Professor Zamorra 1025 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1025 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Zamorra ging vom Gas und drosselte die Geschwindigkeit. Langsam fuhr er in das nächtliche Dorf ein. In keinem der Häuser, an denen er vorbei kam, brannte Licht. Es ging auf Mitternacht zu.

Hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben, dachte Zamorra. Das Dorf ist der perfekte Gegenentwurf zur hektischen Großstadt.

Die Nacht war eine Spinne, die ihre Netze aus Schatten wob, mal mehr und mal weniger engmaschig. Und mit jedem Meter, den Zamorra weiter vordrang, verdichtete sich das Gefühl, dass außerhalb des Wagens eine Gefahr lauerte, die mit dem Mann zu tun hatte, den er gerade jagte: Paul!

Geradeaus schälte sich das "Moustache" aus der Dunkelheit. Die Kneipe unterschied sich in einem wesentlichen Detail von allen umliegenden Bauten: Hinter ihren Scheiben brannte Licht ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Am Ende des Tunnels

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-8387-4915-0

www.bastei-entertainment.de

Am Ende des Tunnels

von Adrian Doyle

Zamorra ging vom Gas und drosselte die Geschwindigkeit. Langsam fuhr er in das nächtliche Dorf ein. In keinem der Häuser, an denen er vorbei kam, brannte Licht. Es ging auf Mitternacht zu.

Hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben,dachte Zamorra.Das Dorf ist der perfekte Gegenentwurf zur hektischen Großstadt.

Die Nacht war eine Spinne, die ihre Netze aus Schatten wob, mal mehr und mal weniger engmaschig. Und mit jedem Meter, den Zamorra weiter vordrang, verdichtete sich das Gefühl, dass außerhalb des Wagens eine Gefahr lauerte, die mit dem Mann zu tun hatte, den er gerade jagte:Paul!

Geradeaus schälte sich das »Moustache« aus der Dunkelheit. Die Kneipe unterschied sich in einem wesentlichen Detail von allen umliegenden Bauten: Hinter ihren Scheiben brannte Licht …

Als Zamorra die Kneipe erreichte, vor der Moustache neuerdings auch im Freien Tische und Bänke aufgestellt hatte, trat er zunächst an eines der Fenster, von denen aus man in die Schankstube blicken konnte und aus denen das typisch schummrige Licht in die Nacht fiel, das die Gäste zu vorgerückter Stunde bevorzugten.

Schon der erste flüchtige Blick verriet Zamorra, dass das Publikum nicht typisch für das »Moustache« war, erst recht nicht um diese Zeit, kurz vor Mitternacht. Zwischen Erwachsenen saßen auch etliche Kinder an den Tischen und sogar vorn an der Theke auf dem Dutzend Barhockern, das dort platziert war. Auffällig war überdies die Kleidung sowohl der Männer und Frauen als auch der Kinder, die die Kneipe bevölkerten. Gute die Hälfte der Versammelten trug Schlafkleidung – Pyjama oder Nachthemd. In einem Fall hatte eine junge Frau sogar nur BH, Höschen und Strümpfe am Leib, ohne dass dies offenbar von den anderen als anstößig empfunden wurde.

Sie konnte es tragen – was aber nichts an dem Umstand änderte, dass dies kein Aufzug war, in dem man üblicherweise die Dorfkneipe besuchte.

Aber Pyjama und Negligé waren kaum weniger ungewöhnlich, es sei denn hier hätte eine diesbezügliche Themenparty stattgefunden.

Und obwohl die Menge, die sich im Schankraum drängte, nicht wirklich nach Party aussah, entschied Zamorra sich, einzukehren.

Der Weg zum »Moustache« hatte ihn an mehreren Autos vorbeigeführt, die mitten auf der Straße abgestellt worden waren. Auch die ein oder andere Unfallsituation war dabei gewesen. Aber in keinem der Fahrzeuge hatte sich auch nur ein einziger Insasse befunden.

Ein weiteres Steinchen in der Indizienkette, dass Paul sich hier aufhielt – zumindest aufgehalten hatte – und für Chaos sorgte. Zamorra konnte nicht ausschließen, dass Paul sich eines der Autos »geliehen« hatte und damit längst über alle Berge war.

Dann würde es richtig haarig werden. Wer weiß, wo er seinen Todeszauber als nächstes wirkt.

