Psycho und Therapie - Georg Naundorfer - E-Book

Psycho und Therapie E-Book

Georg Naundorfer

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Beschreibung

Was steuert eigentlich eine Gesellschaft von innen heraus, wenn ihr die sogenannten Werte abhanden gekommen sind, sie mit aufgepfropften Ideologien schon mehrfach Schiffbruch erlitt und sie auch mit Religion nichts mehr anzufangen weiß? Bleiben ihr dann wirklich nur noch Geld, Konsum und Sex, wie uns das die Medien einzutrichtern versuchen? Nehmen Sie einfach mit offenen Sinnen in sich auf, was sich Ihnen täglich darbietet und der Irrwitz unserer Gesellschaft wird Ihnen sehr schnell bewusst werden. Diesen als „oversexed and underfucked“ ausgewiesenen Gesellschaftszirkus als Kaleidoskop des Irrwitzes begreiflich zu machen, den Verklemmungen nachzuspüren, die aus der neuen überzogenen Offenheit heraus entstehen und wie das verhökert wird, dazu in den Kontrast zu den Zwängen des geldgierig raffenden Alltags der Neidgesellschaft gestellt, das ist der eigentliche Zweck dieser ironischen Betrachtung. Heutzutage reicht es schon, einen Spiegel an der Straße aufzustellen. Was der Ihnen dann zeigt, ist besser als alle Comedy. Dieser hier stand an einem Brennpunkt. Da liefert er Ihnen den Irrsinn natürlich gebündelt.

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Was steuert eigentlich eine Gesellschaft von innen heraus, wenn ihr die sogenannten Werte abhanden gekommen sind, sie mit aufgepfropften Ideologien schon mehrfach Schiffbruch erlitt und sie auch mit Religion nichts mehr anzufangen weiß?

Bleiben ihr dann wirklich nur noch Geld, Konsum und Sex, wie uns das die Medien einzutrichtern versuchen?

Diesen unseren als „oversexed and underfucked“ ausgewiesenen Gesellschaftszirkus als Kaleidoskop des Irrwitzes begreiflich zu machen, den Verklemmungen nachzuspüren, die aus der neuen überzogenen Offenheit heraus entstehen und wie das verhökert wird, dazu in den Kontrast zu den Zwängen des geldgierig raffenden Alltags der Neidgesellschaft gestellt, das ist der eigentliche Zweck dieser ironischen Betrachtung.

Heutzutage reicht es schon, einen Spiegel an der Straße aufzustellen. Was der Ihnen dann zeigt, ist besser als Comedy. Dieser hier stand an einem Brennpunkt. Da liefert er Ihnen den Irrsinn natürlich gebündelt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Ein sehr prinzipieller Vorspann über gesellschaftliche Entwicklungen,

von der Gleichberechtigung und der Gleichstellung

Es wird immer wieder so viel aus berufenem Munde getönt, was wir denn für eine Gesellschaft wären. Dass wir eine Gesellschaft sind, und was für eine, eine, vor der man sich in acht nehmen sollte, ist unbestreitbar. Die Definitionen gehen aber von der Spaßgesellschaft über die Freizeitgesellschaft bis zur Wegwerfgesellschaft. Jeder hat seine eigenen Argumente und er ordnet sie dem unter, was er anderen vermitteln will. Da geht es angeblich um den Kampf der Kulturen, den Kampf der Ideologien, der Religionen und den der Wirtschaftssysteme. Sich eine Übersicht zu verschaffen fällt schwer.

Sicher ist nur eins, in dieser Gesellschaft konkurriert Jeder derzeit mit Jedem, und das Geld steht immer im Mittelpunkt. Eigentlich haben wir eine Raff- und Neidgesellschaft, aber das sagt man nicht. Um das also nicht zu deutlich werden zu lassen, wird diese Tatsache besser ignoriert und anders benannt. Man schließt sich zu größeren Gruppen zusammen, die sich davon angeblich abweichende, vor allem gesellschaftsfähigere Ziele setzen, schafft Abgrenzungen größeren Umfangs, und tritt diesen neuen Gebilden in der Annahme bei, in der Masse nicht zu sehr dem Beschuss ausgesetzt zu sein. Es gibt wohl immer noch den Gegensatz von Individuum zu Individuum, aber er wird nun überdeckt von Scheinproblemen: der Zugehörigkeit zu Religionen, Staatsangehörigkeiten, Wirtschaftsvereinigungen, politische Parteien, Sportvereinigungen und anderen Interessenverbänden bis hin zur Vereinsmeierei. Darüber hinaus zieht sich zusätzlich der angebliche Gegensatz zwischen Mann und Frau, und die dabei auftretenden Konkurrenzsituationen ungewollt als Hauptproblematik durch unser Leben und treibt dabei die tollsten Blüten, was ich hier nur kurz anreißen möchte.

