Professor Zamorra 1279 - Stefan Hensch - E-Book

Professor Zamorra 1279 E-Book

Stefan Hensch

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Beschreibung

Urplötzlich brach eine Dampflok samt angehängter Waggons durch das Portal in die Wirklichkeit herein. Bremsen quietschten, und das geisterhafte Abbild einer Dampflokomotive wurde langsamer, bis es schließlich stehen blieb. Zischend stieß die Lokomotive den Dampf aus. Zamorra konnte nicht anders als den Zug anzustarren.
Geisterzüge waren ein Phänomen, das ihn schon lange reizte. Immer wieder war davon in Geschichten, Legenden und urbanen Mythen die Rede gewesen. Nun stand ein solches Ungetüm direkt vor seiner Nase.


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Inhalt

Cover

Zug des Grauens

Leserseite

Vorschau

Impressum

Zug des Grauens

von Stefan Hensch

Über dem Acker erschien eine lila-schwarz leuchtende Ellipse.

»Das muss das Portal sein, das der Geisterzug nutzt«, erklärte Zamorra fasziniert.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, war das charakteristische Stampfen und Schnaufen eines sich schnell nähernden Zuges zu hören. Urplötzlich brach eine Dampflok samt angehängter Waggons durch das Portal in die Wirklichkeit herein. Bremsen quietschten, und das geisterhafte Abbild einer Dampflokomotive wurde langsamer, bis es schließlich stehen blieb. Zischend stieß die Lokomotive den Dampf aus. Zamorra konnte nicht anders, als den Zug anzustarren ...

19. Juni 1815, Waterloo im Königreich der Vereinigten Niederlande

Über der Scheune lag ein beständiger Klangteppich aus Stöhnen, Wehklagen und Schreien. Vor ein paar Stunden hatten sie einem Kameraden das Bein oberhalb des Kniegelenkes amputiert. Der Verletzte lag seitdem auf dem Rücken und starrte zur Decke, wo Staubpartikel im Sonnenlicht tanzten, das durch das beschädigte Dach hereinfiel. Donvel wusste, dass die meisten hier zum Tode verurteilt waren. Medikamente waren ebenso Mangelware wie Feldärzte und Sanitäter.

Er selbst würde auch sterben, dessen war sich Donvel sicher. Ein großer Teil seiner Haut war verbrannt, und das französische Blei hätte längst aus seinem Bauch geholt werden müssen. Er spürte die Schwäche eines heranschleichenden Fiebers. Leider war er zu schwach, um seinen Körper selbst zu heilen. Es war zu spät.

Wie lange er sich in der zum behelfsmäßigen Lazarett umgewandelten Scheune befand, konnte er kaum sagen. Als er zu schwach war, hatte er sich in den Schlaf geflüchtet, nur weg von den gleißenden Schmerzen. Immer wieder war er aufgewacht und hatte bemerkt, dass zahlreiche Verwundete verschwunden und durch neue ersetzt worden waren. Frischfleisch im Schlachthaus des Teufels.Donvel musste grinsen, der Gedanke war allzu menschlich. Die Realität hingegen war wesentlich komplexer.

Zwei Soldaten brachten einen Offizier auf einer Trage herein, der die Uniform der Kings German Legion trug. Das rechte Bein des Deutschen steckte in einem Verband, der bereits durchgeblutet war. Das hielt den Verwundeten jedoch nicht davon ab, einen kräftigen Schluck aus einer Weinflasche zu trinken und in die Grabesstimmung der Runde zu prosten.

»Das Schwein ist geflohen«, rief er frohen Mutes.

»Wer ist geflohen?«, knurrte ein Gardeinfanterist mit einer Schussverletzung an der Schulter.

Der Hannoveraner lachte schäbig. »Napoleon Bonaparte, natürlich. Blücher wurden Hut und Degen des Kaisers gebracht, er braucht wohl beides nicht mehr.«

»Ist das wirklich wahr?«, mischte sich Donvel ein.

»So wahr ich hier liege, die Schlacht ist vorbei. Wir haben gewonnen!«Wer dazu noch in der Lage war, jubelte in der Scheune. Donvel wusste, dass die meisten der Verwundeten dennoch nichts mehr davon hatten, sie würden an ihren Verletzungen sterben.

