Professor Zamorra 1109 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1109 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Wenn Zamorra und Nicole glaubten, dass der seltsame Spuk, aus dem Geisterhaus mitten in Paris verschwunden sei, dann haben sie sich gewaltig getäuscht. Der Spuk ist mitnichten beendet - und die geisterhaften Bewohner aus einem anderen Jahrhundert tauchen an einem Ort wieder auf, an dem keiner mit ihnen gerechnet hatte. Doch sind sie wirklich tot?

Zamorra weiß es nicht - wohl aber dass nichts im Multiversum wirklich sicher ist ...

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Seitenzahl: 134

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Inhalt

Cover

Impressum

Der sphärische Junge

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-4134-8

www.bastei-entertainment.de

Der sphärische Junge

von Adrian Doyle

Ich bin der Tod.

Niemand weiß besser als ich, was Angst ist, Verzweiflung, Schmerz oder Wahnsinn.

Doch nun habe ich etwas berührt, schlimmer als ich selbst.

Seither kriecht es durch den Nebel meiner Existenz und lehrt mich Dinge, die ich nie erfahren wollte.

Etwas Schreckliches, das sichLebennennt, hat mich befallen …

Als er erwachte, war alles wie ausgelöscht.

Identität. Erinnerung. Herkunft.

Er war nackt. Wenn er an sich herabblickte, konnte er durch seine Haut hindurchsehen, als wäre sie aus weichem, nachgiebigem Glas, das jedes Muskelspiel tolerierte, ohne einen Sprung zu bekommen oder ganz zu zerbrechen. Er konnte auf sein Herz schauen, das den ganzen Körper erfüllte und sich anstrengte, einem entfernten Echo Genüge zu tun, das sich anhörte wie leises … tick-tack … tick-tack …

Irgendetwas daran kam ihm vertraut vor. Aber er war außerstande, es zu benennen.

Langsam richtete er sich auf. Dabei machte er eine merkwürdige Entdeckung: Teile seines Körpers sanken in den Boden ein, auf dem er lag. Es bedurfte einiger Übung, bis er die richtige Balance aus Kraft und Behutsamkeit gefunden hatte, um mit dem auf so absonderliche Weise nachgiebigen Untergrund umzugehen.

Um ihn herum war nicht nur das Echo von Tönen, sondern auch ein visuelles. Er stand in einem Gebäude, das genauso gläsern und unwirklich wirkte wie er selbst.

Wo bin ich?

Stehend drehte er sich um die eigene Achse und sah sich um, wohl wissend, dass die eigentliche Frage lautete: WER BIN ICH?

Hinter den wie gläsernen Wänden, in deren Nachhall er sich wiederfand, schimmerte etwas zu ihm durch, von dem Faszination und Bedrohlichkeit zugleich ausgingen. Hier drinnen in seinem Elfenbeinturm war es still bis auf das rätselhafte Ticken, dem der Takt seines Herzens zu folgen versuchte. Jenseits davon aber gab es Geräusche und Stimmen, Bauten, in denen es summte und rumorte und atmete wie in einem Insektenstock.

Verstört wandte er sich dem Nachhall zu.

Zu dem Wo und wer bin ich? gesellte sich eine neue Frage: WARUM BIN ICH HIER?

Er war entschlossen, es herauszufinden. Vielleicht lag die Antwort auf all seine Fragen ganz nah, irgendwo hier in diesem … Gebäude. Er musste nur geduldig nach ihr suchen.

Und so begann er, sich in seine Rolle zu fügen.

Zu suchen …

… und Witterung aufzunehmen.

***

Kein Alkohol war auch nicht die Lösung, fand Manon Talbin. Sie litt wie ein kranker Hund und wünschte sich einen Schluck aus der Flasche, die sie hinter dem Meter Brockhaus im Bücherregal versteckt hatte. Seit sie den Zettel in Cléments Jeans gefunden hatte, war nichts mehr, wie es einmal war. Den Zettel mit dem hingekritzelten Frauennamen und der Adresse.

