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Neben dem Neustadter Saalbau stolpert Palzki über einen ermordeten Historiker. Nach einer Legende soll ein Handwerker bei der Grundsteinlegung unbemerkt neben alten Weinflaschen Teile seines Vermögens mit eingemauert haben. Palzki, der zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Schriftsteller Michael Landgraf ermittelt, findet heraus, dass mehrere prominente Personen auf der Suche nach dem Schatz sind. Schließlich kommt es am Tag der Wahl zur Pfälzischen Weinkönigin und einen Tag später bei der großen Pfalzweinprobe im Saalbau zum doppelten Showdown.
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Seitenzahl: 339
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Harald Schneider
Pfalz Wein Mord
Kriminalroman
Tödliche Weinlegende Neben dem Neustadter Saalbau stolpert Palzki in einer Baugrube über einen ermordeten Historiker, der die Geschichte des Saalbaus erforschte. Nach einer Legende soll ein Handwerker bei der Grundsteinlegung neben alten Weinflaschen unbemerkt Teile seines Vermögens mit eingemauert haben. Palzki, der zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Schriftsteller Michael Landgraf ermittelt, findet heraus, dass mehrere prominente Personen wie zum Beispiel der Oberbürgermeister Marc Weigel und der Ordensmeister der Weinbruderschaft, Oliver Stiess, auf der Suche nach dem Schatz sind. Nach einer Explosion im Keller des Saalbaus wird der Geschäftsführer des Tourismusbüros Martin Franck tot im Kühlhaus aufgefunden. Während sich die Zahl der Verdächtigen rasant erhöht, überwindet Kommissar Palzki unter Lebensgefahr weitere Widrigkeiten. Schließlich kommt es am Tag der Wahl zur Pfälzischen Weinkönigin und einen Tag später bei der großen Pfalzweinprobe im Saalbau zum doppelten Showdown.
Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 24. Fall »Pfalz Wein Mord«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami. 2023 wurde er in den PEN Deutschland berufen.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © killykoon / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3000-3
Bei mir steht immer der Mensch im Mittelpunkt Bernd, 42, Scharfschütze
Stammpersonal
Reiner Palzki: Kriminalhauptkommissar und stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalinspektion Schifferstadt
Klaus P. Diefenbach: Palzkis Chef, Spitzname KPD
Gerhard Steinbeißer, Jutta Wagner, Jürgen: Kollegen Reiner Palzkis
Stefanie Palzki: Reiner Palzkis Ehefrau mit den Kindern Melanie, Paul, Lisa und Lars
Frau Ackermann: Palzkis Nachbarin, die Frau, die schneller spricht als ihr Schatten
Dietmar Becker: Krimischreibender Student
Doktor Matthias Metzger: Not-Notarzt
*
Realpersonen
Marc Weigel: Oberbürgermeister der Stadt Neustadt an der Weinstraße
Martin Franck: Geschäftsführer Tourist, Kongress und Saalbau GmbH
Volker Schmidt: Leiter Saalbau
Oliver Stiess: Ordensmeister der Weinbruderschaft der Pfalz
Michael Landgraf: Museumsleiter und Bruderschaftsmeister
Thomas Huber: Schatzmeister der Weinbruderschaft
Bernd Dieffenbacher: Chronist der Weinbruderschaft
Jochen Hamatschek: Fachbuchautor und Schriftsteller
Elisabeth Hamatschek: Ehefrau von Jochen Hamatschek Joachim Specht: Polizeioberkommissar
Günter Wallmen: Gehilfe von Doktor Metzger, Dirndlnotarzt von Speyer, Leitender Arzt Unfallchirurgie Zentrale Notaufnahme im Sankt Vincentius-Krankenhaus Speyer
Steffen Boiselle: Cartoonist, 100% PÄLZER! – Inhaber des Neustadter Agiro-Verlags
Es hätte so ein schöner Tag werden können.
Die Automatiktür glitt zur Seite, und sofort brach die Hölle über mich herein. Eine ungeduldige Menschenmenge drängte mich rücksichtslos ins Freie. Statt der Hitze des Fegefeuers erwartete mich ein böiger Wind, der meine Sinne zusätzlich verwirrte. Eine krächzende Stimme, unverständlich und kaum als menschlich zu erkennen, dröhnte aus einer undefinierbaren Richtung aus mehreren Lautsprechern. Die Geräuschkulisse, die sich mit dem Öffnen der Tür schlagartig entfaltete, war eine Bedrohung für Leib und Seele. Musik, und zwar mehrere Lieder gleichzeitig, in verschiedenen Stilrichtungen und ungleicher Lautstärke, ließ mein Trommelfell flattern. Aber nicht nur die Musik, auch das Stimmengewirr in meiner unmittelbaren Umgebung, das auf- und abschwellende Geschrei in einiger Entfernung und der immense Verkehrslärm waren kaum zu ertragen.
Zusammen mit der Menge wurde ich zu einem Treppenabgang gedrängt, der in einen Tunnel führte. Das Lärmkonglomerat flachte etwas ab, aber der nun entstehende Hall änderte an meinem Unbehagen nichts. Ich wagte einen hoffnungsvollen Blick nach vorne, und tatsächlich: Ich sah Licht am Ende des Tunnels. Es ging ein paar Stufen nach oben, und plötzlich wusste ich, was mich erwartete.
Mit flehendem Blick sah ich meine Frau Stefanie an, die tief durchatmete und dann mit rollenden Augen sagte: »Jetzt weißt du, warum ich darauf bestanden habe, dass wir mit der S-Bahn nach Neustadt fahren und nicht mit dem Auto.«
Mein Unterkiefer klappte ein paarmal auf und zu, bis ich einigermaßen verständlich sprechen konnte. »Was soll das? Ich wollte … wir wollten doch …«
Vor einer guten Stunde saß ich noch gut gelaunt zu Hause auf der Terrasse, las Zeitung und genoss meinen Urlaub. Die Temperatur war für den Beginn des vierten Quartals durchaus akzeptabel und das mörderische Rasenmähen für dieses Jahr überstanden. Besonders genoss ich, dass unsere Kinder bei meiner Schwiegermutter in Frankfurt waren. Ein Hilferuf der hessischen Kollegen blieb bisher aus, den Rest des Chaos, das die Kinder unweigerlich anrichteten, würde die Haftpflichtversicherung übernehmen. Selbst an die Kriminalinspektion Schifferstadt und vor allem an meinen Vorgesetzten KPD, wie wir den Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach wegen seiner Initialen nannten, dachte ich nur noch selten.