»Guten Morgen, Gentlemen«, riet ein gut gelaunter Feldarzt in Begleitung von zwei Sanitätern. »Dann wollen wir mal zusammenflicken, was noch in der Lage dazu ist.«

Einer der Sanitäter wandte sich in Donvels Richtung. Es war ein junger Bursche, der noch nicht lange in der Armee sein konnte. Donvel lächelte, und das war vielleicht seine Rettung, wenn es auch das Todesurteil für den jungen Sanitäter war. Alles hatte seinen Preis.

Oxford, 1866

Donvel beobachtete, wie der Sarg langsam ins Grab gelassen wurde. Sein Innerstes war erstarrt. Er spürte nichts mehr. Nicht mehr. Die Zeit, in der er seinen Freund Richard in den letzten Wochen seines Siechtums begleitet hatte, machte den Unterschied aus. Der Krebs hatte seinen besten Freund von innen heraus aufgefressen.

Regentropfen senkten sich wie Tau auf den Friedhof und die Trauergäste. Donvel war es egal, hier und jetzt gab es Wichtigeres. Obwohl er wusste, dass es unmöglich war, wollte er sich jeden einzelnen Moment der Beerdigung einprägen. In dreißig Jahren würde er sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern können. Vermutlich war Richard Button dann bereits zu einem Phantom geworden, das vom Strudel der Zeit erfasst worden und in der Schwärze der Unendlichkeit verloren war. Er fand das grausam.

Noch schrecklicher kam ihm jedoch die Rolle vor, die das Schicksal ihm selbst zugedacht hatte. Donvel war ein stiller Chronist der Zeit, die unaufhörlich voranschritt. Die Menschen ahnten nicht einmal, was alles durch den Lauf der Zeit verloren ging. Nach der Dauer von nur einer einzigen Generation war so viel Wissen verschwunden, dass damit ganze Bibliotheken hätten gefüllt werden können. Es gab nur niemanden, der diese Informationen jemals festgehalten hätte. Aber vielleicht war das Vergessen nötig, damit die menschliche Zivilisation nicht den Verstand verlor und über sich selbst herfiel.

Während der weiße Sarg im Grab verschwand, musste er an die Schlacht von Waterloo denken. Richard hatte daran ebenso teilgenommen wie er selbst. Bereits heute stritten Historiker, wer die Schlacht eigentlich gewonnen hatte. War es Wellingtons Leistung, das Eingreifen Blüchers oder nur die Witterung? Donvel wusste es besser, denn er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Die englischen Truppen wären ohne die Deutschen hoffnungslos aufgerieben worden. Das dieses nicht vor der Ankunft Blüchers passiert war, hatten die Engländer ausschließlich dem Wetter zu verdanken. Das französische Heer war denen der Alliierten zahlenmäßig weit überlegen gewesen.

Donvel spürte, dass jemand neben ihn getreten war. »Mein aufrichtiges Beileid, Doktor Carlyle«, hörte er eine vertraute Stimme. »Werden Sie die Praxis alleine weiterführen?« Sonja Halford stand neben ihm und sah ihn eindringlich an. Die alte Frau war die Eigentümerin des Gebäudes, in dem sich seine Praxis befand. Er war ziemlich sicher, dass sich ihre Sorge lediglich auf zukünftige Mieteinnahmen begrenzte.

»Ich weiß es noch nicht, Mrs Halford«, antwortete er ruhig. »Vielleicht werde ich mir Verstärkung aus London holen.«

Die Vermieterin wirkte sichtlich erleichtert, dass sie sich nicht mit der Suche nach neuen Mietern für ihre Immobilie beschäftigen musste. Nicht im Mindesten ahnte sie, dass sie gerade mit einer Lüge abgespeist worden war. Donvel hatte keinen Sinn für die trivialen Sorgen seiner Vermieterin, zumal sie von keinerlei Geldproblemen geplagt wurde und die Habsucht alleine der Motor ihrer Motivation war.