Der klassische Fall. Nur dass sie immer geglaubt hatte, ihr könne das nicht passieren. Niemals. Sie gab sich doch Mühe! Nicht nur damit, ihrem Mann zu gefallen, mit dem sie seit neun Jahren zusammen war – sieben davon mit einem Ring um den Finger –, nein, auch sich selbst gegenüber fühlte sie eine Verantwortung, sich nicht gehen zu lassen. In ihrem Bekanntenkreis gab es abschreckende Gegenentwürfe zuhauf. Und wenn über die Jahre Beziehungen in ihrem Umfeld in die Brüche gegangen waren, hatte sie sich nicht selten dabei ertappt, dass sie Verständnis für den betrügenden Part entwickelte, nicht zwangsläufig für den betrogenen. Der Betrüger war in aller Regel eine attraktiv gebliebene Erscheinung, während der Betrogene … nun ja. Mittlerweile wusste sie, dass sie es sich damit zu einfach gemacht hatte. Und am meisten wurmte sie, dass sie mit ihrem Mann gemeinsam über die Loser abgelästert hatte, die, wie sie es ausdrückte, der eigenen Bequemlichkeit zum Opfer gefallen waren.

Ihr Blick ging zur anderen Betthälfte, wo Clément, tief ins Kissen vergraben, vor sich hin schnarchte. Verdammt, wie konnte er nur! Das alte Sprichwort, wonach das gute Gewissen ein gutes Ruhekissen war, versagte bei ihm völlig! Denn wäre es danach gegangen, hätte er sich unentwegt hin und her wälzen müssen, geplagt von den Geistern, die er rief.

Im vagen Schein der Straßenlaterne, der durch die beiden Schlafzimmerfenster hereinfiel, saß Manon mit angezogenen Beinen am gepolsterten Kopfende des Ehebettes und schlang die Arme um die Knie. Fast ohne Unterlass ruhte ihr Blick auf dem Kerl, der ihr die ewige Treue geschworen und nun nichts Besseres zu tun hatte, als mit einer nicht einmal sonderlich attraktiven Kollegin in die Federn zu steigen. So fiel es ihr noch schwerer, die Affäre zu verstehen. Verziehen hätte sie sie ohnehin nicht, aber der Umstand, dass er den Ferrari, den er zu Hause in der Garage stehen hatte, insgeheim gegen einen Deux Chevaux eingetauscht hatte – sinnbildlich gesprochen –, brachte sie fast um.

Wie sie ihn hasste!

Während sie ihn im Schlaf beobachtete, überlegte sie sich Wege, ihn für seine Verfehlung büßen zu lassen. Nicht alle waren subtil. Die Vorstellung, hinüber in die Küche zu schleichen und mit der schärfsten Klinge zurückzukommen, die im Messerblock steckte, war sogar am verführerischsten. Primitiv, aber effektiv. Kissen, Laken und Matratze würden das aus der Halswunde sprudelnde Blut auffangen. Eine Sauerei auf den Tapeten oder dem flauschigen Teppichboden sollte sich vermeiden lassen – was wichtig für die Nach-Clément-Ära sein würde, die Manon auszukosten gedachte. Unabdingbar dafür war aber, dass sie planvoll vorging und die Spuren – samt Leiche – beseitigen würde.

In der Verfassung, in die sie sich seit der Entdeckung der Affäre hineingesteigert hatte (tagsüber mimte sie weiterhin gekonnt das treudoofe Weibchen), traute sie sich das Blutbad, das sie sich ausmalte, beinahe zu. Er würde schon sehen, was er davon hatte, die Furie in ihr geweckt zu haben. Er würde schon sehen!

Clément grunzte zwischen zwei Schnarchern. Dann setzte sein Atem komplett aus, was hin und wieder vorkam. Aber früher hatte sie, wenn sie es bemerkte, nicht gehofft, dass sich die ganze Sache auf diese Weise erledigen könnte. Jetzt schon. Umso enttäuschter war sie, als er wieder japsend die Luft einsog, sich schwerfällig herumwarf und in anderer Position weiterschnarchte, als wäre nichts geschehen.

Wenn ich doch nur den Mut aufbrächte, ihm wirklich die Kehle aufzuschlitzen.

