Orientierung Linguistik - Manfred Geier - E-Book

Orientierung Linguistik E-Book

Manfred Geier

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Beschreibung

Dieser Band ist für alle geschrieben, die wissen wollen, welche Probleme die Sprachwissenschaft lösen kann, welche Ziele sie erreichen will und was es überhaupt mit der Sprache auf sich hat.

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Manfred Geier

Orientierung Linguistik

Was sie kann, was sie will

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Manfred Geier

Manfred Geier, geboren 1943, lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt er als freier Publizist in Hamburg. Er veröffentlichte u.a.: «Kants Welt. Eine Biographie» (2003), «Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors» (2006), «Die Brüder Humboldt. Eine Biographie» (2009), «Aufklärung. Das europäische Projekt» (2012), «Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie» (2013). Außerdem mehrere Bände in der Reihe rowohlts enzyklopädie sowie die Rowohlt-Monographien «Karl Popper», «Martin Heidegger» und «Der Wiener Kreis».

Inhaltsübersicht

VorwortEINS Sprachwissenschaft als Studienfach. Von der Sprachfähigkeit zum linguistischen WissenWozu Linguistik?Zwischen Bildung und AusbildungLehrangebote und LernanforderungenZWEI Wie Ferdinand de Saussure die Linguistik begründet hat. Einige Grundfragen und ihre revolutionäre WirkungDie AusgangssituationEinen neuen Anfang wagenDie Sprache als System von ZeichenKeine Einheiten ohne SystemDie zwei Achsen der SpracheSprachveränderung und SprachzustandSaussures ProblemDREI Womit sich die Sprachwissenschaft beschäftigt. Ausgewählte linguistische Probleme und ihre LösungenWenn das Sprachsystem zusammenstürzt. Aphasische Störungen in linguistischer SichtSchwimmende Hölderlintürme, möwenumschwirrt. Die sprachliche Konstruktion des PoetischenUnendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln. Der strukturelle Aufbau normaler SpracheVom russischen Märchen zum Hollywoodfilm. Superstrukturen in der TextproduktionIch liebe dir! – Ich dir, du mir. – Wir? Probleme mit den PersonalpronomenIch liebe dich nicht. Negation, Verneinung, NegierungAndere Sprachen, anderes Denken, andere Wirklichkeiten? Für und wider die linguistische RelativitätstheorieWenn das Gemeinte unter dem Gesagten verschwimmt. Versprecher und Metaphern als linguistische ProblemeDenn sie wissen nicht, was sie tun. Computerlinguistik und MaschinensprachenCybernauten und Cyborgs im Cyberland. Kommunizieren im World Wide WebVIER Vom Sprachgefühl zur Sprachwissenschaft. Wissenschaftstheorie für AnfängerDas nicht gewußte WissenKeine Sprachwissenschaft ohne SprachgefühlWider den MethodenzwangWie man sich linguistisch der Sprache nähern kannFÜNF Hauptströmungen der Sprachwissenschaft. Forschungsprogramme und ParadigmenwechselDie traditionelle GrammatikRückkehr zu Wilhelm von HumboldtDer europäische StrukturalismusDie amerikanische LinguistikDie kulturhistorische EntwicklungstheorieLinguistische PragmatikInterdisziplinäre LinguistikNachwortAnhangStudienführer und StudierhilfenLinguistik im InternetLinguistische Fachwörterbücher und NachschlagewerkeBio-BibliographienEinführungen in die LinguistikGrammatiken, Wörterbücher, SprachgeschichtenFachzeitschriftenVerzeichnis der zitierten und erwähnten BücherBerufsfelderNamenregister

Vorwort

Was ist Sprache? Diese Wesensfrage haben die Menschen zu beantworten versucht, seit ihnen bewußt wurde, daß sie miteinander sprechen können. Aber gibt es darauf eine definitive Antwort? Zwar ist uns alltäglich vertraut, was wir alles mit Sprache tun können. Wir können sprachlich Gefühle äußern und verschleiern, wahre Aussagen über Sachverhalte machen oder andere Menschen belügen. Wir können sprachlich verführen und abrichten, fragen und antworten, bitten und beten, beraten und versprechen, Gedichte schreiben, Geschichten erfinden und Witze erzählen. Demagogen und Ideologen können mit sprachlichen Mitteln Verachtung und Haß hervorrufen. Sprachkritische Skeptiker wie Molière oder Voltaire waren davon überzeugt, daß die Sprache dem Menschen nur gegeben ist, um seine Gedanken zu verbergen. Dagegen steht die Hoffnung, daß es die Sprache ist, die dem Menschen aus dem Dunkel und Unwissen einen Ausweg eröffnet. Im biblischen Schöpfungsmythos war es Gottes Wort «Es werde Licht», das die Wüste, Leere und Finsternis der Welt besiegte. Kinder, die sich in der Dunkelheit fürchten, bitten, daß man zu ihnen spricht, damit es hell werde. Das Licht der Aufklärung vertraute auf eine klare und deutliche Sprache, um aus der Unwissenheit befreien zu können und dem Denken einen unbegrenzten Spielraum zu ermöglichen.

Die Sprache ist kein statisches Gebilde, sondern eine dynamische Kraft. Nur im Gebrauch lebt sie. Aus dieser Überzeugung entstanden die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen des preußischen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Ludwig Wittgenstein (1889–1951), der die Sprache ins Zentrum der modernen Philosophie rückte, thematisierte sie in seinen «Philosophischen Untersuchungen» als eine unbegrenzbare Mannigfaltigkeit verschiedener «Sprachspiele», in denen der Gebrauch der Sprache wichtiger ist als ihre logische oder grammatische Form. Auch der amerikanische Linguist Noam Chomsky (geboren 1928), der durch seine mathematisierten Modelle grammatischer Strukturen zum führenden Theoretiker der modernen Linguistik wurde, sah die Sprache als Ausdruck der kreativen Möglichkeit, unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln machen zu können. Von diesen Hinweisen hat sich dieses Buch seinen Kurs vorgeben lassen.