Ohne ein weiteres Wort mit Misses Halford zu wechseln, trat er an das Grab seines Freundes und schüttete eine Schaufel Erde auf den Sargdeckel. Er hatte hier nichts mehr verloren, und so verließ er schnellen Schrittes die Trauergemeinde, das Grab und letztlich den Friedhof. Dabei nahm er sehr wohl die empörten Blicke wahr, die sein verfrühter Aufbruch auslöste. Von einem betagten Landarzt erwarteten die Friedhofsbesucher offensichtlich eine größere Zurschaustellung seiner Trauer, wenn dessen Kompagnon verstorben war. Donvel waren die einfältigen Menschen egal, er wollte nur noch fort.

»Darf ich Ihnen mit dem Gepäck helfen, Sir?«, fragte ein junger Mann im Tweed-Anzug und Schiebermütze. Donvel lächelte und nahm das Angebot dankbar an. Er ließ den Jüngeren seinen großen Koffer in den Zug wuchten. Das geschah mit einer so imponierenden Leichtigkeit, dass dem älteren Mann eine Idee kam.

Das Ungetüm aus Stahl setzte sich zuerst in Richtung Süden nach Reading in Bewegung, um dann mit Volldampf auf Paddington Station zuzuhalten. Einige Minuten bevor die Eisenbahn ihren Zielbahnhof erreichte, ging Donvel schnellen Schrittes durch das Abteil und hielt auf den Schaffner zu.

»Sir, dort hinten hatte ein älterer Mann einen Schwächeanfall, er benötigt am nächsten Bahnhof einen Arzt.«

Der Schaffner nickte, bedankte sich knapp und hastete in die ihm ausgewiesene Richtung. Kurz darauf hielt der Zug in Paddington. »Darf ich Ihnen mit dem Koffer helfen?«, fragte er eine alte Frau.

»Lassen Sie nur, er ist so gut wie leer«, erwiderte die alte Dame strahlend. Donvel lächelte zurück und stieg aus dem Zug.

»Was für ein freundlicher junger Mann«, sagte die alte Frau zu ihrer Sitznachbarin.

»Und Geschmack hat er auch, der Tweed-Anzug passt ihm wie angegossen.«

London, einige Monate später

Die Vorstellung im Hagmarket Theatre war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Donvel saß in der Menge und verfolgte, wie King Lear den Liebesbeweis von seinen Töchtern forderte. In den letzten Jahrzehnten hatte Donvel das Theaterstück mehrere Male gesehen und wiederholt gelesen. Er liebte das Stück und hielt es für Shakespears bestes Drama. Der erste Akt ging zu Ende, der Vorhang senkte sich, und das Publikum applaudierte. Er stimmte in das Klatschen ein, die Schauspieler hatten sich ihre Anerkennung verdient. Gerade die Cordelia leistete herausragende Arbeit.

Donvel erhob sich, als er die junge Frau im Publikum sah. Sie hatte braunes, lockiges Haar, das ihr offen bis auf die Schultern fiel. Das lange, jadefarbene Kleid mit dem herzförmigen Ausschnitt hatte ein enges Korsett, das ihre ohnehin schmale Taille noch mehr betonte.

Um den Hals trug sie eine Kette, an deren Ende ein dunkelroter, tropfenförmiger Edelstein befestigt war. Er sah sie im Profil und wurde von ihrer porzellanfarbenen Haut, den vollen Lippen und den ausdrucksvollen grünen Augen in den Bann gezogen. Ihre Schönheit war jedoch nicht der einzige Grund für seine Faszination. Sie war anders. Anders als jeder in diesem Theater und vermutlich in ganz London, abgesehen von ihm selbst. Es gab keinen Zweifel, die junge Frau war von seiner Art. Wie war das möglich? Bisher hatte er sich allein geglaubt.

In diesem Moment sah ihm die junge Frau direkt in die Augen, und er meinte die gleiche Verblüffung darin erkennen zu können. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich einem deutlich älteren Mann und dessen Frau anschloss.

Als wenn es ihre Eltern wären, dachte Donvel. Was sollte die Scharade? Anders als die angebliche Tochter handelte es sich bei den beiden Älteren definitiv um Menschen. Irritiert und fasziniert schloss er sich den drei Personen in etwas Abstand an und folgte ihnen in die Theaterlobby.

