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Kommissar Palzkis Chef, Klaus P. Diefenbach, will unbedingt den Goldenen Ankerorden, die höchste Auszeichnung der Ludwigshafener Karnevalsvereine, verliehen bekommen. Die beiden besuchen mehrere Karnevalsveranstaltungen, bei der es jedes Mal zu einem mysteriösen Todesfall kommt. Palzki kann zunächst keinerlei Verbindungen zwischen den Taten erkennen, außer dass es sich bei den Opfern um wichtige Repräsentanten der Veranstalter handelt. Doch dann kommt Palzki einem perfiden Verbrecher auf die Spur, der nur ein einziges Ziel verfolgt …
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Seitenzahl: 311
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Harald Schneider
Ordentlich gemordet
Palzkis 21. Fall
Mörderische Fasnacht Kommissar Palzkis Chef, Klaus P. Diefenbach, will unbedingt den Goldenen Ankerorden mit zwei Brillanten, die höchste Auszeichnung der Ludwigshafener Karnevalsvereine, verliehen bekommen. Laut einer von der Dachorganisation Großer Rat gestellten Bedingung, muss er dafür öffentlich eine Büttenrede halten. Um in das Fastnachtsmilieu einzutauchen, besucht Diefenbach mit seinem Untergebenen Reiner Palzki mehrere Karnevalsveranstaltungen, bei der es jedes Mal zu einem mysteriösen Todesfall kommt. Zunächst kann Palzki keinerlei Verbindungen zwischen den einzelnen Taten erkennen, außer dass es sich bei den Opfern allesamt um wichtige Repräsentanten verschiedener Vereine handelt. Selbst die Todesarten sind so unterschiedlich wie ungewöhnlich. Doch dann, kurz vor Ende der Fastnachtskampagne, geht es Schlag auf Schlag. Palzki kommt in seinem bisher ungewöhnlichsten Fall einem perfiden Verbrecher auf die Spur, der nur ein einziges Ziel verfolgt …
Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 21. Fall »Ordentlich gemordet«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang Leibig
ISBN 978-3-8392-6970-1
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Glossar
Der letzte Orden
Ordentlicher Tod
Unordentlicher Raum
Frauenmordende Altweiberfasnacht
Liebgewordene Straßenbahn
Außerordentliche Absage
Ordensschwester mit Stich
Nicht ganz der Bundesverdienstorden
Zuordenbarer Täter
Ordentliches Ende
The Making of – Warum und wie dieser Roman entstand
Ratekrimi Classic – Palzki und der falsche Clown 2011
Ratekrimi Classic – Palzki und die Schifferstadter Fasnacht 2009
Lesen Sie weiter …
Reiner Palzki: Kriminalhauptkommissar und stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalinspektion Schifferstadt
Klaus P. Diefenbach: Palzkis Chef, Spitzname KPD
Gerhard Steinbeißer, Jutta Wagner, Jürgen: Kollegen Reiner Palzkis
Stefanie Palzki: Reiner Palzkis Ehefrau mit den Kindern Melanie, Paul, Lisa und Lars
Christoph Heller: Präsident des Großen Rates, Ortsvorsteher Ludwigshafen
Bettina Heller: Frau von Christoph Heller
Doris und Jochen Bruch: Getränke-Bruch
Claudia und Helmut Bruch: Getränke-Bruch
Tobias Mack: Vorsitzender Karnevalverein Rheinschanze
Josephine Mack: Jugendleiterin + Trainerin Karnevalverein Rheinschanze
Michael Stein: Sitzungspräsident Karnevalgesell-schaft Eule
Sabine Roth: Schriftführerin Karnevalverein Hans-Warsch-Oggersheim
Gabi Blum: Freundin von Sabine Roth
Markus Lemberger: Pressesprecher Lukom
Doktor Matthias Metzger: Not-Notarzt
Günter Wallmen: Gehilfe von Doktor Metzger
Dietmar Becker: Krimischreibender Student
Es hätte so ein schöner Tag werden können.
Irgendetwas war faul. Und das seit Wochen. Zu Beginn der Adventszeit hatte ich es das erste Mal bemerkt. Zunächst dachte ich, dass ich mich irrte, was nach meiner Lebenserfahrung eigentlich auszuschließen war. Es waren stets nur Kleinigkeiten, die meinen Argwohn weckten: Zum Beispiel war eines Tages mein winziges Büro im Kellertrakt, das ich nur selten betrat und ehrlicherweise so gut wie nie benötigte, verschlossen. Der Hausmeister sprach ohne jede Überzeugungskraft von einem Wasserrohrbruch und länger dauernden Trockenlegungsmaßnahmen. Da ich mich sowieso, wenn ich im Innendienst war, meist bei meinen Teamkollegen Gerhard Steinbeißer und Jutta Wagner im ersten Obergeschoss aufhielt, beunruhigte mich das angeblich durchnässte Büro zunächst nicht. Das Getuschel der Kollegen auf den Fluren, das jedes Mal abrupt abbrach, sobald ich bemerkt wurde, machte mich schließlich doch nervös.
Eines Morgens stand im rückwärtigen Hof unserer Dienststelle ein 20 Meter langes Festzelt. Ohne jegliche vorherige Information war der Parkplatz für die Dienstwagen unserer Kriminalinspektion gesperrt worden. Was mich besonders stutzig machte, war, dass dieses Zelt durch ein privates Security-Unternehmen bewacht wurde. Selbst mir, dem, zumindest auf dem Papier, stellvertretenden Dienststellenleiter, wurde barsch der Zutritt verweigert. Als ich meinen Kollegen von dieser mysteriösen Aktion berichtete, wurde ich endgültig hellhörig.
»Ach, Reiner«, versuchte mich Jutta zu beruhigen, »in ein paar Tagen ist Weihnachten. Unser Chef bastelt bestimmt an einem Weihnachtsgeschenk für seine Frau.«
»So wird’s sein«, bestätigte Gerhard, der sich lässig in die Sitzgruppe gefläzt hatte, in einem nicht ganz jugendfreien Magazin blätterte und seinen Kaffee schlürfte.
