Prince of Passion – Henry - Emma Chase - E-Book
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Prince of Passion – Henry E-Book

Emma Chase

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Beschreibung

Humor, Gefühl und Sexappeal – diese Trilogie um zwei Prinzen und ihren Bodyguard bringt all das zusammen. In Band 2 geht es um einen Prinz wider Willen und eine Bibliothekarin aus Leidenschaft. Mein Name ist Henry. Henry John Edgar Thomas Pembrook, Prinz von Wessco. Man sollte meinen, als Prinz könnte ich tun und lassen, was mir gefällt. Aber weit gefehlt. Neuerdings macht meine Großmutter, die Queen, mir die Hölle heiß. Ich soll verantwortungsvoller werden. Pflichtbewusster. Klüger. Mit anderen Worten: königlicher. Nach dem neuesten Skandal verbannt Großmutter mich auf einen abgelegenen Landsitz. Aber ich habe schon einen Plan, wie ich auch hier für Unterhaltung sorgen kann. Einen verführerischen Plan. Und einen, der wegen einer bücherliebenden jungen Frau, die ich einfach nicht aus dem Kopf bekomme, gehörig daneben geht …

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Emma Chase

Prince of Passion – Henry

Roman

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

Über dieses Buch

Humor, Gefühl und Sexappeal – diese Trilogie um zwei Prinzen und ihren Bodyguard bringt all das zusammen. In Band 2 geht es um einen Prinzen wider Willen und eine Bibliothekarin aus Leidenschaft.

 

Mein Name ist Henry. Henry John Edgar Thomas Pembrook, Prinz von Wessco. Man sollte meinen, als Prinz könnte ich tun und lassen, was mir gefällt. Aber weit gefehlt. Neuerdings macht meine Großmutter, die Queen, mir die Hölle heiß. Ich soll verantwortungsvoller werden. Pflichtbewusster. Klüger. Mit anderen Worten: königlicher. Nach dem neuesten Skandal verbannt Großmutter mich auf einen abgelegenen Landsitz. Aber ich habe schon einen Plan, wie ich auch hier für Unterhaltung sorgen kann. Einen verführerischen Plan. Und einen, der wegen einer bücherliebenden jungen Frau, die ich einfach nicht aus dem Kopf bekomme, gehörig daneben geht …

Vita

Emma Chase lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in New Jersey, USA. Sie hat 2013 ihren ersten Liebesroman veröffentlicht, der ein sofortiger Erfolg wurde. Seitdem finden sich ihre Bücher regelmäßig auf den Bestsellerlisten der New York Times und der USA Today wieder und wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Auf die Frage, welche Bedeutung Liebesromane heutzutage haben, antwortete sie Folgendes: «Für manche Leute ist es leicht, auf das Romance-Genre herabzublicken, weil viele Bücher (aber bei Weitem nicht alle) humorvoll, temporeich und nicht sehr anspruchsvoll sind. Aber deshalb sollte man sie nicht einfach abtun. Diese Bücher sind wichtig. Weil sie uns Erholung und Zuflucht bieten. Weil sie uns stärken, erfrischen und bereit machen für alles, was das Leben uns in den Weg wirft.»

1

Henry

«Dreck.»

Ich habe den Ball gesliced.

Zumindest glaube ich, dass das der richtige Ausdruck ist. Gespliced? Gediced? Geminced? Ich bin mir nicht sicher. Ich war nie ein Fan von Golf. Es ist einfach zu langsam. Zu ruhig. Zu verdammt langweilig. Ich mag meine Sportarten so, wie ich auch meinen Sex mag – wild, laut und dreckig.

Ich steh eher auf Fußball. Oder Rugby. Voller Körpereinsatz. Polo ist auch okay.

Verdammt, im Moment wäre ich sogar mit einem dynamischen Quidditch-Match zufrieden.

«Was sagten Sie, Eure Hoheit?», fragt Sir Aloysius.

Ich reiche den Schläger an Miles, meinen Caddie, weiter und drehe mich forsch zu den Männern um, die für diesen Nachmittag der Folter verantwortlich sind.

«Ich sagte: Dreck.»

Der Graf von Pennington, Lord Bellicksbub, was passenderweise sehr wie Belzebub klingt, hält sich hustend die tattrige Hand vor den grauen Bart und weicht meinem Blick aus. Weil ich solche Dinge nicht mehr sagen sollte. Es ist unangebracht. Unfein. Des Kronprinzen und Erben des Throns von Wessco nicht würdig.

Kronprinz – das ist der Titel, den mir mein Bruder, der Mistkerl –, aufgehalst hat, weil er sich verliebt, auf den Thron verzichtet und seine wunderbare Amerikanerin geheiratet hat. Im letzten Jahr hat man mir bestimmt tausendmal gesagt, dass der Thronfolger sich schicklich verhalten muss. Aber ich war noch nie besonders gut darin, zu tun, was man mir sagt.

Das ist ein Problem.

Vielleicht auch ein Reflex. Wenn man mich nach links schicken will, gehe ich nach rechts. Wenn man mir sagt: hinsetzen, dann springe ich. Wenn man mir sagt, ich soll mich benehmen, dann besaufe ich mich und verbringe das Wochenende damit, die drei Nichten des Erzbischofs zu vögeln. Es sind Drillinge. Und wirklich nette Mädchen. Ich frage mich, was sie diesen Freitag machen.

Nein, ich nehme es zurück. Das frage ich mich nicht. Denn das war der alte Henry. Der lustige, sorglose Henry, den jeder um sich haben wollte.

Jetzt muss ich der Henry sein, mit dem niemand abhängen will: ernsthaft. Gelehrt. Anständig, selbst wenn es mich umbringt. Und das könnte es definitiv. Meine Großmutter, die Queen, verlangt Schicklichkeit. Es ist das, was das Parlament – Leute wie Aloysius und Belzebub – erwarten. Es ist das, was mein Volk braucht. Sie alle zählen auf mich. Verlassen sich auf mich. Dass ich sie in die Zukunft führe. Dass ich gut bin.

Dass ich … ein König bin.

Gott, mir dreht sich jedes Mal der Magen um, wenn ich das Wort nur denke. Wenn es jemand laut ausspricht, muss ich würgen. Wenn tatsächlich ich die Hoffnung für mein Land sein soll, dann sind wir alle gründlich am Arsch.

«Ein guter Hinweis, Prinz Henry», sagt Sir Aloysius. «Dreck an den Golfbällen macht einen großen Unterschied.»

Er ist ein elender Lügner. Er weiß ganz genau, was ich gemeint habe. Aber so geht Politik. Mit Heucheln und falschem Lächeln und Schlachtermessern, die auf den Rücken des Gegners zielen. Ich hasse Politik sogar noch mehr, als ich Golf hasse. Aber das ist jetzt mein Leben.

Mit schmalem Blick sieht Aloysius seinen Caddie an. «Beim nächsten Mal haben wir besser saubere Bälle, sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie nie wieder auf diesem Platz arbeiten. Entschuldigen Sie sich beim Prinzen für Ihre Inkompetenz.»

Der nun bleiche Junge verbeugt sich tief. «Es tut mir schrecklich leid, Hoheit.»

Und wieder dreht sich mir der Magen um.

Wie hat Nicholas das nur die ganzen Jahre lang ausgehalten? Ich habe immer gedacht, er wäre ein Drama-King. Eine Spaßbremse und ein Jammerlappen.

Jetzt verstehe ich es. Ich bin die sprichwörtliche Meile in seinen Schuhen gelaufen – und sie sind nicht bequem.