Ich genoss die Ruhe und die Zeit mit meiner Frau. Nur diese Einladung störte meine Euphorie seit Tagen wie ein Damoklesschwert. Natürlich freute ich mich über die gut gemeinte und persönliche Einladung, zumal Stefanie mit von der Partie sein durfte. Sie beklagte sich ohnehin ständig, dass ich viel zu selten etwas mit ihr unternehme. Dennoch würde mich dieser Abend unweigerlich wieder mit meinem Beruf konfrontieren.
»Genau«, sagte meine Frau jetzt und fügte hinzu: »Treffpunkt vor dem Saalbau. Wie hätten wir in der Nähe einen Parkplatz finden sollen? Natürlich hätten wir vom Parkplatz Festwiese an der Wiesenstraße bis hierher laufen können.« Sie starrte mir unverhohlen auf die Taille. »Aber das wollte ich dir in deinem Zustand nicht zumuten.«
»In welchem Zustand? Findest du nicht, dass du wieder einmal maßlos übertreibst?«
Stefanie seufzte. »Maßlos, das ist das richtige Wort. Aber egal, du siehst ja, was hier los ist.«
»Ausnahmezustand«, bestätigte ich. »Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass jedes Jahr von Ende September bis Anfang Oktober auf dem Bahnhofsvorplatz das Deutsche Weinlesefest gefeiert wird. Was für ein Wahnsinn! Gefühlt sind die halbe Bevölkerung der Pfalz sowie Weinfreunde aus aller Welt auf dem kleinen Platz. Sogar ein Riesenrad ist aufgebaut.«
»So klein ist der Platz gar nicht«, widersprach sie. »Aber der Lärm ist schon heftig. Lass uns zum Treffpunkt gehen.«
Wir ließen das Pfälzer Winzerdorf mit den Haiselscher, wie die temporär aufgebauten hölzernen Weinstuben in Fachwerkoptik genannt wurden, rechts liegen und schlängelten uns durch Heerscharen von Besuchern jedes Alters, die auf den Wegen zwischen den Dutzenden Wein-, Getränke- und Essensständen standen und das Leben genossen. Hinter der Planung des Weinlesefestes, das mit dem größten Winzerfestumzug Deutschlands den Höhepunkt der pfälzischen Weinfestsaison bildete, musste eine logistische Meisterleistung stecken. Nur so war es möglich, die riesige Anzahl von Verkaufsständen und Fahrgeschäften bis hin zum Riesenrad auf dem Bahnhofsvorplatz aufzubauen.
Wir wurden bereits erwartet. Winkend stand er auf dem Plateau der Eingangsempore des Saalbaus. »Pünktlich wie die S-Bahn«, begrüßte er uns, als wir die wenigen Stufen hinaufstiegen.
»Ausnahmsweise«, erwiderte ich, denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln hatte ich schon andere Erfahrungen gemacht.
»Schön, Sie wiederzusehen«, begrüßte er meine Frau mit Handschlag. »Sie natürlich auch«, fügte er in meine Richtung hinzu.
Michael Landgraf war Theologe und leitete unter anderem das Bibelmuseum in Neustadt. In einem der spektakulärsten Ermittlungsfälle meiner beruflichen Laufbahn jagten wir vor ein paar Monaten gemeinsam unter ständiger Lebensgefahr durch zahlreiche historische Gebäude der hiesigen Altstadt, stets verfolgt von zwielichtigen Ganoven. Der Grund war für mich zunächst banal: eine gestohlene jahrhundertealte Bibel. Dass sie uns zu einem der größten und wertvollsten Reliquienschätze Süddeutschlands führen würde, wurde mir erst im Laufe der Ermittlungen klar. Die Stiftskirche am zentralen Marktplatz spielte dabei eine wichtige Rolle.
»Alles klar mit dem Kopf? Sind Ihre Bibeln noch alle da?«, begrüßte ich ihn in humorvoller Anspielung auf den Bibeldiebstahl, bei dem er von einem Unbekannten mit einem Schwert niedergeschlagen worden war.
»Klar, ich zähle sie täglich nach«, gab Landgraf schmunzelnd und schlagfertig zurück. »Und meinem Kopf geht es gut.«
»Sind Sie allein?«, fragte Stefanie enttäuscht. »Ich dachte …«
Der Theologe unterbrach sie lächelnd. »Meine Frau Barbara wartet in der Kunigunde auf uns. Sie hatte einen auswärtigen Termin und ist direkt dorthin gefahren.«
Die Kunigunde war ein Restaurant in der gleichnamigen Straße in der Altstadt, in das uns Landgraf eingeladen hatte, um sich für die Wiederbeschaffung seiner Bibel zu bedanken.
»Ich bin mit dem E-Bike vom Bibelhaus den Berg hinuntergerollt«, erklärte er. »Mit elektrischer Unterstützung ist der Rückweg nicht so anstrengend.«
Da Stefanie eine wichtige Information fehlte, klärte ich sie auf: »Die Landgrafs wohnen im Obergeschoss des Bibelhauses, auf der anderen Seite des Bahnhofs, ein paar 100 Meter den Berg hinauf.«
»Ich habe mein Fahrrad hinter dem Saalbau abgestellt. Ich nehme es gleich mit, es ist nur ein kurzer Weg zum Restaurant.« Landgraf blickte in Richtung Festgelände. »Am besten gehen wir um den Saalbau herum, da ist nicht so viel los. Ich kenne einen schmalen Durchgang für Fußgänger, und der ist wenig frequentiert.«
»Eine Baustelle hier während des Weinlesefestes?«, fragte ich erstaunt. »Koordinations- und Abspracheprobleme scheint es in allen Verwaltungen der Welt zu geben.«
Landgraf winkte amüsiert ab. »Die Baugrube sollte längst geschlossen sein. Aber es wurden alte Fundamentreste gefunden, die erst noch erforscht werden müssen.«
»Hoffentlich finden sich darin keine Leichen. Oder ein alter Schatz«, fügte ich erheitert hinzu.
»Dort stehen nur alte Kellermauern ohne historischen Wert. Vor dem Bau des Bahnhofs und des Saalbaus gab es verschiedene Vorgängerbauten. Die Fundamentreste müssen weg, um Platz für das neue Glasfaserkabel zu schaffen. Neustadt ist jetzt auch auf dem Weg ins nächste Jahrtausend.«
Fast wäre ich der Versuchung erlegen, ihn zu fragen, welches Jahrtausend er denn meine.
Der etwa 30 Meter lange Graben, der an den Enden bis an die Außenmauern der angrenzenden Gebäude reichte, war rundum mit hohen Gittern gesichert. Nur in der Mitte gab es einen knapp zwei Meter breiten Durchgang mit einer Art Bohlenbrücke. Diese Brücke war ebenfalls mit Absperrgittern umgeben, sodass man auch mit höherem Alkoholpegel sicher auf die andere Seite gelangen konnte. Leider wurde dieser Durchgang von einer Gruppe Heranwachsender blockiert, die sich genau diese Engstelle für ihre spätpubertären Ränkespiele ausgesucht hatten.