Ich bin beispielsweise in einer Gesellschaft groß geworden in der man die sogenannte Gleichberechtigung der Frau proklamierte, wie sie seltsamerweise auch jetzt noch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben steht. Ein Unding. Es hieß zwar Gleichberechtigung der Frau, aber um die Gleichberechtigung gekämpft haben da die Männer. Natürlich angeblich um die der Frau. Meist als Funktionäre und da auf dem Papier. Es war die Gesellschaft der DDR. Man kann das aus früheren auf Parteitagen der SED gehaltenen Reden entnehmen. Im Endeffekt haben sie es dann fast geschafft, dass außer den Männern in der DDR in diesem Staat fast auch noch alle Frauen den Buckel für den Aufbau des von den Parteifunktionären proklamierten Sozialismus krumm machen mussten, in die Fabrik gingen, um da zu arbeiten. Es hätte im Parteiapparat sogar Frauen gegeben, die sich für die Durchsetzung solcher perverser gesellschaftlichen Auswüchse, wie diesen geschlechterübergreifenden gleichberechtigenden Arbeitszwang hergegeben haben sollen, mit dem da die Frauen versklavt wurden. Wie sehr man sich auf Abwegen herumtrieb, ist bei etwas gutem Willen und ein bisschen Nachdenken zwar ganz einfach feststellbar, aber der ideologisch Verblendete sieht meist den Wald vor lauter Bäumen nicht. Auch mir ist erst spät klar geworden, was da passiert ist.

Selbst Mao-Tse-Tung, der bislang in der Praxis dauerhaftest überlebende kommunistische Kirchenvater, war der Ansicht, dass die Frau durchaus gleichberechtigt, sogar mehr als das ist. Was für ihn beispielgebend gewesen sein mag, sei dahin gestellt. Falls jedenfalls in Maos Umfeld irgendwelche Arbeit anfiel, so schwer sie auch sein mochte, war er der Meinung, dass sie am besten von Frauen erledigt werden sollte, damit sie auch richtig gemacht würde. Das vertrat er schon in sehr jungen Jahren und er hat in dieser Hinsicht bis zu seinem Tode nicht geschwankt, weder theoretisch, noch praktisch. Ich weiß nicht, ob das jetzige China noch diese Doktrin verficht, den anderen Staaten, die zwischenzeitlich dem Sozialismus abgeschworen haben, vor allem deren Frauen, hat das erwiesenermaßen alles nichts gebracht. Da war Mao bestimmt auf dem Holzweg, so bequem es für ihn selbst auch gewesen sein mag.

Die Frauen hätten zwar gern die Gleichberechtigung gehabt, aber wohl nicht diese. Da sie allerdings keine echten Vergleichsmöglichkeiten in ihrem direkten Umfeld hatten, ist es ihnen meist gar nicht aufgefallen, was man ihnen seitens der Männer unterzujubeln versuchte. Die hatten ihnen beigebracht, dass es nur die eine Form der Gleichberechtigung gebe, und zwar die allumfassend alles nivellierende, die der Vermassung, welche im Parteiprogramm verkündet wurde. Kein Wunder, dass da der Feminismus der freien Welt überreagierte, weil er sah, dass die Betroffenen nicht wahr haben wollten, wie man sie in die Irre führte. Dass es auch eine andere Gleichberechtigung gäbe, und zwar die ganz individuelle, welche jede Frau für sich ganz speziell und exklusiv erträumt, und die sie sich ganz nach ihren Vorstellungen selbst einrichten kann, das war dabei völlig untergegangen. Solche Vorstellungen wurden sogar ideologisch als sektiererischer Auswuchs mangelnen Klassenbewusstseins negativ besetzt und bekämpft.

Man hat zwar seitens der freien westlichen Welt damals alles Mögliche versucht, den Geknechteten die Augen zu öffnen und sie zu erlösen, aber erst die Wende hat auch die Frauen im verordneten Sozialismus wirklich befreit. Gedankt haben das diese Frauen aber ihren Befreiern bisher nicht. Die größten Feinde der Freiheit waren schon immer und von jeher die glücklichen Sklaven. Das Dumme an der Sache war nur, dass man sich in einer solchen Gesellschaft, wie dieser pseudokommunistischen, ohne das nachträglich würdigen zu wollen, als Mann ziemlich sicher geborgen fühlen konnte und auch tatsächlich sicher war.

Nachdem uns der Wind der Wende die Wiedervereinigung des Beitritts gebracht hatte, fand ich mich zusammen mit meinen Geschlechtsgenossen aus dem Osten plötzlich in einer Gesellschaft wieder, in der infolge der 68er-Revolte und ihren gesellschaftlichen Weiterungen der Folgejahre der Mann zwar öffentlich als Macho und Allesbestimmer verschrien war, der Frauen nicht an die Fleischtöpfe heranlasse und sie vor allem ökonomisch ausbeutete. Im Grunde genommen, bei genauerer Betrachtung war er aber schon sehr gezähmt, und hatte vor allem im Privatbereich tatsächlich nichts Entscheidendes mehr zu sagen. Sie werden mir das bestimmt abstreiten. Angesichts der durchverarschten windelweichgespülten Hosenscheißergenerationen von Männern, die aus den Kräuterküchen der Alleinerziehenden der Nach-68er herausgewachsen waren, bleibt mir aber ganz einfach keine andere Schlussfolgerung mehr. Der Mann ist einfach nicht mehr der, welcher er früher behauptete, zu sein. Er wird zunehmend auch kaum noch geheiratet. Er bringt es einfach nicht mehr.

