Professor Zamorra 1326 - Stefan Hensch - E-Book

Professor Zamorra 1326 E-Book

Stefan Hensch

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Beschreibung

Zamorra brauchte eine Weile, dann hörte er ein leises Plätschern. Als er dem Geräusch folgte, erblickte er den See aus konzentrierter Dunkelheit. Die Flüssigkeit darin glich einem Ölgemisch und war permanent in Bewegung. "Wenn die Menschen von der Flüssigkeit befallen sind, verwandeln sie sich in willenlose Werkzeuge, die abgeschaltet werden können, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben", erklärte Zamorra. "Genau so habe ich mir immer Black Goo vorgestellt", sagte Nicole schaudernd.


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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Black Goo – Schwärze des Grauens

Leserseite

Vorschau

Impressum

Black Goo – Schwärze des Grauens

von Stefan Hensch

Die Oberfläche des Sees geriet in Bewegung. In der Mitte des Ge‍wässers brodelte es. Zamorras Hand krampfte sich um den Re‍volver.

»Sieht so aus, als bekämen wir Besuch«, sagte Nicole.

Die Flüssigkeit in dem See glich einem Ölgemisch und war permanent in Bewegung

»Wenn die Menschen von der Flüssigkeit befallen sind, verwandeln sie sich in willenlose Werkzeuge, die abgeschaltet werden können, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben«, erklärte Zamorra.

»Genau so habe ich mir immer Black Goo vorgestellt«, flüsterte Ni‍co‍le schaudernd.

Professor Zamorra las das Fax jetzt zum dritten Mal, das ihm Nicole auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Ein Verlag will, dass ich ein Buch für ihn schreibe?«, sagte er und betrachtete Nicole verwirrt.

»Nicht irgendein Verlag, Chef. Fayard ist ein Großverlag, der für seine Sachbücher bekannt ist. Bisher haben wir ausschließlich für ein Fachpublikum geschrieben, vor allem Aufsätze in renommierten parapsychologischen Zeitschriften und Büchern, die von anerkannten Experten nicht nur akzeptiert, sondern sogar als Standardwerk bezeichnet werden.«

Nicole hatte sich in Fahrt geredet und sah jetzt an Zamorra vorbei durchs Fenster. »Eine Buchveröffentlichung bei Fayard könnte das Ticket zu einer größeren Leserschaft sein, weil damit auch der Massenmarkt angesprochen wird«

Zamorra betrachtete Nicole, und ihre Stundenglasfigur hätte ihn beinahe vom Thema abgelenkt. Vielleicht war das, was seine Lebensgefährtin und Assistentin zuletzt gesagt hatte, genau der Grund, weshalb ihm die Sache nicht so recht gefiel. »Glaubst du wirklich, dass die Menschen mit dem umgehen können, womit wir es täglich zu tun haben?«

Nicoles große Augen richteten sich auf ihn, und er sah die goldenen Punkte darin aufleuchten. »Der Großteil unseres Wissens ist ganz sicher nicht massentauglich. Trotzdem gehört es vielleicht zu unserer Aufgabe, Wahrheiten in homöopathischen Dosen unters Volk zu bringen.«

Diese und ähnliche Diskussionen hatten sie in der Vergangenheit schon unzählige Male geführt. Natürlich wusste er, dass Nicole recht hatte. Das Böse profitierte von nicht aufgeklärten Menschen, die ihm in Scharen mühelos ins Netz gingen. Das zu ändern, gehörte definitiv zu ihren Pflichten.

Bedauerlicherweise schliefen viele Zeitgenossen sehr tief und wollten sich gar nicht wecken lassen, während sich andere willentlich mit Schwarzblütlern einließen, um zu Macht und Geld zu kommen. Ob ein Buch etwas daran ändern konnte, fand Zamorra fraglich. Gerade in Zeiten, in denen immer weniger gelesen wurde.

»Ganz grundsätzlich hat sich der Verlag ein spannendes Thema überlegt, findest du nicht?«

Das Thema hatte er längst vergessen und überflog den Text, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Tropes aus dem Bereich Horror, die es in die Popkultur geschafft haben«, assistierte die aparte Französin.