»Da will ich nicht durch«, sagte Stefanie. »Wenn ich mir vorstelle, dass unsere Kinder auch in dieses schreckliche Alter kommen.«
Michael Landgraf gab sich lösungsorientiert. »Dann gehen wir einfach einmal um den Saalbau herum. Alle Wege führen zu meinem Fahrrad.«
»Warum so umständlich«, entgegnete ich und zeigte auf eine Verbreiterung der Baustelle direkt vor der Außenwand des Saalbaus. Neben der Baugrube lagen Materialstapel, daneben standen eine mobile Toilette und ein Baucontainer. Die Grube war teilweise mit mächtigen Planen abgedeckt, vermutlich um Maschinen und größere Werkzeuge, die nach Feierabend nicht einfach weggeräumt werden konnten, vor Regen zu schützen. Über dem abgedeckten Teil der Grube lagen zwei Bohlen. »Wir huschen schnell über die Bretter, das merkt keiner und ist völlig ungefährlich.«
»Reiner, lass das!«, rief meine Frau, aber ich hatte schon eine der Absperrungen zur Seite geschoben. Das war leicht, denn diese Stelle war wohl der Zugang für die Bauarbeiter.
»Ach komm, was soll schon passieren«, forderte ich sie auf. »Als wir jung waren, da …«
Weiter kam ich nicht. Kaum hatte ich den ersten Fuß auf das Brett gesetzt, stolperte ich. Das Holz lag wohl nicht ganz eben über der Grube, sodass es heftig schwankte. Reflexartig knickte ich nach vorne und konnte mit dem anderen Fuß gerade noch das zweite Brett erreichen. Ich merkte sofort, dass es feucht war. Meine Beine zog es zur Seite und ich fiel rücklings auf die Bretter. Durch die noch vorhandene Bewegungsenergie meines Körpers rutschte ich über die Brettkante, ohne etwas dagegen tun zu können. Der Sturz auf die Plane, die die Grube abdeckte, war nur eine Zwischenstation. Die Plane gab nach, und ich fiel zweieinhalb Meter in die Tiefe. Der Aufprall war unerwartet weich, aber die gesamte Plastikplane rutschte nun ebenfalls in die Grube und nahm mir Sicht und Orientierung. Ohne etwas sehen zu können, versuchte ich, mich von der starren und endlos erscheinenden Plane zu befreien. Meine Befreiungsversuche waren alles andere als einfach, da ich zusätzlich durch die Seitenwände der Grube in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, bei denen ich mich immer tiefer in das Planengewirr verstrickte, gelang es mir, einen Ausgang zu finden. Mein erster Blick fiel direkt auf ein Gesicht. Es war das Gesicht eines Toten. Nach einer Schrecksekunde bemerkte ich, dass ich auf dem Oberkörper des Toten saß. Offensichtlich hatte der Leichnam meinen Sturz abgefedert. Oder hatte die Person vor meinem Sturz noch gelebt?
»Reiner, alles in Ordnung?«
Ich schaute nach oben, konnte aber niemanden aus meiner Perspektive erkennen. »Alles okay, ich bin nicht verletzt. Bleib, wo du bist.« Auf jeden Fall musste ich meiner Frau den Anblick der Leiche ersparen.
»Ist deine Kleidung sehr schmutzig geworden?«
Diese Frage war wieder einmal typisch für meine Frau. Ob ich nun, zumindest hypothetisch, die Niagarafälle hinunterstürzte oder von Gewehrkugeln durchsiebt wurde, ihre Sorge galt meinem makellosen Äußeren.
Zugegeben, ich hatte in den vergangenen Jahren einige Hemden, Hosen und andere Kleidungsstücke verschlissen, was fast immer auf einen Einsatz zurückzuführen war. Aber ich war noch nie im Einsatz auf einen Toten gefallen. »Kaum der Rede wert«, rief ich nach oben, wohl wissend, dass Stefanie mir sowieso nicht glauben würde. »Ich komme jetzt hoch.«
»Kann ich Ihnen helfen, Herr Palzki?«, rief jetzt Landgraf.
»Das schaffe ich schon«, antwortete ich optimistisch. »Passen Sie bitte auf, dass keine Gaffer auf die Baustelle kommen.«
»Okay, ich schiebe das Gitter wieder zurück.«
Inzwischen hatte ich mich vollständig aus der Plane befreit und konnte meine Extremitäten wieder frei bewegen. Um den Fundort der Leiche nicht weiter zu kontaminieren oder zu verändern, kroch ich ein Stück durch den Graben in Richtung der Außenwand des Saalbaus. Dort lagen alte Ziegelsteine, die ich als Aufstiegshilfe benutzen wollte. Leider war es in der Praxis nicht so einfach, wie ich es mir in der Theorie vorgestellt hatte. Die Wände waren fast senkrecht und jeden halben Meter mit Metallpfosten gegen Abrutschen gesichert. Vor zwei oder drei Jahrzehnten wäre ich noch wie ein Wiesel hochgeklettert, meine heutigen Versuche waren weniger von Erfolg gekrönt.
»Reiner, wo bleibst du denn?« Stefanie wurde ungeduldig.
»Nur noch ein, zwei Ver…, äh, ich bin gleich bei euch.«
Im selben Moment hörte ich Michael Landgraf, der am Grabenrand auftauchte, um mir beizustehen, aufschreien. Ich schaute auf und sah, dass nicht ich der Grund für den Schrei war.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Landgraf. »Was ist denn da passiert?«
»Eine Leiche«, rief ich etwas leiser zurück, in der Hoffnung, dass meine Frau mich nicht hören würde. »Jemand hat sie unter der Plane versteckt. Die liegt da bestimmt schon eine Weile.«
»Eher nicht«, antwortete Landgraf trocken. »Ich kenne den Toten. Er war heute Morgen noch bei mir, und das quicklebendig!«
Da war sie wieder, die Bestätigung der Behauptung meiner Frau, ich könne nirgendwo hingehen, ohne in ein Verbrechen verwickelt zu werden. Noch hoffte ich, dass es sich um einen Unfall handeln könnte.
Landgraf verschwand kurz aus meinem Blickfeld, dann schoben sich wie von Geisterhand die Sprossen einer Holzleiter über den Grubenrand. »Achtung, Herr Palzki, ich lasse jetzt die Leiter, die neben dem Toilettenhäuschen lag, herunter.«
Über die Leiter konnte ich den schrecklichen Ort verlassen. Oben angekommen, nickte ich Landgraf dankend zu und versuchte vergeblich, den Schmutz von meiner Kleidung zu wischen.