Die angeblichen Eltern wandten sich den Getränken zu, während die Tochter abseits auf sie wartete. Donvels Herz pochte, als er zögernd auf sie zutrat. Lange Sekunden sahen sie sich wortlos an, und schließlich war sie es, die das Schweigen brach. »Ich bin Anna und habe ein Jahrhundert nach jemandem wie Ihnen gesucht.«

Donvels Wohnung befand sich unter dem Dach eines Hauses in der Maple Street. Er fühlte sich wohl, obwohl sie nicht groß war. Der Hauswirt ließ ihn gewähren, solange nur der Mietzins regelmäßig gezahlt wurde. Die Zahlungen waren auf lange Zeit sichergestellt, er war nicht mittellos nach London gekommen. Seine bescheidene Unterkunft tat ihr Übriges dazu bei, seine Rücklagen zu schonen.

Lange bevor ihm das Geld ausgehen würde, würde er sich eine neue Bleibe suchen, denn er wollte keine unbequemen Fragen beantworten. Die Menschen mochten niemanden, der keinerlei Spuren des Alterns zeigte, während bei ihnen selbst die Falten täglich tiefer wurden. Er starrte zur Decke hoch, an der winzige Staubpartikel flirrten und das Licht der Mittagssonne reflektierten.

Das Bett war warm, und Anna lag unbekleidet neben ihm. Es war schneller und leichter gegangen, als Donvel es erwartet hatte. Kurz nach ihrem ersten Treffen im Theater waren sie ein Paar geworden.

Ihr Haar lag offen glänzend über das Kopfkissen und glich einem Fächer. Gedankenverloren beobachtete er das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brust. Anna war schön, was für ein Exemplar seiner Spezies ein noch unbedeutenderes Kompliment war als für einen Menschen. Wichtig für ihn war, dass sie wie er war. Sie würde ihm nicht eines Tages durch ihre Vergänglichkeit entrissen werden.

Er schluckte, während er dem Gedanken nachhing. Natürlich gab es die theoretische Möglichkeit, dass sie so schwer verletzt wurde, dass sie ihren Körper aufgeben und in einen neuen wechseln musste. So wie er damals in der Schlacht von Waterloo in die missliche Lage gekommen war, und nur Todkranke um ihn herum gewesen waren. Ein Körpertausch wäre sinnlos gewesen.

Donvel spürte, dass Anna nicht mehr schlief. Augenscheinlich hatte sich nichts verändert, doch er spürte die Präsenz seiner Gefährtin wesentlich deutlicher als zuvor.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

»Kurz nach halb zwei.«

Sie sah ihn an, und er nahm einmal mehr die Weisheit zahlloser Jahre in ihrem Blick wahr. »Es ist bald Zeit aufzubrechen, sonst verpasse ich den Zug.«Donvel setzte sich auf und drehte ihr den Rücken zu. »Wie lange willst du die Scharade noch aufrechterhalten?«

Anna blieb liegen und lachte. »Wie lange hat du es dir zugestanden?«Er seufzte, denn sie hatte recht. Er war deutlich älter, und erst mit diesem Körper aus dem Versteckspiel ausgestiegen. Letztlich hatte er damit aufgehört, weil er es nicht konnte. Auch wenn er kein Mensch war, hatte er sich mit einigen von ihnen aufrichtig angefreundet und sie nicht nur als Rohstoffe betrachtet, die sein Überleben sicherten.

»Melissa und Francis sind mir gute Eltern gewesen. Wenn ich meiner Pflicht als Tochter entsprochen habe, besteht kein Grund mehr, irgendwelchen Konventionen zu entsprechen.«

Donvel schloss die Augen. Im schlimmsten Fall bedeutete es, dass ihm noch Jahre des unwürdigen Daseins als heimlicher Geliebter bevorstanden. Die Donaldsons gehörten der Oberschicht an, er selbst war ein Niemand. Als junger Landarzt hätte das vielleicht anders ausgesehen. »Was würden Mommy und Daddy wohl sagen, wenn sie von dem dunklen Geheimnis zwischen euch erfahren würden?« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da taten sie ihm bereits leid. Er war zu weit gegangen.