In der Fantasie war es ganz leicht und reizte zu immer ausschweifenderen Blutorgien. Aber in der Realität würde sie dafür niemals den Mut und die Abgefeimtheit aufbringen, niemals!

Wütend über die eigene Schwäche glitt sie aus dem Bett und trat barfüßig an das rechte der beiden Fenster, schlüpfte unter der Gardine hindurch und starrte auf die nächtliche Straße hinaus, auf der um diese Uhrzeit – ihr Blick auf den Wecker hatte die Ziffernfolge 03:13 erhascht – niemand mehr unterwegs war. Für den Zeitungsboten war es zu früh, und die Kneipenszene tummelte sich anderenorts. Dies war eine beliebte Einkaufsstraße mit Privatwohnungen durchmischt.

Es kam Manon vor, als lebte sie schon Jahre hier. Dabei lag der Einzug gerade einmal etwas mehr als einen Monat zurück. Das Apartment im Erdgeschoss war überraschend frei geworden; eine ältere Dame hatte es zuvor bewohnt. Aber sie war im Zuge der Ereignisse, die zum Abriss des gegenüberliegenden Gebäudes geführt hatten, verstorben. Offenbar hatte sie die ganze Aufregung nicht verkraftet.

Manon wusste nur darüber, was die Maklerin ihr erzählt hatte: Demnach war das ehemalige Reihenhaus, auf dessen Fläche jetzt eine Baulücke klaffte, von Terroristen oder deren Sympathisanten zu konspirativen Zwecken benutzt worden. Ein nächtlicher Großeinsatz des Inlandsgeheimdienstes hatte dem Spuk ein Ende bereitet. Dabei war das Terrornest aber so stark beschädigt worden, dass es wenige Tage später von einem Abrisskommando komplett beseitigt werden musste. Wo das Haus an die Gebäude rechts und links angegrenzt hatte, war ein Betonfundament ausgegossen worden, und sicher würde es nicht lange dauern, bis an der Stelle neue Wohnungen entstanden. Wohnraum war rar in der Seine-Metropole und erst recht in so exklusiver Lage.

Manons Blick glitt über die nass schimmernde Straße – es hatte geregnet – hinüber zu der eingeebneten Fläche, die nur mit einem Bauzaun gesichert war, der verhindern sollte, dass sich Unbefugte in die Hinterhöfe der benachbarten Gebäude stahlen. Ob das Provisorium seinen Zweck im Ernstfall erfüllte, wagte Manon zu bezweifeln. Die Enden der einzelnen Elemente steckten einfach in Betonhaltern, aus denen man sie mit etwas Kraft herausziehen und sich Zugang verschaffen konnte. Warnschilder zur Straße hin stellten genau das unter Strafe, aber auch davon würden sich potenzielle Vandalen oder Einbrecher nicht abschrecken lassen. Manon hatte vom ersten Tag an ein ungutes Gefühl beim Anblick der Häuserlücke beschlichen, selbst bei Tag und dem üblichen Publikumsverkehr in der Shoppingmeile. Bei Nacht wuchs sich dieses Unbehagen zu einer handfesten Gänsehaut aus, die sogar die Mordpläne an ihrem Göttergatten für eine Weile in den Hintergrund rücken ließen.

Erst recht, als …

Sie wurde fast ohnmächtig vor Schreck, als sie die leuchtende Gestalt sah, die hinter dem Bauzaun erst auf dem Boden lag und sich dann wie benommen aufrichtete.

Ein … Kind?

Manon Talbin rieselte es eiskalt zwischen den Schulterblättern hinab. Ihr Herz klopfte bis in den Hals, die einzelnen Schläge waren kaum mehr voneinander zu unterschieden, so rasend trommelte es. Für einen Moment fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Aber sie fing sich und schaffte es, genauer hinzuschauen.

Der Bauzaun schien unverändert dicht zu sein, aber vielleicht war jemand über die Hinterhöfe und -gärten der anderen Häuser auf die Betonplatte gelangt – oder einfach über den Zaun geklettert.

Wusste der Junge – um einen solchen handelte es sich der Statur nach –, dass ihn jemand hinter einer Fensterscheibe beobachtete? Wollte er gezielt jemanden erschrecken, vielleicht sogar ganz speziell sie?