Man sollte meinen, ständig den Arsch geküsst zu bekommen wäre angenehm, zumindest ein bisschen. Ist es nicht.

«Kein Problem», sage ich zu dem Caddie, obwohl ich gern Aloysius anschnauzen würde. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich eine große Sache daraus mache, wird der alte Sack es an dem Jungen auslassen.

Die Caddies lassen sich etwas zurückfallen, als wir zum nächsten Schlag gehen.

«Wie denken Sie über das Repatriierungs-Gesetz, Hoheit?», fragt Belzebub beiläufig.

«Reparti-was?», antworte ich.

«Repatriierung», wiederholt Aloysius. «Die Erlaubnis für Unternehmen, die wegen belangloser Verstöße gegen das Arbeitsrecht sanktioniert wurden, Auslandsgewinne straffrei wieder nach Wessco zurückzuholen. Das würde ihnen erlauben, Tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen. Der Gesetzentwurf hängt seit Wochen im Parlament fest. Mich überrascht, dass Ihre Majestät es Ihnen gegenüber nicht erwähnt hat.»

Wahrscheinlich hat sie das. Zusammen mit zehntausend anderen Zahlen und Fakten und diesem und jenem an Gesetzen, Informationen und Rechtslagen, die ich längst kennen sollte. Ich bin nicht blöd. Ich kann sogar ziemlich brillant sein, wenn mir danach ist. Ich war immer gut in der Schule. Es ist nur schwer, Interesse für Dinge aufzubringen, die mich nun mal nicht interessieren.

Zuerst hat mir meine Großmutter Informationen per E-Mail geschickt. Memos. Aber nachdem wir den Server des Palasts gecrasht haben, hat sie angefangen, mir alles auszudrucken. Wahrscheinlich wartet inzwischen ein ganzer Wald an Papier in meinem Zimmer auf mich.

Sorry, Umwelt.

In Politik mag ich zwar mies sein, aber darin, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen und meine Unzulänglichkeiten zu vertuschen, bin ich ein Meister. Darin, meine Rolle zu spielen. So zu tun, als ob. Das mache ich schon mein ganzes Leben lang.

«Ja, natürlich, Repatriierung. Ich dachte, Sie hätten Repetrifizierung gesagt, womit ich mich gerade vertraut mache. Ich glaube jetzt schon sagen zu können, dass dieses Thema mir sehr am Herzen liegen wird.»

Bei ihren verwirrten Mienen verschränke ich die Arme, senke den Kopf und erkläre ernst: «Repetrifizierung ist die Verteilung ausgesetzter Haustiere an Senioren. Ich werde Ihnen ein Memo darüber schicken.»

Lord Bellicksbub nickt. «Interessant.»

«In der Tat», stimmt Sir Aloysius zu.

Und das, Ladys und Gentlemen, ist meine Vorstellung von einem Hole-in-one.

Aloysius nimmt seinen Schläger von seinem Caddie entgegen und schwingt ihn prüfend, bevor er sich seinem Ball nähert. Während er ihn aufstellt, fragt er mich: «Und was die Repatriierung betrifft. Klingt das für Sie auch nach einer löblichen Bemühung?»

Diesmal versuche ich nachzudenken, bevor ich spreche. Granny wäre so stolz auf mich.

Nach einem Moment nicke ich. «Mehr Chancen für die Arbeiterklasse sind immer etwas Positives. Ich denke, es ist eine gute Idee.»

Belzebub lächelt, dabei glänzen seine gelben Zähne in der kühlen Nachmittagssonne.

«Ausgezeichnet.»

«Was hast du dir dabei gedacht?»

Wie sich herausstellt, ist Granny doch nicht stolz auf mich.

Sie klatscht die Sunday Times auf ihren Schreibtisch, um die Schlagzeile für sich sprechen zu lassen.

KRONE ÄNDERT STANDPUNKT – PRINZ UNTERSTÜTZT UMSTRITTENE REPATRIIERUNG

Von meinem Stuhl auf der anderen Seite des mächtigen Schreibtischs der Queen aus zeige ich auf die Zeitung. «Das habe ich so nicht gesagt.»

Schon als ich zu ihr gerufen wurde, hätte ich wissen sollen, dass etwas nicht stimmt. Ins Arbeitszimmer der Queen zitiert zu werden ist nicht viel anders, als zum Schuldirektor gerufen zu werden.

Finster schaut sie auf mich herab. Die Falten um ihren Mund sind schärfer und tiefer, als sie es noch vor einem Jahr waren. Diese Wirkung habe ich auf die Leute.

«Wir haben uns monatelang bemüht, die Verabschiedung dieses Gesetzes zu verhindern. Das Einzige, was für viele Abgeordnete dagegensprach, war unsere ausdrückliche Missbilligung. Und jetzt hast du auf einen einzigen Schlag diese ganze Arbeit zunichte gemacht.»

Meine Haut fühlt sich zu eng unter meinem Anzug an. Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar, das, wie mir vor längerem gesagt wurde, einen Haarschnitt nötig hat. Und genau deswegen reicht es mir beinahe bis zu den Schultern.

«Ich habe gar nichts zunichte gemacht! Das war eine beiläufige Bemerkung. Smalltalk.»

Die Queen stützt die Hände auf den Schreibtisch und lehnt sich nach vorne. «Du bist der Kronprinz. Den Luxus beiläufiger Bemerkungen gibt es für dich nicht. Du sprichst für das Haus Pembrook, und jedes deiner Worte, jede Handlung und jeder Atemzug haben das Potenzial, von einer Seite, die das nützlich findet, wiederholt oder auch verdreht zu werden. Wir haben das doch schon diskutiert, Henry.»

Ich war mal Grannys Liebling. Wir hatten eine besondere Beziehung. Sie war immer amüsiert über meine Eskapaden und Abenteuer. Das löste sich an dem Tag in Rauch auf, an dem ich zu ihrem Nachfolger ernannt wurde. Jetzt findet sie mich nicht mehr amüsant. Verdammt, ich glaube, sie mag mich nicht mal mehr.

«Hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, dich mit unserer Haltung zu diesem Thema vertraut zu machen? Ich habe dir schon vor Wochen durch Christopher ein entsprechendes Memo zuschicken lassen.»

Christopher ist der Privatsekretär der Queen, ihr Lakai. Ich habe den Verdacht, dass er in seiner Freizeit mit einem Ballknebel mit ihrem Foto drauf im Mund rumläuft.

«Ich hatte noch nicht die Zeit dazu.»

«Du hast dir noch nicht die Zeit dazu genommen.»

Wenn Ausreden versagen, ist Ablenkung immer das Mittel der Wahl. «Du warst es doch, die darauf bestanden hat, dass ich an dieser blöden Golfpartie mit Arschloch eins und Arschloch zwei teilnehme.»

Ihre Worte sind hart und schnell – wie Automatikfeuer aus einem Maschinengewehr. «Weil ich törichterweise dachte, du wärst mit dem Prinzip ‹Kenne deine Feinde› vertraut. Wie dumm von mir.»

Ich blähe die Nasenflügel. «Ich habe um nichts von alldem hier gebeten!»

In diese Position gebracht zu werden. Diese erdrückende Verantwortung aufgebürdet zu bekommen. Ich wollte die Schlüssel zum Königreich nie haben – ich war zufrieden damit, einfach nur durch die verdammte Tür rein- und rausspazieren zu können.

Meine Großmutter richtet sich auf und reckt das Kinn. Ungerührt und unerschütterlich. «Nein, du warst auch nicht meine erste Wahl.»