Die vermeintliche Ruhe, die sie versuchten auszustrahlen, brachte mich auf 180. »Spinnt ihr?«, schoss ich die beiden an. »Wenn KPD seiner Frau etwas schenkt, dann höchstens ein Bügeleisen für seine Uniform.« Der Spitzname unseres ungeliebten Dienststellenleiters Klaus P. Diefenbach war auf der Dienststelle allgemein bekannt. »Außerdem wuseln um das Zelt ständig mehrere Handwerker herum.«
Ich spürte, dass meine Kollegen wussten, was im Hof vor sich ging. Immer mehr versteiften sich meine Gedanken darauf, dass alles irgendwie mit mir zu tun haben könnte. Als ich Gerhard und Jutta vorsichtig danach fragte, kam es wie aus der Pistole geschossen: »Jetzt werde nicht paranoid, Reiner, die Welt dreht sich nicht ausschließlich um dich. Hast du zu Hause deinen jährlichen Weihnachtsstress? Nimm dir ein paar Tage frei und genieße die Vorweihnachtszeit.«
Damit hatten die beiden eine weitere Baustelle angesprochen, diesmal privater Natur. Die letzten Dezemberwochen waren für mich regelmäßig die Hölle auf Erden. Ein friedliches Weihnachtsfest, wie es sich meine Frau Stefanie jedes Jahr von Neuem wünschte und erhoffte, gab es per definitionem nicht: bei uns im Hause Palzki nicht und auch in Millionen anderen Familien nicht, wie ich meiner Frau jedes Jahr die angeblich friedliche Mär des Weihnachtsfestes zu erklären versuchte. Es war ja nicht so, dass ich mich nicht jedes Jahr wieder bemühte, ihren Plan zu erfüllen. Aber gerade zum Jahresende waren die Fettnäpfchen, in die ich unbewusst und ohne Absicht trat, dermaßen vielfältig und häufig, dass es regelmäßig zu familiären Unstimmigkeiten im höheren Eklatbereich kam. Ohne mich jetzt verteidigen zu wollen, taten auch meine beiden größeren Kinder ihr Übriges, Stefanie das Weihnachtsfest zu verderben. Die 13-jährige Melanie befand sich seit geraumer Zeit in einer leidigen Pubertätskrise, in der eine fünfminütige WLAN-Unterbrechung schlimmer als jeder Weltuntergang war. Der diesjährige Weihnachtskiller schlechthin war aber der nun zehnjährige Paul. Bei den Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsparty fackelte er pünktlich zum zweiten Advent unser Holzgartenhaus ab, als er ein Indoor-Feuerwerk mit übrig gebliebenen Silvesterraketen vom Vorjahr abbrannte.
Trotz allem gelang es uns als Familie, inklusive des Besuchs der Schwiegermutter, die Feiertage und den Jahreswechsel lebend und sogar gesund zu überstehen. Dank der vegetarischen Küche meiner Frau hatte ich Anfang Januar sogar das Gefühl, dass meine Hose im Taillenbereich nicht mehr ganz so sehr spannte.
»Hast du eigentlich bemerkt, dass ich dir eine neue Hose gekauft habe?«, fragte mich Stefanie an meinem ersten Arbeitstag, während sie mir ein gesundes Frühstück zubereitete. »Die alte war viel zu eng und fleckig. Ob das jemals was wird mit deinem Diätplan?« Sie musterte mich insbesondere im Bereich der Körpermitte und seufzte tief.
»Jetzt beginnt die heiße Phase der Fasnachtszeit«, antwortete ich. »Du weißt ja, dass ich das ganze Fröhlichkeitsgedöns nicht mag. Ich werde die Zeit für eine vorgezogene Fastenzeit nutzen.«
Stefanie hatte natürlich eine sarkastische Antwort parat: »Und in der wirklichen Fastenzeit futterst du dann wie ein Mähdrescher.«
Nur leicht missgelaunt fuhr ich an meinem ersten Arbeitstag im neuen Jahr zur Dienststelle der Kriminalpolizei, unwissend, dass der Tag weitere unliebsame Überraschungen für mich zu bieten hatte.
Zunächst war alles wie immer: Einige offensichtlich verkaterte Kollegen, denen ich im Flur begegnete, wünschten automatisiert »Proscht Neijohr«, ohne mich richtig zu registrieren. Die Tür zu KPDs riesigem Büro war verschlossen. Auch dies war etwas, das mich beunruhigte. Früher stand die doppelflügelige Tür stets weit offen, doch seit KPDs mehrwöchigem Krankenhausaufenthalt im vergangenen Sommer war dies anders. Nach dem Genuss von vergifteten Zucchini lag unser Dienststellenleiter einige Zeit im Koma, und laut Aussage des Ludwigshafener Polizeipräsidenten war ich bereits als KPDs Nachfolger gesetzt. Meine organisatorischen Umbaupläne zu einer offenen und agilen Polizeiverwaltung wurden jäh zerstört, als KPD eines Tages aus heiterem Himmel aufwachte und kurze Zeit danach wieder dienstfähig war. Seitdem verkroch er sich, wann immer es möglich war, in seinem Büro und gab neue Anordnungen nur schriftlich oder telefonisch an seine Untergebenen weiter. Mich störte das nicht, denn jeder Tag ohne KPD war ein guter Tag.
»Proscht Neijohr«, schallte es mir entgegen, als ich Juttas Büro betrat. Sie saß mit Gerhard und unserem Jungkollegen Jürgen am Besprechungstisch und trank Kaffee.
»Gutes neues Jahr«, nuschelte ich zurück. Ich hasste diese Sprüche genauso wie »Mahlzeit«, »Ahoi« und »Helau«.
»Komm, setz dich zu uns«, forderte mich Gerhard fröhlich auf. »Wir betrachten gerade Bilder von Weihnachten. Ich war ein paar Tage auf Malle und habe Party gefeiert.« Gerhard, der sportliche Marathonläufer, genoss sein Leben in vollen Zügen. Nur sein stetig zurückweichender Haarkranz sorgte bei ihm für Verdruss, weil er damit seiner Meinung nach einen Teil seiner weiblichen Zielgruppe nicht zu seiner vollsten Befriedigung erreichen konnte.