Das hätte vorausgesetzt, dass er wusste, dass es in letzter Zeit kaum eine Nacht gab, in der sie nicht irgendwann hier an ihrem Fenster auftauchte und in die verschlafene Straße starrte. Natürlich – so musste es sein. Ein Junge von gegenüber hatte sie beobachtet und sich entschlossen, ihr einen Schabernack zu spielen. Kinder taten solche Dinge, glaubte Manon, obwohl sie selbst keine hatte und sich inzwischen auch keine mehr wünschte – nicht mit diesem Fremdgänger dort im Bett jedenfalls.

Sie taxierte die Erscheinung genauer und wurde schwankend in ihrer Überzeugung, ein Kind vor sich zu haben. Wenn, dann einen Halbwüchsigen. Älter als vierzehn schätzte sie ihn der Größe nach nicht, aber auch nicht jünger als zwölf.

Aber wie machte er das? Trug er ein Trikot, in dessen Außenhaut Leuchtdioden eingearbeitet waren – über die gesamte Fläche? Woher sollte er ein solch aufwendiges Kostüm haben? Und dann um diese Zeit – was für Eltern hätten zugelassen oder auch nur ignoriert, dass ihr Sprössling weit nach Mitternacht noch sein Zimmer und das Haus verließ, um die neuen Nachbarn zu erschrecken!

Je länger Manon darüber nachdachte, desto tiefer verstrickte sie sich in den Widersprüchen und Ungereimtheiten ihrer Theorie. Schließlich senkte sich ein Gedanke wie ein Eiszapfen in ihr Gehirn:

Und wenn es ein echter Geist, ein wahrhaftiges Gespenst ist?

War im Zuge der zurückliegenden Ereignisse, bei denen zeitweise die halbe Straße gesperrt und evakuiert worden war, ein Junge ums Leben gekommen, dessen Seele nun keine Ruhe fand?

Früher hatte sich Manon mit solchen Dingen beschäftigt und alles, was auch aus der Esoterik-Ecke kam, in sich aufgesogen. Obwohl älter und reifer geworden, schloss sie nach wie vor nicht aus, dass es Dinge wie Wiedergeburt und Seelenwanderung tatsächlich gab. Und so konnte sie auch nicht gänzlich ausschließen, dass da drüben gerade …

Die leuchtende und in sich transparent wirkende Gestalt machte ein paar zaghafte Schritte, als müsste sie sich erst an ihren Zustand gewöhnen – als wäre sie von ihrem Erwachen genauso überrascht und verblüfft, wie die Frau, die zehn, fünfzehn Meter entfernt aus dem Fenster ihrer Wohnung jede dieser Bewegungen mit weit aufgerissenen Augen verfolgte.

Manon hatte das Gefühl, dass ihre Kehle dem Druck des Schreis, den sie mühsam zurückhielt, nicht mehr lange standhalten würde. Sie legte ihre Hände auf die Fensterbank und spannte ihre Finger so fest um die Kante, dass die Haut über den Knöcheln zu platzen drohte.

Hin und her gerissen zwischen der Hoffnung, es könnte sich am Ende doch nur um einen Dummejungenstreich handeln – und der Furcht, etwas Übernatürliches könnte sich direkt gegenüber ihrer Wohnung manifestiert haben, stand sie bebend da und musste mit ansehen, wie etwas so Groteskes geschah, dass ihr gesunder Menschenverstand endgültig davor kapitulierte.

Denn sie fand nur noch die eine Erklärung: Da draußen war ein Geist!

Wer sonst hätte das vollbringen können, womit der leuchtende Junge Manon Talbin endgültig schockierte? Nach ein paar unbeholfenen, wie tastenden Schritten gewann er zusehends an Sicherheit. Und dann … stieg er vor Manons Augen eine imaginäre Treppe aufwärts, brachte zehn, zwölf Stufen, die definitiv nicht existierten, hinter sich und machte eine 180-Grad-Drehung, um in entgegengesetzter Richtung der Illusion einer Treppenfortsetzung zu folgen. An deren Ende setzte er seinen Fuß in einen ebenso unsichtbaren, irrealen Korridor und folgte ihm ein paar Schritte, bevor er nach rechts in einen Raum einschwenkte, den es nicht gab.

