DIN-C5-Kuvert auf dem Ecktisch. »Das hat jemand – wahrscheinlich heute nachmittag, bevor ich nach Haus kam – unter meiner Tür durchgeschoben. Zwei Schlüssel waren drin. IECKpff.«
»›Anita Adammtzik‹«, murmelte Conny, »interessante Schreibweise.« Sie zog einen schief gefalteten Zettel heraus, »Das ist alles?« Sie sah Anita an, »Salingerweg 1a. Das ist in Winterhude, oder? Und da warst du schon? Von wem –«
»VorhIECKpff, vorhin zwei Stunden, bis ich zurückmußte, weil ich dich nicht vor verschlossener Tür warten lassen wollte«, sagte Anita. »Es ist ’n Zimmer, zwölf Quadratmeter etwa, nicht mehr als ’n Kabuff. Anscheinend ’ne Art Schreibklause. War vielleicht mal ’n Büro, das zu ’nem Ladengeschäft gehörte, wo jetzt nur ’n altes HMpf, Motorrad im Schaufenster steht. Sein Name steht an der KlingIECKpff, Klingel. Schreibtisch drin, Telefon … Und vor allem drei Tagebücher, und –«
»Und du hast nichts davon gewußt? Wie lange hat er denn das schon. Das … Kabuff.«
»Weiß ich nicht. Nein. Hab ich nicht.« Anita blickte an die Decke. Ein schwarzer Staubfaden schwänzelte in schwachem Luftstrom.
»Primitive Handschrift«, sagte Conny, »Und du meinst, der Schlüssel kommt von Frollein Knorr?« Sie schaute auf Anitas Knie.
»Bärbel heißt es. Bärbel RattenvotzÖRRpf! Wahrscheinlich ist die ’s, die hier dauernd anruft und dann nicht rangeht.«
»Woher weißt du. Woher weißt du überhaupt von der.« Conny ging auf Anitas ungewohnt artikulierten Haß nicht ein; statt dessen drehte und wendete sie den Umschlag, auf dem kein Absender stand, nur Anitas Name.
»Erstens ist eine gewisse Bärbel ein paarmal auf dem Anrufbeantworter im Kabuff vertreten. HMp! Und zweitens … In diesen sogenannten Journalen da … – Scheiße, wie fang ich denn jetzt ÖRRgg! …«
»Ganz ruhig, mein Engel.« Conny barg Anitas Kniehalbkügelchen in ihren Handmulden, Umschlag und Zettel zwischen den Fingerspitzen. »Eins nach dem andern.«
Anita seufzte erneut. »Also, vielleicht hat diese Gans Mufti an mich verraten wollen. Vielleicht hat sie angenommen, daß er sich – warum auch immer – im Kabuff versteckt hält. Ach Quatsch, kann ja nicht angehn, sonst hätte sie ja nicht NNg!, nicht dauernd da auf Band – aber auf jeden Fall wollte sie wohl, daß ich auch davon weiß, logisch. Vielleicht damit ich die Journale lese. Na, jedenfalls hat sie ganz offensichtlich einen Schlüssel zum Kabuff, oder hatte zumindest, aber andererseits weiß offenbar diese … Nutte auch nicht, wo Mufti steckt, sonst hätte sie ja nicht so oft aufs Band –«
»Was hat sie denn gesagt? Was hat sie denn draufge–«
»Ach!« Anita machte ein angewidertes Gesicht und warf mit leeren Händen etwas weg. »›Hier ist Bäärbül, bist du daaa?‹« äffte sie. »›Ich hab mir ’n neuen Slip gekauft. Bist du daaa?‹ ›Ich muß ma wieder orndlich durchgefickhick!, fickt werden. Bist du daaa?‹ Mp.« Trotzig blickte sie an die Decke. Die Staubfluse schwankte. »Und dann noch irgendwas von einem Prozeß und –«
Conny machte eine Schluckpantomime und grinste. »Das ja ’n Ding. ›Slip gekauft‹?!« Sie vollführte – leichthin wie ein handgeschriebenes Kürzel – diese kleine Kopfgeste, die früher die Zotteln aus ihrem Posaunenengelsgesicht geschleudert hätte, und schnitt jene froschmäulige Grimasse, die sie immer aufsetzte, wenn sie Verblüffung in Abgeklärtheit umwidmete. Anita ärgerte sich ein bißchen über die Herzlosigkeit, fühlte sich aber gleichzeitig getröstet durch jene Art »Bodenhaftung«, ein Lieblingsausdruck Connys.
Schweigen. Schwankende Staubfluse.
Schweigen. Knie.
Conny wußte, daß sie Anita Zeit lassen mußte, bevor sie zum Wesentlichen kam. Anita stierte an die Decke. Conny beobachtete sie und sagte schließlich: »Er hat sich im Grunde schon viel früher davongemacht, nich? Innerlich.«
Anita zuckte zweimal mit ihrem mädchenhaften Kinn. »Und ich … Im Grunde hab ich ihn wirklich nur noch wahrgenommen, wenn er rumbölkte wie ’n Berserker. Aber er ist auch so empfindlich … geworden, Herrgottnochmal. Da kommt er aus der Küche vom Abwasch und ölt aus allen Poren wie ’n Ringer und ich sag: Was schwitzt du denn so, und schon ist er beleidigt.«
Conny warf den Kopf nach hinten und lachte so dreckig, daß Anita schief lächeln mußte. »Es ist krankhaft. Abartig.« Anita nahm eine Haarsträhne zwischen die Lippen. »Aber wenn man so lange zusammen ist.« Conny, den Schmelz noch in den Augen, barg Anitas Knie in ihren Handmulden. »Wann ging’s denn eigentlich … den Bach runter mit ihm …«
»Was heißt den Bach runter …« Anita warf den warmgewordenen Lappen auf den Tisch. Nicht so sehr die Formulierung ärgerte sie, sondern vielmehr die Tatsache, daß Conny eine solche Frage überhaupt stellte, eine Frage, die sie als geheuchelte Unkenntnis auslegen mußte. Doch da ihr ebenso deutlich bewußt war, daß sich Conny damit stillschweigend auf einen gewissen Pakt berief, um den Anita sie – nach ihrer beider gemeinsamen Reise quer durch die Vereinigten Staaten vor etlichen Jahren – gebeten hatte, spielte sie mit, zumal Connys Loyalität sie plötzlich rührte.