Stefanie hatte längst gemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Reiner, jetzt sag schon, was ist passiert?«, fragte sie besorgt und schaute gleichzeitig auf einen überdimensionierten Schlammfleck auf meiner Hose.
Da meine Frau auf der anderen Seite des Absperrgitters stand, ging ich auf sie zu. »In der Baugrube liegt ein Toter«, erklärte ich ihr betont ruhig. »Vielleicht einer der Bauarbeiter?«, fügte ich fragend hinzu, obwohl der Tote auf mich nicht den Eindruck eines Arbeiters gemacht hatte.
Stefanie sah mich eindringlich an. »Sag schon: Mord?«
»Keine Ahnung«, wiegelte ich ab. »Das müssen die Neustadter Beamten klären.«
Landgraf war bereits mit seinem Smartphone zugange, um die örtliche Polizei zu verständigen. »Wir sollen warten und darauf achten, dass sich niemand der Fundstelle nähert«, sprach er und nickte mir zu.
Schneller als erwartet kamen zwei uniformierte Streifenbeamte angerannt. Die Gruppe Halbwüchsiger, die nach wie vor nur wenige Meter von uns entfernt herumlungerte, aber von unserem Leichenfund nichts mitbekommen hatte, rannte erschrocken davon. Die Polizisten überlegten kurz, ob sie der Gruppe folgen sollten.
»Hier bei uns sind Sie richtig«, rief ich ihnen zu. Ich vermutete, dass die Beamten als Vorhut von der Zentrale alarmiert worden waren, während sie einen Rundgang über das Festgelände machten.
»Haben Sie einen Toten gemeldet?«, fragte daraufhin eine Beamtin in forschem Ton, die mit einem deutlich jüngeren Kollegen unterwegs war.
Ich deutete in die entsprechende Richtung. »Der liegt unten in der Grube.« Als kleinen Gefallen öffnete ich das Absperrgitter.
»Sie bleiben draußen«, befahl sie. »Kevin, komm mit.« Die beiden gingen zum Rand der Grube und schauten hinunter. »Wo genau?«, fragte die Beamtin.
»Unter der Plane«, antwortete ich. »Sie können die Leiter nehmen. Die Leiche liegt etwa drei Meter links davon.«
»Siehst du nach, Kevin?«, fragte die Polizistin ihren jungen Kollegen.
»Ich soll da runter?«, erwiderte er erschrocken.
Als aufmerksamer Beobachter sah ich, wie die Polizistin genervt reagierte. »Schon gut, ich mach das selbst.« Es dauerte nicht lange, bis ihre Stimme aus der Grube drang.
»Gib der Zentrale Bescheid, wir brauchen das volle Programm.«
»Liegt da wirklich eine Leiche?«, fragte Kevin mit belegter Stimme.
»Ist das dein erster Toter? Mach dir keine Sorgen. Der tut dir nichts.« Sie kam zurück und wandte sich mir zu. »Ich muss Sie bitten, auf meine Kollegen zu warten. Kannten Sie den Toten?«
Ich schüttelte den Kopf, denn die Beamtin sah nur mich an. Landgraf stand etwas im Hintergrund neben meiner Frau, wirkte nachdenklich und sagte kein Wort zu der Polizistin.
»Was haben Sie da unten gemacht?«, fragte sie.
»Ich bin bestimmt nicht freiwillig in die Grube gefallen«, klärte ich sie auf und deutete auf den Schmutzfleck auf meiner Hose. »Ich bin gestolpert.« Um zu verhindern, dass sie mich für verdächtig hielt und mir Handschellen anlegte, fügte ich hinzu: »Ich bin übrigens ein Kollege, Dienststelle Kriminalinspektion Schifferstadt.«
»Schifferstadt?«, wiederholte sie amüsiert. »Nää, odder?«, brach es auf Pfälzisch aus ihr heraus. Sie verkniff sich eine Erklärung für ihre seltsame Reaktion, die mich die Stirn runzeln ließ, was die Beamtin wohl noch mehr amüsierte und süffisant grinsend ein drittes Mal »Schifferstadt« murmeln ließ.
Viel Zeit zum Sinnieren über diese Szene hatte ich nicht. Da die Polizeidirektion Neustadt nur einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt lag, fuhren nun die ersten Einsatzwagen vor. Routiniert sperrte eine Handvoll Beamter die gesamte Baustelle ab und drängte die immer zahlreicher werdenden Schaulustigen zurück.
Ich roch ihn, bevor ich ihn sah. Nur wenige Gerüche hatten sich so intensiv in meine Synapsen eingebrannt wie dieser Zigarrengeruch. Wer diesen Mann kannte, kannte automatisch auch den typischen Geruch seiner italienischen Zigarren Toscano Antico.
»Michael, was machst du …?«, fragte er überrascht, als er den Theologen entdeckte. Seine Frage blieb unvollendet, weil er mich in diesem Moment wahrnahm. »Palzki, äh, Herr Palzki, Sie auch hier?«, tönte seine sonor klingende laute Stimme. Und mit hochrotem Kopf: »Ist das die versteckte Kamera? Wollen Sie mich verarschen? Sehen Sie sich doch mal um! Wir haben alle Hände voll zu tun, damit das Weinlesefest friedlich bleibt.« Er schnappte nach Luft, dann kam ihm ein anderer Gedanke. Hektisch schaute er sich in alle Richtungen um. Dann kam er auf mich zu, sodass unsere Köpfe nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Wo ist er? Wo ist Ihr arroganter, nichtsnutziger Chef und Kumpel Diefenbach? Wo Sie sind, treibt sich sicher auch der unfähigste Beamte aller Zeiten herum.«
»KP, äh, Diefenbach ist nicht mein Kumpel«, antwortete ich innerlich aufgewühlt. »Aber sonst haben Sie ihn gut charakterisiert.«
»Und wo ist er?« Auf die Diagnose bezüglich meines Chefs ging er nicht ein.
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Hoffentlich ist er im Moment nicht in Neustadt.« Herausfordernd sah ich Joachim Specht an. »Ich kann auch ohne meinen Chef Leichen finden. Sogar im Urlaub.«
Specht stand neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Polizeioberkommissar der katholischen Stiftskirchengemeinde in Neustadt vor. Diese war besonders, denn in ihr feierte man die Tridentinische Messe in lateinischer Sprache. Bei meinen Ermittlungen im Fall der verschwundenen Neustadter Bibel war er mir ständig in die Quere gekommen. Zeitweise verdächtigte ich ihn sogar, die Bibel gestohlen zu haben, um an den historischen Kirchenschatz heranzukommen. Zusätzliche Schwierigkeiten ergaben sich daraus, dass sein Dienstsitz normalerweise in Grünstadt war, er aber wegen Personalmangels als kommissarischer Leiter der Kriminalpolizei in Neustadt eingesetzt wurde. Dieser Zustand dauerte offensichtlich an.