Motivationslos setzte ich mich zu den Kollegen. »Ich habe keine Fotos. Nur die, die der Gutachter der Haftpflichtversicherung aufgenommen hat.«
Alle drei lachten kurz auf. Dann sahen sie an meiner Mimik, dass Heiterkeit nicht das war, was ich in diesem Zusammenhang gebrauchen konnte. »Die Versicherung zahlt zwar den Schaden, hat aber gleichzeitig den Vertrag gekündigt. Sie war die einzige, die uns nach Pauls vorletztem Abenteuer einen Vertrag angeboten hatte. Zu stark erhöhten Konditionen, versteht sich.«
»Das heißt, du hast keine Versicherung mehr für die Eskapaden deines Sohnes?«
Ich nickte. »Ich könnte Paul verkaufen oder verschenken, aber Stefanie ziert sich noch.« Die Anwesenden benötigten einen Augenblick, um meinen Scherz zu verstehen.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und KPD kam herein. Hereinkommen war der falsche Ausdruck, er schwebte vielmehr. Mit vorgestreckter Brust blieb er kurz nach dem Türrahmen stehen und wippte wichtigtuend auf den Fußballen. Seine maßgeschneiderte Uniform blitzte ob der vielen Orden, die kiloschwer an der Uniform hingen.
»Proscht Neijohr«, riefen meine Kollegen und standen auf. Ich stand ebenfalls auf, nickte meinem Chef aber nur kurz zu. Übertreibungen waren noch nie mein Ding.
KPD öffnete den Mund und ließ seine goldüberzogenen Weisheitszähne blitzen:
»An alle Bürger, ob weit, ob fern,
ich weiß es ja, ihr hört es gern,
für Sicherheit von Speyer bis Maudach,
sorgt der gute Chef Klaus P. Diefenbach.«
Eine peinliche Stille entstand. Ich wusste nicht, ob ich flennen oder gleich davonlaufen sollte. Ein Blick zu den anderen zeigte mir, dass es ihnen ähnlich ging. Jutta versuchte sich in einem zaghaften Klatschen.
»Gell, das war richtig gut?«, fragte KPD kopfnickend in Richtung Jutta. »Leider habe ich im Moment als guter Chef dieser Dienststelle keine Zeit, die Lobrede auf mich zu vervollkommnen. Mein zweiter Vorname muss unbedingt noch mit rein in den Reim, und die Region sollte ich natürlich erweitern. Es freut mich aber, Frau Wagner, dass Ihnen mein erster Versuch so gut gefällt. Ich spendiere Ihnen für Ihren ehrlichen Applaus einen Tag Sonderurlaub.« Er verbeugte sich vor Jutta.
Gerhard und Jürgen klatschten nun ebenfalls, doch KPD ging auf diesen Versuch gar nicht erst ein. Er kam näher und baute sich vor mir auf. »Na, Herr Palzki? Fällt Ihnen an mir etwas auf?«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Sein protziges und sauteures Outfit hatte ich schon häufiger gesehen, und sein herb-saures Parfüm raubte mir regelmäßig den Atem. Der Anzug, die vielen Orden, der widerliche Gestank, alles schien unverändert. Trug er neuerdings Kontaktlinsen? Nein, dazu war er viel zu eitel, trotz seiner extremen Kurzsichtigkeit, die jede Autofahrt mit ihm zum Selbstmordkommando mutieren ließ.
KPD dauerten meine Überlegungen zu lang. Entrüstet blökte er mich an: »Sie schauen gar nicht richtig hin, Palzki!« Er deutete mit spitzem Finger an eine Stelle zwischen den Orden. Ich verstand immer noch nicht.
»Da fehlt einer«, echauffierte sich KPD. »Ein Orden fehlt noch. Sehen Sie nicht den freien Platz? Dieser Freiraum ärgert mich seit Jahren. Ist Ihnen das wirklich bisher nie aufgefallen?«
»Da wird sich bestimmt etwas finden lassen«, meinte ich gelangweilt und antwortete in sarkastischem Tonfall: »Fünf Jahre Mitgliedschaft im Pfälzerwald-Verein oder irgendwas Selbstgebasteltes. Ja, ein Do-it-yourself-Orden fehlt Ihnen noch. Gibt’s bestimmt günstig im Zehnerpack im Baumarkt.«
KPD schluckte seinen Ärger über mich herunter. »Warum habe ich Sie überhaupt gefragt? Sie haben ja doch keine Ahnung.« KPD zeigte auf einen Nachbarorden. »Das ist der Goldene Ankerorden.« Er seufzte. »Leider die Version ohne Brillanten.« Er machte eine kurze Pause, in der er mich anstarrte. »Können Sie jetzt erahnen, welche Wichtigkeit dieser fehlende Karnevalsorden hat?«
»Ein Fasnachtsorden?« Ich konnte es nicht glauben. Ich trat näher und betrachtete zum ersten Mal die Orden an der Brust meines Chefs. Auf Anhieb konnte ich mehr als die Hälfte als bunte Karnevalsorden zuordnen. Fast hätte ich laut herausgelacht. KPD bemerkte es dennoch.
»Was gibt’s denn da so dämlich zu grinsen, Palzki? Machen Sie sich über mich lustig? Fasnacht ist eine todernste Angelegenheit. Die fünfte Jahreszeit ist für mich die wichtigste Jahreszeit als guter Chef dieser Dienststelle. Mehrere Dutzend Vereine gibt es in der Kurpfalz, jeder einzelne hat wichtige Personen wie Vorstand, Elferrat und so weiter. Nirgendwo ist es leichter und effizienter, Beziehungen zu knüpfen. Ich muss nur schauen, dass ich stets alle Fäden in der Hand halte. Immer von oben nach unten, wie es sich für einen guten Chef wie mich gehört.«
»Und warum brauchen Sie die ganzen Orden?« Bisher dachte ich, dass es sich um wirklich bedeutsame Auszeichnungen aus Politik und Wirtschaft handelte.
»Je mehr davon, um so wegweisender«, erklärte mir mein Chef. »Hierarchie und Wichtigkeit sind alles im Leben, Palzki. Deswegen sind Sie ja auch nur ein einfacher Untergebener von mir.« Er strich liebevoll über das Blech. »Der Goldene Ankerorden mit Brillanten wird die Krone meiner Sammlung werden. Das kann nur der Friedensnobelpreis toppen, wobei ich mir da nicht so sicher bin.«
Eigentlich konnte es mir egal sein, womit sich KPD während der Dienstzeit beschäftigte. Hauptsache, er ließ mich in Ruhe meine Arbeit machen. Doch ich ahnte bereits, dass mich der fehlende Orden an KPDs Brust noch eine Zeit lang beschäftigen würde.