Was ich Ihnen jetzt darlegen werde wird Sie hoffentlich an Ihren bisherigen Überzeugungen zweifeln lassen. Dass das mit der Gleichberechtigung laut Verfassung, Grundgesetz oder sogar kommunistischem Parteiprogramm sowieso alles Unsinn ist, erhellt schon aus folgender Feststellung des gesunden Menschenverstandes, die ich hier einmal in allgemeinverständlicher und völlig ideologiefreier Form bekanntgeben möchte:

Das mit der Gleichberechtigung der Frau lief darauf hinaus, dass die Frau auch das gleiche tun dürfe wie der Mann. Das war von männlicher Seite als Anreiz für sie gedacht, damit sie endlich Ruhe gibt und sich nicht mehr benachteiligt fühlt. Da ist doch jetzt schon ganz anders. Da haben Sie als erstes abweichend vom Grundgesetz die Novellierung der Gleichberechtigung als „Gleichstellung“. Schon diese Festlegung beweist die Überlegenheit der humanistischen Anschauungen unserer Frauen in der parlamentarischen Demokratie gegenüber den Männern. Auch gemessen an den begreiflicherweise noch an den bürgerlichen Traditionen der Revolution von 1848 hängenden Vätern des Grundgesetzes ist das bedeutend progressiver. Und es beweist auch, dass Frauen sich nicht widerspruchslos verwalten lassen wollen, schon gar nicht von der Verfassung, mag sie auch noch so fortschrittlich erscheinen. Jeder weiß, was das ist, die Gleichstellung. Die GleichstellungsbeauftragtInnen, die aus gutem Grund nicht GleichberechtigungsbeauftragtInnen heißen, sind sich in dieser Hinsicht auch sicher. Der Ausgangspunkt ist hier ein anderer. Gleichstellung ist vom Standpunkt der Frau aus gedacht. Man ernennt bei der Gleichstellung vom Standpunkt der Frau ausgehend jetzt den Mann zur gleichgestellten Sache und integriert ihn so in deren Gesellschaft, um ihn nicht auszugrenzen.

Als neulich eine bundesweite Tagung der Gleichstellungsbeauftragten stattfand, gab es beispielsweise viel Ärger, weil eine ostdeutsche Gemeinde ihren Bürgermeister, der diese Funktion in Unkenntnis des Eklats, den das darstellt, dort wahrnahm, dahin geschickt hatte. Nicht nur, dass lt. Satzung gar nicht vorgesehen ist, dass die Funktion des Gleichstellungsbeauftragten von einem Mann ausgeübt wird, es gab auch Unterbringungsschwierigkeiten, weil nur Doppelzimmer für jeweils zwei TagungsteilnehmerInnen gebucht waren und so höchstens lesbischen Pärchen ein gemeinsames Zimmer zugebilligt worden wäre. Man sieht, es gibt noch Schwierigkeiten, aber sie werden bestimmt noch gemeistert. Das ist bei unseren Frauen in den besten Händen.

Sollten Sie Altbundesbürger und Mann sein, haben Sie ihn wohl noch gar nicht bemerkt, diesen kleinen Unterschied zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung. Das kann man Ihnen auch nicht übel nehmen, denn es hat sich für Sie doch nichts geändert, weil Sie entwicklungsmäßig über die Jahre langsam daran gewöhnt wurden, die neu Beigetretenen aber nicht. Es sind die feinen Unterschiede, welche meist entscheidend für die Funktion und Wirksamkeit einer Sache sind.

Die beiden miteinander am stärksten verfeindeten Parteien unserer politischen Landschaft unterscheiden sich auch nur durch solche winzigen entscheidenden Nuancen. Die eine zielt auf den „Demokratischen Sozialismus“ und die andere auf die „Soziale Demokratie“. Das unterscheidet sich dann so ähnlich wie ein Schaf im Wolfsfell zu einem Wolf im Schafspelz. So ist das auch mit der Gleichberechtigung und der Gleichstellung.

Um hier nicht länger mit prinzipiellen Betrachtungen zu langweilen, sage ich es gerade heraus. Die Entwicklung der Wertigkeit des Einzelnen, vor allem in der Geschlechterbeziehung ist in den beiden von einander getrennten deutschen Staaten so unterschiedlich verlaufen, dass ich oft verständnislos davor stand, was sich mir da manchmal eröffnete, weil mir als Bewohner des Beitrittsgebietes vieles noch ungewohnt war. Aber auch die allgemeine Wertigkeit des Bundesbürgers als Mensch gab mir nach einer Weile sehr zu denken, nicht nur die als Mann oder Frau. Im Wirtschaftsleben als abhängig Beschäftigter ist es nämlich egal, was man ist, Hauptsache man funktioniert und ist zäh genug, sich alles gefallen zu lassen, ohne aus der Rolle zu fallen.