Autsch.

Ein Tiefschlag von einer achtundsiebzig Jahre alten Dame sollte mir nicht allzu viel ausmachen. Aber von einer Frau, die ich bewundere, die seit meinem zehnten Lebensjahr so was wie eine Mutter für mich war? Das tut weh.

Also reagiere ich so wie immer. Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück, schlage lässig die Beine übereinander und grinse von einem Ohr zum anderen.

«Nun, wie es aussieht, sitzen wir im selben Boot, Granny. Wir sollten den Palast von Wessco umbenennen. Bevorzugst du Titanic oder Hindenburg?»

Weder zuckt sie zusammen, noch blinzelt sie, und ganz sicher lächelt sie nicht. Ihre grauen Augen sind so scharf und funkelnd wie die Klinge einer Guillotine. Und genauso tödlich.

«Du machst Witze. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, kippt es Arbeitsschutzregelungen für Niedriglohnarbeiter, setzt sie ungerechten und möglicherweise gefährlichen Arbeitsbedingungen aus. Denkst du, diese Menschen werden dann über deine Witze lachen, Henry?»

Verdammt, sie ist gut. Mütter sind seit Anbeginn der Zeit gut darin, Schuldgefühle als Druckmittel einzusetzen. Aber Königinnen heben diese Methode auf eine völlig andere Ebene. Das Grinsen ist mir wie vom Gesicht gewischt.

«Ich werde ein Statement abgeben, in dem ich erkläre, dass meine Worte aus dem Zusammenhang gerissen wurden.»

Sie schüttelt den Kopf. «Damit zeigst du der Welt nur, dass du ein Narr bist, den man leicht in die Irre führen kann.»

«Dann werde ich ein Statement abgeben, dass ich noch mal über die Angelegenheit nachgedacht und meine Meinung geändert habe.»

«Was zeigen wird, dass man deinem Wort nicht vertrauen kann, dass deine Überzeugungen schwach sind und du nicht meinst, was du sagst.»

Gott, es ist wie bei einer chinesischen Fingerfalle, je mehr man sich anstrengt, desto stärker hält sie einen fest. Ich rauche nicht, aber im Moment könnte ich eine Zigarette gebrauchen. Oder ein Glas Whiskey. Eine Pistole wäre vielleicht auch eine Möglichkeit.

«Was zum Teufel soll ich dann tun?»

«Nichts», zischt sie. «Ich werde das in Ordnung bringen. Du wirst nach Guthrie House gehen und dort bleiben. Du wirst mit niemandem sprechen, keine Gäste einladen. Du … Lies einfach, Henry. Bilde dich. Um unser aller willen.»

So schickt eine Queen einen Prinzen auf sein Zimmer.

Sie dreht sich um und schaut aus dem Fenster, die kleinen, runzligen Hände fest hinter dem Rücken verschränkt.

Ich stehe auf und strecke die Hand nach ihr aus, weil ich irgendetwas sagen möchte. Eine Entschuldigung oder ein Versprechen, es besser zu machen. Aber dann lasse ich meine Hand wieder sinken. Weil es keinen Unterschied machen würde – ich wurde bereits entlassen.

Entschlossen gehe ich durch die Tür von Guthrie House – historische Residenz des Thronfolgers und mein Heim während des letzten Jahres. Trautes Heim, Gefängnis allein. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, laufe ich die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch. Es fühlt sich gut an, ein Ziel zu haben, eine Richtung, einen Plan. Und mein Plan ist es, zu trinken, bis ich meinen verdammten Namen vergesse. Alle vier.

Die Papiere, die die Wände pflastern, flattern knisternd, als ich ins Zimmer stürme. Das war kein Witz, als ich sagte, meine Großmutter hat mir einen ganzen Wald an Dokumenten geschickt. Ich habe sie überall im Zimmer an die Wände gepinnt, damit ich sie lesen kann, während ich mich anziehe, einschlafe, morgens wieder aufwache. Ich muss inzwischen die Augen zumachen, wenn ich mir einen runterhole – Regierungsmemos sind ein echter Stimmungskiller. Insgeheim hoffe ich, die Informationen durch bloße Nähe in mich aufzunehmen. Bis jetzt hat es nicht funktioniert; Osmose wird überbewertet.

Ich entledige mich meines marineblauen Anzugs – ein einengendes, unbequemes Ding. Obwohl mir gesagt wurde, dass ich darin beeindruckend aussehe, ist er nicht mein Stil. Jedes Mal, wenn ich den Anzug anziehe, fühlt es sich an, als schlüpfte ich in die Haut von jemand anderem.

Ich weiß noch, als ich fünf oder sechs war, habe ich mal einen von Dads Anzügen anprobiert. Mum hat ein Dutzend Fotos gemacht und darüber gelacht, wie niedlich ich bin. Ich frage mich, ob sie noch irgendwo auf dem Dachboden sind oder, was wahrscheinlicher ist, im Besitz des königlichen Historikers, der sie nach meinem Tod veröffentlichen wird. Um zu beweisen, dass Prinz Henry vor langer Zeit einmal ein richtiger Junge war.

Ich habe meinen Vater vergöttert. Er wirkte immer so groß auf mich … überlebensgroß. Er war weise und sicher, es gab keine Aufgabe, der er nicht gewachsen war – aber er hatte auch einen verspielten Zug und liebte es, die Erwartungen anderer zu unterlaufen. Er ging mit Nicholas und mir zu Konzerten und in Vergnügungsparks, obwohl die vom Security-Team davon graue Haare bekamen. Es machte ihm nichts aus, wenn wir rangelten oder uns schmutzig machten. Einmal verließ er ein Treffen mit dem Premierminister, um bei einer Schneeballschlacht mitzumachen, die wir im Hof veranstalteten.

An manchen Tagen fühlt es sich so an, als würde ich immer noch den Anzug meines Vaters tragen. Und egal, wie sehr ich mich auch anstrenge … er wird nie passen.

«Was machen Sie denn da?», fragt mein mürrischer Butler Fergus mit einem finsteren Blick zu meinem auf dem Boden liegenden Anzug.

Ich streife mir ein verwaschenes T-Shirt über und knöpfe meine Lieblingsjeans zu. «Ich gehe ins Goat.»

Wie erwartet, schnaubt er missbilligend. «Die Queen hat Ihnen gesagt, Sie sollen bleiben, wo Sie sind.»

Ich habe zwei Theorien bezüglich dessen, wie Fergus immer alles zu wissen scheint: Entweder hat er den ganzen Palast mit Mikrophonen und Kameras verwanzt und beobachtet alles von einem geheimen Kontrollraum aus, oder sein Schielauge verleiht ihm übernatürliche Fähigkeiten. Eines Tages frage ich ihn vielleicht – obwohl er mich wahrscheinlich nur einen Schwachkopf nennen wird.

Ich schlüpfe in ein ausgetretenes Paar Lederstiefel. «Genau. Und wir wissen beide, dass ich beschissen darin bin, zu tun, was man mir sagt. Lassen Sie den Wagen vorfahren.»

2

Henry

Das Horny Goat ist mein Rückzugsort. Meine Zuflucht. Meine Kuscheldecke – mit flaschenweise Alkohol.