Jetzt erinnerte er sich, weshalb er die Idee so schnell wieder vergessen hatte. »Was sind Tropes?«

Seine Assistentin lächelte hintergründig und genoss es sichtlich, dass sie mal wieder einen Wissensvorsprung hatte. »Unter einem Trope versteht man ein Thema oder ein Motiv, das klar erkennbar ist und immer wieder auftritt.«

»Okay«, sagte er und dachte darüber nach. »Wie Vampire?«

»Bingo, Herr Professor. Bram Stoker hat dieses Thema kreativ aufgearbeitet und in die Schauerliteratur eingeführt. Von dort hat es seinen Weg bis in die heutige Popkultur gefunden. Andere Beispiele wären das Doppelgänger-Motiv, Werwölfe, kosmischer Horror oder auch sowas wie Black Goo.«

Zamorra legte die Stirn in Falten. »Black, was?«

Nicole schmunzelte. »Black Goo. Das ist eine flüssige schwarze Substanz, die über einen eigenen Willen verfügt und Menschen infizieren kann. Erinnerst du dich gar nicht mehr? Wir haben doch damals bei Akte X reingeschaut, da spielte das Zeug auch eine Rolle.«

Zamorra dachte angestrengt nach. Wenn das nur nicht so lange her gewesen wäre.

»Du meinst diese Show, die von dem früheren Star Trek-Schauspieler moderiert wurde und in der es um übersinnliche und rätselhafte Geschichten ging?«

»Nein, das ist X-Factor.«

Es entstand eine gespannte Pause. Zamora schüttelte entschieden den Kopf. »Jetzt bist du einem Irrtum aufgesessen. X-Factor ist eine Casting-Show. Erinnerst du dich noch an unsren Aufenthalt in England? Die Erkennungsmelodie dröhnte aus jedem Pub.«

Nicole wollte Klarheit schaffen und zog ihr TI-Gamma hinzu. Nasch kurzem Scrollen lachte sie auf. »Da haben wir es! Die Casting-Show heißt The X Factor, die Show mit den mysteriösen Geschichten nennt sich einfach nur X-Factor und wurde von Jonathan Frakes moderiert.«

»Das ist doch Haarspalterei. Wer denkt sich so was aus?«

»Aber darum geht es doch überhaupt nicht. Die Serie heißt Akte X, und es geht um zwei FBI-Agenten, die unter anderem einer Verschwörung in der US-Regierung auf die Spur gekommen sind.«

Das Gesicht des Parapsychologen hellte sich auf, und er zielte mit dem Zeigefinger auf Nicole. »Scully und Mulder?«

»Jetzt reden wir von derselben Sache. Dort wurde Black Goo als außerirdisches Virus dargestellt. Der Hollywoodfilm Prometheus greift die Thematik wieder auf und zeigt die ölige Substanz als Mutagen. In der englischen Kult-SF-Serie Doktor WHO spielt das Zeug ebenfalls eine Rolle. Außerdem gibt es zahlreiche Romane, die Black Goo als zentrales Trope verwenden.«

»Also gut, jetzt weiß ich mehr. Danke für den Exkurs.«

Der Professor widmete sich einmal mehr dem Anschreiben des Fayard-Verlags.

»Die wollen, dass wir eine Art Kulturgeschichte des Paranormalen niederschreiben und wie sich das im Mainstream niedergeschlagen hat, angereichert mit unserer Expertise«, erklärte Nicole.

Zamorras Blick heftete sich auf Nicoles Gesicht, und nun war er es, der sie anlächelte.

»Okay, was kommt jetzt?«, fragte sie etwas unsicherer als zuvor.

»Dir gefällt die Idee ziemlich gut, nicht wahr?«

»Ja«, gab sie unumwunden zu. »Aber es liegt natürlich letztlich bei dir, da du ja den Großteil der Schreibarbeit leisten musst.«

Das stimmte nur zum Teil, denn über die Jahre war Nicole für ihn auch fachlich weit mehr als eine Assistentin geworden. Natürlich las und bearbeitete sie sämtliche seiner Texte, ehe sie in die Post kamen. Außerdem kannte sie die aktuellen Veröffentlichungen anderer Parapsychologen und war mit dem Forschungsstand bestens vertraut. Mehr als einmal hatte sie auch nennenswerten Anteil an besagter Schreibarbeit gehabt. Wenn sie so großes Interesse an dem Angebot von Fayard hatte, wollte er kein Spielverderber sein.

»Mir gefällt die Verlagsidee durchaus. Was hältst du davon, wenn wir eine Nacht darüber schlafen und uns morgen noch mal zusammensetzen?«

Nicole stimmte zu.