Was kann und was will die Linguistik? Sprachwissenschaft ist, so lautet die tautologische Antwort, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache. Sie ist nichts anderes als ein rationaler, durch wissenschaftliche Methodik gelenkter Versuch, das intuitive, unreflektierte und alltäglich eingespielte Sprachbewußtsein und -vermögen in eine bewußte Kenntnis zu überführen. Vom Sprachvermögen zum linguistischen Wissen: Aus dieser Bewegung bezieht die Linguistik ihre Kraft und Ausdauer, ihre Zielvorstellung und ihre Verfahrensweisen.

Warum Sprachwissenschaft studieren? Weil man sich für die Sprache in der Vielfalt ihrer Gebrauchsmöglichkeiten interessiert. Und weil man auf die Fragen nach der Sprache wissenschaftlich fundierte Antworten erhalten kann, die zwar keine absolute und endgültige Gewißheit vermitteln, aber doch so gut begründet sind, daß man zu erkennen lernt, was sprachlich möglich ist und wie es praktisch funktioniert. Das Spektrum reicht vom Zusammenspiel sprachlicher Laute (Phonologie) über Regeln der Wortbildung (Morphologie), des Satzbaus (Syntax), der Bedeutungshaftigkeit (Semantik) bis zu Handlungsmöglichkeiten des kreativen Sprachgebrauchs (Pragmatik) und Zusammenhängen zwischen Sprache und Geist (Psycholinguistik), Sprache und Gesellschaft (Soziolinguistik) oder Sprache und Geschichte (Historiolinguistik). Das Studium der Linguistik umfaßt die Untersuchung der eigenen Sprache (Germanistische Linguistik) ebenso wie die fremder Sprachen. Es vermittelt Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten des kindlichen Spracherwerbs, aber auch in die Bedingungen und Formen des aphasischen Sprachverlusts und anderer Sprachstörungen. Zu den Gegenständen des Studiums gehören die Poesie und die Informations- und Kommunikationstechnologie des Cyberspace, die Struktur grammatisch wohlgeformter Sätze und die Regeln gelingender Sprechhandlungen, die Gegenwartssprache und die Geschichte ihrer Veränderungen.

Das Studium der Sprachwissenschaft, in Verbindung mit anderen Fächern, kann berufliche Optionen anbieten. Es kann auf Berufsfelder vorbereiten, die mit neuen Kommunikationstechnologien zu tun haben, mit Künstlicher Intelligenz und Computersprachen. Es kann für die Arbeit im medialen Bereich qualifizieren, von der Werbung über die Publizistik bis zur Politik, sofern dabei sprachliche Fähigkeiten eine Rolle spielen. Es kann für den Sprachunterricht ausbilden, im schulischen Bereich des mutter- und des fremdsprachlichen Lehrens und Lernens oder im Gebiet «Deutsch als Fremdsprache», das in einer Migrationsgesellschaft zunehmend relevant wird. Auch das Feld «Sekundärer Dienstleistungen» erweitert sich und eröffnet neue Arbeitsmöglichkeiten: Weiterbildung, Kommunikationsberatung und -training, Datenverarbeitung, Sprachdiagnostik und -therapie.

Dieses Buch bietet Orientierungshilfen für Schüler/innen, die sich überlegen, ob und was sie studieren wollen, und auch mit dem Gedanken spielen, ein sprachbezogenes Studium (Germanistik, Romanistik, Anglistik u.a.) in die engere Wahl zu ziehen. Es gibt Anregungen für Studierende, die nur ein verschwommenes Bild der Linguistik haben oder auf der Suche nach Themen sind, die sie in Seminar- oder Prüfungsarbeiten behandeln wollen. Und nicht zuletzt ist es für alle geschrieben, die sich überhaupt für Sprache interessieren und wissen wollen, was es mit der Sprachwissenschaft auf sich hat.

EINS Sprachwissenschaft als Studienfach

Von der Sprachfähigkeit zum linguistischen Wissen

«Wenn wir einen Chinesen hören, so sind wir geneigt, sein Sprechen für ein unartikuliertes Gurgeln zu halten. Einer, der chinesisch versteht, wird darin die Sprache erkennen. So kann ich oft nicht den Menschen im Menschen erkennen.»

Ludwig Wittgenstein (1977, S. 11)

Wozu Linguistik?

Sprachfähigkeit gehört zum Ureigensten des Menschen. Bereits die griechischen Philosophen, auf der Suche nach einer Wesensdefinition des Menschen, haben ihn als «zoon politikon» begriffen, als ein soziales Lebewesen, das mit seinesgleichen sprachlich verkehrt. Der Mensch – das «zoon logon echon», das miteinander sprechende Tier.

Kein anderes Lebewesen kann, was jeder Mensch aufgrund seiner angeborenen Sprachfähigkeit bemerkenswert schnell erlernt: Eingebunden in kommunikative Lebensformen, vermag er lautliche Geräusche zu formen, die beim Ausatmen von Luft entstehen. Das flüchtigste Material, das man sich denken kann, der Atem, wird benutzt, um Empfindungen zu äußern, Gefühlen einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen und Gedanken anderen mitzuteilen. Wir können den Menschen im Menschen erkennen, wenn wir seine Sprache verstehen.