Gerhard wagte es, wohl in der Hoffnung, einen Tag Sonderurlaub zu ergattern, eine Frage zu stellen. »Wann wird Ihnen dieser wichtige Orden verliehen, Herr Diefenbach? Dass er Ihnen verliehen wird, dürfte wohl unzweifelhaft feststehen. Sie werden bestimmt der erste Träger in der Ausführung mit Brillanten sein, oder?«
KPD überstreckte stolz seine Brust, und ich wunderte mich, dass seine Rippen nicht nach vorne aus dem Brustbein sprangen. »Glauben Sie, ich würde mich mit einem Allerweltsorden abgeben, Herr Steinbeißer? Sie kennen doch mein Motto: ganz vorne stehen ist immer noch zu weit hinten. Daher habe ich mit dem Großen Rat einen Deal ausgehandelt.« Er schaute in die Runde. »Sie wissen doch, was der Große Rat ist?« Meine drei Kollegen nickten vorsichtig, obwohl ich mir sicher war, dass sie keine Ahnung hatten. »Dann für Palzki eine kurze Erklärung«, sagte KPD und seufzte erneut. »Der 1956 gegründete Große Rat der Ludwigshafener Karneval-Vereine ist ein Zusammenschluss aller Fasnachtsvereine. Der Goldene Ankerorden ist deren mächtigster Orden für verdiente Fasnachter. Und mit ›verdient‹ meine ich ›verdient‹.« KPD schaute mich streng an. »Manche Karnevalsvereine erhöhen die Wichtigkeit ihrer wertvollsten Orden dadurch, dass sie eine zusätzliche Ausgabe mit einem Brillanten verleihen. Das ist aber nur extrem selten der Fall.«
»Echte Brillanten?«, fragte ich, weil die meisten Fasnachtsorden an KPDs Brust eher nach Blech aussahen.
»Na ja«, wand sich Diefenbach, »richtige Brillanten sind das bisher nicht. Das ist eher symbolisch zu verstehen. Aber das werden wir jetzt ändern. Den Großen Rat habe ich mit meiner Idee jedenfalls auf meiner Seite. Christoph Heller, den Präsidenten, konnte ich schnell überzeugen.« KPD rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, womit unzweifelhaft feststand, was er meinte.
Da wir ihn stumm ansahen, sprach er weiter. »In dieser Saison wird der Goldene Ankerorden mit zwei Brillanten verliehen. Zum ersten Mal überhaupt in der ganzen Welt wird es einen Orden mit zwei Brillanten geben. Und da ich der Empfänger bin, kann ich mir schlecht irgendwelchen Strass an die Brust heften lassen. Nein, für die beiden mehrkarätigen Brillanten nutze ich den Schwarzgeldetat unserer Bußgeldkasse. Das hat zwar ein riesiges Loch in die Kasse gerissen, aber der Zweck heiligt die Mittel. Außerdem habe ich längst einen Plan, die Schwarzgeldkasse wieder aufzufüllen. Sie werden über mein Gesamtkonzept staunen!«
Jutta klatschte erneut, dieses Mal ohne Sonderurlaub zu bekommen. »Verraten Sie uns, wann und wo Sie diesen außergewöhnlichen Orden verliehen bekommen?«
KPDs Gesichtsausdruck wurde eine Nuance trüber. »Auf jeden Fall noch in dieser Saison.« Er schaute kurz zu Boden. »Bis dahin muss ich die beiden Bedingungen erfüllen.«
Ich hatte es geahnt, nun kamen die Probleme.
»Das sind eigentlich nur Kleinigkeiten«, fuhr KPD fort. »Für einen guten Chef wie mich kann ich das meiste leicht delegieren.« Er ging zu Juttas Bürofenster, das nach Westen in den Hof zeigte. »Der große Fasnachtswagen für den Umzug wird fristgerecht fertig. Ich selbst werde auf ihm an dem Umzug in Mannheim teilnehmen. Und zwei Tage später in Oppau. Mit meinem Motivwagen, übrigens der größte und teuerste, den es je in Deutschland gab, werde ich sämtliche Preise abräumen, die es je für einen Fasnachtswagen gegeben hat.«
»Ei, äh, einen Fasnachtswagen?«, stammelte ich. Endlich wusste ich, warum ein ganzes Heer an unterschiedlichen Handwerkern in unserem Hof zugange war. »Was wird das für ein Wagen?«
»Überraschung«, antwortete KPD kurz angebunden. »Ich kann Ihnen aber so viel verraten, dass es mit der Wiederbefüllung meiner Schwarzgeldkasse in unmittelbarem Zusammenhang steht. Jede Investition in den Wagen wird sich zigfach rentieren. Und wenn Sie Ihren Job gut machen, Palzki, dürfen Sie sogar mitfahren. Als mein Adjutant sozusagen. Na, freuen Sie sich schon?«
Während ich überlegte, mich durch das geschlossene Fenster in den Hof zu stürzen, legte mein Chef noch einen drauf. »Am Samstag, dem 19. Februar 2022, haben wir unseren ersten gemeinsamen Termin.«
»Termin? Gemeinsam?« Ich verstand nur Bahnhof und wollte eigentlich auch nicht mehr verstehen.
»Ganz recht, Palzki. Tragen Sie den Termin gleich in Ihren Kalender ein. Nicht, dass Sie als Ausrede wieder einmal Ihre Schwiegermutter bemühen.«
Ich glotzte ihn mit offenem Mund an, was KPD fehlinterpretierte.
»Selbstverständlich dürfen Sie die Überstunden anschließend abfeiern, Palzki«, antwortete er gönnerhaft. »Ich bin schließlich ein guter Chef und will meine Untergebenen nicht überfordern.«
Meine Kollegen waren mir keine Hilfe. Von dem Termin wussten sie offensichtlich auch nichts. »Wohin?« Mehr als diese Einwortfrage brachte ich nach dieser Schocknachricht nicht heraus.