Meine Behauptung verwirrte ihn. Er sah abwechselnd zu Landgraf und zu mir. Zur Beruhigung nahm er zwei oder drei Züge, dann wandte er sich an Landgraf. »Ist das wahr, Michael?«
Er nickte. »Ich habe Herrn Palzki und seine Frau zum Essen eingeladen, weil er unserem Bibelrätsel auf die Spur gekommen ist. Auf dem Weg zum Restaurant haben wir zufällig die Leiche entdeckt.«
»Zufällig?«, wiederholte der Polizeioberkommissar, immer noch ungläubig. »Ihr habt die Leiche zufällig entdeckt und habt nichts damit zu tun?« Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre. »Ihr wart nur auf dem Weg in ein Restaurant und kennt den Toten nicht?«
Landgraf holte gerade Luft, um über das Baustellen- und Wegechaos sowie über meinen Sturz zu berichten, doch Specht wurde von einer Beamtin gerufen. »Wir haben den Ausweis des Toten gefunden. Es handelt sich um …«
»Jochen Hamatschek«, unterbrach sie Landgraf. Nachdem er Spechts unfreundlichen Blick bemerkt hatte, ergänzte er: »Er ist Weinexperte, wie ich ein Mitglied der Weinbruderschaft der Pfalz und ein bekannter Autor. Nachdem Herr Palzki in die Baugrube gestolpert ist und ihn entdeckt hat, habe ich einen kurzen Blick in die Grube geworfen. Jochen habe ich sofort erkannt.«
Joachim Specht überlegte, während er seine Zigarre dezimierte. »Natürlich kenne ich Hamatschek auch«, erklärte er und sah Landgraf noch eindringlicher an als zuvor. »Und das war wirklich nur Zufall? Wann hast du den Toten das letzte Mal gesehen? Lebendig, meine ich.«
Der Theologe zögerte einen Moment mit der Antwort. »Heute Morgen«, erklärte er leise. »Bei mir zu Hause.«
Dem Polizeioberkommissar fiel beinahe die Zigarre aus dem Mund, und er war für einen Moment sprachlos. »Du hattest heute Kontakt mit Hamatschek? Und da sprichst du von Zufall?«
»Kein Grund, sich so aufzuregen«, versuchte Landgraf, ihn zu beruhigen. »Sein Besuch bei mir war sicher kein Motiv, ihn zu ermorden. Er hat mich gegen 10 Uhr verlassen, und ich habe keine Ahnung, was er danach gemacht hat.«
Specht war der Meinung, einen Widerspruch herausgehört zu haben. »Woher willst du wissen, dass er ermordet wurde? Hast du nicht gesagt, du hättest ihn nur kurz aus der Ferne gesehen?«
Jetzt war es an der Zeit, mich einzumischen. »Herr Specht, lassen Sie Herrn Landgraf in Ruhe. Wir haben den Toten, der mir übrigens völlig unbekannt ist, nur deshalb gefunden, weil ich meine sportlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen wollte, indem ich eine Abkürzung über die Baustelle nahm. Dabei bin ich ausgerutscht und in die Grube gefallen. Der Tote lag vor meinem Missgeschick versteckt unter der Plane und war von oben nicht zu sehen. Einen Suizid oder einen plötzlichen Tod ohne Fremdeinwirkung würde ich aufgrund der Auffindesituation ausschließen.«
Der Polizeibeamte aus Neustadt war für einen kurzen Moment sprachlos. »Sie wollten also Ihre sportliche Fitness unter Beweis stellen …«, sagte er lächelnd und blickte, wie zuvor meine Frau, eindringlich auf meine Taille, sodass ich mich unweigerlich leicht umdrehte. Specht setzte noch einen drauf. »Warum sind Sie nicht einfach über die Fußgängerbrücke gegangen? Waren Ihnen die zehn Meter Umweg zu viel?«
Ich wollte gerade zu einem verbalen Gegenangriff ausholen, als in diesem Moment der Notarzt eintraf. Laut fluchend kletterte der Arzt die durch den Schlamm glitschige Leiter in die Grube hinunter. Die erste Leichenschau sollte grundsätzlich am Fundort der Leiche durchgeführt werden, was bei den beengten Platzverhältnissen sicher nicht angenehm und eine Herausforderung war. Diese Szene brachte mich auf eine Idee. Ohne auf Spechts Hinweis mit dem Steg einzugehen, machte ich ihm einen Vorschlag. »Herr Specht, Sie können von mir aus die wildesten Vermutungen anstellen und absurde Geschehensabläufe konstruieren. Dass Herr Landgraf und ich die Leiche nur zufällig gefunden haben, ist jedenfalls eine unumstößliche Tatsache. Ich biete Ihnen an, dieser These zu folgen und uns wie normale Zeugen zu behandeln. Andernfalls werde ich …« Ich brach mitten im Satz ab, um seine Aufmerksamkeit zu fördern.
»Und was würden Sie dann tun?«, fragte er mit sarkastischem Unterton. »Ihren Anwalt anrufen?« Er lachte.
»Ich brauche keinen Anwalt«, antwortete ich ruhig. »Aber ich könnte meinen lieben Chef, Herrn Diefenbach, informieren. Der wäre garantiert innerhalb einer Stunde in Neustadt und würde erste Ermittlungen einleiten. Sie wissen ja, wie die Sache das letzte Mal ausgegangen ist.«
Joachim Specht erblasste. Die Auseinandersetzungen zwischen ihm und KPD waren legendär. »Nur über meine Leiche! Diefenbach ist in Neustadt sowieso nicht zuständig«, versuchte er, die Situation zu retten.
»Das hat ihn bei der Suche nach der Neustadter Bibel und den Reliquien, die er für seinen Erbbesitz hielt, auch nicht gestört. Sie wissen ja: Mein Chef mischt sich immer und überall ein. Er wird keine Ruhe geben, und Sie werden von morgens bis abends wegen Diefenbach genervt sein. Auch nachts«, fügte ich hinzu. Bevor er antworten konnte, fuhr ich fort. »Bei mir ist das anders. Ich will nur meine Ruhe haben und mich nicht in Ihre Ermittlungen einmischen. Sobald Sie unsere Aussagen aufgenommen haben, werden Sie mich nicht mehr sehen. Ich habe kein Interesse daran, diesen Todesfall zu untersuchen. Außerdem bin ich im Urlaub.«
»Ich mische mich auch nicht ein«, ergänzte Landgraf. »Aber natürlich stehe ich dir zur Verfügung, wenn ich helfen kann.«
Wieder wurden wir unterbrochen. Ein Beamter übergab Joachim Specht einen Beutel mit Beweismitteln. »Der Arzt meint, das Teil könnte die Tatwaffe sein.«
»Was ist das?« Specht betrachtete den Gegenstand, der wie ein Holzhammer aussah.