Bereits auf der elementaren Ebene der Lauterzeugung und -wahrnehmung geht es erstaunlich zu. Komplizierte Artikulationswerkzeuge sind, fein aufeinander abgestimmt, am Arbeiten, wenn der Atem in einer Art Hindernislauf verschiedene Höhlungen und Engstellen durchquert, um sprachliche Äußerungen erklingen zu lassen. Wenn die Luft durch das Ansatzrohr gedrückt wird, strömt sie durch den Kehlkopf, wobei die Stimmlippen entweder mit hoher Frequenz zu schwingen beginnen und die resultierende Vibration stimmhafte Laute entstehen läßt; oder sie lassen ohne Schwingung die Luft vorbeiströmen, was die Erzeugung stimmloser Laute zur Folge hat. Sind die Stimmlippen passiert, kann der Artikulations- und Widerstandsraum der Luft vielfältig variiert werden. Tritt der Atem ungehindert aus, ergeben sich Vokale, die durch verschiedene Zungen- und Lippenpositionen gebildet werden. Durch Verengungen und zeitweisen Verschluß an unterschiedlichen Stellen der Mundhöhle werden dagegen Konsonanten artikuliert.

Nur der Mensch verfügt über diesen Sprechapparat, der es ihm ermöglicht, je nach Einzelsprache zwischen 20 und 40 unterschiedliche Laute zu produzieren, und zwar in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Bis zu 45 Geräuscheinheiten kann ein Sprecher pro Sekunde hervorbringen, die von einem Hörer als differenzierte Sprachformen wahrgenommen werden. Sprech- und Hörfähigkeit leisten etwas, das an ein physiologisches Wunder grenzt. Während nichtsprachliche Geräusche zu einem niederfrequenten Rauschen verschwimmen, wenn sie aus mehr als 20 Einheiten pro Sekunde bestehen, sind sprachliche Äußerungen auch jenseits dieser Grenze noch klar und deutlich wahrnehmbar.

Bleiben wir einen Moment bei der Schnelligkeit. Woran liegt es, daß wir zum Beispiel die konsonantischen Verschlußlaute g und k, d und t, b und p, bei denen dem Luftstrom kurzfristig durch Gaumen, Zähne oder Lippen der Weg versperrt wird, als stimmhaft bzw. stimmlos formen und wahrnehmen können? Messungen haben ergeben, daß wir es hier mit rasanten Geschwindigkeiten zu tun haben: Setzt die Vibration der Stimmlippen weniger als 25 Millisekunden (25 Tausendstel einer Sekunde) nach der Öffnung des Verschlusses ein, so äußern wir einen stimmhaften Konsonanten und nehmen ihn als solchen wahr: b, d, g. Ist diese Anlautzeit länger als 25 Millisekunden, so entstehen stimmlose Konsonanten: p, t, k. Winzige Sekundenbruchteile entscheiden darüber, ob wir «Bein» oder «Pein» sagen und verstehen, «Dorf» oder «Torf», «Gunst» oder «Kunst».

Aus einzelnen Lauten werden Wörter gebildet, die einen Sinn haben. Wer miteinander spricht, hat sich etwas zu sagen. Sprachen bestehen nicht aus Geräuschen und unartikuliertem Gegurgel, sondern aus Zeichen, die etwas bedeuten. Wir hören die lautlichen Differenzen zwischen «Bein» und «Pein», weil wir sie als unterschiedliche Wörter der deutschen Sprache verstehen. Die sensorische Wahrnehmung ist durch sprachliches Wissen gesteuert. Die artikulatorischen Unterschiede sind funktional mit bedeutsamen Informationen verbunden und nur deshalb als sprachliche Ausdrucksformen erkennbar.

Die Äußerung isolierter Einzelwörter ist ein Ausnahmefall. In der Regel verbinden wir Wörter zu Aussagen. Jede menschliche Sprache ist grammatisch organisiert. Sätze sind kein Wörtergemisch, sondern Gebilde, die eine komplexe grammatische Struktur besitzen. Auch hier waren es, innerhalb der abendländischen Wissenschaft, vor allem die griechischen Grammatiker (von griech. «gramma», Buchstabe, Schriftzeichen), die nicht nur auf geniale Weise den artikulierten Lautstrom durch einzelne Lautzeichen des Alphabets (von griech. alpha, beta, …) abzubilden begannen, sondern die auch die Baupläne erforschten, die der grammatischen Kombinatorik von Buchstaben zugrunde liegen.

Mit etwa 30 differenzierten Artikulationseinheiten kann nicht nur unaufhörlich geredet werden. Es können auch ständig neue Sätze gebildet werden, mit denen sich auf eine unabschließbare Weise jeder denkbare Gedanke sprachlich ausdrücken läßt. Das Verfahren der Sprache ist äußerst produktiv im Spielraum der Möglichkeiten, der zwar durch grammatische Regeln beherrscht wird, aber dennoch keine feste Grenze besitzt. Menschliche Sprachfähigkeit findet ihren Ausdruck in der Sprache als Möglichkeitsgebilde. Jede menschliche Sprache steht dabei, wie es Wilhelm von Humboldt um 1830 prägnant formulierte, «einem unendlichen und wahrhaft grenzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft» (Humboldt 1963, S. 477).

Doch diese Kraft ist nicht nur im Ausdruck von Gedanken wirksam, bei dem es um die Mitteilung dessen geht, was Menschen über die Welt wissen oder zu wissen glauben. Auch die sozialen Lebensformen des «zoon politikon» sind wesentlich durch Sprache vermittelt. Mit Sprache kann man alles Mögliche tun. Wir können Kontakt und Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen oder zerstören, wir erlangen Macht, manipulieren andere, gewinnen Freunde, halten sie fest oder verlieren sie – vor allem durch Sprache. Die Sprache der Intimität und der Liebe vermag ihre verführerische Kraft zu entfalten. Manchmal gelingt es, worauf besonders die psychoanalytische Rede-Kur vertraut, den sprachlich unbewußten Ursachen neurotischen Verhaltens auf die Spur zu kommen und einen Heilungsprozeß in Gang zu setzen. Neue Techniken des «Neuro-Linguistischen Programmierens» (NLP) werden in Bereichen der Psychotherapie, der Konfliktbearbeitung, der Organisationsentwicklung oder des Verkaufs eingesetzt, um auch in schwierigen Situationen integrationsfähige Verhaltensweisen entwickeln zu können. Eloquente Demagogen können Menschen ideologisch auf ein totalitäres System einschwören, das der Freiheit des kritischen Ausdrucks keinen Raum läßt. In George Orwells Alptraum «1984» braucht es keine Folter, um die Bewohner von Ozeanien gleichzuschalten. Es genügt die «Neusprache», um die Herrschaft des Großen Bruders zu stabilisieren und jedes abweichende Gefühl oder oppositionelle Denken auszumerzen.