»Sie dürfen mit mir zur Molkereistürmung nach Oggersheim fahren. Sehen Sie das als eine Ehre an, Palzki. Ich rechne damit, dass fast die gesamte Fasnachtsprominenz anwesend sein wird. Diese Veranstaltung ist exorbitant wichtig für mich.« Er sah mich streng an. »Ich habe an diesem Tag keine Erwartungen an Sie, die Ihren Intellekt übersteigen könnten. Sie müssen sich einfach im Hintergrund halten und am besten mit niemandem reden. Dann machen Sie im Regelfall nämlich weniger Fehler.«
Beleidigungen dieser Art war ich von meinem Chef gewohnt. »Und warum muss ich überhaupt mit?«
»Müssen?« KPDs Stimme überschlug sich. »Sie dürfen, Palzki, Sie dürfen!« Er holte tief Luft. »Wie sieht das denn aus, wenn ich bei der Molkereistürmung ohne einen einzigen Untergebenen auftauche? Oder erwarten Sie etwa, dass ich mir mein Wurstbrötchen oder die Weinschorle selbst am Ausschank abhole? Sehen Sie, Palzki, das geht gar nicht. Und deshalb nehme ich Sie mit.«
Jutta mischte sich ein. »Molkereistürmung? Ist das nicht dieses Event, das jährlich bei der Getränkehandlung Bruch stattfindet? Das Betriebsgelände gehörte vor ein paar Jahrzehnten der Milchzentrale, wenn ich mich recht erinnere.«
KPD nickte. »Sie kennen sich in der Szene wirklich gut aus, Frau Wagner. Dafür spendiere ich Ihnen einen zweiten Tag Sonderurlaub.« Er wechselte den Blick in meine Richtung. »Sie waren auch schon dort, Palzki. Zweimal durften Sie bei diesem Getränkehändler in meinem Auftrag ermitteln. Natürlich haben sich die beiden Geschäftsführer jedes Mal als unschuldig herausgestellt. Kein Wunder, wer seit vielen Jahren solch eine große und bekannte Veranstaltung organisiert, der kann per se nicht böse sein.«
Mit Schrecken dachte ich an den Geschäftsführer Jochen Bruch, der zwar mit einer großartigen Kombinationsgabe ausgestattet war, aber ständig irgendwelche Witze erzählte, die nicht immer lustig waren. Ich hatte keine Ahnung, wie es seine Frau Doris mit ihm aushielt. Seinen Bruder Helmut hatte ich noch nie gesehen, da er bei den beiden Verbrechen, die es auf dem Gelände des Händlers in den vergangenen Jahren gab, stets in Urlaub war.
Während ich intuitiv hochgradig depressiv wurde, stellte Gerhard eine weitere Frage: »Sie haben vorhin von zwei Bedingungen gesprochen, Herr Diefenbach, die Sie für die Verleihung des Ordens erfüllen müssen. Den Fasnachtswagen haben wir geklärt. Hat die zweite Bedingung mit der Molkereistürmung zu tun?«
»Ach wo«, antwortete KPD, »die andere Sache ist viel leichter zu erfüllen. Daher kann ich das, natürlich nur bis zu einem gewissen Reifegrad, an Herrn Palzki delegieren. Aus diesem Grund werde ich ihn nicht nur zur Molkereistürmung mitnehmen, sondern auch zu weiteren Fasnachtsveranstaltungen. Dann bekommt er ein Gefühl dafür, wie man so etwas aufsetzt und schreibt.«
»Schreibt?« Wieder brachte ich nur ein Wort heraus.
»Die Büttenrede, meine ich«, sagte KPD, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Ich habe Ihnen doch vorhin eine kleine Kostprobe vorgetragen. Um den Goldenen Ankerorden zu erhalten, muss ich eine Büttenrede halten. Das kann doch nicht so schwierig sein. Reimen haben Sie bestimmt in der Schule gelernt. Im Notfall können Ihre Kollegen Sie unterstützen. Inhaltlich gebe ich Ihnen nachher eine Liste mit Wörtern, die Sie zwingend in die Rede einbauen müssen und ein paar weitere Vorgaben. In mindestens jeder vierten Zeile muss zum Beispiel mein Name vorkommen. Haben Sie das soweit verstanden, Palzki?«
»Nein.«
KPD rollte mit den Augen. »Dies ist eine dienstliche Anweisung. Selbstverständlich werde ich die Büttenrede überarbeiten, bevor ich sie vortrage. Ich bin ja nicht verrückt.«
Gerhard, Jutta und Jürgen waren nahe dran, laut herauszulachen. Gleichzeitig, aber ohne sich abzusprechen, drehten sie sich zur Wand.
KPD registrierte dies nicht, da er voll auf mich fixiert war. »Es gibt nur ein klitzekleines Problem. Problem kann man das eigentlich nicht nennen.«
»Ich kann nicht reimen«, unterbrach ich meinen Chef.
KPD überhörte meinen Kommentar. »Dietmar Becker will in dieser Saison ebenfalls eine Büttenrede halten. Er plant, einen neuen Regionalkrimi zu veröffentlichen, der im Fasnachtsmilieu spielt. Das ist grundsätzlich keine schlechte Idee, kommt für mich aber zur Unzeit. Wenn ich dieses Jahr den Goldenen Ankerorden verliehen bekomme, kann ich keine Parallelpresse gebrauchen, die mit einem Krimi von meiner Verleihung ablenkt. Das irritiert die Bürger nur unnötig. Außerdem ist der Platz für die Fasnachtsberichterstattung in der Zeitung und anderen wichtigen Medien streng limitiert. Ich hoffe, dass DIE RHEINPFALZ eine Sonderbeilage für die Gesamtauflage anlässlich der Verleihung des Ordens an mich druckt.«
Dietmar Becker, nun war der Supergau komplett. Der ewige Student der Archäologie schrieb nicht nur als freier Journalist für Tageszeitungen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch Regionalkrimis, die meist bei uns in der Kurpfalz spielten. Seit mittlerweile 14 Jahren hatte er eine weit über die regionalen Grenzen hinaus bekannte Krimireihe etabliert, die meiner Meinung nach so abstrus und unglaubwürdig geschrieben war, dass ich schon länger vermutete, dass Becker den größten Teil der Auflagen selbst aufkaufte, um sein Ego zu stärken. Erschwerend kam hinzu, dass er seinen ermittelnden Hauptkommissar in »Reiner Palzki« umbenannt hatte, als ich ihm vor ein paar Jahren zufällig das Leben rettete. Seitdem dachten alle meine Verwandten, Freunde und Kollegen, ich wäre tatsächlich solch ein hilfloser und ständig in Fettnäpfchen tretender Mensch, wie Dietmar Becker ihn fälschlicherweise in seinen Romanen beschrieb. Irgendwann war es ihm gelungen, sich mit KPD zu verbünden. Seitdem schrieb er Krimis über tatsächliche Ermittlungsfälle, da er von meinem Chef ständig inoffiziell und selbstredend illegal mit Insiderwissen gefüttert wurde. Als Gegenleistung musste Becker KPD in seinen Krimis stets wohlwollend darstellen und ihm die Überführungen der diversen Gauner zugestehen.
