Professor Zamorra 1069 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1069 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Eigentlich hätte Zamorra mit dem Rückkehrer aus dem ORONTHOS genug zu tun. Doch der neu erstandene Dämon ist verschwunden - oder ist es gar ein alter Bekannter Zamorras? Doch bevor er sich darum kümmern kann, erfordert ein anderes Problem seine Aufmerksamkeit: Dylan McMour, sein Dämonenjäger-Kollege, reist immer wieder unfreiwillig in eine ferne Vergangenheit. Und dort trifft er auf Schatten - die gleichen Schatten, die auch schon Zamorra sah und die Julian Peters entführt haben! Nur was hat es mit diesen geheimnisvollen Wesen auf sich ...?

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Schattenschmiede

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-1156-3

www.bastei-entertainment.de

Die Schattenschmiede

von Adrian Doyle

Die Nacht ist ein elendes Ding. Manche Angst gerinnt darin zur knochigen Hand, die Herzen so fest umschließt, dass sie aufhören zu schlagen. Ich habe versucht, sie fort zu träumen. Ich wollte die Macht der Nacht auf ewig brechen. Nicht nur in der äußeren Welt, auch in der inneren. In mir selbst.

Aber die Dunkelheit, von der ich spreche, trotzt jedem Traume, jeder Magie. Sie ist eine Seuche, die Körper und Seele befällt. Ohnmacht und Siechtum sind die Folge.

Dies zu akzeptieren fällt einem einst Mächtigen doppelt schwer. Immerhin umhüllte ich, bevor mich die Schatten zu sich holten, ganze Welten mit dem schützenden Traumflor meiner Magie.

Nun aber bin ich wach und zum Wachsein verdammt. Womit der Sieg der Finsternis über zwei der letzten Bastionen des Lichts – Erde und Silbermond – wohl besiegelt ist.

(Julian Peters: Gedanken)

Tiefe Vergangenheit

Ich will nicht sterben … sterben … sterben …!

Sein letzter Gedanke hallte als nicht enden wollendes Echo in ihm nach. Als würde der Schall einer Stimme immer und immer wieder von hohen Bergen zurückgeworfen.

Narvesh versuchte zu begreifen, was mit ihm geschehen war – oder noch geschah. Der Prozess, von dem ihm und den anderen Letztatmern versprochen worden war, er würde ohne Qual verlaufen, schien immer noch nicht abgeschlossen zu sein, obwohl …

Obwohl ich schon seit einer Ewigkeit brenne! Es hört gar nicht mehr auf!

Wirklich überrascht war er darüber nicht. Schon zuvor hatte er den grausamen Betrug durchschaut. Nur hatte es nichts mehr an der unumstößlichen Tatsache ändern können, dass er mit den anderen Erwählten trotzdem wie ein Stück Vieh gegen das Siegel getrieben worden war, das die Kräfte aus dem Erdinnern zurückhielt. Die Kräfte, mit denen die Priester-Wissenschaftler gespielt und von denen sie geglaubt hatten, sie zähmen zu können. Zum Wohle Alashars.

Ein Trugschluss, wie seit Generationen bekannt war.

Denn genauso lange wurde schon Schadensbegrenzung betrieben, opferten sich in regelmäßigen Abständen die begabtesten Alasharer. Wenige für viele, so hieß die Losung, die das Leben aller bestimmte.

Was ist passiert? Warum … denke und lebe ich noch?

Er wand sich. Lebte er wirklich noch, oder war es nur eine Illusion? Gaukelte der Sterbeprozess ihm all die Dinge vor, die er zu spüren glaubte? Er hatte die Augen geschlossen.

(Wie konnte er noch Augen haben, nachdem er gegen das Siegel geschmettert worden war? Dessen Hitze hätte ihn augenblicklich seiner Körperlichkeit berauben müssen und nur das von ihm übrig lassen dürfen, was von den Alasharern Über-Ich genannt wurde. Und was benötigt wurde, um das Siegel immer wieder aufs Neue zu stärken!)

So, wie sich Narvesh sicher war, noch Augen zu besitzen, so fühlte er auch den Rest seines Körpers, als wäre ihm die Opferung erspart geblieben. Dabei erinnerte er sich klarer als an alles andere an den Moment, als die Kraft des Siegels ihn an sich gezogen und in pures Feuer verwandelt hatte. In Flammen, die sich augenblicklich mit dem Feuer des Siegels vereinigt hatten, um fortan bis zum Ende der Zeiten darin zu lodern und so das andere Feuer aus der Tiefe der Erde zurückzuhalten.