Nichts von alledem gab es!

Manon warf sich herum und stolperte schreiend in den Raum, riss dabei den Vorhang aus der Schiene, schlug wild um sich – und wollte sich auch nicht beruhigen, als das Licht aufflammte, ihr Mann bei ihr auftauchte und seine Arme um sie schlang.

»Manon! Um Himmels willen, was ist los mit dir? So beruhige dich doch …!«

***

Früher hätte sie seine Bemühungen, sie zu trösten, genossen. Doch jetzt ekelte seine Umarmung sie beinahe, und sie tat alles, um sich daraus zu befreien.

Endlich ließ er los. Er wirkte völlig entgeistert, und sie konnte in seinen Augen lesen, was er angesichts ihres Verhaltens dachte: Jetzt ist sie übergeschnappt!

Obwohl sie versucht hatte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie von seiner Affäre wusste, war ihm vielleicht doch aufgefallen, dass sie sich von ihm distanziert hatte. Allzu große Sensibilität traute sie ihm nicht zu, aber möglicherweise hatte ihm der Umstand zu denken gegeben, dass nur noch selten Essen auf dem Tisch stand, wenn er von »Überstunden« (von ihr!) nach Hause kam. Und dass sie ihm im Bett die kalte Schulter zeigte.

Seine regelmäßigen Annäherungsversuche zeigten, dass es ihm nichts ausgemacht hätte, weiter auf zwei Hochzeiten zu tanzen.

Dieser kleine Bastard.

Sie schilderte ihm, was sie gesehen hatte.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und spulte die erwarteten Argumente ab. »Das hast du dir eingebildet, chérie. Irgendeine Reflexion der Straßenlampen oder der Schaufensterbeleuchtungen. Was hattest du überhaupt am Fenster zu suchen? Konntest du nicht schlafen?«

Was hast du bei diesem Flittchen zu suchen, chéri? Was kann sie, was du nicht auch bei mir bekommen könntest?

Sie dachte es nur. Laut erwiderte sie: »Merde! Sieh es dir an, dann stellst du keine blöden Fragen mehr!« Sie packte ihn mit ungeahnter Kraft am Arm und zerrte ihn zu dem Fenster, dessen Gardine fehlte.

Aber als sie nach gegenüber schaute, war von dem leuchtenden Jungen nichts mehr zu sehen. Nicht mehr das Geringste. Erst recht nicht irgendwo in der Luft, weit über der Betonplatte, wo sie ihn zuletzt erspäht hatte.

»Ich seh nichts. Da ist nichts!«

Nein, da war nichts. Nicht mehr.

Sie hielt seinen Arm immer noch umklammert und zerrte ihn vom Fenster weg.

»Wo willst du mit mir hin?«

»Rüber.«

»Rüber?«

Mit einer Hand öffnete sie den Schiebeschrank und pflückte den Morgenmantel ihres Mannes vom Bügel, warf ihn ihm zu.

Clément fing ihn auf.

»Zieh an!«

Noch während sie ihn aufforderte, nahm sie ihren Morgenmantel heraus und schlüpfte hinein.

Widerwillig folgte er ihrem Beispiel. »Du bist verrückt. Du hast schlecht geträumt, und als du am Fenster standst, spielte dir deine Einbildung einen Streich. Wie kannst du erwarten, dass ich da rausgehe und …«

»Wir gehen gemeinsam. Mach schon. Ich beweise dir, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Irgendwo steckt das Gespenst – oder es hat Spuren hinterlassen. Herrgott, du Ignorant! Ich habe es gesehen. Es war, als wäre das Haus in der Lücke noch da – und als bewegte sich der Junge von Etage zu Etage, von Raum zu Raum …«

»Der Junge! Du musst wahrhaftig den Verstand verloren haben, wenn du glaubst, den Geist eines Jungen beobachtet zu haben. Himmel, Manon! Du benimmst dich in letzter Zeit so eigenartig! Wir sollten mit dir zu einem Arzt gehen. Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Wir …«