»Hören Sie mir überhaupt noch zu?«
KPD weckte mich aus meinem Tagalbtraum.
»Zum ersten Mal seit vielen Jahren wird ein Kriminalroman von Herrn Becker nicht von mir autorisiert sein«, sprach er verärgert weiter. »Zurzeit verhandle ich mit dem Verlag, dass sämtliche Ausgaben dieses Romans einen Aufkleber mit dem Hinweis ›Nichtautorisierte Ausgabe‹ erhalten.«
KPD kam einen Schritt auf mich zu, was aufgrund seines Parfüms sehr unangenehm wurde. Wenn ich jetzt niesen müsste, war alles zu spät. Die Orden befanden sich keine 20 Zentimeter von meiner Nase entfernt. »Sie müssen aufpassen, Palzki.«
»Das mache ich immer.«
»Wegen Herrn Becker, meine ich. Der wird bestimmt versuchen, Sie auszuhorchen und Teile Ihrer, äh, meiner Büttenrede zu übernehmen. Das dürfen Sie auf keinen Fall zulassen, haben Sie verstanden? Sie müssen die Rede unter strengster Geheimhaltung entwickeln. Nur Ihre Kollegen in diesem Raum dürfen Ihnen helfen. Ist das soweit klar?«
»Ich bin Polizist, was soll der Mist?«
KPD schaute mich perplex an.
Meine Kollegen lachten. »Herr Palzki hat seinen ersten Reimversuch gemacht.«
KPD lächelte gequält. Dann ging er in Richtung Tür. »Ich verlasse mich auf Sie alle. Unterstützen Sie Herrn Palzki, wenn es nicht anders geht.« Im Türrahmen hielt er inne und drehte sich nochmal um. »Wegen Ihres Büros, Herr Palzki: Darauf müssen Sie leider noch eine Weile verzichten.«
»Ich weiß, wegen des Wasserschadens.«
»Wasserschaden?«, fragte KPD. »Ach so, ja, natürlich, wegen des Wasserschadens.« Ein kurzes Lächeln zog über sein Gesicht. »Sobald Ihr Büro wieder nutzbar ist, gebe ich Ihnen Bescheid.« Sekunden später war er verschwunden.
»Das ist der Knaller«, rief Gerhard. »Reiner darf für unseren Chef eine Büttenrede schreiben.«
»Sag mir lieber, was in meinem Büro los ist«, fuhr ich ihn an. Sofort herrschte Stille.
»Was soll denn sein?«, sagte Jutta in zuckersüßem Ton. »Ein Wasserschaden, das kann doch immer mal passieren. Soviel ich weiß, liegen in deinem Büro keine wichtigen Unterlagen von dir.«
»Verkauf mich nicht für dumm«, herrschte ich Jutta an. »Den Wasserschaden gibt es nur in eurer Fantasie.«
Meine Kollegen drucksten eine Weile herum, bevor sie mit der Wahrheit herausrückten. Zumindest mit dem ihnen bekannten Teil der Wahrheit. »KPD war im November auf der Suche nach einem kleinen Büro. Nicht für sich, sondern für jemand anders. Es sollte möglichst abgelegen sein, wo wenig Personenverkehr herrscht«, erklärte Gerhard. »Dein Kabuff im Keller erfüllte alle Voraussetzungen. Du nutzt es sowieso nur sporadisch bis gar nicht. KPD hat es sofort konfisziert.«
»Und für wen?«, fragte ich. Mir war in den vergangenen Wochen kein neues Personal aufgefallen. »Haben wir einen Geheimagenten an Bord?«
Die drei zuckten mit den Schultern. »Mehr wissen wir leider auch nicht. KPD meinte, dass der Nutzer des Büros nur ab und zu und eventuell auch außerhalb der Dienstzeiten arbeiten würde, und wir uns keine Gedanken zu machen bräuchten. In etwa einem halben Jahr wäre das Büro wieder frei.«
»Und das soll ich euch glauben? Ihr habt doch bestimmt Nachforschungen angestellt?« Ich blickte zu unserem Experten für Recherchen. Jürgen wurde sofort sichtlich nervös. »Ich weiß nicht, was Doktor Metzger da unten schafft, Reiner«, stammelte er. Jutta und Gerhard bestraften ihn mit bösen Blicken.
Nach Dietmar Becker war dies innerhalb weniger Minuten bereits der zweite Name von Personen, die ich weder in dieser Dienststelle noch irgendwo anders auf der ganzen Welt sehen wollte. »Doktor Metzger?« Ich war auf alles gefasst gewesen, nur auf das nicht. »Was hat der Not-Notarzt in unserer Dienststelle vor?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Jutta abwehrend. An ihrer Stimmlage erahnte ich, dass sie log. Dies kam nur sehr selten vor, daher wurde ich noch hellhöriger.
»Wir haben nur zweimal sein OP-Mobil im Hof parken sehen«, versuchte Gerhard, eine Erklärung zu geben.
Mir war klar, dass ich dieser seltsamen Geschichte nachgehen musste. Die Büttenrede für KPD war für mich absolut irrelevant. Auf den ersten Blick konnte ich keinen Zusammenhang zwischen Doktor Metzger und der Ordensverleihung an KPD sehen. Trotzdem musste ich herausfinden, was für ein Spielchen KPD trieb. Falls es nicht legal war, würde ich alles unternehmen, um meinem Chef ein Bein zu stellen. Ich sah eine Chance, meinen ungeliebten Chef loszuwerden. Ich hatte endlich mal wieder eine Aufgabe und ein lohnendes Ziel.