Er ging zur Tür, öffnete sie und trat ein. Nur dem Umstand, dass es schon vor seinem Erscheinen keine Gespräche gegeben hatte, war es geschuldet, dass auch keine verstummen konnten. Was allerdings geschah, war, dass sich ihm die teilnahmslosen Gesichter zuwandten.

Ausnahmslos.

Jedoch verzog niemand eine Miene, alle gafften ihn nur an, auf eine Weise, die unter die Haut ging, obwohl – oder weil – sich auch jetzt keinerlei Regung darin spiegelte.

Zamorra versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Dennoch wuchs seine Sorge sekündlich.

Hatte Nicole nicht gesagt, William habe bei Moustache Quartier bezogen? Der Butler und die Köchin waren aus dem Schloss befördert worden, weil Pauls »Todesstrahlung« sie dort alle drei Stunden niederstreckte – außerhalb der Mauern hatte er, solange er sich auf dem Château aufhielt, keine Gewalt über sie gehabt.

Der Knackpunkt war: Solange er sich auf dem Château aufgehalten hatte.

Inzwischen hatte er es verlassen, und Zamorras Annahme, er könnte sich stattdessen im Dorf herumtreiben, wurde immer wahrscheinlicher, denn …

… das Amulett vor seiner Brust war seit der Ankunft bei den ersten Häusern stetig wärmer geworden. Und Wärme bedeutete im Falle der Silberscheibe: Alarm!

Während er Ausschau nach William hielt, ihn aber nicht unter den Anwesenden entdecken konnte, ging er zügig auf den Tresen zu, hinter dem der Wirt ihm entgegen schaute.

Moustache sah fast aus wie immer: Sein lockig graues Haar umrahmte ein schnauzbärtiges, zerfurchtes Gesicht, das im Normalfall unerschütterliche Gutmütigkeit und Freundlichkeit ausdrückte.

Unerschütterlich wirkte es auch jetzt, allerdings auch irgendwie eingefroren.

»Moustache«, sagte Zamorra, als er die Theke erreichte, und nickte dem Wirt zu. »Lange nicht gesehen. Alles in Ordnung bei euch?«

Er warf einen vielsagenden Blick in die Runde.

Moustache schwieg, während er mechanisch mit einem sauberen Tuch über ein bauchiges Weinglas polierte.

»Moustache!«

Moustache starrte nicht auf ihn, sondern durch ihn hindurch.

Zamorra spielte angelegentlich mit Merlins Stern. Verschob dabei fast unmerklich die ein oder andere Glyphe und nahm, ohne die Anwesenden aus den Augen zu lassen, geistigen Kontakt mit dem Amulett auf.

Treffer!

Der Dämon, der mutmaßlich in Paul Hogarth gefahren und mit ihm aus Eden hierher gelangt war, gab sich offenbar keine große Mühe mehr, seine Präsenz zu verbergen, wie er es noch auf dem Schloss getan hatte.

Das konnte verschiedene Gründe haben: Möglicherweise hatte ihn die Tarnung so viel Kraft gekostet, dass er sich erst wieder regenerieren musste. Oder – und das war die sehr viel kritischere Erklärung – er fühlte sich so sicher und mächtig, dass er meinte, sich nicht mehr verbergen zu müssen.

»Ist William bei dir abgestiegen?«

Keine Reaktion.

»Sagt dir der Name Paul Hogarth etwas? Ein Engländer.«

Zamorra spulte seine Fragen ab, während sein Geist mehr und mehr mit dem Amulett verschmolz und das Gasthaus auf magische Weise scannte.

Wider Erwarten bewirkte Pauls Erwähnung eine Veränderung bei Moustache – oder war es Zufall, dass es ausgerechnet jetzt geschah? Sein Blick jedenfalls wurde hart wie Glas, und dann – brach er hinter der Theke zusammen.

Zamorra kämpfte ein kurzes Schwindelgefühl nieder. Er hatte eine starke dämonische Präsenz im Haus geortet, ohne eine bestimmte Stelle festmachen zu können. Paul mochte sich in einem der oberen Stockwerke aufhalten, von denen es zwei gab, oder sich in der Küche verbergen, in die man durch eine Schwingtür hinter der Theke gelangte.

Moustaches Sturz war nur der Auftakt zu weiteren Stürzen. Überall im Schankraum glitten plötzlich Menschen von ihren Stühlen oder kippten nach vorn, um auf den Tischplatten zum Liegen zu kommen. Dumpfe Geräusche begleiteten den unheimlichen Vorgang; hier und da stießen Köpfe zusammen, ohne dass das die Betroffenen noch scherte, denn …

Zamorra war sich seiner Sache sicher, ohne sich bei jedem Einzelnen überzeugen zu müssen.