Was steuert eigentlich eine Gesellschaft von innen heraus, wenn ihr die sogenannten Werte abhanden gekommen sind und sie auch nach mehreren Schiffbrüchen sich nicht mehr mit von außen her an sie herangetragenen Ideologien befassen will. Bleiben dieser Gesellschaft dann wirklich nur noch Geld, Konsum und Sex, wie uns die Medien einzutrichtern versuchen?

Durch einen dummen Zufall bekam ich Gelegenheit das alles einmal in Ruhe betrachten zu können und in ungewohnter Umgebung für mich aufzuarbeiten, was ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Vielleicht werden Sie feststellen, dass sich das alles oft zu sehr an der Gestaltung der Geschlechterbeziehungen orientiert, aber es ergab sich nun einmal so. Welche Schlüssen Sie allerdings aus meinen Ausführungen ziehen, dafür sind Sie dann selbst verantwortlich.

2

Von der Verwurstung, Mett und dem Durchdrehen. Von Erziehung und dem Amoklauf, Rockkonzerten und Denkfallen. Vom gestiefelten Kater, dem Schlaganfall, dem Zeitvertreib in der Psychiatrie, der Abmagerungskur, der Schwiegermutterstation, von psychologischer Betreuung, der Wertigkeit psychischer Krankheitsbilder, eine völlig abgedrehte Geschichte von einem Beil, und der Gedankenreise mit ihrem ungenehmigten Ziel

Ursprünglich hatte mir als Titel dieser Abhandlung ein ganz anderer vorgeschwebt. Mehr so wissenschaftlich. Den verrate ich aber nicht. Ich wollte auch statt eines erzählenden Berichtes eine wissenschaftliche Untersuchung dokumentieren. Diejenigen, denen ich vorab Manuskripteinsicht gewährte, bemängelten vor allem die fehlende Systematik, sofern sie nicht den sofortigen Abbruch aller sozialen und dienstlichen Kontakte mit mir vorgezogen haben. Es sei ein typisches Beispiel für die Verwurstung von Text. Was mir passiere, wenn ich dieses Manuskript veröffentlichte, das sei schließlich meine Sache und ihnen ziemlich wurst, also auch der Titel. Daraufhin habe ich dann auf das mit der Wissenschaftlichkeit verzichtet.

Um etwas zu verwursten, das weiß jeder Fleischer, muss man es durch den Wolf drehen. Da finden Sie am Ende nur noch einen nie wieder sortierbaren Matsch, den Sie höchstens noch als Füllung für eine Wurst verwenden können. Der Fleischer spricht da von Mett. Beschweren Sie sich deshalb nicht, wenn ich Ihnen Mett verabreiche. Wurst schmeckt gerade deshalb so gut, weil sie Mett enthält. Hier bekommen Sie eine spezielle Variante geboten, die sehr in Mode gekommen ist. Es geht ums Durchdrehen im Geist und den Versuchen, dem nachträglich wieder abzuhelfen. Es ist mir passiert und ohne diesen Vorfall gäbe es diese ganze folgende Abhandlung nicht.

Das Durchdrehen, volkstümlich auch Überschnappen genannt, ist die unbewusste und auch meist ungewollte Erlangung eines geistigen Zustandes, der vernunftgemäß nicht mehr begreifbar ist und oft in körperliche Mechanismen mündet, deren Ablauf man selbst nur noch als Zuschauer beiwohnt. Wenn es schlimmer wird, kann oft nur noch der Arzt helfen; im allerschlimmsten Fall selbst der nicht mehr. Die Ursachen sind beim gesunden Menschen meist sozialer Natur, weil er eben nicht so kann, und zwar mit anderen.

Beim Tier ist das verhältnismäßig einfach zu lösen. Da gibt es als Ausweg den Gnadenschuss oder die Notschlachtung, manchmal reicht auch die Fliegenklatsche. Intelligentere Tiere begehen bei aufkeimender Erkenntnis und sich bietender Gelegenheit sogar Selbstmord. Da denke ich nicht gerade an die berühmten Lemminge oder irgendwelche spektakulären Delfin- oder Walstrandungen in der Südsee, da reichen mir meine Beobachtungen im Bezug auf die Mausefalle und die Annahme von Rattengift bei Nagetieren. Beim Menschen versucht man zurzeit immer noch die Reparatur, weil es sich für die, welche es tun, manchmal noch „rechnet“.