In den nächsten Wochen ging ich durch die Hölle. KPD hatte seine Drohungen in die Tat umgesetzt und mich zu mehreren Fasnachtsveranstaltungen mitgeschleppt. Zum Glück war die Musik regelmäßig so laut, dass mir längere Unterhaltungen mit meinem Chef erspart blieben. Nur auf der Fahrt zu den jeweiligen Veranstaltungen konnte ich seinen Monologen nicht entgehen. »Na, wie weit sind Sie mit meiner Büttenrede?«, fragte er bei jeder Fahrt. Ohne auf eine Antwort zu warten, gab er sodann einen selbstverfassten Vierzeiler von sich, den ich den Gehörgängen meiner schlimmsten Feinde nicht wünschte und daher schleunigst wieder vergaß. Kaum hatte er im Saal eine wichtig erscheinende Person ausgemacht, wurde diese angeprostet und in ein Gespräch verwickelt. Als Zuschauer mit einer Apfelsaftschorle oder einem alkoholfreien Bier beobachtete ich diese sich wiederholenden Szenen und versuchte, anhand der Dauer des Gesprächs die Relevanz der von KPD angesprochenen Personen abzuschätzen. Alles unter einer Minute musste zur arbeitenden Bevölkerung gehören oder zu Rentnern ohne Beziehungen, die für KPD dienlich sein konnten. Ab drei Minuten aufwärts begann mein Chef, Visitenkarten zu tauschen.
Wir beide waren bei den Sitzungen die Einzigen, die unverkleidet kamen. Bei KPD fiel das wegen seiner mit Orden behangenen Uniform nicht auf, und mir war es egal. An einem Abend sprang ich im Übermut über meinen Schatten und legte mir eine dunkle Luftschlange um den Hals. Von dem angebotenen Unterhaltungsprogramm bekam KPD nicht das Geringste mit, da er sich ständig nach lohnenden Gesprächspartnern umschaute. Ich dagegen verkroch mich in eine Ecke, um in relativer Ruhe mein Bier trinken zu können. Mit der Zeit folgte ich immer interessierter dem Bühnengeschehen: Es gab einige seltsame Quatschauftritte, die trotzdem frenetisch abgefeiert wurden. Fasnachter sind halt ein eigenes Volk, dachte ich mir. Überrascht war ich von den akrobatischen Verrenkungen der Gardemädchen und anderer Tanzgruppen und der einen oder anderen gelungenen Büttenrede. Trotzdem, ein Fasnachter würde ich wohl niemals werden.
Auf der Dienststelle fragten mich Gerhard und Jutta, ob sie mir beim Schreiben der Büttenrede helfen könnten. Selbstbewusst lehnte ich ihr Angebot ab und antwortete, dass ich mit diesem Auftrag bereits so gut wie fertig sei. In Wirklichkeit hatte ich noch keinen einzigen Gedanken an diese unsägliche Order verschwendet. Die inhaltliche Anforderungsliste zu KPDs Rede lag ungelesen in meiner Tasche.
Dank Gerhard und Jutta hatte es sich herumgesprochen, dass ich mit KPD die hiesigen Fasnachtsveranstaltungen besuchen musste. Egal, wem ich begegnete, ich wurde mit einem prustenden Lachen und »Humba Humba Täterä« begrüßt. Zugegeben, ich war in letzter Zeit häufiger als normalerweise auf den Fluren der Dienststelle unterwegs. Trotz größter Raffinesse meinerseits konnte ich weder Doktor Metzger entdecken noch einen Blick in das Zelt werfen, in dem nach wie vor die Handwerker zugange waren.
»Morgen ist es so weit«, frohlockte Jutta eines Freitags. Zunächst hatte ich den Satz gar nicht auf mich bezogen und fragte sie: »Fährst du übers Wochenende weg?«
Jutta verzog den Mund. »Klar, dass du nicht mehr dran denkst.«
»Dran denken, woran?«, fragte ich perplex.
»Morgen ist die Molkereistürmung beim Getränkehändler Bruch.«
»Ach das«, antwortete ich lapidar und tat so, als handle es sich nur um eine Nebensache. In Wahrheit hatte ich es tatsächlich vergessen. »Ich bin inzwischen Experte für das Karnevalswesen, da kann mich solch eine Veranstaltung nicht beeindrucken. Allein die Anwesenheit KPDs trübt meine Vorfreude auf morgen.« Das war zwar sehr dick aufgetragen, doch meine Kollegen nahmen mir alles ab.
»Du weißt schon, dass bei der Molkereistürmung viel Prominenz anwesend sein wird«, stichelte Gerhard unverdrossen weiter. »Bei dem kleinsten Fauxpas wird dich KPD als Kanonenfutter in eine dieser Fasnachtskanonen stecken.«
Dies war in der Tat ein weiterer Knackpunkt. Mit der morgigen Veranstaltung begann für unseren Chef die heiße Phase der Karnevalssaison. Er fieberte der Ordensverleihung entgegen, die innerhalb der nächsten zehn Tage erfolgen sollte.
Am nächsten Tag holte mich KPD zu Hause ab. Um meiner Familie und mir im Haus den Gestank seines Rasierwassers zu ersparen, wartete ich in unserem Vorgarten auf ihn. Geschickt stellte ich mich seitlich neben einen Busch, sodass mich Frau Ackermann, die schlimmste Nachbarin, die man sich vorstellen kann, von ihrem Küchenfenster aus nicht sehen konnte. Der Wagen meines Chefs war noch nicht richtig zum Halten gekommen, da klopfte ich bereits an die Seitenscheibe. KPD ließ das Fenster runter und schaute mich verblüfft an.
»Nanu, sind wir zu spät dran?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich sicherheitshalber, bereute meine Antwort aber sofort, da KPD hinter dem Steuer saß. »Fahren Sie, oder soll ich den Chauffeur spielen?«
»Steigen Sie drüben ein«, befahl er streng. »Ich habe den Wagen erst seit gestern Nachmittag. Den muss ich selbst einfahren.«
Anfang vergangenen Jahres hatten meine Kollegen und ich eine Wette abgeschlossen, ob sich KPD innerhalb der kommenden zwölf Monate mehr als drei neue Dienstwagen anschaffen würde. Bereits im Juli stand der Gewinner fest. Ich stieg ein und zurrte den Gurt fest. Dann stützte ich mich mit ausgestreckten Händen am Handschuhfach ab, da nach einem Kavalierstart unweigerlich ein abruptes Bremsmanöver folgen würde.