Es ist ein Denkmal, eines der ältesten Gebäude der Stadt – mit einem undichten Dach, schiefen Wänden und klebrigen Holzdielen. Gerüchten zufolge war es früher ein Bordell – was ziemlich poetisch ist. Nicht wegen der Ausschweifungen, sondern wegen der Geheimnisse, die diese Wände stets hüteten. Und immer noch hüten. Keine einzige Story über meinen Bruder oder mich sickerte je unter seinem windschiefen Dach hervor. Kein einziges königliches Wort, das betrunken hier geäußert wurde, ist je wiederholt oder gedruckt worden.

Was in Vegas passiert, bleibt nicht immer in Vegas – aber was im Horny Goat passiert, sieht nie das Tageslicht.

Für diese Verschwiegenheit ist der Besitzer Evan Macalister verantwortlich. Das Goat ist seit Generationen im Besitz seiner Familie. Als ich mich auf den Barhocker schiebe, stellt er einen schäumenden Bierkrug vor mich hin.

Abwehrend hebe ich die Hand. «Platz da, Guinness, das ist ein Job für Whiskey.»

Er nimmt eine Flasche aus dem Regal hinter ihm und gießt mir ein Glas ein. «Harter Tag im Palast, Hoheit?»

«In letzter Zeit scheine ich keine anderen mehr zu haben.» Ich setze das Glas an, lege den Kopf in den Nacken und kippe den Whiskey hinunter.

Die meisten Leute trinken, um ihre Sinne zu betäuben, um zu vergessen. Aber das Brennen, das meine Kehle versengt, ist ein willkommener Schmerz. Er gibt mir das Gefühl, wach zu sein. Lebendig. Er schenkt mir Konzentration.

Ich winke nach einem weiteren.

«Wo ist Meg heute Abend?», frage ich.

Sie ist Macalisters Tochter und eine ehemalige spätnächtliche Gespielin meines Bruders, bevor er die kleine Olive kennenlernte. Was Frauen angeht, bin ich nicht wählerisch. Ich hab nichts gegen die abgelegten Frauen anderer, und an Meg ist nichts langweilig – aber ich würde sie nicht mal vögeln, wenn die Welt unterginge und das meine letzte Chance auf Sex wäre. Meine einzige Regel, was das andere Geschlecht betrifft, lautet, meinen Schwanz nicht irgendwo hinzustecken, wo mein Bruder schon war.

Trotzdem würde ich lieber sie ansehen als Macalister in seinem Flanellhemd.

«Sie ist mit dem Kerl aus, mit dem sie grad zusammen ist. Tristan oder Preston – irgend so ein Mädchenname, kann’s mir nicht merken.» Er schenkt sich selbst ein Glas ein. «Er ist ein nichtsnutziger Bastard», murmelt er.

«Sind wir das nicht alle?»

Er lacht. «Daran erinnert mich meine Frau auch gern. Ihr zufolge war ich ein hoffnungsloser Fall, bevor sie mich in die Finger bekommen hat.»

Ich hebe mein Glas. «Auf gute Frauen – mögen sie nie aufhören, das Beste in uns zu erahnen und ans Licht zu bringen.»

«Amen.» Er stößt mit mir an, und dann leeren wir beide unsere Gläser.

«Darauf trinke ich.»

Dieser Einwurf kommt von einer zierlichen Brünetten, die sich gerade auf den Barhocker neben mir setzt.

Ich kann praktisch spüren, wie uns James, mein blonder, treuer Security-Schatten, von seinem Platz nahe der Tür aus beobachtet. Ich bin an Security gewöhnt, das ist nichts Neues, aber im letzten Jahr wurde sie unangenehmer, enger – wie eine Schlinge um den Hals.

«Was darf’s denn sein, Miss?», fragt Macalister.

«Was auch immer Prinz Henry trinkt», antwortet sie mit einem Lächeln, dabei legt sie genug Scheine auf die Bar, um für unsere beiden Drinks zu bezahlen.

Ich mag Frauen. Nein, ich liebe Frauen. Wie sie sich bewegen, wie sie denken, den Klang ihrer Stimmen, den Geruch ihrer Haut – ihre Wärme und Weichheit. Aber an dieser Frau ist nichts Weiches. Sie ist nichts als Ecken und Kanten – ausgeprägte Wangenknochen, straffe Gliedmaßen, ein spitzes Kinn und dunkles, knapp unterhalb ihrer Ohren zu einem strengen Bob geschnittenes Haar. Nicht unattraktiv – aber schlank und scharf wie ein Pfeil. Sie klingt nach einer Amerikanerin und ist ungefähr so alt wie ich, aber sie hat eine aggressive Art an sich, die ich bisher nur bei Frauen mittleren Alters angetroffen habe. Cougars. Ich liebe Cougars – Frauen, die erfahren genug sind, um genau zu wissen, was sie wollen, und selbstbewusst genug, um es laut auszusprechen.

Ich bin fasziniert. Und geil. Ich hatte keinen guten, gründlichen Fick mehr seit … Nicholas’ Hochzeit. Gott – das ist Monate her. Kein Wunder, dass ich reif für die Klapse bin.

Macalister füllt einen Krug mit Guinness und stellt ein Glas Whiskey vor sie hin. Dann schenkt er mir nach und macht sich am anderen Ende der Bar zu schaffen.

Ich drehe mich auf meinem Hocker zu ihr um und hebe mein Glas. «Prost.»

Ihre Augen sind eisblau. «Stößchen.»

Ich zwinkere ihr zu. «Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.»

Sie schnaubt, dann kippt sie ihren Whiskey hinunter wie ein Profi. Sie leckt sich die Lippen, während sie meinen linken Unterarm mustert. «Nettes Tattoo.»

Genau genommen sind es zwei Tattoos. Das königliche Wappen beginnt oberhalb meines Handgelenks und darüber das Militärwappen von Wessco. Das erste habe ich mir mit sechzehn machen lassen, als ich meinen Bodyguards nach der Sperrstunde im Internat entwischt und mit ein paar Freunden in die Stadt gegangen bin. Ich dachte, ich könnte einfach lange Ärmel tragen und meine Großmutter würde es nie erfahren. Diese Illusion hielt genau einen einzigen Tag – so lange dauerte es, bis Fotos von mir im Tattoo-Studio überall in den Zeitungen auftauchten. Das zweite habe ich mir vor ein paar Jahren stechen lassen – gleich nach meiner Grundausbildung – zusammen mit den Jungs meiner Einheit.

«Danke.»

Sie streckt mir ihre Hand hin. «Ich bin Vanessa Steele.»

Definitiv Amerikanerin. Wenn sie aus Wessco wäre, würde sie sich verbeugen. Ich schüttle ihre Hand, sie ist trocken und geschmeidig. «Henry. Aber das wissen Sie ja schon.»

«Stimmt. Sie sind ein Mann, der schwer in die Finger zu bekommen ist.»

Ich nippe von meinem Krug. «Wie wär’s, wenn ich mein Bier austrinke, und dann können Sie mich nach Herzenslust befingern, Schätzchen?»

Sie lacht mit funkelnden Augen. «Sie sind sogar noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte.» Mit einem roten Fingernagel tippt sie auf die hölzerne Bar. «Ich habe ein Angebot für Sie.»

«Und ich steh drauf, wenn man sich mir anbietet. Zu dir oder zu mir?» Dann schnippe ich mit den Fingern, als mir etwas wieder einfällt. «Aber vorher müssen wir noch kurz im Palast vorbeischauen. Da gibt es eine Verschwiegenheitserklärung, die du unterzeichnen müsstest – eine Formalität. Danach können wir gleich zum guten Teil übergehen.»

Vanessa stützt die Ellbogen auf den Tresen. «Nicht so eine Art von Angebot. Ich will nicht mit Ihnen schlafen, Henry.»