»Ein Fassbinderhammer, hat man mir gesagt«, erklärte der Beamte. »Das Ding wird auch Küferschlegel genannt und wohl im Weinbau verwendet.«
Ich sah, wie Landgraf kurz zusammenzuckte, behielt diese Reaktion aber für mich. Es war mir persönlich egal, mit welcher Waffe man diesen Weinexperten ermordet hatte. Da er auch ein Schriftsteller war, mit sicher überbordender Fantasie, war er mir ohnehin schon suspekt.
»Mitnehmen und der Spurensicherung übergeben«, befahl Specht dem Beamten, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Herr Palzki, Ihr Vorschlag gefällt mir. Fahren Sie mit Ihrer Frau nach Hause und lassen Sie sich vorerst nicht mehr in Neustadt blicken.« Sein Blick wanderte über meine Kleidung, und er kommentierte sarkastisch: »So wie Sie aussehen, wird der Restaurantbesuch wohl ohnehin ausfallen.«
Recht hatte er. In meinen schmutzigen Klamotten sah ich wenig alltagstauglich aus. Auch Stefanie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich noch auf eine Einkehr in der Kunigunde freuen.
»So machen wir das«, bestätigte ich ihm. »Wir verabschieden uns kurz von Herrn Landgraf und nehmen dann die nächste S-Bahn zurück nach Schifferstadt. Falls Sie mich brauchen, Sie wissen ja, in welcher Dienststelle ich arbeite.«
»Nie im Leben käme ich auf die Idee, in Schifferstadt anzuru…«
»Hallo, Herr Palzki!«, rief mir in diesem Moment jemand zu. »Michael, du auch hier?«, fuhr der Mann fort. Im selben Moment entdeckte er auch Joachim Specht, dem er nur wortlos zunickte. »Ich war gerade mit den Kandidatinnen zur Wahl der Pfälzischen Weinkönigin auf einem Rundgang über das Weinlesefest«, erklärte Marc Weigel, Oberbürgermeister von Neustadt. »Auf der Baustelle soll ein Toter gefunden worden sein, wurde mir gerade berichtet. Stimmt das?«
»Jochen Hamatschek.« Landgraf beantwortete die Frage des Stadtoberhauptes. »Vermutlich ermordet, jedenfalls nach der ersten Begutachtung durch Herrn Palzki. Er hat die Leiche auch gefunden.«
»Das ist ja furchtbar!«, sagte der Oberbürgermeister. »Hamatschek! Wissen Sie schon etwas Genaueres über die Tat? Könnte es sich auch um einen tragischen Unfall handeln?«
»Hallo!«, unterbrach Joachim Specht lautstark das Gespräch. »Guten Abend, Herr Oberbürgermeister, ich leite hier die Ermittlungen. Ihre Fragen beantworte ich gerne nachher, aber dafür ist es noch zu früh.«
»Sehr gut, Herr Specht«, sagte Weigel. »Machen Sie sich an die Arbeit, ich weiß, dass auf Sie Verlass ist. Ich unterhalte mich derweil mit Herrn Landgraf und Herrn Palzki.«
Grummelnd und unzufrieden über die Abfuhr zog sich der Polizeioberkommissar zurück.
Auch der Oberbürgermeister wirkte unzufrieden. »Ich weiß ja, dass die Personalnot bei unserer Polizei in Neustadt groß ist und wir auf Beamte aus den umliegenden Dienststellen zurückgreifen müssen. Aber warum muss ausgerechnet Specht heute Dienst haben?«, fragte er sich eher selbst. Jetzt entdeckte er meine Frau, die er freudig begrüßte. »Hallo, Frau Palzki, was hat Ihr Mann wieder angestellt?« Sofort drehte er sich zu mir um. »Das war nur ein Scherz, Herr Palzki. Ich freue mich, dass Sie in Neustadt sind. Aber was ist passiert?«
»Wir haben keine Ahnung«, sagte Landgraf. »Herr Palzki ist versehentlich in die Baugrube gestürzt. Unter einer Plane hat er Jochen Hamatschek tot aufgefunden. Wahrscheinlich ist er ermordet worden.«
Der Oberbürgermeister sah sich kurz um. »Wie kann man aus Versehen in die Grube fallen? Haben ein paar Randalierer die Absperrungen entfernt?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte ich schnell. »Tatsache ist, dass wir nichts damit zu tun haben.«
»Um Himmels willen, das habe ich auch nicht behauptet«, ruderte der OB zurück. »Mir ist nur etwas anderes unangenehm.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, pflichtete Landgraf ihm bei. »Hamatschek ist, äh, war ein großartiger Autor, der interessante Sachbücher über den Wein und die Weinbruderschaft geschrieben hat. Sein Buch über die Geschichte der …«
»Ja, das auch«, unterbrach ihn der OB ungeduldig. »Aber ich meine eher die nähere Zukunft.«
»Ach so, du meinst das kommende Wochenende?«, riet der Theologe.
Weigel nickte. »Unter anderem.«
»Würde mich bitte jemand aufklären?«, unterbrach ich die beiden.
»Natürlich, Herr Palzki.« Der Oberbürgermeister wandte sich an mich. »Das nächste Wochenende ist eines der wichtigsten im Jahreskalender der Stadt Neustadt. Hier nebenan«, er deutete auf den Saalbau, »wird am Freitag die Pfälzische Weinkönigin gewählt und gekrönt. Und einen Tag später findet an gleicher Stelle die große Pfalzweinprobe der Weinbruderschaft der Pfalz statt.«
Es war das zweite Mal, dass ich den Begriff Weinbruderschaft hörte. Ob sich dahinter ein Geheimbund verbarg? Ich prägte mir den Namen dieser ominösen Gruppe ein.