Sie sprachen noch ein paar Termine für diese Woche durch. Dabei spielte ein Termin eine ganz besondere Rolle. Am Mittwoch hatte sich Lister angekündigt, nachdem er nach ihrem Aufeinandertreffen in Algerien unter Vorwänden wieder verschwunden war.

»Denkst du, er hält sein Wort und erscheint diese Woche?«, wollte sie wissen.

»Ich denke schon. Wenn Lister sein Wort gibt, kann man sich darauf verlassen. Ob er jedoch unserer Einladung nachkommt und ins Château einzieht, darüber wage ich keine Einschätzung abzugeben.«

Die Sonne tauchte den Park in goldenes Licht. Die Rasenflächen wurden von eifrigen Gärtnern auf exakt acht Millimetern gehalten, womit sie etwas mit den Tennisplätzen in Wimbledon gemeinsam hatten. Unkraut gab es praktisch nicht. Die Wege durch den Park bestanden aus Natursteinen, die beinahe fugenlos verlegt worden waren, und nirgends war ein Hauch Grünspan zu sehen.

Der Mann hatte am Eingang des Parks einige Sekunden verbracht, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Er war neu in der Gegend, aber Menschen waren überall gleich. So wie es aussah, war die Situation ungefährlich. Kinder liefen lachend hintereinander her, Jugendliche übten Hangeln und Klimmzüge an aufgestellten Stangen, und Senioren mit Rollatoren brachten ihre täglichen Spaziergänge hinter sich. Vögel und Grillen steuerten die passende Hintergrundberieselung bei.

Mit den Händen in den Taschen schlenderte der Mann einen Weg entlang, der in einer lang gezogenen Kurve zu einem Teich führte. Dies war der Ort, an dem das Treffen stattfinden sollte. Hinter ihm brach infernalischer Lärm los, der aus einem Knirschen und Poltern bestand. Alarmiert drehte er sich um und machte reflexartig einen Schritt zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, als ein Junge von vielleicht acht Jahren mit seinem Dreirad schnell näher kam.

Verwundert sah der Fremde, dass das Vorderrad des Gefährts wesentlich größer war als die Hinterräder, die dafür viel breiter waren.

»Dankeschön«, rief der Junge und fuhr im Affenzahn an ihm vorbei. Etwa hundert Meter weiter steuerte das Kind heftig nach links. Das Heck des Dreirads brach aus, und schließlich rotierte das ganze Gefährt um sich selbst.

Das ist also der Sinn dieses merkwürdigen Dings, dachte er.

In der Gegend, wo er herkam, gab es so etwas nicht. Johlend trat der Junge wieder in die Pedale und steuerte das Dreirad einen abschüssigen Weg hinunter.

Der Mann wusste, dass um den See keine Falle für ihn ausgelegt war. Hinter den sorgsam gestutzten Büschen gab es keine Männer mit Gewehren, das Wasser des Teichs war viel zu seicht, um sich darin zu verstecken, und die momentan dort anwesenden Personen genossen offenkundig lediglich das gute Wetter und hatten Augen für nichts um sich herum.

Er gestattete sich den Luxus und trat an die Mauer, die den Teich einfasste. Natürlich bot er ein gutes Ziel für einen Distanzschuss, aber dafür war dies eigentlich die falsche Location und er selbst viel zu unwichtig. Seine Feinde würden andere Mittel einsetzen, um ihn loszuwerden.

Also sah er sich in Ruhe das geschäftige Treiben auf dem Wasser an. Zahlreiche Enten schwammen umher und spekulierten auf Spaziergänger, die sie trotz der Verbotsschilder füttern würden. Außerdem sah er Wasserläufer, die elegant übers Wasser tanzten. Kleine Fische zuckten unter der Oberfläche umher.

Aber was war das? Von links näherte sich ein dunkler Schatten und durchbrach die Wasseroberfläche. Er sah einen kräftigen Rücken, der sich schnell bewegte. Ein Karpfen von staatlicher Größe zog kräuselnd das Wasser hinter sich her.

»Merkwürdig, dass den noch niemand geangelt hat«, hörte er eine Stimme neben sich.