»Lassen Sie Ihre Finger von dem Leder«, schimpfte KPD und warf mir ein Tuch zu. »Ich kann hässliche Fingerabdrücke an den Armaturen nicht ausstehen.«
Während wir uns unter permanenter Lebensgefahr dem Ludwigshafener Ortsteil Oggersheim näherten, sah mich mein Chef an. »Es ist erst 13.30 Uhr. Wie kommen Sie darauf, dass wir zu spät sind, Palzki? Zu früh will ich nicht dort sein, das sieht so peinlich und wenig professionell aus.«
»Ich dachte mir, wir stärken uns zunächst am Büfett, bevor die wichtigen Leute kommen.«
KPD konnte nicht antworten, da er verkehrstechnisch gefordert wurde. »War das eine rote Ampel?«, fragte er stattdessen, und ich wunderte mich, dass er aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit die Ampel als solche erkannt hatte. Mehrfaches Reifenquietschen von Verkehrsgegnern beantwortete seine Frage nonverbal. Mir war aufgrund seiner Fahrweise inzwischen so schlecht, dass mir ein Büfett egal war.
Der Hauptsitz des Getränkehändlers befand sich an der Mannheimer Straße schräg gegenüber der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Die Straße war an dieser Stelle vierspurig ausgebaut, wobei an einem Teilstück die Straße durch die Gleise der Straßenbahn getrennt war. Direkt vor dem Getränkehändler schien es eine Baustelle zu geben. Die entsprechenden Schilder deuteten auf eine einspurige Verkehrsführung hin. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Ziel und wir standen im Stau.
»Blöde Baustelle«, schimpfte ich.
»Baustelle?«, fragte KPD. »Wie kommen Sie auf diese Idee?«
»Haben Sie die Schilder nicht gesehen? Darum stehen wir ja im Stau. Achtung, gleich müssen Sie das Reißverschlussverfahren anwenden.« Ich war mir sicher, dass KPD keine Ahnung hatte, was ich mit Reißverschlussverfahren meinte.
»Das brauchen wir nicht«, entgegnete er und brachte, was bei ihm nur sehr selten vorkam, ein kleines Lächeln zutage.
Als wir an der Stelle der Spurverengung ankamen, traute ich meinen Augen nicht. Es gab nicht das kleinste Anzeichen einer Baustelle. Mehrere Polizeibeamte hatten ein etwa 50 Meter langes Teilstück der rechten Spur abgesperrt. Eine Beamtin erkannte KPD und winkte uns in den abgesperrten Bereich.
»Das haben die Gebrüder Bruch davon, dass sie mir keinen Privatparkplatz auf ihrem Gelände eingezäunt haben.« Er sah meine Verwunderung und holte zu einer Erklärung aus. »Die beiden Chefs haben sich geweigert, mir einen eigenen Parkplatz zuzuweisen, natürlich streng von dem Rest abgeschirmt. Aus Platzgründen sei das nicht möglich, hieß es. Ja, genau, Palzki: So brutal haben mich die beiden brüskiert. Und ich darf mir meinen verständlichen Ärger nicht einmal anmerken lassen, weil ich diesen Orden brauche.« KPD sah mich streng an. »Aber wo ein Klaus P. Diefenbach ist, ist auch mindestens ein Weg. Daher habe ich mir für die Dauer meines Aufenthalts eine Spur der Straße sperren lassen. Daran sehen die anderen sofort, wie wichtig ich bin.«
Keine Antwort war in diesem Fall die beste Antwort. Vorteilhaft war der angenehm kurze Fußweg.
Das Firmengebäude nahm fast die gesamte Breite der Straßenfront ein. Auf der linken Seite stand der eingeschossige Abholmarkt, auf der rechten Seite befanden sich weitere Betriebsgebäude und ein Wohnhaus. Zentral in der Mitte gab es eine überdachte Durchfahrt, die mit einer zwei Meter hohen Wand leerer Getränkekisten versperrt war. Auf dem Vorplatz stand eine dieser Fasnachtskapellen, die man bei jedem Fasnachtsumzug in mehrfacher Ausführung sah. Neben den Personen, die ich aufgrund der einheitlichen Kostümierung eindeutig zu einem Karnevalsverein zuordnen konnte, standen 50 weitere, nur zum Teil verkleidete Menschen auf der Freifläche vor dem Gebäudekomplex herum. Schneller, als ich schauen konnte, hatte KPD eine für ihn wichtige Person erkannt und zielstrebig in ein Gespräch verwickelt. Doch auch ich wurde erkannt.
»Sie misse de Herr Palzki sei!«, sprach mich ein hagerer Mittfünfziger an, der eine Fasnachtskappe trug. »Des hot sich bei uns schnell rumgsproche, dass Herr Diefebach sein fähigschte Mitarweiter mitbringt. Des behaupt jedenfalls mein Bruder, de Jochen. Warum hänn Se sich net verkleed?«
Es war das erste Mal, dass ich dem Geschäftsführer Helmut Bruch gegenüberstand. »Das freut mich, dass Ihr Bruder mich so positiv beurteilt.« Ich reichte ihm die linke Hand, denn in der anderen hielt er ein Mikrofon. »Ich bin im Dienst, da kann ich mich nicht so einfach verkleiden.«
»Mein Bruder iwwertreibt zwar immer gern, awer iwwer Ihre Kompetenze als Bull, äh, Polizischt losst der nix kumme. Bei jeder Gelescheheit verzehlt de Jochen, wie er Ihne bei denne Ermittlungssache, wus bei uns Tote gewwe hot, so viel gholfe hot.« Er zwinkerte mir zu. »S kann gut sei, dass er Sie nochhin ausfrooge will, ob es ähn aktuelle Kriminalfall zu löse gibt, wu er widder helfe kann.« Er trat einen kleinen Schritt auf mich zu. »Passen Se awer gut uff, dass Se rechtzeitisch abhaue, wenn de Jochen afangt, Witze zu erzähle. Was Bleederes kann Ihne heit net passiere.«
»Keine Angst, ich kenne die Witze Ihres Bruders bereits. Manche sind sogar richtig gut.« Auf Anhieb konnte ich mich zwar an keinen einzigen gelungenen Witz erinnern, aber immerhin schienen Jochen Bruch meine Kompetenzen als Polizeibeamter zu imponieren.