»Was hat das mit diesem Verbrechen zu tun?«, fragte ich. »Außer der Nähe zum Tatort scheint es keine Verbindung zu den von Ihnen erwähnten Ereignissen zu geben. Und wenn doch, wird Herr Specht es herausfinden.«
Der OB senkte die Stimme. »Genau das ist das Problem, Herr Palzki. Seit Ihren letzten Ermittlungen in Neustadt wissen Sie, dass sich Joachim Specht manchmal wie der berühmte Elefant im Porzellanladen verhält. Als Beamter aus Grünstadt ist er nicht so sensibilisiert für das, was hier passiert. Im Grunde möchte ich vermeiden, dass diese beiden Ereignisse mit dem Tod von Herrn Hamatschek in Verbindung gebracht werden, und sei es auch nur versehentlich. Schlechte Imagewerbung können wir in Neustadt weder jetzt noch zu einem anderen Zeitpunkt gebrauchen. Ein Unfall ist wirklich auszuschließen?«
»Ist das Image jetzt wirklich unser wichtigstes Problem?«, grübelte Landgraf laut ohne böse Absicht.
»Äh, nein, äh, natürlich nicht«, stotterte der OB und wurde leicht rot.
»Wie können wir dir bezüglich Joachim Specht helfen?« Landgraf wollte mit seiner konkreten Frage dem Oberbürgermeister helfen, dessen Gesicht zu wahren.
Marc Weigel blickte unsicher zwischen uns beiden hin und her. »Ich weiß auch nicht so recht, das kommt alles so plötzlich und ohne Vorwarnung.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Könnten Sie, Herr Palzki, nicht …?«
Ich ahnte sofort, worauf er hinauswollte. »Auf keinen Fall, ich genieße gerade meinen Urlaub. Außerdem sind weder ich noch meine Kollegen oder mein Chef zuständig. Letztes Mal hat sich Diefenbach bekanntlich nur eingemischt, weil er sich für den Haupterben der Wittelsbacher hielt.«
Sein überbordendes Ego und die vermeintlich ruhmreiche Vergangenheit seiner Vorfahren beschäftigten meinen Chef immer wieder. Kürzlich ersteigerte er eine alte Urkunde, aus der seiner Meinung nach hervorging, dass er der einzig wahre Nachkomme der Wittelsbacher sei. Diese Urkunde sollte der Experte Michael Landgraf für ihn überprüfen. Landgraf stellte meinem Chef ein Ultimatum: Er würde sich der Urkunde annehmen, wenn ich im Gegenzug die verschwundene Bibel aufspüren würde. Natürlich stellte sich die Urkunde später als Fälschung heraus.
»Nicht mal ein bisschen nebenher?«, fragte Weigel besorgt. »Specht wird sich mir gegenüber in Schweigen hüllen, von ihm habe ich nichts zu erwarten. Als Stadtspitze sollte ich jederzeit wissen, wo wir stehen. Wenn es nicht so ein unglücklicher Zeitpunkt wäre, würde ich das nicht so kritisch sehen.«
Michael Landgraf war mir keine Hilfe. »Herr Palzki, wissen Sie noch, wie wir den letzten Fall zusammen gelöst haben? Wir waren doch ein super Team, oder? Meinen Sie nicht, dass wir hinter den Kulissen mitmischen könnten? Als Privatpersonen natürlich. Ich habe gute Kontakte. Wir könnten beispielsweise Hamatscheks Witwe in Landau besuchen, auf die Idee kommt Specht sicher nicht.«
»Bei Problemen helfe ich natürlich auch. Quasi als Türöffner, wenn es irgendwo hakt.« Marc Weigel strahlte Landgraf an. »Und wenn meine Unfalltheorie zutreffen sollte, ist das auch okay.«
»Ich weiß nicht«, begann ich vorsichtig, obwohl meine Ablehnung unumstößlich war. Ich würde mich auf keinen Fall in die Ermittlungen einmischen. Für die nächsten Tage war schönes Wetter vorhergesagt, was mir ein paar weitere erholsame Urlaubstage auf meiner Terrasse garantierte. »Diefenbach wird das nie gutheißen.«
»Ich bitte Sie, Ihr Chef?« Landgraf grinste mich an. »Sie haben mir doch selbst gesagt, dass Sie und Ihre Kollegen sich in der Regel nicht an die Anordnungen Ihres Chefs halten.«
»Das stimmt«, gab ich zu. »Aber das hat andere Gründe. Ich meine …«
Der OB unterbrach meinen Satz. Er wandte sich aber nicht an mich, sondern an meine Frau. »Frau Palzki, wie sehen Sie die Situation? Am Freitag findet im Saalbau die Wahl der Pfälzischen Weinkönigin statt. Waren Sie schon mal bei einer Wahl live dabei?«
Stefanie schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie im Saalbau. Mein Mann geht nur ganz selten mit mir aus. Meistens nur zur Weihnachtsfeier seiner Dienststelle.« Dann wurde sie sarkastisch: »Ansonsten liegt mein Mann meist faul zu Hause auf der Couch, statt den Garten winterfest zu machen.« Sie klang deprimiert, was der OB sofort bemerkte und gnadenlos ausnutzte. Dabei gab es meiner Meinung nach Anfang Oktober noch keinen Grund, den Garten winterfest zu machen.
Weigel zog zwei Eintrittskarten aus seinem Jackett. »Das sind Ehrenkarten für die Wahl am Freitag. Freuen Sie sich auf einen schönen Abend.«
»Zur Krkrkrönungsfeier der Pfälzischen Weinkönigin …«, hauchte Stefanie, fasste sich mit der rechten Hand ans Herz und schaute gen Himmel. Ihr seliger und strahlender Blick verriet mir, dass ich auf verlorenem Posten stand. Egal, was ich jetzt einwenden würde, es würde mit einem weiteren Mord enden. Da ich weiterleben wollte, blieb ich stumm wie ein Fisch mit Schnappatmung.
Meine Frau bedankte sich so überschwänglich beim Oberbürgermeister, dass sie weiter stotterte. »Ich, äh, ich muss mir erst noch ein neues Kleid kaufen.« Sie erschrak, dann sah sie mich an. »Für meinen Mann muss ich mir auch noch etwas einfallen lassen. Mit seinem alten Anzug aus dem vergangenen Jahrtausend kann ich ihn nicht mitnehmen, zumal der sicher schon hundertmal in die Reinigung musste, weil er nie auf seine Klamotten aufpasst.«
Der OB schmunzelte, musterte mich jedoch aus dem Augenwinkel. Meine Verteidigungsrede lag mir schon auf der Zunge, aber zum Glück stoppte mich mein Überlebenswille rechtzeitig.
»Dann ist ja alles bestens geregelt«, freute sich der OB. »Michael Landgraf ist sowieso wie in den letzten Jahren bei der Wahl dabei. Ihr Mann wird zusammen mit ihm dafür sorgen, dass die Veranstaltungen im Saalbau ohne Störfeuer von außen über die Bühne gehen können, und Sie, werte Frau Palzki, werden dafür ein unvergessliches Ereignis genießen.«
Stefanie schaute mir lange in die Augen, ohne ein Wort zu sagen. Ihre nonverbalen Signale waren eindeutig und nicht verhandelbar.