Wozu Linguistik (von lat. «lingua», Zunge, Sprache)? Wenn man sich den reichen, von der Sprachwissenschaft gelieferten Erkenntissen zuwendet, so gibt es auf diese Frage nur eine einfache Antwort, die sich auf alle Stadien der Wissenschaftsgeschichte beziehen läßt: weil der Mensch nicht nur das sprechende Tier ist, sondern auch das Lebewesen, das sich mit theoretischer Neugier allem zuwendet, was es verwundert. Die Menschen denken, seit sie sich der erstaunlichen Fähigkeit des Sprechenkönnens bewußt wurden, über das Wesen der Sprache nach. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache ist ebenso alt wie die anderen Zweige der abendländischen Wissenschaft, die im schwindeligen Erstaunen (griech. «thaumazein») ihren anfänglichen Grund besitzen, mit dem an Thaumas, den Gott der Wunder, erinnert wird. Wie die ersten Physiker und Kosmologen die Gesetze der unbelebten Natur und des kosmischen Alls zu erkennen versuchten und wie die Biologen sich auf die überwältigende Vielfalt lebendiger Organismen konzentrierten, so wurde auch das Sprachvermögen des Menschen zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Staunens, das in ein gewußtes Wissen überführt werden sollte. Man wollte nicht nur sprechen können, sondern auch wissen, warum, wie und wozu man es konnte. Von der sprachlichen Fähigkeit zum linguistischen Wissen: Dieses Erkenntnisinteresse beherrscht die Sprachwissenschaft von ihren Anfängen, bei denen es zunächst um die grammatische Analyse des richtigen Sprachgebrauchs und um die etymologische Erklärung der wahren Wortbedeutungen ging, bis zu den gegenwärtigen Anstrengungen, menschliche Sprachkompetenz durch digitalisierte Computerprogramme zu simulieren, um ihr Funktionieren technologisch erklären zu können.

Das ganze Spektrum der Phänomene, die wir kurz Revue passieren ließen, von den elementaren physiologischen Prozessen der Lauterzeugung und -wahrnehmung über geregelte Wort- und Satzbildungen bis hin zu den mannigfaltigen Zwecken des Sprachgebrauchs, bilden den Gegenstand der Sprachwissenschaft. Trotz aller internen Differenzen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen kann über der Linguistik die Berufsbezeichnung Roman Jakobsons (1896–1982) als Motto stehen, der neben Ferdinand de Saussure (1857–1913) und Noam Chomsky zu den herausragenden Sprachwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zählt: «Linguista sum; linguistici nihil a me alienum puto.» (Ich bin Linguist, nichts Sprachliches weiß ich, das mir fremd wäre.) Doch diese allgemeine Bestimmung muß etwas genauer unter die Lupe genommen werden, wenn man auf die Legitimationen achten will, mit denen sich die moderne Sprachwissenschaft seit etwa 200 Jahren als eine autonome Fachdisziplin begründet hat.

Denn erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann die Sprachwissenschaft ihre Eigenständigkeit innerhalb des klassischen Fächerkanons. Sie wurde um ihrer selbst willen zu praktizieren begonnen und befreite sich vom Zwang einer fremden Legitimation. Sie diente nicht mehr den traditionsreichen Philologien zum Verstehen alter Texte, der theologischen Interpretation biblischer Glaubensliteratur, der philosophischen und logischen Reflexion über Voraussetzungen und Gesetze des menschlichen Denkens oder der rhetorischen Analyse und Ausbildung eines überzeugenden Redens. Die in verschiedenen Disziplinen verstreute Sprache wurde zum Erkenntnisobjekt einer selbständigen Wissenschaft, die sich auf die Sprache in ihrem eigenen Sein konzentrierte. Die Sprache zu erkennen, hieß nicht mehr, sich der Literatur, dem Glauben, der Erkenntnis oder der Überzeugungskraft selbst möglichst genau anzunähern, sondern bedeutete, die Methoden des Wissens auf die Sprache in ihrer eigenen Objektivität anzuwenden. Es galt, die Gesetzmäßigkeiten ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihres grammatischen Aufbaus zu erkennen. Nur so glaubte man, sie auch als das Kunstmittel aller Verständigung begreifen zu können, das den Zusammenhalt einer Sprachgemeinschaft zu garantieren vermag.

Die Linguistik des 20. Jahrhunderts hat diese Perspektive um einen neuen Gesichtspunkt erweitert. Wie der Mensch insgesamt unter die Objekte der Technik geraten ist und seine Fähigkeiten zum Gegenstand von Berechnungen geworden sind, so fand auch in der Linguistik eine technologische Ausrichtung statt. Berechenbarkeit drängte Verständigungsfähigkeit zurück. Informations- und Kommunikationstechnologien rückten in den Vordergrund. Kybernetische Sprachmodelle, mathematische Berechnungsverfahren grammatischer Möglichkeiten und Entschlüsselungen des genetischen Codes, der das Sprachvermögen als «mentales Organ» steuert, sind Erkennungszeichen einer modernen Linguistik, die sich aus einer rein geistesgeschichtlichen Tradition befreit hat und aus dem Anschluß an die Natur- und Informationswissenschaften ihre aktuelle Legitimation bezieht.