Das mit dem Durchdrehen wird, gesellschaftstypisch bedingt, dank der Vorprägung völlig unabsichtlich durch unsere biologischen Befehlshaber bestimmt, als da sind Eltern und dergleichen, die versuchen, uns ihre sogenannte Lebensweisheit einzutrichtern, und das Erziehung nennen. Das geschieht zu Zeiten, in denen wir noch ganz klein, dumm, wissbegierig und somit hilflos durchs Leben tappen. Man weiß doch, dass der gesunde Menschenverstand aus den Vorurteilen besteht, die der Mensch bis spätestens zu seinem zwanzigsten Lebensjahr in sich verfestigt bekommen hat, jener Zeitpunkt also, zu dem die juristische Volljährigkeit eintritt. Jungen werden ganz anders erzogen als Mädchen, und Kinder verschiedener Gesellschaftsschichten werden von ihren Eltern jeweils sehr diffizil sozialschichtspezifisch verblödet. An irgendeiner Stelle oder einem Zeitpunkt korrespondieren dann manchmal bei diesem Personenkreis Erziehung und Umfeld nicht mehr miteinander. Wer infolge unvollständiger Abrichtung bis dahin noch nicht den Mut zur geistigen Kastration aus eigener Kraft gehabt hat, den erwischt es nun ganz böse, und er dreht durch. (Er kann aber auch, wie beispielsweise Herbert Grönemeyer, aus seinem Hilferuf einen zu Herzen gehendes Lied machen, wie er das mit seinem Kultsong „Männer“ getan hat.)

Der eine tobt blind los, zerschlägt alles, was in seine Reichweite gelangt, wird laut und gewalttätig, läuft Amok, so dass andere viel Mühe haben, ihn wieder zu sich zu bringen. Der nächste besorgt sich eine Waffe, ein Messer, Tabletten oder auch nur einen derben Strick und bringt sich um. Es gibt sogar welche, die verbinden beides miteinander. Je nach Ergebnis nennt man das Selbstmord, Totschlag, Mord oder Mordversuch, wobei nur der Selbstmord juristisch für den Täter straflos ist.

Glück scheinen jene zu haben, die ihr Tun überleben, deren Gehirn jedoch nicht wieder in die Wirklichkeit zurückfindet. Das ist aber relativ zu sehen und auch seltener. Manche fressen aber bis zu einer gewissen Grenze alles widerspruchslos in sich hinein. Was danach passiert ist aber kaum mehr vorhersagbar. Meist enden diese Aktivitäten aber auch mit einem Amoklauf, der Tötung der nächsten Angehörigen oder Vorgesetzten, als unbeteiligt angesehener Personen des Umfeldes und dem verwundert bedauerndem Nachruf der sich überrascht gebenden nachbarlichen Ahnungslosigkeit: „Wer hätte denn das vermutet, so ein ruhiger feiner Mensch… Das hätte dem doch niemand zugetraut.“ (Wer hätte denn auch ahnen können, dass er das an ihm meist heimlich und unauffällig praktizierte langsame psychologische Hautabziehen bei lebendigem Leibe nicht mag.)

Das mit dem Amok ist in gewissem Rahmen, vor allem beim Mann, sogar gesellschaftsfähig geworden. Dabei beziehe ich mich nicht auf den Ernstfall, auch nicht auf fiktive Produktionen von Film und Fernsehen oder die täglichen Nachrichten dazu, auch nicht auf Videospiele, sondern auf die Realität der Unterhaltungsbranche. Wenn Sie das nicht glauben, dann sehen Sie sich bitte im Fernsehen die Live-Mitschnitte von Gesangs- und sonstiger gymnastischer Darbietungen diverser Musikgruppen an, oder gehen Sie zum Rock-Konzert. Was die Künstler auf der Bühne zu ihrer Musik an physischer Aktion vorführen, das nennt man normalerweise Amoklauf. Nur weil kaum jemand versteht, was sie da meist perfekt ausländisch zu ihrer Musik brüllen, wenn sie ihre Instrumente malträtierend auf der Bühne herumspringen, und auch nur mit Musikinstrumenten statt Waffen hantieren, bemerkt das niemand. Aus reinen Kostengründen unterbleibt ja heutzutage meist, was bei den „Who“ noch am Ende unabdingbare Zugabe zu jedem Konzert war: Die Zerstörung der Musikinstrumente auf offener Bühne und das anschließende Bombardement des begeistert tobenden hin- und mitgerissenem Publikums mit den nun unbrauchbaren Trümmern der Bühnenausstattung.

Rapper sind beispielsweise solche, die es rein verbal versuchen, Amok zu laufen. So ein Rapper macht das ganz richtig, wenn er auf alles Beiwerk, sogar oft auf Musik verzichtet, weil doch der echte Amokläufer auch ein Einzelgänger ist. Ob er das nun fäkal, vulgärsexuell oder nur brutal gestaltet ist dabei wirklich ohne Interesse.

Sie sehen, das mit dem Pseudo-Amok als Kulturäußerung ist schwer definierbar, weil fließend. Klar ist nur, dass es sich dabei überwiegend noch um männliche Akteure handelt und dass man das schon öffentlich üben kann.

Eine so Amok laufende Frau wirkt zurzeit noch irgendwie lächerlich. Schwester „S“ hat es wohl deshalb auch wieder aufgegeben, und selbst beim Versuch von Girl-Groups, sich auf der Bühne wie ihre männlichen Pendants zu benehmen, kann dem Publikum höchstens Hysterie vermittelt werden.