Feuer kann nur mit Feuer bekämpft werden, lehrten die Priester-Wissenschaftler, die auf ihre Weise zu heilen versuchten, was wahrscheinlich unheilbar war. Und was eine Bestie wie den Chichen Ho hervorgebracht hatte, der seinerseits dazu beitrug, dass dem Siegel frische Kräfte zugeführt wurden. Nur viel ungestümer, als die Priester dies taten. Der Chichen Ho war eine unkontrollierbare Monstrosität, die die Lande abgraste, während die Priesterschaft an das Verantwortungsgefühl der Städter appellierte und keinen Mangel an Freiwilligen hatte, die bereit waren, für das Allgemeinwohl lange vor Ende der naturgegebenen Lebensspanne in die Hohen Himmel überzuwechseln. In die Dimension des ewigen Seins, die der Lohn für den Verzicht auf ein erfülltes Dasein auf Erden war.

In Narvesh krampfte sich bei dem Gedanken an diese Lüge alles zusammen. Er stöhnte laut auf. Und entschied, dass es Zeit sei, die Augen zu öffnen und zu erfahren, warum er noch lebte, noch all die Gedanken wälzen konnte, die ihn regelrecht überfielen.

Er hob die Lider, sah – und staunte.

***

Und am Anfang war die Erde öde und leer …

Der Gedanke wisperte wie die Stimme eines unfühlbaren Windes in seinem Kopf. Eines Windes, der alles sah, alles gesehen hatte und alles sehen würde, was auf der Welt, die Narvesh zunächst nur mit Staunen, dann mit überbordendem Schrecken betrachtete, geschah.

Er sprang auf und sah an sich herab. Die Kleidung, die er im Moment seines eingebildeten Todes getragen hatte, war verschwunden. Wäre sie verbrannt, hätte auch sein Körper darunter leiden müssen. Dem war aber nicht so. Seine Haut war makellos, wies nicht die kleinste Verletzung auf. Er war vollkommen nackt. So, wie er einst auf die Welt gekommen war, geboren von seiner Mutter. Und irgendwie fühlte er sich tatsächlich, als wäre er gerade erst neu geboren.

Nicht nur diese Empfindung, auch alles andere, was in ihm wisperte oder ihn umgab, verwirrte ihn zutiefst. Er sah sich in der Felsenwüste um, in der er zu sich gekommen war und wo weit und breit nichts anderes war als diese Steine und er. Kein noch so genügsames Gewächs erhob sich aus den Ritzen. Außer ihm selbst schien es kein Leben zu geben, nicht einmal in primitivster Form.

Zunächst verhalten, dann immer vehementer keimte ein Verdacht in Narvesh. Dieser Verdacht erklärte nicht, warum er noch am Leben war. Aber er hätte eine Erklärung dafür geboten, warum alles andere, was er kannte, verschwunden war.

Das Siegel ist gebrochen.

In dem Moment, als er und die anderen davon verschlungen worden waren, musste etwas von solcher Tragweite geschehen sein, dass es alles negierte, was bis dahin existierte. Und je länger Narvesh darüber nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass nur eine einzige Kraft, die er kannte, in der Lage war, ein fruchtbares, vor Vegetation und Leben strotzendes Land wie Alashar von einem Moment zum anderen in eine tote Felsenwüste zu verwandeln. Alles auszuradieren, was die Bewohner dieses paradiesischen Kontinents jemals erbaut oder woran sie sich jemals einfach nur erfreut hatten, weil die Natur selbst es ihnen zur Verfügung stellte.

Für unbestimmte Zeit war er selbst wie zu Stein erstarrt. Vom Grauen der eigenen Idee gelähmt.

Dann fiel ihm auf, dass über die Verwüstung hinaus – falls es sich tatsächlich um eine solche handelte – noch mehr im Argen lag. Es gab keinen Wind, nicht einmal den leisesten Hauch. Die Luft wirkte erstarrt, der Himmel …

Wieder durchfuhr ihn ein nie gekannter Schock, denn es schien, so absonderlich es klang, keinen Himmel zu geben.

Aus weit aufgerissenen Augen starrte er nach oben.

Immerhin, es gab Licht. Aber dieses Licht strömte aus keinem Sonnenball, sondern war einfach da, als besäße die Luft selbst die Fähigkeit zu leuchten.

Ich werde wahnsinnig.

Nein, korrigierte er sich im nächsten Atemzug, das bin ich bereits. Wahnsinnig. Das alles ist ein furchtbarer Albtraum.