«Wer hat was von Schlafen gesagt? Ich rede von Sex. Gutem Sex. Jeder Menge davon.»

Das lässt ihre hübschen Wangen erröten, und sie lacht. «Ich will keinen Sex mit Ihnen.»

Ich tätschle ihre Hand. «Jetzt bist du einfach nur albern. Dieses Katz-und-Maus-Spiel kann verführerisch sein, aber es ist nicht nötig.» Meine Stimme senkt sich zu einem Flüstern. «Ich bin eine sichere Bank.»

Ihr Lächeln ist schelmisch und selbstbewusst. «Das hab ich gehört. Aber hier geht es um was Geschäftliches, und ich vermische niemals Geschäft und Vergnügen.»

Und mein Interesse verpufft. Heutzutage ist geschäftlich die wirkungsvollste kalte Dusche. «Bedauerlich.»

«Das muss es nicht sein. Ich bin Fernsehproduzentin. Matched – haben Sie davon gehört?»

Nachdenklich kneife ich die Augen zusammen. «Eine dieser Reality-Dating-Shows, nicht wahr? Wie Survivor, nur mit Zickenzoff und String-Bikinis?»

«Ganz genau.»

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass Macalister einem seiner Türsteher winkt, einem bärenstarken, stiernackigen Kerl. Vanessa muss es ebenfalls bemerkt haben, denn sie spricht schneller.

«Ich stelle eine Special-Edition zusammen – eine Royal-Edition –, und ich möchte, dass Sie der Star sind. Wir werden uns um alles kümmern, alle Vorbereitungen treffen. Ein Schloss mit zwanzig blaublütigen Schönheiten, und Sie brauchen nichts weiter zu tun, als zu genießen, wie sie sich um Sie reißen. Es wird eine einmonatige Dauerparty. Und am Ende können Sie Ihre wichtigste königliche Pflicht abhaken: Ihre Königin erwählt zu haben.»

Der Vorschlag ist gar nicht mal so schlecht. Der schlummernde, vernachlässigte Teil von mir, der sich an einfache, leichte, entspannte Tage erinnert, reckt und streckt sich. Es ist dieses Gefühl, das man in den kältesten Winternächten bekommt – eine Sehnsucht nach süßer Sommersonne.

Der Türsteher steht hinter ihr. «Zeit, zu gehen, Miss.»

Vanessa steht von ihrem Hocker auf. «Betrachten Sie mich als weiblichen Billy the Kid.» Sie zwinkert mir zu. «Ich mache Sie berühmt.»

«Ich bin schon berühmt.»

«Aber Sie genießen es nicht mehr, oder, Henry? Ich kann etwas für Sie tun, das niemand sonst kann: Ich kann dafür sorgen, dass berühmt sein wieder Spaß macht.» Sie schiebt ihre Visitenkarte über den Tresen. «Denken Sie darüber nach, und rufen Sie mich an.»

Ich sehe ihr nach, wie sie durch die Bar und zur Tür hinausschlendert. Und obwohl ich nicht die Absicht habe, ihr interessantes Angebot anzunehmen, stecke ich die Visitenkarte in meine Brieftasche. Nur für den Fall.

Die Achtziger sind ein Jahrzehnt, das in Sachen Musik schmerzlich unterschätzt wird. Sie bekommen nicht annähernd den Respekt, den sie verdienen. Ich versuche, meinen Einfluss in der Welt dazu zu benutzen, auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, indem ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit Balladen aus den Achtzigern singe. Jetzt gerade singe ich auf der Karaoke-Bühne What About Me von den Moving Pictures. Das war ihr One-Hit-Wonder, ergreifend und voller Selbstmitleid. Mit geschlossenen Augen schmettere ich den Text hinaus und schwanke hinter dem Mikrophon.

Nicht im Takt zur Musik – ich bin so besoffen, dass ich froh sein kann, überhaupt noch zu stehen.

Normalerweise spiele ich auch Gitarre, aber meine Feinmotorik ist schon vor Stunden auf der Strecke geblieben. Ich bin ein phantastischer Musiker – nicht dass irgendjemand das je bemerkt hätte. Es ist wie bei talentierten Sprösslingen erfolgreicher Stars, die ewig in deren Schatten verbleiben: Mein Talent wird von meinen Titeln verdeckt.

Die Liebe zur Musik habe ich von meiner Mutter. Sie spielte mehrere Instrumente. Ich hatte Musikunterricht, zuerst Klavier, dann Geige, aber an der Gitarre bin ich wirklich hängengeblieben. Die Karaoke-Bühne im Goat war früher mal mein zweites Zuhause, und in den letzten paar Stunden habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, darunter einzuziehen. Wenn Harry Potter der Junge unter der Treppe war, dann könnte ich doch der Prinz unter der Bühne sein. Warum denn nicht, verdammt?

Als ich mich zum zweiten Mal in den Refrain stürze, flüstern Stimmen am Rand meines Bewusstseins. Ich nehme sie wahr, höre aber nicht wirklich zu.

«Gott, wie lange ist er schon in dem Zustand?»

Diese Stimme mag ich. Sie ist beruhigend. Tief und tröstlich. Sie erinnert mich an die meines Bruders, aber er kann es nicht sein. Weil Nicholas in einem weit, weit entfernten Land weilt.

«Er hat eine schwere Zeit durchgemacht.»

Und das klingt wie Simon – der beste Kumpel meines Bruders. Er schaut ab und zu nach mir, weil er ein guter Kerl ist.

«Besonders hart waren die letzten paar Monate für ihn», sagt Simon.

«Monate?», fragt die tiefe Stimme erstickt.

«Wir wollten dich nicht beunruhigen, ehe es nicht Grund zur Beunruhigung gab.»

Diese Stimme gehört zu einer Schönheit. Simons umwerfend schöne und erschreckend direkte Frau Franny klingt so. Ich frage mich, ob Franny eine Zwillingsschwester hat. Falls ja, würde ich die so was von klarmachen.

«James hat mich kontaktiert, als er sich geweigert hat, nach Hause zu gehen. In den letzten zwei Tagen ist es schlimmer und …»

«… katastrophal geworden», beendet Franny Simons Satz. Die zwei sind süß.

Hashtag #beziehungsziele.

«Wow. Ihr Royals macht keine halben Sachen, was?», sagt eine hübsche, eindeutig amerikanische Stimme. «Sogar eure Nervenzusammenbrüche sind episch.»

Der Song endet, und nach einem Moment öffne ich die Augen.

Ein einsamer Gast an einem der vorderen Tische klatscht, dabei fällt die Asche seiner Zigarette in Zeitlupe zu Boden.

Und dann schaue ich hoch.

Und meine Augen nehmen einen herrlichen Anblick in sich auf.

Mein großer Bruder Nicholas neben der Bar, das Gesicht von Sorge gezeichnet. Sicher ist es nur eine Phantasie. Eine Täuschung. Aber ich will daran glauben.

Ich lächle breit und mache einen Schritt vorwärts, vergesse jedoch, dass ich auf einer Bühne stehe. Und dieser erste Schritt ist ein absoluter Knüller. Denn einen Moment später wird meine ganze Welt schwarz.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, liege ich auf dem Boden und starre auf die Wasserflecken an der Decke des Horny Goat. Und … ich glaube, da oben klebt Kaugummi. Welcher Blödmann klebt Kaugummi an die Decke? Ist doch sicher ein Gesundheitsrisiko.