… der Blitztod hatte sie alle hinweggerafft.

Gleichzeitig.

Männer, Frauen, Kinder.

Moustache inbegriffen.

Und mit dem Sterben ringsum erhitzte sich das Amulett so stark, dass Zamorra meinte, sich daran zu verbrennen.

Aber das hinderte ihn nicht, gezielt daran zu manipulieren, und schon wenig später baute sich ein magisches Schutzfeld um ihn herum auf. Als nächstes flankte er über den Tresen und kniete neben Moustache. Auf seinen Gedankenbefehl hin erweiterte sich der Schutzschild auf den Wirt, in der Hoffnung, ihn damit aus seinem Todesschlaf reißen zu können.

Es sah so aus, als habe er Erfolg. Moustache blinzelte, dann schlug er die Augen auf. Verwirrt blickte er zu Zamorra empor. »Was …«

»Keine Zeit für Erklärungen, Moustache. Du musst mir helfen. Ich suche einen Mann, vielleicht war er früher schon mal bei dir, als er noch im Schloss lebte – aber das wäre ein Jahr her. Ungefähr. Der Mann …«

Moustache nickte heftig. »Paul! Paul … ja, ich kannte ihn. Und er ist … wieder da. Er …«

Der Wirt suchte merklich nach Worten. Was hatte er erlebt? Zamorra half ihm, sich aufzurichten. Als Moustache in seine Gaststube blickte, quollen ihm die Augäpfel hervor. Die Dörfler, die überall verteilt lagen, muteten ihm offenbar ebenso grotesk an wie Zamorra. »Was machen dir alle hier? Die … die Kinder! Wer …«

»Paul«, drängte Zamorra. »Ich suche Paul. Weißt du, wo er steckt? Wenn er hier war – wohin ist er gegangen?«

Von irgendwoher klang Gelächter. Eine Stimme, so dunkel und kalt, als wehe sie geradewegs aus einem offenen Grab heraus.

Zamorra zuckte zusammen, als die Pendeltür zur Küche mit solcher Wucht aufgestoßen wurde, dass die Lamellenflügel beim Aufprall auf das angrenzende Mobiliar fast zertrümmerten.

Er rechnete damit, Paul heraustreten zu sehen. Zu seiner Verblüffung war es jedoch eine korpulente ältere Dame, die er trotz ihres offensichtlichen »Fehlers« sofort erkannte.

»Madame … Claire?«

Mit resoluten Schritten stapfte die Köchin auf ihn zu und blieb vor Moustache stehen, der zur Statue erstarrt war.

Die Stimme der Köchin erklang, gespenstisch verfremdet, im Rücken der drallen Person – als stünde jemand hinter ihr, den sie verdeckte. Der Grund dafür war jedoch ein anderer: Obwohl Zamorra auf die Vorderansicht ihres Körpers blickte, war ihr Gesicht nach hinten gedreht – so weit nach hinten, dass es für jeden Menschen den Tod bedeuten musste. Zamorra blickte auf Hinterkopf und Busen gleichzeitig, während Madame Claire mit ihrer maskulin gefärbten Stimme erklärte: »Alle diese Menschen werden sterben, wenn du deine Waffe nicht augenblicklich ablegst – ich inbegriffen. Willst du das? Willst du schuld an meinem endgültigen Tode sein …?«

***

Eden

Das Beben kam warnungslos.

Nele erwachte und wurde so heftig durchgeschüttelt, dass sie nicht wusste, wo ihr der Kopf stand. Im Dunkeln neben sich hörte sie Nikolaus, dem es nicht besser erging. Mattes Licht erfüllte die Hütte.

»Vorsicht! Die Decke!« Der Ruf ihres Gefährten lenkte Neles Blick nach oben. Dann fühlte sie sich auch schon gepackt und mitgerissen. Aber mehrere dicke Äste stürzten gleichzeitig und so schnell herab, dass es kein Entkommen mehr gab.

Nicht auf normale Weise jedenfalls. Aber Nele wechselte in den Ghost-Modus, nahm Nikolaus mit auf diese andere Wirklichkeitsebene und erlebte von dieser unangreifbaren Warte, wie die schweren Hölzer durch sie hindurch fielen und die Bettkonstruktion, auf der sie kurz zuvor noch nichtsahnend geschlafen hatten, zertrümmerten.