Eine Weile wartete er darauf, aufzuwachen, wie er es aus anderen Träumen kannte, sobald er sich des Träumens bewusst geworden war.

Aber es änderte sich nichts. Er blieb gefangen in der Kulisse, die ihn von allen Richtungen umgab.

Kulisse?

Er setzte sich in Bewegung. Es gab keine Horizonte – beziehungsweise: der Horizont begann bereits einen Schritt von Narvesh entfernt. Es war unheimlich. Verstörend. Zugleich aber auch auf (noch verstörendere Weise) vertraut.

Auch diese Gefühlslage konnte er sich nur mit der Erkrankung seines Geistes erklären. Noch immer kreiste sein Denken aber vorrangig um die Frage, was mit ihm geschehen war. Wie er an diesen hellen und doch düsteren Ort gelangt war, obwohl die letzten Wahrnehmungen, als er von den Priester-Wissenschaftlern auf das Siegel zugetrieben worden war, nahelegten, dass er nicht mehr hätte leben dürfen. Niemand überlebte die Berührung mit dem »Pfropfen«, der Alashar vor dem sonst sicheren Untergang bewahrte.

Niemand.

Immer mehr gelangte Narvesh zu der Überzeugung, dass der Pfropfen, das Siegel, nicht gehalten hatte. Dass alle Anstrengungen und Opfer, die bis dahin erbracht worden waren, am Ende doch nicht gefruchtet hatten.

Aber warum sollte ich die Katastrophe überlebt haben? Ich als Einziger. Während, so weit ich blicke, Alashar in eine Felsenwüste bar jeden Lebens verwandelt wurde. Warum hätte ich unangetastet bleiben sollen und die anderen nicht? Was wurde aus Elja, mit der er noch einmal verschmolzen war, bevor sie den Gang zum Siegel hatten antreten müssen? Was mit all den anderen Letztatmern und den Priester-Wissenschaftlern, die in den letzten Augenblicken bei ihm gewesen waren?

Sie können nicht alle tot sein! Sie könnten – aber nicht, wenn ich es überlebt habe. Warum sollte ausgerechnet ich eine Ausnahme sein? Das war ich nie. Ich besitze keine Kräfte, die mich als Einzigen hätten schützen können. Und wozu auch? Um jetzt als letzter Alasharer über ein Feld der Zerstörung zu wandern? Was sollte das für einen Sinn haben?

Die Steine unter seinen nackten Füßen fühlten sich absolut real an. Mehr als einmal stöhnte Narvesh vor Schmerz auf, wenn sich etwas Spitzes in seine Sohle bohrte. Aber er konnte nicht aufhören, weiterzugehen.

Dabei kam es ihm vor, als würde er den Horizont vor sich herschieben.

Auch dieser Gedanke war Zeugnis seines dahinschwindenden klaren Verstandes. Narvesh krümmte sich innerlich. WO BIN ICH? BEI DEN ALLWEISEN, WAS GESCHIEHT MIT MIR?

Nach einer Zeit, die sich wie die Ewigkeit anfühlte, sank er ermattet zu Boden. Er schloss die Augen und musste den Strapazen der Wanderung durch eine endlose Steinwüste Tribut zollen. Binnen weniger Atemzüge fiel er in ohnmachtsgleichen Schlaf. Seine letzten Gedanken galten Elja.

Ausgerechnet Elja.

***

Der Traum war schlicht in seiner Szenenabfolge, dennoch wühlte er Narvesh so stark auf, dass er in kalten Schweiß gebadet erwachte. Sein Unterbewusstsein hatte ihn noch einmal durchleben lassen, wie er mit Elja intim geworden war, unmittelbar vor dem Gang in den Tortempel, in die Letzte Kammer – und damit in die Himmel der Ewigen Horizonte. Selbst im Traum hatte er die Melancholie und Wehmut spüren können, die ihn damals wie jetzt beschlichen hatte. So als hätte er während der Ekstase einen kurzen Blick in ihrer beider Zukunft erhaschen können, die anders verlaufen sollte, als die Priester-Gilde es sie hatte glauben machen wollen.

Kurz vor dem Hinübergleiten ins Wachsein hatte sich Narvesh eingebildet, den Knall der Energiepeitschen zu hören, mit denen Elja, er und all die anderen von den Allweisen wie eine Viehherde gegen das Siegel der Torkammer getrieben worden waren, um daran wie Funken zu verglühen.