Anna setzte sich ebenfalls auf die Bettkante und bändigte ihre Haare mit einem Haarband. »Wenn du ihnen nicht erzählst, dass eine sterbenskranke Greisin den Körper ihrer frischgeborenen Tochter in Besitz genommen hat, wie sollten sie jemals auf die Idee kommen?«, erklärte sie beherrscht und sah ihn von der Seite an.

»Es tut mir leid«, sagt er.

»Schon gut, das ist unsere Natur. Wir leben, weil andere für uns sterben«, erklärte sie und hielt kurz inne. »Tu das nie wieder«, sagte sie und suchte ihre Kleider zusammen. Schweigend legte sie ihre Kleider an und stellte sich vor den Spiegel, um Puder aufzulegen.

»Warum willst du nach Chelmsford?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ein Mitglied des Parlaments will sich dort ein Anwesen errichten lassen. Er will sich meinen Rat als Architektin anhören. Wenn alles gut geht, habe ich einen neuen Auftrag.«

Sie waren früher als nötig am Bahnsteig. Wie immer, wenn Anna verreiste. Keiner der beiden hatte ein Bedürfnis für oberflächliche Konversationen, deshalb schwiegen sie gemeinsam. Donvel wusste, dass diese Fähigkeit beileibe nicht von jedem Paar beherrscht wurde. Für ihn war es so wichtig, wie ewig miteinander sprechen zu können oder sich im Bett zu verstehen.

Pünktlich wie immer erschien die schwarze Dampflok in der Ferne und kündigte damit den nahenden Abschied an. Es sollte keine langfristige Trennung sein, trotzdem machte sie ihm mehr zu schaffen, als er es sich selbst eingestehen wollte.

Anna drehte sich ihm zu, zog ihn an sich und küsste ihn. »Wir sehen uns in einer Woche wieder, kein Grund für schlechte Laune.«

Donvel erwiderte ihren Blick und wusste, dass sie wie in einem offenen Buch in ihm lesen konnte. Vielleicht war das gut, vielleicht auch nicht. »Hol dir den Auftrag und komm schnellstmöglich zurück.«, sagte er. Kurz darauf wurde das Schnaufen des Dampfzuges so laut, dass alles andere davon verschluckt wurde. Er erwiderte ihren Kuss, dann kam der Zug mit kreischenden Bremsen am Bahnsteig zum Stehen.

Sie lächelte, winkte ihm mit der behandschuhten Rechten und stieg geschickt in den Passagierwagen. Er folgte ihr von außen und entging dabei nur um Haaresbreite Zusammenstöße mit anderen Personen. Als Anna endlich einen Sitzplatz gefunden hatte, gellte auch schon der Pfiff des Schaffners. Die Türen wurden geschlossen, und die Lok setzte sich schwer seufzend mit den Waggons in Bewegung.

Zuerst versuchte er mit dem Zug schrittzuhalten, um seine Geliebte noch einen Augenblick länger sehen zu können. Dieses Unterfangen war natürlich zum Scheitern verurteilt. Der Zug entschwand schnaufend in der Ferne. Er blieb so lange am Bahnsteig, bis auch die Rauchsäule der Lok längst verschwunden war. Anna war weg. Gegen seinen Willen fühlte er sich einsam. Ja, sie bedeute ihm viel. Möglicherweise zu viel.

Er presste die Zähne zusammen und drückte die Wirbelsäule durch. Die Reisen gehörten zu ihrem Job, der Teil ihrer falschen Identität war. Er durfte sich nicht jedes Mal so herunterziehen lassen, wenn Anna unterwegs war. Eine Partnerin wie sie war ein Privileg, deshalb sollte er sich jedoch nicht von ihrer Anwesenheit abhängig machen. Es hatte Jahrhunderte vor Anna gegeben, was machten da schon ein paar Tage aus?

Erhobenen Hauptes verließ er den Bahnsteig, er hatte einen Teil seines alten Schwungs wiedererlangt. Wenn da nur nicht solch ein merkwürdiges Gefühl in ihm wäre. Donvel schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken loszuwerden. So langsam wurde er zu einem alten Waschweib, das vor lauter ängstlichem Aberglaube überall unheilschwangere Zeichen sah.