Nele fasste Nikolaus’ Hand noch fester und zog ihn durch die Hüttenwand nach draußen. Im Ghost-Modus war keinerlei Erschütterung zu spüren, aber der Blick auf die Umgebung genügte, um zu wissen, dass es noch nicht zu Ende war. Erst nach einem halben Dutzend weiterer Erdstöße, deren Auswirkungen selbst die mächtigsten Baumriesen durchschüttelten, kam das Paradies wieder zur Ruhe. Als Nele ihre Gabe schließlich zurücknahm, drang von allen Seiten Stimmengewirr und das Weinen von Kindern an ihr Ohr.

»Alles in Ordnung?«, fragte Nikolaus, der ebenso fassungslos wie sie selbst auf die Trümmer ihrer Hütte starrte, aus denen der schwache Schein des Lichtsteins drang. Vor dem Schlafengehen hatte Nele ein Tuch darüber gebreitet, wie es üblich war. Der Stein, der natürlich in Gewässern vorkam und sie auch nachts vielerorts illuminierte, war in allen Hütten präsent. Er leuchtete Tag und Nacht, und wenn man von seinem Schimmer nicht gestört werden wollte, deckte man ihn zu.

Schon beim ersten Beben musste das Tuch verrutscht sein, und auch von den herabfallenden Teilen war der Stein nicht zum Erlöschen gebracht worden. Wie Lichtsteine funktionierten, wusste keiner. Sie waren eines von vielen Wundern Edens, von denen die Bewohner annahmen, dass Jachhwa sie seinen »Schäfchen« geschenkt hatte.

»In Ordnung?« Nele wiegte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß nicht. Hoffentlich gibt es keine Opfer zu beklagen. Schwerletzte oder gar Tote! Was, In Jachhwas Namen, war das? Hättest du gedacht, dass es in Eden zu Erdbeben kommen kann? Hast du dergleichen in all der Zeit, die du hier warst, je erlebt?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Nie.«

Überall im Dickicht des Waldes, wo die Siedlung der Menschen entstanden war, leuchteten Lichtsteine wie mitten im Flug eingefrorene Glühwürmchen. Manche – und ihre Zahl nahm schnell zu – bewegten sich aber auch, beziehungsweise wurden bewegt. Nachbarn eilten zu Nachbarn, um nach dem Rechten zu sehen. Und auch Neles und Nikolaus’ Schockstarre hielt nicht lange an. Sie halfen, wo sie konnten. Aber es dauerte Stunden, bis eine erste Bilanz gezogen werden konnte.

Tote hatte es nicht gegeben, was alle erleichterte, aber Dutzende Verletzte mit Brüchen und Prellungen, die mit den Mitteln, die zur Verfügung standen, versorgt wurden.

Als Nele und Nikolaus endlich wieder Zeit fanden, sich zu unterhalten, zeigte sich schon der erste Silberstreif am Horizont. Es hatte keine weitere Beben mehr gegeben, von denen acht oder neun in der Nacht dicht hintereinander gezählt worden waren.

Die beiden Liebenden, die nach Jahrhunderten gerade erst richtig zueinander gefunden hatten, nachdem der sichtbare Altersunterschied dies eine halbe Ewigkeit verhindert hatte, setzten sich auf den Stamm eines kleineren, umgestürzten Baumes, der nur mit Glück niemanden erschlagen hatte.

Dass Nele keine alte Frau und Nikolaus kein blutjunger Bursche mehr war, sondern sich ihr beider biologisches Alter bei ungefähr vierzig, fünfundvierzig Jahren eingependelt hatte, war, wie ihre Unsterblichkeit generell, eines der Wunder, die Jachhwa gewirkt hatte, der Herr über den Garten Eden.

Aber wo war Jachhwa in den vergangenen Stunden gewesen? Warum hatte er seine Schützlinge – so hatten Nele und die anderen sich bislang verstanden – nicht nur im Stich gelassen, sondern steckte wahrscheinlich sogar hinter der erlebten Katastrophe?

»Was denkst du darüber?«, wandte sich Nele an Nikolaus, der den Arm um sie gelegt hatte, um die Frau, die ihre Schönheit von einst wiedergewonnen hatte. »Hattest du bei deinem Besuch Jachhwas den Eindruck, dass ihn irgendetwas verstimmt hat? Oder …«

»Oder was?«, fragte Nikolaus.