Und nun … nun blickte er sich verstört an dem Ort um, wo er zu Boden gesunken und seiner Erschöpfung nachgegeben hatte.

Der Schreck fuhr ihm tief in die Glieder.

Das sich im Wind sanft wiegende Gras wirkte in den ersten Momenten, da er es erblickte, beinahe hypnotisch. Aber Narvesh wollte sich nicht narren lassen, glaubte an eine unerwartete Fortsetzung seines Traums und schnellte wie von einem Insekt gestochen hoch. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er über die Ebene blickte, auf der er sich befand und die nichts – nichts! – mit der Felsenwüste gemein hatte, in der er zuvor zu sich gekommen war.

Zwei Erklärungen, versuchte er, der Logik seines sich zu Wort meldenden Verstands zu vertrauen. Entweder die Steinwüste war der Traum und das hier ist die Wirklichkeit – oder … oder ich wurde während meines Schlafs bewegt. Verschleppt.

Aber verschleppt von wem?

Ein Traum hätte vieles von dem, was er in der Steinödnis gesehen hatte, erklärt. Den fehlenden Himmel, die Horizonte, die so nah erschienen, als würde er sie vor sich »herschieben«, während sie sich hier und jetzt so präsentierten, wie er es von Alashar gewohnt war.

Allerdings …

Er bog den Kopf weit in den Nacken.

… gab es immer noch keinen Himmel.

Horizonte ohne Himmel? Ich habe den Verstand verloren. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.

Er erinnerte sich, schon vor dem Einschlafen an seinem Geisteszustand gezweifelt zu haben. Und sah sich jetzt darin bestärkt und bestätigt.

Die Landschaft, in der er stand, ähnelte Alashar an seinen schönsten Tagen, wenn das Wetter und die eigene Stimmung perfekt gewesen waren. Die Grasebene wirkte wie eine große Waldlichtung. An ihren Rändern erhoben sich mächtige Bäume, die aber keinen Schatten warfen, weil der Himmel – und damit die Sonne – fehlte.

Trotzdem war es warm. Und hell.

Und leer.

Die schreckliche Leere, stellte er fest, war geblieben, obwohl sich seine Umgebung unübersehbar bereichert hatte. Er ahnte, dass die eigentliche Leere die war, die ihn selbst erfüllte. Er war verzweifelt, ratlos und einsam. Einsamer als jemals zuvor in seinem Leben.

Ich lebe nicht mehr. Ich stecke irgendwo zwischen den Ewigen Horizonten fest. Es muss so sein!

Mehr denn je fragte er sich, wie es so weit hatte kommen können. Was war schief gegangen, nachdem die Allweisen ihre Masken fallen ließen und ihr wahres Gesicht gezeigt hatten? Statt die Ängste der Letztatmer zu lindern und ihnen seelischen Beistand in der schwersten Stunde ihres Lebens zu leisten, hatten sie ihre Ängste ins Unermessliche gesteigert, so als wäre das nötig, um die maximale Kraft in das Torsiegel leiten zu können – in dem Moment, in dem die Auserwählten starben.

Narvesh hasste sie dafür. Sein eigenes Martyrium hätte er ihnen vielleicht noch verziehen, aber nicht, was sie damit auch Elja angetan hatten.

Das Schlimmste daran war, dass er die Priester-Gilde dafür nie zur Rechenschaft würde ziehen können. Die Wahrheit über das, was in der Letzten Kammer geschah, würde diese nie verlassen. Kein Allweiser würde die Bevölkerung Alashars jemals mit den tatsächlichen Vorgängen dort konfrontieren. Es wäre der Anfang vom Ende ihrer Macht gewesen.

Narvesh seufzte. Verwundert über sich selbst, weil er sich der Welt der Lebenden immer noch so verpflichtet fühlte, als wäre er weiterhin ein Bestandteil davon.

Unglücklicherweise konnte er daran nicht glauben.

Ich muss herausfinden, was mit mir geschieht. Und warum es geschieht. Und wie ich mich davon befreien kann!

Aber wollte er das wirklich? Wollte er lieber tot und vergessen sein? Selbst wenn dies alles hier eine Ausgeburt seiner Einbildungskraft war – es war, nachdem die Einöde verschwunden war, wie eine Insel der Ruhe im Chaos. Selbst wenn er dieses Chaos nicht sehen konnte, so fühlte er es doch, als würde es ganz am äußersten Rand seiner Wahrnehmungsfähigkeit beginnen; eine Kraft, die ihn vernichten wollte und vor der er sich auf rätselhafte Weise hatte in Sicherheit bringen können. Wie ein Schiffbrüchiger, den die Wellen an die Gestade eines Eilands gespült hatten, auf dem er nun den Rest seines Lebens verbringen musste, abgeschnitten vom Rest der Welt, der Zivilisation und allen, die er kannte oder liebte.