Er war nachlässig gewesen, sonst hätte sich ihm niemand unbemerkt nähern können. Neben ihm stand jetzt ein untersetzter Mann. Ende fünfzig, in einem dunklen Anzug. Mühelos erkannte er die Stimme als die, mit der er vor ein paar Tagen telefoniert hatte. »Haben Sie das Paket bei sich?«

Der Neuankömmling nickte und zog einen lilafarbenen Umschlag aus der Tasche. »Natürlich, Monsieur Lister. Geben Sie diesen Umschlag der Zielperson. Niemand sonst darf ihn in die Finger bekommen!«

Lister nickte und nahm den Umschlag entgegen. Den Einwand des Mannes würdigte er nicht mit einer Antwort. »Was ist mit der Bezahlung, Schmidt?«

»Selbstverständlich«, beeilte sich der Mann zu sagen und zog ein kleines Kuvert hervor. »Wie besprochen, die Hälfte jetzt. Sie können nachzählen.«

Er bedachte seinen Auftraggeber mit einem schrägen Blick und öffnet den Umschlag, um sich das Geld anzusehen. Natürlich zählte er es durch, was dachte sich der Kerl nur?

Schmidt sah ihn ernst an. »Behandeln Sie diesen Auftrag bitte genauso diskret, wie das sonst bei Ihnen üblich ist.«

Lister sah sein Gegenüber verständnislos an. War das womöglich eine Form von Humor, die er nur nicht verstand? Dieser Schmidt war ein komischer Vogel, aber er zahlte wenigstens anstandslos den geforderten Preis. Zufrieden steckte Lister das Geld ein und machte sich zum Gehen bereit.

»Die Zielperson gehört zu meinem inneren Kreis. Seien Sie also bitte freundlich zu ihr.«

»Sie haben mein Wort, Schmidt.«

Lister ließ den Mann stehen. Etwas an Schmidt gefiel ihm überhaupt nicht. Zusammengefasst hielt er seinen Auftraggeber für einen aufgeblasenen Scheißkerl. In der Transferdimension hatten es Leute wie er schwer. Wie das wohl hier war? Am Ende konnte es ihm egal sein, denn er verdiente gut durch solche Leute. Pfeifend ging er den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.

Transferdimension, Shadow Rock vor zehn Tagen

Die Farm der Whitmans erstreckte sich südöstlich von Shadow Rock über eine Fläche von gut 75 Hektar. Neben der Schweinezucht widmete sich Fred Whitman dem Anbau von Weizen, Mais und Kartoffeln. Einen kleinen Teil seines Grundbesitzes hatte er an die Bergbaugesellschaft abgeben müssen. Anfänglich hatte das den Farmer geärgert, jedoch hatte der Governor für eine faire Entschädigung gesorgt.

Neben Fred lebten noch dessen Frau Carol und die vier gemeinsamen Kinder, Ralf, Maxwell, Brad und Brenda im Haupthaus der Farm. Ralf und Max waren die Ältesten und halfen bereits tatkräftig auf dem Hof mit. Leider war letzte Woche ein Einberufungsbescheid für Max angekommen. Im Norden war es zu Gefechten mit den Nekroindianern gekommen. Die Armee brauchte jetzt dringend Soldaten.

Prinzipiell durften die Erstgeborenen bei ihren Familien bleiben, um auf den Farmen zu arbeiten. Leider hatte Ralf ein steifes Knie und war deshalb nicht ganz so belastbar. Hätte Maxwell ein solches gesundheitliches Problem gehabt, wäre er ausgemustert worden, und keiner der Söhne hätte Militärdienst leisten müssen.

Brad war wie Brenda ein Nachzügler und hatte noch lange Zeit, bis das Los auf ihn fiel und er eingezogen werden würde. Brad und Brenda waren ein Herz und eine Seele. Zwei Jahre trennten sie voneinander, und mit seinen knapp sieben Jahren war Brad zwar der Ältere von beiden, aber noch keine große Hilfe auf der Farm. Wenn er nicht gerade die Hühner füttern, den Hof kehren oder beim Ausmisten der Pferdeställe helfen musste, tollte er mit seiner jüngeren Schwester über den Hof und das Umland der Ranch.

Meist spielten sie ausgelassen mit einem Lederball, aber heute nutzten sie die freie Zeit mit Versteckspielen. In einer exzentrischen Kreisbahn hatten sie sich dabei kontinuierlich vom Haupthaus wegbewegt und befanden sich nun an der Stelle des Areals, an der das Kornfeld an einen kleinen Wald grenzte.