Doch diese technologische Wende hat nicht zerstört, worum es der Sprachwissenschaft seit ihren Anfängen ging. Sie hat die alten Fragen nach dem Menschen als «zoon logon echon» nur mit neuen Erkenntnisinteressen konfrontiert, denen sich jeder stellen muß, der Sprache als Gegenstand seines Forschens, Lehrens und Lernens gewählt hat. Zwar bleibt das linguistische Erkenntnisobjekt weiterhin ein sprachliches, also geistiges und kulturelles Phänomen. Es ist keine ‹natürliche› Gegebenheit physikalischer Geräusche, die nur einen akustischen Wert besitzen. Bedeutungshaftigkeit, Sprachbewußtsein und Sprecherintention spielen weiterhin eine entscheidende Rolle und verhindern, daß die Sprache zu einem rein naturwissenschaftlichen Gegenstand wird. Aber die Sprachwissenschaft orientiert sich doch zunehmend an den Methoden, die innerhalb der Naturwissenschaften zu deren Erfolg beigetragen haben. Sie wird immer mehr zur Linguistik. Sie bemüht sich um ein Verständnis der Gesetzmäßigkeiten, die Sprache und Geist zugrunde liegen. Sie will nicht nur sprachliche Äußerungen interpretatorisch verstehen, sondern ihre Struktur und Funktionsweise systematisch erklären.

Die Verlagerung vom geisteswissenschaftlichen ‹Verstehen› zum naturwissenschaftlichen ‹Erklären› hat zur Folge, daß das Studium der Linguistik nicht mehr unter dem beherrschenden Leitbild einer humanistischen Bildung steht, zu der Sprache und Literatur einen Königsweg eröffneten. Es bildet nicht mehr ausschließlich den klassischen Philologen (von griech. «philos», Freund, Liebhaber; «logos», Wort, Geist), der sich begeistert in die überlieferten Dokumente der Geistesgeschichte versenkt und lange genug stolz darauf sein konnte, von Naturwissenschaften, neuen Technologien oder Informationstheorie keine Ahnung zu haben. Linguistik ist zu einem Studienfach und Forschungsunternehmen geworden, das im interdisziplinären Netzwerk technologischer Erklärungsmöglichkeiten seinen Platz gefunden hat, ohne seine geisteswissenschaftliche Herkunft zu verleugnen. Befreit aus der traditionsmächtigen Trennung zwischen den beiden geistes- und naturwissenschaftlichen Kulturen, erkundet die internationale Linguistik gegenwärtig einen neuen Weg, der ihr im Rahmen einer «dritten Kultur» (vgl. Brockman 1996) eröffnet wird. In ihr arbeiten Linguisten und Computerwissenschaftler, Kognitions- und Kommunikationstheoretiker, Evolutionsbiologen und Semiotiker (Zeichentheoretiker) zusammen, um die tiefere Bedeutung unseres Lebens und Sprachvermögens sichtbar zu machen und neu zu definieren, wer und was wir sind.

Zwischen Bildung und Ausbildung

Dieser dritte Weg, der die Sprachwissenschaft aus ihrer geisteswissenschaftlich-humanistischen Tradition hinausführt, deutet eine Tendenz an, die innerhalb der geisteswissenschaftlichen Studienfächer und Forschungsgebiete zunehmend stärker wird, auch wenn sie nicht unwidersprochen bleibt. Die traditionsreichen Sicherheiten der Philologien (Germanistik, Romanistik, Anglistik u.a.) haben sich aufgelöst. Allgemein wird von einer «Legitimationskrise» gesprochen, aus der Auswege gesucht werden, auf Tagungen des Deutschen Germanistenverbandes (vgl. Janota 1993) und interdisziplinären Expertensymposien (vgl. Jäger und Switalla 1994). Wozu überhaupt noch ein geisteswissenschaftliches Studium, wenn die Naturwissenschaften die Zukunft im Auge und die Welt in Händen haben? Wenn die geisteswissenschaftlichen Orchideenfächer an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren haben oder als bloße ‹Diskussionswissenschaften› mit unzeitgemäßem ‹Bildungsballast› verächtlich gemacht werden? Wenn die finanziellen Ressourcen knapper werden und der Staat sich zunehmend weniger Geld für die Bildung, für eine weitere universitäre Öffnung für «bildungsferne Schichten» und noch eine Bildungsreform leisten kann? Und wenn die Berufschancen für Geisteswissenschaftler/innen sich zunehmend verschlechtern?

In einer «Denkschrift Geisteswissenschaften» des Wissenschaftsrats (vgl. Frühwald, Jauß u.a. 1991), in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, in der Enquète-Kommission des Deutschen Bundestages «Bildung 2000», auf der Kultusministerkonferenz und der Hochschulrektorenkonferenz, in den Kultus- und Wissenschaftsministerien der Länder, überall werden diese skeptischen Fragen gestellt und zu beantworten versucht. Es wird gerechnet und geplant (wieviel Studierende auf wieviel Ausbildungsplätzen für welche Berufsfelder?), wobei nicht zu übersehen ist, daß die Zahl der Hochschulzugänger und -abgänger keine Rücksicht auf Universitäts- oder Arbeitsmarktkapazitäten nimmt. Die allgemeine Situation ist unübersichtlich, und die Haltungen schwanken zwischen hoffnungsfrohem Optimismus, trotzigem Dennoch und fatalistischem Achselzucken. Ein Grund dieser Verwirrung liegt in der Tradition der deutschen Universitäten selbst. Das Problem besteht in einem ungelösten Widerstreit zwischen Bildung und Ausbildung, der nicht nur die Legitimation der geisteswissenschaftlichen Studienfächer beherrscht, sondern auch die Art und den Zweck des Studiums selbst.