Das Gesicht meines Bruders schwebt in mein Sichtfeld und blendet alles andere aus. Und süße, selige Erleichterung wallt in meiner Brust empor. «Nicholas? Bist du wirklich hier?»

«Ja, Henry», antwortet er sanft. «Ich bin wirklich hier.» Seine große Hand legt sich auf meinen Kopf. «Das war ein ziemlicher Sturz. Geht es dir gut?»

Gut? Ich könnte fliegen, verdammt.

«Ich hatte einen absolut lächerlichen Traum.» Ich zeige auf meinen Bruder. «Du warst da.» Dann zeige ich auf Simon neben ihm. «Und du auch.» Dann auf Franny, die sich wie alle anderen über mich beugt. «Und du auch. Du … hast auf den Thron verzichtet, Nicholas. Und alle wollten, dass ich König werde.» Ein irres Lachen kommt mir über die Lippen … bis ich mich nach rechts drehe und dunkelblaue Augen, süße Lippen und schwarzes, lockiges Haar sehe.

Dann schreie ich wie ein Mädchen: «Ahhhh!»

Es ist Olivia. Die Frau meines Bruders. Seine sehr amerikanische Frau.

Ich drehe mich wieder zu Nicholas um. «Das war gar kein Traum, oder?»

«Nein, Henry.»

Ich lege mich wieder auf den Boden. «Scheeiiiiiße.» Jetzt fühle ich mich richtig mies.

«Sorry, Olive. Du weißt, ich halte dich für absolut top.»

Sie lächelt liebenswürdig. «Kein Problem, Henry. Tut mir leid, dass du eine schwere Zeit durchmachst.»

Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen.

«Schon gut. Jetzt muss ich nicht unter der Bühne wohnen. Planänderung. Alles wird gut.»

«Du wolltest unter der Bühne wohnen?», fragt Nicholas.

Ich winke ab. «Vergiss es. Das war Potters dumme Idee. Zauberer-Wunderknabe, von wegen.» Und nun sieht mein Bruder wirklich besorgt aus.

Ich mache eine Handbewegung in seine Richtung. «Aber jetzt bist du ja hier. Du kannst mich mit zu dir in die Staaten nehmen.»

«Henry …»

«Gebt mir eure müden, eure armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren … das beschreibt mich perfekt! Ich bin eine geknechtete Masse, Nicholas!»

Er drückt meine Schultern und schüttelt mich ein wenig. «Henry. Du kannst nicht nach Amerika gehen.»

Ich klammere mich an sein Hemd, und meine Stimme verwandelt sich in die eines achtjährigen Jungen, der Angst vor Gespenstern hat. «Aber sie ist so gemein, Nicholas. Sie. Ist. So. Gemein.»

Er klopft mir auf den Rücken. «Ich weiß.»

Nicholas und Simon zerren mich hoch und halten mich fest, damit ich auf den Beinen bleibe. «Aber wir kriegen das schon hin», sagt Nicholas. «Es wird alles gut.»

Ich schüttle den Kopf. «Das sagst du ständig. Ich fange langsam an zu glauben, dass du keine Ahnung hast, wovon zum Teufel du redest.»

3

Henry

Danach ist alles verschwommen. Die Realität wird auf Schnappschüsse reduziert. Die Autofahrt zum Palast. Wie ich in die Rosenbüsche kotze, die auf Befehl meiner Ururgroßtante Lady Adaline vor dem Palast gepflanzt wurden. Nicholas und Simon, die mich ins Bett stecken, während Olive eine Bemerkung über die Memos an den Wänden macht – «wie Russel Crowes Zettelwirtschaft in A Beautiful Mind», sagt sie.

Dann … ist da nur die sanfte Dunkelheit.

Aber nicht lange. Weil ich an Schlaflosigkeit leide – dem Leiden der Champions. So war es schon immer. Ich schlafe nur eine Handvoll Stunden, selbst in Nächten, in denen mein Blut hauptsächlich aus Alkohol besteht. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt ein Uhr an, als ich mich auf unsicheren Beinen in die Küche schleppe und dabei haltsuchend an den Wänden abstütze. Mein Magen knurrt beim Gedanken an das Gebäck unserer Köchin.

Ich kann mich nicht erinnern, im Goat etwas gegessen zu haben – wie lange war ich eigentlich dort? Einen Tag? Vielleicht zwei. Prüfend schnuppere ich an meiner Achsel und zucke zusammen. Definitiv zwei. Verdammter Mist.

Nachdem ich mir den Bauch vollgeschlagen und ein paar Leckereien für unterwegs eingesteckt habe, schlurfe ich durch die Gänge des Palastes. Das ist es, was ich nachts tue – dadurch habe ich Wertschätzung für diese Leute entwickelt, die durch die Gänge amerikanischer Einkaufszentren marschieren und das dann Walken nennen. Ich kann nicht in einem Zimmer bleiben, egal, in welchem, ohne dass die Wände um mich herum zusammenrücken. Mich zu bewegen verschafft mir ein gutes Gefühl, selbst wenn ich nirgendwo hingehe.

Schließlich wandere ich hinüber zum in der Nähe der Privatgemächer der Queen gelegenen blauen Salon. Die Tür steht leicht offen – sodass ich sehen kann, dass Licht brennt, ich kann das Feuerholz im Kamin riechen und die Stimmen drinnen hören.

Ich lehne den Kopf an den Türrahmen und lausche.

«Du siehst gut aus, mein Junge», sagt Granny. Und da liegt eine warme Zuneigung in ihrem Tonfall, die ich kenne. Weil sie früher für mich reserviert war. Bin ich etwa eifersüchtig? Ein bisschen, ja. «Die Ehe bekommt dir.»

«Die Ehe mit Olivia bekommt mir», erwidert mein Bruder.

«Touché.»

Ich höre das Klirren des Kristalldekanters, dann wird eingegossen. Ich tippe auf Sherry. «Schläft Olivia?», fragt die Queen.

«Ja. Sie ist vor Stunden eingenickt. Der Jetlag hat ihr zugesetzt.»

«Ich hatte gehofft, ihre Müdigkeit käme davon, dass sie schwanger ist.»

Mein Bruder lacht erstickt. «Wir sind erst seit drei Monaten verheiratet.»

«Als ich drei Monate verheiratet war, war ich seit zweieinhalb Monaten schwanger mit deinem Vater. Worauf wartet ihr noch?»

Ich kann praktisch hören, wie er mit den Schultern zuckt. «Das hat keine Eile. Wir … genießen einander. Lassen uns Zeit.»

«Aber ihr habt vor, Kinder zu bekommen?»

«Natürlich. Eines Tages.»

Ein Stuhl kratzt über den Holzfußboden, und ich stelle mir vor, wie sie es sich Seite an Seite für ein Schwätzchen am Kamin gemütlich machen.

«Dann sag mir, Nicholas. Jetzt, nachdem sich alles beruhigt hat, bereust du deine Entscheidung?»

Seine Stimme ist sanft, aber sein Tonfall hart wie Eisen. «Nicht im Geringsten.»

Meine Großmutter brummt zustimmend, und ich stelle mir vor, wie sie auf die elegante Weise, mit der sie alles tut, an ihrem Schlummertrunk nippt.

«Aber ich bin neugierig», fährt Nicholas fort. «Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, wenn du dich zwischen Großvater und dem Thron hättest entscheiden müssen, was hättest du getan?»