Brenda hatte sich hinter einem Himbeerstrauch versteckt und beobachtete Brad, der sie hinter einer Eiche vermutete und darauf zuschlich.

Das Mädchen konnte sich ein kleines Kichern nicht verkneifen, aber Brad war viel zu weit weg, um ihr Lachen zu hören. Plötzlich verschwand ihr Bruder und Brenda hörte einen gedämpften Schrei. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. War Brad eben noch geradewegs auf die Eiche zugegangen, war er jetzt mit einem Mal verschwunden. So als hätte sich ihr Bruder in Luft aufgelöst.

Irgendetwas war mit ihm geschehen, das wusste Brenda sofort. Sie kam hinter dem Himbeerstrauch hervor, als sie das klaffende Loch im Boden sah. Brad musste hineingefallen sein. Mit pochendem Herzen näherte sie sich der Stelle.

»Brenda? Hörst du mich?«

Der Ruf drang schwach aus dem Loch zu ihr hoch. Sofort ging es ihr etwas besser. Brad schien nichts Schlimmes passiert zu sein. Wäre es nicht besser, wenn sie sofort ihren Vater zur Hilfe holte?

»Brenda? Hallo?«

Die Stimme ihres Bruders ließ das Mädchen die Vorsicht vergessen. Es machte sicher nichts aus, wenn sie zuerst selbst nach ihm sah. Ihr Vater war zwar streng und würde zweifellos ohne Murren sofort zur Stelle sein, aber eine Standpauke würde es trotzdem geben. Vielleicht gelang es ihr ja ganz alleine, ihren Bruder aus dem Loch zu retten. Wenn es Brad gutging, würde ein Seil ausreichen, an dem er herausklettern konnte.

Stolz erfüllte das Mädchen und ließ sie weiter auf das Loch zugehen. Als sie direkt davorstand, ging alles sehr schnell. Unvermittelt verlor sie den Halt. Ein reißendes Geräusch war zu hören, als der Boden unter ihr nachgab.

Im ersten Augenblick glaubte sie, dass die Erde sie mit Haut und Haaren verschlingen wollte. Blitzartig musste sie an Alice denken, die in den Kaninchenbau gestürzt war. Anders als die Heldin des Kinderbuches dauerte ihr Fall nicht so lange an, dass sie sich Gedanken darüber machen konnte.

Nur Sekunden später schlug sie auf. Der Aufprall war nicht so hart, wie sie befürchtet hatte. Trotzdem wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. Für einen Moment drehte sich alles um sie.

»Brenda?! Warum hast du nicht Hilfe geholt, wie ich das gesagt habe?«

Das Mädchen war noch zu benommen, um zu antworten. Sie hatte doch nur ihrem großen Bruder zur Hilfe eilen wollen. Verwirrt schaute sie nach oben und sah Sonnenlicht hereinfallen, in dem Staub und andere Partikel aufgewirbelt tanzten.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie verblüfft und ließ den Blick schweifen.

Aus der Decke wuchsen Wurzeln in den darunterliegenden Raum, der sich in alle Richtungen zu erstrecken schien.

»Das muss eine Höhle oder so was sein. Sieht aus, als wären die ganze Farm und der Wald unterhöhlt«, antwortete Brad und sah sie prüfend an. »Geht es dir gut?«

Brenda kam auf die Beine und schlug sich den Schmutz vom Kleid. »Mir geht es gut«, sagte sie tapfer.

»Dann sollten wir uns überlegen, wie wir hier wieder rauskommen«, sagte Brad und sah in die Richtung der beiden Stellen, durch die die Geschwister eingebrochen waren.

Brenda wollte sich gar nicht erst vorstellen, was passierte, wenn oben die Sonne unterging, und es hier unten so richtig dunkel wurde. Ihr Bruder starrte weiter zu Höhlendecke und schien sich zu überlegen, wie er nach oben kommen könnte.

Nach einer Weile schüttelte Brad kaum wahrnehmbar den Kopf.

»Das kann hier nicht immer so ausgesehen haben. Dad hat vorletztes Jahr einen neuen Brunnen gegraben. Das wäre ihm doch aufgefallen.« Für einen Augenblick schien er zu überlegen. »Was riecht hier so merkwürdig?«

Benda roch es auch. »Wie frischer Teer«, sagte sie nachdenklich.