»Oder hast du ihn mit deinem Wunsch verstimmt? Du weißt schon, was ich meine. Vielleicht hat er ihn als narzisstisch, egoistisch oder einfach nur unbescheiden aufgefasst.«

»Hätte er ihn mir dann erfüllt?«

Nele seufzte, während ihr Blick über die Trümmer der Siedlung strich, die am Vortag noch das reine Idyll gewesen war. »Nein«, sagte sie. »Wahrscheinlich nicht. Die Frucht, die du mitgebracht hast und die mir das hier …«, sie strich sich selbst über das wieder glatte, fast faltenlose Gesicht, »… schenkte, hätte kaum gewirkt, wenn er deine Bitte als zu eigensüchtig empfunden hätte.«

»Wir wissen nicht, ob wirklich Jachhwa damit zu tun hat«, sagte Nikolaus, klang dabei aber ebenso ratlos wie sie.

»Draußen, in der Welt, aus der wir kommen, wären nur Strenggläubige auf den Gedanken gekommen, in einer Katastrophe den Willen Gottes zu sehen. Ich gehöre nicht zu ihnen. Bedenkt man die kaum messbare Zahl von Katastrophen, die draußen jedes Jahr über die Menschen kommen und würde man sie alle Gott zuordnen, müsste er ein Monster sein.« Sie schwieg und versuchte, in Nikolaus’ Gesicht zu lesen, was er von ihren Worten hielt. Er hatte immer den besseren, intensiveren Draht zu Gott gehabt, sonst hätte er nicht vor achthundert Jahren tausende Kinder um sich geschart und einen Kreuzzug gen Jerusalem initiiert.

Aber die Zeit hatte auch ihn verändert. Manches sah er inzwischen differenzierter.

Was sich nicht verändert hatte, war die tiefe Liebe, die er für Nele empfand. Und die sie für ihn empfand – wie sie sich selbst gegenüber wieder einzugestehen wagte, seit ihr ewig vitaler Geist nicht mehr im Körper einer Greisin eingesperrt war.

»Nein«, nahm sie den Faden wieder auf, »die Natur hier ist aufs Engste mit Jachhwa verflochten. Ein Unglück wie das, was wir gerade erfahren haben, wäre ohne sein Einverständnis nicht möglich.«

»Dann wollte er uns also tatsächlich strafen. Und er allein weiß, wofür.«

Nikolaus wirkte hell entsetzt. Sein Blick war nirgends, wohin er schaute, in der Lage zu verweilen. Nele erkannte, dass sie ihn noch mehr erschüttert hatte als das Aufbäumen der Erde es vermochte. Sofort erwachte der Wunsch in ihr, die harschen Worte abzumildern.

»Lass es erst einmal richtig Morgen werden. Es dämmert schon. Wenn die Sonne aufgeht, werden wir vielleicht manches in anderem Licht sehen.«

Hörte er ihr überhaupt zu? Nikolaus sprang plötzlich auf.

Nele folgte ihm und blickte schräg nach oben in die Richtung, in die der Geliebte mit weit aufgerissenen Augen starrte. »Was ist? Was ist dort …?«

Sie spähte im ersten Morgendämmer über die Wipfel der Bäume hinweg, die das Beben unbeschadet überstanden hatten. Die Blätter der Kronen, tagsüber von saftigem Grün, wirkten wie aus Blei modelliert, der Himmel darüber ein kaum helleres Grau.

Nele verstand noch immer nicht, was Nikolaus nun sogar erzittern ließ. Kreidebleich rang er um Atem.

»Nikolaus! Was um alles in der Welt ist mit dir los?«

Fast widerwillig löste er sich aus seinem tranceartigen Zustand. »Verstehst du nicht?« Er fuchtelte hektisch mit dem Arm in die Richtung, in die Nele ratlos starrte und nichts entdecken konnte, was den Gefährten so hätte entsetzen können.

»Die Kobalttürme! Schau hin! Dort, in dieser Richtung, erheben sich, seit wir hier sind, die Türme der Cambronen – ihr Hort! Aber ich sehe ihn nicht mehr! Ich sehe nicht eine einzige Heimstadt der Geflügelten! Sie – sie sind verschwunden!«

Im dem Moment, da er es aussprach, wusste Nele, dass er recht hatte.

Das Blut wich auch aus ihrem Gesicht, und ohne dass sie es verhindern konnte, begann auch sie wie Espenlaub zu zittern.

***