»Na ja, vielleicht tatsächlich den Bach runter. Ach, im Grunde schon, seit er damals, ’91 glaub ich, wieder kleinlaut bei ELBE ECHO zu Kreuze gekrochen ist. Aber da hatte ich ja gerade die Lehre abgebrochen und mit Bibliothekswesen angefangen und sowieso genug um die Ohren, und später ja dann der Ladenaufbau, und weil wir uns nur noch selten begegneten, zwischen Tür und Angel, war’s erträglich zwischen uns. Wenigstens hat er damals noch einmal pro Monat mit mir geschlafen. Als seine Chefin ihn dann endgültig rausschmiß, weil er ja nix mehr gebacken kriegte ohne Führerschein, und er ständig zu Hause verkatert vor der Glotze rumhing und pennte und rumdröhnte über jeden Scheiß, und dann dauernd seine Migräne, und ständig ist ihm zu warm … aaach …« Sie schloß die Augen. »Diese ewige Sauferei … Und in letzter Zeit … dieser Zusammenbruch auf St. Pauli, im letzten Winter, als ich ihn aus’m Hafenkrankenhaus abholen mußte, schrecklich, und – und die Krönung ist ja nun, daß er sich mit Satsche verkracht hat. Wegen einem Pfund Zwiebeln! Mit seinem besten Freund! Wegen eines Pfundes Zwiebeln!«
Sie mußte das nicht erläutern, solange Conny schwieg. Anita wußte, daß Conny sie nie, auch nicht insgeheim, eitler Pointenverschleppung anklagen würde. Anita wußte, daß Conny weiß, daß Anita nicht zu denen gehört, die jemand zu Nachfragen zu nötigen suchen, nur um ihn dem Verdacht auf Teilnahmslosigkeit auszusetzen, wenn sie ausbleiben.
»Der war zuletzt unerträglich«, sagte Anita, und ihre Stimme quäkte bei der vorletzten Silbe ein wenig. »Ich meine, monatelang bläst er sich auf und …« Anita schnaufte. Diese Wendung hatte Iggy bei der ersten Krisensitzung benutzt, und vollendet hatte sie Heidrun in einem ihrer mitunter kränkenden Ausfälle, anhand derer sie sich Angst aller Art vom Leib hielt: »… und jetzt ist er wahrscheinlich geplatzt.«
Allein Anita hatte die wahre Dimension des Geschehens von Beginn an geahnt. Als Heiner fassungslos sagte: »Das gibt es doch nicht, daß einer verschwindet wie von einem Schwarzen Loch verschluckt«, hatte Anita erwidert; »Wahrscheinlich hat ihn das Loch im eigenen Kopf verschluckt.« Wobei ihnen der Ausdruck Loch damals noch allzu dramatisch erschien angesichts der bohnenförmigen Narbe in meinem Hinterkopf, einziges sichtbar nachgebliebenes Mal jenes suffbedingten Unfalls im Mai 1988. Seither litt ich zuweilen unter migränoiden Kopfschmerzen, selten unter regelrechten Migräneanfällen.
Anita nahm den warmgewordenen Lappen vom Tisch und zupfte ihn auf ihrer Stirn zurecht. »Wenn er nicht gerade depressiv in ’ner Ecke rumlag oder über irgendwelche Zipperlein jammerte, regte er sich über irgendwas auf. Über jeden Scheiß regte er sich auf. Zu blöd, das Duschwasser so einzustellen, daß die Temperatur konstant bleibt. Zu blöd, den Besen einfach aus’m Schrank zu nehmen, damit er sich nicht immer die Finger klemmt. Zu blöd, sich einfach ’nen neuen Mülleimer zu kaufen. Diese Wut immer. Schlägt die Türscheibe mit der bloßen Faust ein, weil er den Schlüssel hat steckenlassen! Zuletzt kriegte man ja nur noch drei Sätze von ihm zu hören. ›Ich krich ’n Kragen!‹, ›Das ist doch nicht wahr!‹ und ›Was sind denn das für Leute!‹.«
Sie spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, da ihr Lamento eingeübt wirkte – was zutraf. Premiere hatte es gewiß nicht. »Alles brachte ihn zur Weißglut. Alles. Talkshows, blasse Brötchen, der Verteidigungsminister, Leute jeglicher –«
»Wie. Die Menschheit an sich oder –«
»Ach …« Anita winkte ab, überlegte, ob es sich lohnte, ausführlicher zu werden, und holte Atem. »Er hat so seine Lieblingsfeinde … Zum Beispiel den Pastor, der in der Wochenendausgabe der ABENDPOST sein Wort zum Sonntag schreibt. Das verfolgt ihn bis in die Journale, das mußt du dir mal vorstellen! Genauso wie so ’ne Bestsellerautorin, hab vergessen, wie sie heißt. Er kennt die, ist ’ne ehemalige Kommilitonin, und du glaubst gar nicht,