Selbst beim Auftritt der Frau als Publikum klappt das noch nicht. Statt sich wie die aus der Antike überlieferten Bacchantinnen, Erinnyen oder Furien einem Wahnsinns- und Blutrausch hinzugeben, haben Sie da höchstens Darstellerinnen für medientauglich vorher geübte Schnappatmung und Hyperventilation, die nur noch darauf erpicht ist, dass wenigstens der Arzt, aber besser vorher noch schnell mal das Fernsehen kommt, damit nicht nur das, was die Umstehenden sowieso mittels Handyfilmmittschnitt später posten der Erinnerung aufhilft, wie schön es war.

Es ist in unserer Zeit alles irgendwie durch jahrzehntelang medial anerzogene Seh- und Erlebnisgewohnheiten noch falsch geprägt. Niemand würde sagen, dass eine Frau wie ein Berserker gewütet hätte, und auch Vandalismus ist immer noch etwas, was nur Männern zugetraut wird. Da brauchte es schon ordentlicher Mann-Weiber, um das bedrohlich zu gestalten, aber die wollte wieder keiner auf der Bühne sehen.

Diese Urwüchsigkeit der Leidenschaft haben Sie in diesem blasierten Abendland nicht mehr. Und wenn, dann wird das als unzivilisiert und ordinär verpönt, weil es sich angeblich (immer noch) nicht gehört.

Das ist alles, wie leicht zu erkennen, alles auf einem männlichen Prinzip aufgebaut, welches uns aus der Steinzeit vererbt ist. Gewalt soll immer mit sichtlicher Massenüberlegenheit und körperlichem Einsatz verbunden sein, um glaubhaft zu sein. Wenn uns einer eine Pistole an den Kopf hält, sind wir schon im Zweifel, weil es die doch heutzutage auch schon als funktionsunfähige Attrappe gibt. Ganz zu schweigen von Gewaltausübung in der Form, dass Sie jemand in den Ruin treibt, nur weil er sie mit einem Knebelvertrag übertölpelt hat, was auch tödlich sein kann. Diese Form der Gewaltanwendung in wirklich abschreckender Form nachvollziehbar im Betrachter zu verinnerlichen, dazu bedarf es noch großer erzieherischer Anstrengungen, weil dann auch die Frau bei körperlicher Unterlegenheit endlich ihre wahre Chance bekommt.

Das Publikum beurteilt eben alles so, wie es das gewohnheitsmäßig anerzogen bekam oder sich infolge seiner Verbildung vorstellt, und bestimmte Dinge können nur von solchen Akteuren vorgeführt werden, denen man es auch zutraut. Konvention findet immer statt, selbst im Chaos wirkt sie, auch wenn sie da deplatziert erscheint. Die Frau lässt sich immer noch von den Machern als Objekt mit Sexappeal auf die Konzertbühne stellen, welches nicht brutal durchdrehen darf, sondern nur hysterisch schreien. Würde eine Truppe Frauen die Bühnendekoration zerlegen, stieße das auf Unverständnis.

Andererseits, wenn eine Truppe sogenannter Giftzwerge die Who nachahmen wollten, das Publikum würde sich darüber totlachen, weil Gewalttätigkeit auch bei Männern vom Äußeren her überzeugend vermittelt werden muss. Der Kaspar im Puppenspiel als kaltblütiger Mörder? Die Kinder würden ihm das nicht durchgehen lassen. Aber wie ist das mit der alten gebrechlichen und hilfsbedürftigen sich mühsam auf ihren Stock stützenden einsamen alten Frau mit ihrer schmerzhaften Rückgratverkrümmung, die ganz allein in ihrer Hütte im Wald lebt und meist mit ihm zusammen auftritt, der angeblich so bösartigen giftigen Hexe? Sehen Sie, da laufen auch Sie in die Falle, wenn die erzieherisch eingefahrene Prägung zuschlägt. Auch die war mal in ihrer Jugend ein hübsches munteres und plapperndes kleines Girlie.

Die von mir zuletzt beschriebenen brutalen Verhaltensweisen werden hauptsächlich von Männern an den Tag gelegt und können auch nur im maskulinen Milieu verständlich gemacht werden. Frauen versuchen es zwar, aber es kommt ihnen meist selbst irgendwie unpassend vor. Frauen sind da noch unterrepräsentiert. Sie haben da immer noch keine echte Chance in unserer Gesellschaft. In das mit dem Amok, sage ich mal, wenn er als Kulturform ins nächste Gesellschaftsstadium mit eintreten soll, da müsste eventuell ein ganz anderer grundlegender neuer weiblicher Denkansatz hineingebracht werden, der mir im Moment aber nicht einfällt.

Da war sogar die Gleichberechtigung noch sehr im Hintertreffen, geschweige denn, dass die Gleichstellung bisher ein Rezept dafür geliefert hätte. Es muss ein größeres geschlechtsspezifisches Problem dahinterstecken, wenn es bisher noch nicht einmal mittels des Gleichstellungsgebotes zu bewältigen war. Man sollte vielleicht, um beim kulturell-darstellenden Amok zu bleiben, davon ausgehen, was die Fans zu diesen Konzerten und Darbietungen lockt.