Auf der einen Seite lebt noch immer die Idee der deutschen Universität, die Anfang des 19. Jahrhunderts von Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt, dem Gründer der Berliner Universität (1809), entwickelt worden ist. Die Entstehung und Etablierung der geisteswissenschaftlichen Philologien an den Universitäten sollte, so hieß es in den programmatischen Grundschriften (vgl. Anrich 1964), der Bildung freier Individuen in einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft dienen, die jedem einzelnen zur ganzheitlichen Steigerung seiner Individualität verhilft. Das Studium der Kunst, Philosophie, Theologie, Literatur und Sprachen sollte keinen spezialisierten ‹Geschäftsmann› ergeben, sondern einen gebildeten Menschen, der seine eigenen Wesenskräfte erkennen und entfalten kann. Immanuel Kant hatte es bereits 1783 als Wahlspruch der Aufklärung formuliert: «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Der Mensch soll frei sein, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erlöst, um ganz er selbst zu werden. Diesen aufklärerischen Impuls haben die Universitätsreformer aufgegriffen und organisatorisch weiterentwickelt. Die deutsche Universität sollte Lehrende und Lernende in einem dialogischen Prozeß verbinden, in dem, wie es Humboldt 1809 in seinem Königsberger Reformplan formulierte,

«der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende nicht mehr Lernender ist, sondern dieser forscht nun selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn dabei. (…) Das wesentlich Nothwendige ist, daß der junge Mann zwischen der Schule und dem Eintritt ins Leben eine Anzahl von Jahren ausschließend dem wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich vereinigt.» (Humboldt 1985, S. 103)

Die Freiheit der Forschung und Lehre, das Angebot von Lehrveranstaltungen, zwischen denen die Studierenden wählen können, die weitgehende Eigenverantwortung für ein intensives und erfolgreiches Studium, die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Studienfächer, die Anregung zu eigenen Forschungen, all diese Chancen leiten sich aus der Überzeugung ab, daß zwischen Schule und Berufsleben ein Raum der Freiheit besteht, der sich um die Ideale des forschenden Lernens, der wissenschaftlichen Neugier und des selbständigen Nachdenkens organisiert. Auch die Studienanfänger der Sprach- und Literaturwissenschaften, gefragt nach den Motiven ihrer Studienwahl, geben neben fachspezifischen Interessen (78 %) vor allem Neigungen und Begabungen (75 %), persönliche Entfaltung (60 %), viele Berufsmöglichkeiten (50 %) und Selbständigkeit im Berufsleben (50 %) als bevorzugte Gründe an. Gezielte fachliche Qualifikation für einen bestimmten Beruf spielt nur eine sekundäre Rolle.

Auf der anderen Seite muß das wissenschaftliche Studium in der Perspektive einer Ökonomie des Ausbildungssektors gesehen werden. Die gesellschaftliche Relevanz der Sprach- und Literaturwissenschaften bemißt sich nicht mehr ausschließlich am Ideal eines allseitig gebildeten Individuums, sondern auch an der erforderlichen Qualifikation für verfügbare Arbeitsplätze. Wo einst viele vereinigt sein sollten, um gemeinsam frei forschen und lernen zu können, sind es sehr viele geworden, für deren Anzahl immer wieder neue universitäre Kapazitätsberechnungen angestellt werden. Der Ausbildungssektor wird ökonomisch am Arbeitskräftebedarf in verschiedenen Berufssparten auszurichten versucht. Die Freiheit der individuellen Entfaltung hat sich zu einer ungesicherten Qualifikation für eine ‹freie Laufbahn› verschoben, für deren Erfolg es längst keine Garantie mehr gibt. Flexible Berufsfelder sind an die Stelle lebenslanger Berufskarrieren getreten. Aus den Nur-Studierenden, die sich eine Anzahl von Jahren dem wissenschaftlichen Nachdenken verschrieben haben und die Universität als Lebensmittelpunkt sehen, sind Auch-Studierende geworden, die sich an der Universität als einem Anlaufpunkt unter anderen einschreiben. Schließlich ist auch die Freiheit des Studiums zunehmend durch festgelegte Studienpläne und Prüfungsordnungen geregelt worden, die zwar noch immer einen selbstorganisierenden Spielraum lassen, aber doch vorschreiben, wie man innerhalb der durchschnittlichen Regelstudienzeit einen erfolgreichen Abschluß erreichen kann.

Zwischen offenen Bildungsmöglichkeiten und geplanten Ausbildungsnotwendigkeiten, zwischen Freiheitschancen und Risikogesellschaft bewegen sich die Studierenden, um ihren Weg zu finden. Sie geraten in einen spannungsreichen Zwischenbereich, für den der Slogan «Humboldt oder Henkel?» gefunden wurde. Steht auf der einen Seite der Name Humboldts für das überlieferte Bildungsideal der deutschen Universitäten, so steht der Name des Waschmittelkonzerns Henkel für eine wirtschaftlich nützliche Berufsqualifikation. Auf diesen Widerstreit sollte man vorbereitet sein, wenn man sich für ein sprach- und literaturwissenschaftliches Studium entscheidet, und es spricht einiges dafür, daß die Studierenden in dieser Hinsicht oft klarer sehen als die Lehrenden:

«Die Studierenden (…) erwarten von ihrem Studium vor allem zwei Dinge: in erster Linie eine fachlich und didaktisch qualifizierte Lehre, zum anderen jedoch auch einen verstärkten Praxisbezug. Die Germanistik-Studierenden der 90er Jahre sind Träumer und Realisten zugleich: das Studium darf und soll eine qualifizierte Schutzzone des Denkens, Nachdenkens und Gesprächs über Sprache und Literatur sein, aber alle wissen: irgendwann ist diese Zeit vorbei und dann gilt es, mehr in indirekter als in direkter Form die Qualifikationen des Studiums zu nutzen.» (Welbers 1997, S. 326)