«Ich habe deinen Großvater von ganzem Herzen geliebt – das tue ich immer noch –, das weißt du. Aber wenn ich gezwungen gewesen wäre, mich zu entscheiden, dann … hätte ich nicht ihn gewählt. Neben meinen Kindern war meine Regentschaft in gewisser Weise die Liebe meines Lebens.»

Es folgt eine Pause. Dann sagt Nicholas leise: «So war es für mich nie. Das verstehst du, oder?»

«Das sehe ich jetzt ein, ja.»

«Ich wusste immer, was von mir erwartet wurde, und ich war entschlossen, es gut zu machen. Aber ich habe es nie geliebt.»

«Und jetzt bist du zufrieden, ja? Mit den Restaurants, der Wohltätigkeitsorganisation, die du, Olivia und Mr. Hammond leitet?»

Es dauert einen Moment, bis er antwortet, und als er es tut, ist Nicholas’ Stimme fast sehnsüchtig. «Ich bin nicht zufrieden. Ich bin glücklich. Irrsinnig glücklich. Mehr, als ich es je für möglich gehalten habe. Jeden Tag.»

«Gut», sagt meine Großmutter.

«Aber eine Sache gibt es da», fährt Nicholas fort, «einen Knick im Regenbogen.» Seine Worte sind leise und kratzig, als hätten sie schon lange in seiner Kehle gewartet. «Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe. Das war nicht meine Absicht, doch es ist trotzdem passiert. Ich habe dich nicht vorgewarnt oder es mit dir besprochen. Ich habe mich meiner Königin widersetzt, obwohl du mich zu anderem erzogen hast. Und das tut mir leid. Wirklich.»

Ein Geräusch von Kristall auf Holz – die Queen stellt ihr Glas auf dem Beistelltisch ab. «Jetzt hör mir ganz genau zu, Nicholas, denn ich werde das nur dieses eine Mal sagen. Du hast mich nie enttäuscht.»

«Aber …»

«Ich habe dich dazu erzogen, ein Anführer zu sein. Du hast die Situation eingeschätzt, deine Möglichkeiten abgewogen, und du hast eine Entscheidung getroffen. Du hast nicht gezögert, du hast nicht auf Erlaubnis gewartet. Du hast gehandelt. Das … ist es, was Anführer tun.»

In seiner Antwort liegt Leichtigkeit, Erleichterung. «In Ordnung.»

Es folgt eine weitere Pause, angenehmer als die vorherige, und ich stelle mir vor, dass mein Bruder einen Schluck trinkt. Wahrscheinlich das Glas leert. Denn dann sagt er: «Wo wir gerade von Erziehung zu einem Anführer sprechen …»

«Ja.» Die Queen seufzt. «Warum um den heißen Brei herumreden», sagt sie spitz. «Er ist … wie sagt man in den Staaten? Eine ziemliche Katastrophe.»

«Das ist er.»

Ich drehe mich um, lehne mich mit dem Rücken an die Wand und rutsche hinunter auf den Boden. Es ist nicht so, dass ich es nicht gewohnt bin, dass Leute über mich reden. Meine Vorzüge und Fehler werden diskutiert, selbst wenn ich im Zimmer bin. Aber das hier … das wird anders werden. Schlimmer.

«Erinnerst du dich noch an die Weihnachtsaufführung, in der Henry als Kind mitspielte? Es war das letzte Weihnachten mit Mum und Dad. Er hatte die Hauptrolle: Scrooge.» Nicholas lacht leise.

«Dunkel. Ich war bei der Aufführung nicht anwesend.»

«Nein, ich auch nicht. Dad hat mir davon erzählt. Sie waren besorgt, wenn ich hinginge, würden die Presse und seine Lehrer und Mitschüler so damit beschäftigt sein, mich zu begaffen, dass Henry keine Aufmerksamkeit bekäme. Und sie hatten recht.» Der Stuhl knarzt, als mein Bruder sein Gewicht verlagert. «Er hat sein ganzes Leben in meinem Schatten verbracht. Und jetzt steht er im Mittelpunkt, im gleißenden Scheinwerferlicht. Es ist nur natürlich, dass er eine Weile blinzeln wird. Du musst ihm Zeit geben, sich daran zu gewöhnen.»

«Er hat keine Zeit.»

«Hast du vor, in naher Zukunft zu sterben?», frotzelt Nicholas.

«Natürlich nicht. Aber wir beide wissen, dass das Unerwartete geschehen kann. Er muss bereit sein. Du verstehst das nicht, Nicholas.»

«Ich verstehe das vollkommen. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der das versteht.»

«Ganz und gar nicht. Schon bevor du laufen konntest, wurdest du darauf vorbereitet, den Thron zu besteigen. Tausend kleine Dinge sind täglich um dich herum geschehen, die du nicht einmal wahrgenommen hast. Es waren die Art und Weise, wie andere mit dir gesprochen haben, die Unterhaltungen, die du geführt hast, die Themen, in denen du unterrichtet wurdest, und die Weise, wie sie dir nahegebracht wurden. Henry muss ein ganzes Leben nachholen.»

«Was er nicht schaffen wird, wenn du ihn brichst», sagt Nicholas schroff. «Wenn du ihm täglich bei tausend geringfügigen Anlässen vermittelst, dass er nie gut genug sein wird. Dass er es nie richtig machen wird.»

Schweigen senkt sich herab. Bis meine Großmutter leise fragt: «Weißt du, was das Schlimmste am Altwerden ist?»

«Erektile Dysfunktion?», antwortet mein Bruder trocken.

«Oh, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen», erwidert die Queen ebenso trocken. «Das liegt in den Genen, und dein Großvater war ein Hengst bis zu dem Tag, an dem er starb.»

Ich unterdrücke ein Grinsen.

«Oh, oh», scherzt mein Bruder. «Keinen Sherry mehr für dich.»

«Das Schlimmste am Altwerden», fährt Granny fort, «ist, zu wissen, dass du diejenigen, die du am meisten liebst, bald verlassen musst und sie ohne dich weitermachen müssen. Und wenn sie nicht vorbereitet sind und verletzlich … das ist eine entsetzliche Vorstellung.»

Nur das Knacken des Feuers durchbricht die Stille.

Dann erklärt die Queen unmissverständlich: «Sie werden ihn in der Luft zerreißen. Wenn er seinen gegenwärtigen Kurs beibehält, wird Henry spektakulär versagen.»

Meine Brust krampft sich so fest zusammen, dass es sich anfühlt, als müssten mir gleich die Rippen brechen.

Weil sie recht hat.

«Das wird er nicht. Er hat das Zeug dazu.»

«Das weißt du nicht», gibt sie zurück.

«Und ob ich das verdammt noch mal weiß! Sonst hätte ich niemals abgedankt.»

«Was?»

«Versteh mich nicht falsch. Ich hätte keine andere als Olivia geheiratet, und ich hätte ein ganzes Leben lang gewartet, falls nötig, bis das Gesetz entsprechend geändert wird. Aber das habe ich nicht getan, weil ich aus tiefster Seele wusste, dass Henry nicht nur ein guter König sein wird, er wird besser sein, als es mir je hätte gelingen können.»

Einen Moment lang kann ich nicht mehr atmen. Ich kann einfach nicht. Der Schock über die Worte meines Bruders schnürt mir die Kehle zu.

Granny auch, ihrem Flüstern nach zu schließen.

«Glaubst du das wirklich?»

«Absolut. Und offen gesagt, macht es mich traurig, dass du anders darüber denkst.»

«Henry war nie jemand, der sich herausfordernden Situationen gewachsen gezeigt hat», stellt sie nüchtern fest.