Ob es nun der Frust der Arbeitslosigkeit ist oder die Stressüberlastung derer, die Arbeit haben; wenn Sie schon nicht wagen, selbst Amok zu laufen, dann wollen sie das vielleicht wenigstens sehen, wie das professionell vorgeführt wird, sofern sie sich kein anderes Ventil suchen, um die Sau raus zu lassen. Dass Frauen sich inzwischen auch in Gangs zu organisieren versuchen, um dann genau so wie ihre männlichen Vorbilder mittels Schuss- und Stichwaffen Raubüberfälle auf offener Straße zu begehen, ist jedenfalls keine Lösung.

Nachdem Sie nun von mir ausreichend über das Thema Amok aufgeklärt sind, wissen Sie nun, dass ich das nicht an meinem Beispiel noch einmal bringen kann. Ich bin deshalb infolge der zur Zeit gesellschaftlich noch nicht ganz geklärten Form dieser Art Befreiungsaktionismus, mangels persönlicher Erfahrung, auch infolge zu geringer Übung, nach reiflicher Überlegung nicht Amok gelaufen, als ich durchdrehte. Ich bin auch immer für klare Verhältnisse und die liegen hier ganz objektiv betrachtet, nicht vor. Bei mir lief das komplizierter ab und da zieht es sich natürlich in die Länge und eignet sich auch nicht für ein rasantes Actionstück.

Meine Entwicklung verlief folgendermaßen: Mittels strengster vorgelebter evangelisch-lutherischer Arbeitsethik erzogen, die es trotzdem zu weiter nichts gebracht hatte, als zu ständig reflexartigem Einknicken vor jeder Art von Autoritätsanmaßung, hat man nur wenige selbstbestimmbare Handlungsspielräume und geistige schon überhaupt nicht, sofern man es ernst nimmt. Das tat ich aber nicht. Als erstes warf ich die anbefohlene Autoritätsgläubigkeit über Bord, weil meist eine überhebliche Anmaßung dessen dahinter steht, der sie bei mir voraussetzt. Dummheit und Stolz, die wachsen bekanntlich auf einem Holz (als Beispiel für eines meiner Vorurteile). Schon als Kind wusste ich ziemlich schnell: Ignorieren ist keine Lösung, aber sie hilft überbrücken. Diese Einstellung half mir irgendwie weiter.

Dem gesellschaftlichen Konsens der Erwerbsgesellschaft konnte ich in der Praxis nicht entrinnen, so gern ich das auch getan hätte. Die eingewöhnte Umwelt des spießbürgerlichen Lebens mit seinen manchmal gemütlichen Aspekten wollte ich andererseits auch nicht missen, weswegen ich meinen dadurch eigentlich unhaltbaren Zustand ignorierte und mir auch geistig jede zweifelhafte Selbstbespiegelung verbot. Als Kind vermag man der Erziehung nicht zu entrinnen, kann sich ihr aber auf verschiedene Weisen entziehen. Wer prinzipiell angeblich sowieso alles falsch macht, bei dem wirken mit der Zeit Außenreize gleich welcher Art nicht mehr.

Es war schon sehr früh feststellbar, mit mir war kein Blumentopf zu gewinnen. Auf verbale Attacken reagierte ich im beginnenden Erwachsenenalter kaum noch. Ich funktionierte, war aber nicht mehr manipulierbar. Das Märchen der Gebrüder Grimm vom gestiefelten Kater vermittelte mir die entscheidende Erkenntnis. Da manipuliert der Kater auch den Zauberer. Der kann es nicht ertragen, dieses: „Das kannst du nicht…“ und das „Du traust dich nicht…“. Das ist natürlich eine ideale Möglichkeit, jemanden auf das Glatteis zu locken. Und was brachte es dem Zauberer ein, sich in eine Maus zu verwandeln? Der Kater hat ihn gefressen.

Bei mir zog das nicht. Der Unwissende nennt das Selbstbeherrschung. Das ist sehr karrierefördernd in bestimmten Hierarchien, war bei mir aber nur begrenzt wirksam, denn es fußte bei mir nicht, wie es sich gehört, auf der Basis der Selbstdisziplin oder Respekt, sondern auf Ignoranz. Zwar nicht in jedem Fall, aber doch meistens.

Man tut seine Arbeit, weil man sie bezahlt bekommt und ist da auch gut zu dirigieren. Der sie einem gibt muss schließlich am besten wissen, wozu er einen anstellt. Es geht um die Existenz, und wenn er klug ist, dann merkt er auch, dass es auch um seine geht, sofern er mich für sich gegen Geld etwas tun lässt, was ein bisschen Fingerspitzengefühl voraussetzt und bei eventuellem Danebengelingen auch für ihn kaum übersehbare Folgen haben kann.