Lehrangebote und Lernanforderungen

Die Frage «Wozu Linguistik?» war einfach zu beantworten und konnte auf die wissenschaftliche Neugier verweisen, mit der sich der sprachbewußte Mensch seiner eigenen Fähigkeit zuwendet. Die Eingliederung der sprachwissenschaftlichen Erkenntnis in ein geisteswissenschaftliches Studium verführte bereits in einen Widerstreit, der keine einfache Lösung mehr zuließ und für die Lehrenden und Lernenden zu einer umstrittenen Herausforderung geworden ist. Schwierig wird es, wenn man sich einen Überblick über die institutionalisierte Situation der Sprachwissenschaft/Linguistik an den deutschen Hochschulen zu verschaffen versucht, über Studiengänge, Prüfungsanforderungen, Forschungsschwerpunkte, Spezialgebiete, zusätzliche und weiterführende Studienangebote. Jedes universitäre Seminar/Institut, an dem linguistisch geforscht und gelehrt wird, besitzt sein eigenes Profil. Die Lehrangebote sind vielfältig ausdifferenziert, die Prüfungsanforderungen sind von Universität zu Universität verschieden, und auch die Sprachwissenschaft bildet kein einheitliches Fachgebiet, sondern folgt unterschiedlichen Orientierungen: sprachbeschreibend, historisch-vergleichend, typologisierend, systematisch erklärend, mathematisch berechnend, sprachdiagnostisch und -therapeutisch. Diese Vielfalt, die als Zeichen für eine Orientierungskrise oder als Indiz für die Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit des linguistischen Studienfachs gesehen werden kann, hat vor allem zwei Ursachen.

Die Situation war überschaubar, solange das sprachwissenschaftliche Studium auf zwei festen Fundamenten ruhen konnte. Zum einen war bis in die siebziger Jahre die Sprachwissenschaft als Studienfach eingebunden in die traditionsreichen Philologien. Die Liebhaber/innen der Sprache und Literatur lehrten und studierten Germanistik, Romanistik, Anglistik, Slawistik u.a. und konnten auf die Einheit der Sprach- und Literaturwissenschaften vertrauen. Man vertiefte sich in die deutsche Literatur und Sprache, in die englische Literatur und Sprache usw., wobei die Sprachwissenschaft weitgehend eine Dienstleistungsfunktion zum Verständnis nationalsprachlicher Texte besaß, vor allem, wenn es sich um Erzeugnisse aus älteren Sprachepochen handelte. Man benötigte zum Beispiel Kenntnisse der historischen Laut- und Formenlehre des Mittelhochdeutschen, seiner grammatischen Struktur und besonderen Wortbedeutungen, um die Minnelieder Walthers von der Vogelweide oder die großen Epen Hartmanns von Aue («Erec», «Gregorius», «Der arme Heinrich», «Iwein»), Wolframs von Eschenbach («Parzival», «Willehalm») und Gottfrieds von Straßburg («Tristan») verständnisvoll lesen zu können.

Ein ritter sô gelêret was

daz er an den buochen las

swaz er daran geschriben vant.

der was Hartman genant,

dienstman was er ze Ouwe.

er nam im mange schouwe

an mislîchen buochen:

daran begunde er suochen

ob er iht des funde

dâ mite er swaere stunde

möhte senfter machen.

So beginnt die höfische Legende vom Leiden und Protest, von der Opferbereitschaft und Heilung des armen Heinrich, die der dichtende Ritter Hartmann von Aue, ein Liebhaber französischer Romane und lateinischer Schriftwerke, um 1195 n. Chr. einer lateinischen Quelle nachgedichtet hat. Er führt sich selbst als ein gebildeter Leser ein, der für die Schuld seines Helden Vergebung sucht und dadurch auch für sich eine Erlösung erhofft: Ein Ritter war so gut unterrichtet, daß er auch in den Büchern las, was er darin alles geschrieben fand. Sein Name war Hartmann, Ministeriale (Dienstadliger) bei den Herren von Aue. Er sah sich viel in Büchern verschiedener Art um. In ihnen begann er zu suchen, ob er nicht etwas davon fände, womit er sich die Stunden seiner Schwermut leichter machen könnte.

Zum andern bestimmte sich das philologische Studium der Sprachen und Literaturen durch eine anerkannte gesellschaftliche Funktion. Es diente der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen für die (höheren) Schulen. Die Studiengänge waren auf ein Staatsexamen ausgerichtet, das zum schulischen Unterricht qualifizierte. Das erklärt, warum sich die Sprachwissenschaft, eingebunden in die Einzelphilologien, vor allem auf die praktische Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten konzentrierte. Die Lehr- und Lernbarkeit der Sprachen stand im Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Interesses.

Seit Ende der siebziger Jahre hat eine entscheidende Umorientierung stattgefunden. Die beiden Fundamente der Sprach- und Literaturwissenschaften wurden brüchig. Das Lehramtsstudium wurde durch die restriktive Einstellungspolitik der Länder begrenzt. Obwohl die Nachfrage nach einem philologischen Studium zunahm, ging der Anteil der Lehramtsstudierenden drastisch zurück. Statt zum Studienverzicht führte der Verlust der gesellschaftlichen Funktion zu einer Umstrukturierung. Magister-Studiengänge wurden entwickelt. An die Stelle des Staatsexamens trat die Magisterprüfung, deren Anforderungen nicht mehr durch staatliche Prüfungsämter kontrolliert, sondern den einzelnen Universitäten überantwortet wurden. Man qualifizierte sich nicht mehr für die schulische Arbeit, sondern erwarb den akademischen Titel «Magister Artium» (M.A.), eines «Meisters der (freien) Künste», der für eine freie Laufbahn ausgebildet wurde, für die keine klaren, traditionellen Berufsfelder existierten. Oder man entschied sich für ein Promotionsstudium, um mittels einer Dissertation seine Fähigkeit zum selbständigen und innovativen Forschen zu dokumentieren und die Befugnis zu erhalten, den Titel «Dr. phil.» vor seinem Namen zu führen.