«Das musste er auch noch nie», beharrt mein Bruder. «Er wurde noch nie darum gebeten, kein einziges Mal in seinem ganzen Leben. Bis jetzt. Und er wird sich der Situation nicht nur gewachsen zeigen … er wird sie hervorragend meistern.»

Die Stimme der Queen ist gedämpft, wie beim Gebet. «Wie gern möchte ich das glauben. Leih mir etwas von deinem Vertrauen, Nicholas. Warum bist du dir so sicher?»

Nicholas’ Stimme ist rau, voller Gefühl: «Weil … er genau wie Mum ist.»

Als die Worte an meine Ohren dringen, schließen sich meine Augen. Brennend und tränenfeucht. Es gibt kein größeres Kompliment – nicht für mich – niemals.

Aber, Gott, schaut mich an … es ist nicht mal ansatzweise wahr.

«Er ist wie sie. Weißt du noch, wie sie immer genau wusste, was jemand braucht – sei es Stärke oder Anleitung, Freundlichkeit oder Trost oder Freude –, und es demjenigen leichtherzig gab. Wie die Leute von ihr angezogen wurden … auf Partys veränderte sich im ganzen Saal die Atmosphäre, wenn sie hereinkam, weil jeder in ihrer Nähe sein wollte. Sie hatte ein Licht, ein Talent, eine Gabe – unwichtig, wie man es nennt –, was zählt, ist nur, dass Henry es auch hat. Er sieht es nicht selbst in sich, aber ich schon. Das habe ich schon immer.»

Es folgt ein Moment der Stille, und ich stelle mir vor, wie Nicholas sich näher zur Queen lehnt.

«Die Leute wären mir oder Dad aus demselben Grund gefolgt, aus dem sie dir folgen, weil wir verlässlich sind, solide. Sie vertrauen unserem Urteil; sie wissen, dass wir sie nie im Stich lassen würden. Aber sie werden Henry folgen, weil sie ihn lieben. Sie werden in ihm ihren Sohn, Bruder, besten Freund sehen, und selbst wenn er wie jetzt Mist baut, werden sie zu ihm halten, weil sie sich wünschen werden, dass er Erfolg hat. Ich wäre respektiert und bewundert worden, aber, Großmutter … er wird geliebt werden. Und wenn ich etwas gelernt habe, seit Olivia in mein Leben getreten ist, dann: Liebe ist stärker als Vernunft oder Verpflichtung, Ehre oder Tradition.»

Die Queen holt tief Luft. «Nichts, das ich versucht habe, hat die Situation verbessert. Was schlägst du vor, Nicholas?»

«Er braucht Abstand, um sich zu … akklimatisieren. Zeit außerhalb des Rampenlichts, um das Ausmaß seiner neuen Situation und der Pflichten verarbeiten zu können. Zu lernen, was er lernen muss, auf seine Weise. Und es sich zu eigen zu machen.»

«Abstand.» Die Queen trommelt mit dem Finger auf den Tisch. «Nun gut. Wenn es Abstand ist, was der Junge braucht, dann soll er Abstand bekommen.»

Ich bin mir nicht sicher, ob mir gefällt, wie sich das anhört.

Zwei Wochen später weiß ich, dass es mir nicht gefällt.

Anthorp Castle. Sie hat mich ins verdammte Anthorp Castle geschickt. Es liegt nicht einfach nur abgelegen – es liegt am Arsch der Welt. An der Küste, mit schroffen Klippen und eisigem Meer auf einer Seite, Wald auf der anderen, die nächste Ortschaft eine Stunde Fahrt entfernt. Das hier ist nicht Abstand; das ist Verbannung.

«Verbannung! Sei barmherzig! Sage: Tod! Verbannung trägt der Schrecken mehr im Blick.»

Romeo war ein Weichei, aber in diesem Moment kann ich es ihm nachfühlen.

Ich sitze in der Mitte des riesigen Himmelbetts und klimpere auf meiner Gitarre zum Rhythmus der mondbeschienenen Wellen, die sich unter meinem offenen Fenster brechen. Die Luft ist kühl, aber das Feuer, das hell im Kamin lodert, macht das wett. Meine Finger zupfen die vertrauten Töne von Leonard Cohens Hallelujah. Es ist ein tröstlicher Song. Deprimierend und traurig, aber tröstlich in seiner mühelosen Wiederholung.

Angewidert von mir selbst, lege ich schließlich die Gitarre weg und schlüpfe in meinen Morgenrock. Dann wandere ich ein wenig im Schloss herum und begrüße unterwegs die unheimlichen Ritterrüstungen, die am Ende jedes Ganges Wache halten. Obwohl ich die Ruhe brauchen könnte, will ich nicht versuchen, wieder einzuschlafen.

Weil die Träume zurückgekommen sind. Albträume.

Sie waren erbarmungslos, gleich nachdem ich aus dem Militärdienst entlassen worden war – Erinnerungen an den Angriff, der eine Gruppe Soldaten an einem Außenposten tötete, unmittelbar nachdem ich ihn besucht hatte. Als ich Nicholas und Olivia gestanden hatte, was passiert war, und mich auf ihren Vorschlag hin mit den Familien der gefallenen Männer in Verbindung setzte, bekam ich eine kleine Atempause von den Albträumen, aber in der Nacht, in der ich den Fuß in Anthorp Castle setzte, kehrten sie umso heftiger wieder zurück – und mit einer grausamen neuen Wendung. Jetzt, wenn ich über die Leichen krieche, die den Boden übersäen, und sie umdrehe, um nach Überlebenden zu suchen, sind es nicht die leblosen Gesichter der Soldaten, die zu mir zurückstarren. Es sind die Gesichter von Nicholas, Olivia und … Granny. Keuchend und in kalten Schweiß gebadet, wache ich auf.

Das macht verdammt noch mal keinen Spaß.

Also wandere ich heute Nacht herum.

Schließlich lande ich in der Bibliothek im Erdgeschoss. Ich lasse mich in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen, nehme ein Blatt von einem Dokumentenstapel und lese mir die Gesetze durch, die die Hochzeit des Kronprinzen regeln, was im Wesentlichen eine Liste von Anforderungen an die Braut ist:

«Nachweislich aristokratischer Abstammung, innerhalb einer anerkannten ehelichen Verbindung.»

Obwohl es weiter unten heißt, dass Bastarde im Notfall akzeptabel sind. Wie aufgeschlossen.

«Beglaubigter Nachweis wessconischer Staatsbürgerschaft durch natürliche Geburt.»

Im Gegensatz zu geschlüpft oder geklont, nehme ich an.

«Jungfräulichkeit, durch die Einführung von zwei Fingern des königlichen Internisten in die Vagina zum Nachweis eines intakten Jungfernhäutchens zu bestätigen.»

Wer auch immer sich das ausgedacht hat, war ein kranker Hurensohn. Und definitiv männlich. Ich bezweifle, dass man so genau wäre, wenn das Gesetz eine Prostata-Untersuchung für Mitglieder des Parlaments verlangen würde.

«Ich koche Tee. Möchten Sie eine Tasse?»

Als ich aufschaue, sehe ich Fergus in der Tür stehen, in Morgenrock und Pantoffeln, das Gesicht verkniffen und mürrisch.

«Ich wusste nicht, dass Sie wach sind, Fergus.»

«Wer kann schon schlafen, wenn Sie durch die Gänge schleichen wie eine rollige Katze?»

«Tut mir leid.»

«Möchten Sie nun eine Tasse oder nicht?»

Ich lege das Blatt wieder auf den Stapel.