(Elja.)

Er marschierte ohne bestimmtes Ziel los. Auf die Bäume zu, die die große Lichtung säumten und zu einem Wald gehörten, der sich auf unbestimmte Länge ausbreitete. Sah schon das Gras anders aus, als Narvesh es aus Alashar kannte, so traf dies noch deutlicher auf die Bäume zu, deren Details mit jedem Schritt, den er zurücklegte, klarer hervortraten. Obwohl blattlos, imponierten sie schon allein wegen ihrer gewaltigen Höhe.

Narvesh blieb verdutzt stehen, als eine Kindheitserinnerung in ihm aufstieg, offenbar losgetreten von den filigranen Ästen und Zweigen der Bäume. Damals hatte er seinen Vater gefragt, warum Wurzeln immer in die Erde drängten, während Stamm, Astwerk und Blätter himmelwärts strebten – warum es nicht umgekehrt sein konnte. Dass die Wurzeln den Platz der Krone einnahmen und die Krone den Platz der Wurzeln.

Sein Vater hatte ihn ausgelacht und war ihm bis heute eine Antwort schuldig geblieben.

Und jetzt dieser Wald, dessen Bäume genau das taten, was Narvesh sich als naives Kind vorgestellt hatte: mit den Wurzeln nach oben wachsen. Wurzeln, die wie Hände nach einem Himmel griffen, der nicht existierte. So, als wollten sie ihn irgendwo in der Unendlichkeit zu fassen bekommen und zu sich herunter ziehen.

Narvesh schauderte bei dem Gedanken.

Als er die eng zusammenstehenden »Wurzelbäume« erreichte, erkannte er, dass ihre »Zweige« so eng miteinander verflochten waren, dass ein Betreten des Waldes kaum möglich sein würde.

Aber dann ging plötzlich ein Rauschen durch den Wald, und in die Bäume kam Bewegung. Wurzelarme entwirrten sich vor Narveshs Augen, und in kürzester Zeit entstand eine Gasse, breit genug, um ihn passieren zu lassen.

Damit war auch der letzte Zweifel beseitigt, dass er das alles träumte. Klammen Herzens betrat er die Schneise und setzte Fuß vor Fuß.

Hinter ihm schloss sich der Baumgürtel, vor ihm öffnete er sich. Narvesh musste gar nicht überlegen, wohin er sich wenden sollte – der Wald nahm ihm die Entscheidung ab und schleuste ihn zwischen seinen Bäumen hindurch.

So lange, bis Narvesh neuerlich müde zu Boden sank und vor Erschöpfung die Besinnung verlor.

***

Millionen Jahre später

Dylan McMour starrte den Mann, der vor ihm am Boden kauerte und gerade seine Identität preisgegeben hatte, entgeistert an. Das sollte Julian Peters sein, der aus Château Montagne entführte Magier, von dessen Träumen gleich zwei Welten profitiert hatten: die Erde und der Silbermond?

Dylans Herz begann unkontrolliert zu rasen. Dass er im gleichen Kerker gelandet sein sollte wie der Enkel des Asmodis, mochte er kaum glauben. Und noch war auch nicht sicher, dass sein Mitgefangener die Wahrheit sagte. Es konnte sich ebenso gut um eine Farce handeln, initiiert von den Schattenwesen, mit denen Dylan in der Stadt unter dem Eis der Antarktis zusammengeprallt war. Wie genau er in die Stadt hatte gelangen können, wusste er nicht, weil er zeitweise in der Rolle eines Geschöpfs namens Narvesh aufgegangen war. Narvesh schien ein Ala-sharer gewesen zu sein, der sich, nicht ganz freiwillig, vor 20 Millionen Jahren gemeinsam mit anderen dafür geopfert hatte, den »Pfropfen« zu stärken, den die Priester-Wissenschaftler seines Volkes über eine »Verletzung« gestülpt hatten, die sie dem mächtigsten Kraftfluss des Planeten zugefügt hatten. Und sie hatten dieses Siegel nur stärken können, indem sie sich selbst aufgaben. Ihre Mentalenergie hatte in das Siegel einfließen und verhindern sollen, dass die dahinter angestaute Energie es durchbrechen und die Mega-Katastrophe über die Alasharer bringen konnte.