Mit dieser Umorientierung mußte auch die Fachwissenschaft neue Perspektiven entwickeln. Die philologische Einheit der Sprach- und Literaturwissenschaften zerbrach. Neue Institute wurden gegründet, neue Studiengänge und Prüfungsordnungen wurden entwickelt, die dem sprachwissenschaftlichen Studium ein autonomes Gewicht verliehen. Die Sprachwissenschaft wurde von ihrer philologischen Dienstleistungsfunktion und pädagogischen Ausrichtung befreit. Sie löste sich aus ihrer Bindung an die Literaturwissenschaft. Statt dessen schloß sie sich der internationalen Entwicklung einer modernen Linguistik an. Die Gegenwartssprache wurde als Untersuchungsobjekt ebenso wichtig wie die Sprachgeschichte. Die Konzentration auf die Literatur wurde aufgehoben zugunsten eines Interesses an allen Formen der sprachlich vermittelten Kommunikation, von der Gebärdensprache gehörloser Menschen über die alltäglich gesprochene und geschriebene Sprache bis zu den computerisierten Informations- und Kommunikationstechnologien. Schließlich wurde auch die Fixierung auf eine Nationalsprache aufgegeben und die «Sprache überhaupt» als Grundbedingung menschlicher Existenz zum Gegenstand einer allgemeinen Linguistik, deren Methodik sich auf die Sprache der nordamerikanischen Hopi-Indianer und der australischen Ureinwohner (Tiwi, Walmatjari, Walbiri u.a.) ebenso anwenden läßt wie auf die überlieferten Texte der deutschen, englischen oder französischen Literaturgeschichte. Die Herauslösung der Sprachwissenschaft aus ihrer philologischen Tradition hatte einen ungeheuren Innovatonsschub zur Folge.

Doch diese Verselbständigung zu einem autonomen Forschungsgebiet und Studienfach löste nicht völlig die alten Bande. Es gibt weiterhin die Germanistik, die Anglistik und Amerikanistik, die Romanistik, Slawistik, Skandinavistik oder Orientalistik, in deren Rahmen man deutsche Literatur und Sprache, englische Literatur und Sprache usw. studieren kann. In der Regel besitzen beide Teilfächer ein gleichberechtigtes Gewicht. Wer zum Beispiel Deutsch studiert, sei es für ein Lehramt oder einen Magisterabschluß, muß sich mit der germanistischen Literaturwissenschaft beschäftigen und mit der germanistischen Linguistik. Indessen gibt es nun auch die Möglichkeit, Linguistik als Hauptfach im Rahmen eines eigenen Magisterstudiengangs wählen zu können. An allen Universitäten mit philologischen Fächern gibt es das Studienfach Linguistik. Und wo einst der Sammelname «Seminar für deutsche Philologie» vorherrschte, existieren Fachbereiche, Lehrstühle oder Institute für Germanistische Linguistik, Allgemeine Sprachwissenschaft, Theoretische Linguistik, Computerlinguistik, Linguistische Datenverarbeitung, Sprachliche Informationsverarbeitung u.a. Hinzu kamen an vielen Hochschulen zusätzliche oder weiterführende Studienangebote im linguistischen Bereich, insbesondere die Fachgebiete «Didaktik» (des Deutschen, Englischen, …)», «Deutsch als Fremdsprache», «Medienwissenschaften», «Informationswissenschaft» oder «Computerlinguistik».

Während sich der Staat für Bereiche eines besonderen öffentlichen Interesses (z.B. den Schulbereich) das Recht vorbehält, durch eigene Prüfungsämter den Abschluß eines Lehramtsstudiengangs zu kontrollieren, sind Magisterstudiengänge und -prüfungen eine Sache der jeweiligen Universität. Das erklärt die Unübersichtlichkeit im Bereich des linguistischen Magisterstudiums. An jedem Seminar/Institut, an dem Linguistik als Haupt- oder Nebenfach studiert werden kann, herrschen andere Studienordnungen. Die Lehrangebote und Lernanforderungen, die sprachwissenschaftlichen Schwerpunkte und berufspraktischen Ausrichtungen wechseln von Ort zu Ort. Die Bezeichnung «Linguistik» dient als eine Klammer für mannigfaltige Studienangebote und Prüfungsbedingungen, die von den universitären Lehr- und Forschungsinstituten in ihrer Autonomie entwickelt worden sind.

Trotz dieser Vielfalt zeichnen sich an den Hochschulen von Aachen bis Dresden, von Flensburg bis Konstanz gemeinsame Tendenzen ab. Mehr oder weniger reformfreudig reagieren die sprach- und literaturwissenschaftlichen Seminare auf die Spannung zwischen linguistischer Fachwissenschaft und sprachbezogener Berufsorientierung. Dabei nimmt eine Metapher die Schlüsselstellung ein, die bereits 1973 vom damaligen Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit ins Spiel gebracht wurde, um Perspektiven für die erforderliche Studienreform zu eröffnen. Dem Bildungssystem wurde die Aufgabe zugedacht, Schlüsselqualifikationen auszubilden. Mit diesem Begriff wurde das Hochschulstudium an der Nahtstelle zwischen Bildung und Ausbildung plaziert. Konzepte beruflicher Ausbildung, auf die die Forderung nach Schlüsselqualifikationen zunächst zielte, sollten an wissenschaftlich begründete Konzeptionen der Bildung anschließen.