»Also gut, ich werde morgen mit Herrn Landgraf einen kleinen Rundgang durch Neustadt machen und mögliche Zeugen befragen. Aber um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Ich komme als Privatmann Palzki und nicht als Kriminalhauptkommissar.«
»Selbstverständlich.« Der OB atmete hörbar auf. »Klären Sie Ihr Vorgehen direkt mit Herrn Landgraf.«
Ich wandte mich an den Theologen. »Ich werde morgen gegen 14 Uhr bei Ihnen im Bibelhaus sein, passt Ihnen die Zeit?« Schließlich hatte ich Urlaub.
»So spät?«, schoss Landgraf quer. »Sie wissen doch, dass ich ein Frühaufsteher bin. Morgens gegen 4 Uhr habe ich meine beste Zeit. Aber übertreiben wir es nicht. Sagen wir, um 9 Uhr?«
»Mein Mann wird pünktlich sein.« Stefanie nahm mir die Antwort ab, die allerdings nicht in meinem Sinne war.
»Gut, dann mache ich gleich die ersten Termine«, ereiferte sich Landgraf. »Wir fahren zur Witwe von Hamatschek, dann sollten wir mit Martin Franck von der Tourist-Info wegen der Wahl der Weinkönigin und mit Oliver Stiess von der Weinbruderschaft wegen der großen Pfalzweinprobe sprechen und auf jeden Fall auch mit …«
»Von mir aus«, unterbrach ich seinen euphorischen Redeschwall. »Planen Sie die Gespräche so, wie Sie es für richtig halten.« Ich unterdrückte ein Seufzen. Ich hatte mir meinen Urlaub anders vorgestellt, als wahllos fremde Menschen zu befragen, ohne die geringsten Hintergründe zu kennen.
Marc Weigel bedankte sich bei uns dreien mit Handschlag. »Ich bin in den nächsten Tagen jederzeit erreichbar. Keine Sitzung ist mir so wichtig, dass ich sie nicht unterbreche, wenn ich gebraucht werde. Michael, du hast meine private Handynummer. Ich wünsche euch viel Glück. Und Ihnen, Frau Palzki, wünsche ich für den Freitag einen unvergesslichen Abend. Wir sehen uns bestimmt bei der Veranstaltung.« Er drehte sich zum Tatort um und seufzte tief. »Jetzt werde ich mein Glück bei Joachim Specht versuchen. Vielleicht hat er Neuigkeiten für mich.«
Landgraf gab mir mit einer kleinen Kopfbewegung zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich schnell zu Stefanie.
»Wir halten uns möglichst im Hintergrund«, flüsterte mir Landgraf zu.
»Wollen Sie den OB belauschen?«, flüsterte ich zurück.
»Nein, natürlich nicht«, widersprach er. Zu einer weiteren Erklärung kam es nicht, denn ein Beamter versperrte uns den Weg.
»Tut mir leid, meine Herren. Hier ist gesperrt.«
»Das wissen wir«, entgegnete Landgraf selbstbewusst und fügte förmlich hinzu: »Wir beide haben die Leiche gefunden und sind wichtige Zeugen. Ihr Chef, Joachim Specht, und der Oberbürgermeister von Neustadt, Marc Weigel, wollen uns sprechen.«
»Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigen Sie bitte.« Der Beamte machte uns den Weg frei. Landgraf lächelte mich an. »Ich habe nicht einmal gelogen.«
»Jedenfalls nur im Detail«, verbesserte ich ihn.
Da der abgesperrte Baustellenbereich sehr beengt war und es von Polizisten nur so wimmelte, fielen wir nicht auf.
Ich entdeckte unsere Zielpersonen zuerst. »Da drüben sind sie. Wir können uns hinter dem Toilettenhäuschen verstecken. Aber bitte nicht zu auffällig, das ist an diesem Ort kontraproduktiv.«
»Also möglichst unauffällig auffällig?«, fragte mich Landgraf.
»Oder umgekehrt«, verbesserte ich das meiner Meinung nach unpassende Wortspiel. »Hauptsache, man kann dem Gespräch folgen.«
Entweder hatte Landgraf ein besseres Gehör als ich oder er verstand die Zusammenhänge besser. Ich tippte auf Letzteres, denn die Wortfetzen, die ich in den nächsten Minuten hörte, waren für mich böhmische Dörfer. Irgendwann entdeckte uns Specht. Mit großen Schritten kam er auf uns zu. Dann nahm er einen langen Zug an seiner Zigarre, bevor er uns aggressiv anfauchte. »Haben wir nicht eine verbindliche Abmachung getroffen? Oder haben Sie noch eine Leiche gefunden?«
»Nein«, sagte ich, weil mir spontan keine Ausrede einfiel.
Landgraf hatte eine bessere Verteidigungsstrategie. »Ich wollte dir nur sagen, dass Jochen Hamatschek ein neues Buch über die Weinbruderschaft geschrieben hat. Vielleicht hilft dir das weiter.«
»Das weiß ich längst«, erwiderte der kommissarische Leiter der Kriminalpolizei. »Und jetzt verlasst bitte den Tatort.«
Der Oberbürgermeister, der in der Nähe stand, reagierte nicht. Wahrscheinlich wollte er Specht nicht auf einen naheliegenden Gedanken bringen.
»Alles in Ordnung, Joachim«, bestätigte Landgraf. »Wir sind schon weg.«
»Das ist ja noch mal gut gegangen«, schnaufte ich laut, als wir wieder bei meiner Frau waren. »Haben Sie verstanden, worüber die beiden gesprochen haben? Es ging um eine Grundsteinlegung im Jahr 1800irgendwas. Und um eine Einweihung.«
Landgraf nickte. »Ich glaube Ihnen aufs Wort, dass Sie nur Bahnhof verstanden haben, Herr Palzki. Ich wollte Ihnen deshalb meinen neuen Reiseführer über Neustadt an der Weinstraße schenken – da stehen wichtige Hintergrundinformationen drin, die das Gesagte aufklären.« Landgraf zog ein handliches Buch aus der Tasche und drückte es mir in die Hand. Ich nahm das Buch entgegen, las den Titel Neustadt an der Weinstraße und seine Weindörfer – der Reiseführer und blätterte kurz darin.
»Das Buch sieht gut und informativ aus«, sagte ich anerkennend, »aber zum Lesen komme ich sicher erst zu Hause. Klären Sie mich jetzt einfach nur auf.« In mir jedoch regte sich der Widerspruch, denn eigentlich wollte ich mit dieser blöden Sache immer noch nichts zu tun haben.