Diesen feinen aber entscheidenden Unterschied zwischen selbstbeherrschter unterwürfiger Arbeitswilligkeit und verachtender Ignoranz merkt im Normalfall aber keiner. Selbst derjenige nicht immer, der das in sich selbst verinnerlicht hat. Der setzt bei anderen die gleiche Anschauung der Welt automatisch voraus. Nur in Situationen, wo es Spitz auf Knopf steht, kommt das zum Vorschein. Idioten in Chefsesseln bekommen das meist auch erst zu spüren, wenn sie mit ihren Irrwitzigkeiten abzuheben versuchen und keiner ihnen folgen will. Die suchen die Ursachen dann auch ganz richtig bei den anderen. Man zieht sich selbst nicht in Zweifel. Man weiß schließlich, wer man ist. Da ist dann aber nicht immer sicher, was passiert, wenn das Pferd vor dem Abgrund scheut und der Reiter ihm trotzdem die Sporen gibt. Nicht jeder hat dann so viel Glück wie Harras, der kühne Springer, dass er mit dem Leben davonkommt.

Mein Bewusstsein ignorierte jedenfalls die Realität, in der sich mein Körper zunehmend nicht mehr wohl fühlte. So kam ich mit mir selbst in Zwiespalt und es schließlich nach Jahren dazu, dass mein Körper begann, mir den Gehorsam aufzukündigen. Erst waren es Kreuz-, Gelenk- und Kopfschmerzen, dann Muskelkrämpfe, Gliedertaubheiten und schließlich Lähmungen. Das ist alles nicht so schlimm, wenn man nicht, wie Millionen andere und so auch ich, gezwungen wäre, sein täglich Brot und das für seine zwischenzeitlich gegründete Familie mittels abhängiger Arbeit zu verdienen.

Kommen Sie nie im Leben in diese Verlegenheit. Falls Sie aber sogar in diese Lage hineingeboren worden sein sollten, dann versuchen Sie Ihren gesellschaftlichen Status um jeden Preis zu heben. Wenn Sie nicht wissen, wie man das macht, dann kann ich Ihnen leider auch nicht helfen. Da müssen Sie alleine durch.

Ich hatte die allgemeinen sozialen Spielregeln theoretisch zwar verworfen, aber praktisch nach ihnen gelebt, so dass ich ihnen dadurch trotzdem unterworfen war. Die innere Emigration hatte mir auf Dauer nichts genützt. Das liest sich zwar etwas verquer, ist aber eine ganz normale Lebenssituation. Die meisten merken es nur nicht.

Eines Morgens erwachte ich wieder einmal mit eingeschlafenem rechtem Arm. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich die Herrschaft über den Arm so einigermaßen wiedererlangt hatte, aber die rechte Hand blieb taub. Von im Schlaf abgedrückten Blutgefäßen konnte der Zustand nicht herrühren. Mit Verspätung kam ich mit dem Auto zur Arbeit; es schaltet sich schlecht mit gefühllosem Arm. Die Situation war grotesk, gemäß alter DDR-Tradition begrüßten wir uns morgens noch mittels Handschlag. Also reichte ich als letzter meine empfindungslose Pfote wie eine tote Sache herum. Die Computertastatur zu bedienen, wollte nicht so recht klappen, aber einen Stift anzufassen und womöglich noch zu schreiben, sei es nur zur Unterschrift, war unmöglich. Auch die Sparkasse würde mir für meinen unleserlichen Krähenfuß auf dem Auszahlungsbeleg kein Geld geben.

In den ersten zwei Stunden soff ich total ab. Alles schien in Nebel gehüllt, als ginge mich nichts etwas an. Die Arbeit nahm zu statt ab, was ich anfing und klein anschob, begann mich im Rücklauf sofort als Lawine zu überrollen. Man erinnerte mich an Sachen, an die ich mich beim besten Willen nicht entsinnen konnte, und als schließlich noch einer kam, der ein Verhandlungsgespräch mit mir weiterführen wollte, welches wir aufgrund fehlender Unterlagen am Vortag abgebrochen hatten, erkannte ich ihn nicht, wusste auch nicht, wer er war, noch was er von mir wollte. In meinem Terminkalender stand aber alles fein säuberlich, mit Name und auch für diese Uhrzeit. Ich hatte es mir gestern noch selbst notiert.

Ein Angestellter oder Beamter in einer Verwaltung nimmt in solchen Fällen eine Auszeit, schließt den Schalter, bricht die Sprechzeit ab, geht eine Vertretung um Hilfe an oder lässt die zu bearbeitenden Vorgänge unbearbeitet liegen. Bei einer Dispatcherstelle in der Industrie, dazu noch mittelständischer Unternehmenslage, so kurz nach der Wende, gerade frisch reprivatisiert, geht das nicht. Da läuft alles auf Gedeih und Verderb ineinander, und wenn ein Rädchen nicht zahnt, wirkt das wie Sand im Getriebe des Produktionsablaufes. Plötzlich haben andere Leute, die ihr Leistungsvermögen dort verkaufen, keine Arbeit mehr, weil der Nachschub fehlt, und weil ohne Arbeitsleistung auch kein Lohnanspruch besteht, kommt schnell eine Menge durcheinander.

Ersatzmann oder Vertreter, das kann sich ein Privatunternehmer nicht leisten. Er betreibt die Firma ausschließlich, um seine umfangreiche Familie zu ernähren und dabei möglichst reich zu werden, und wenn es geht, sehr schnell. Da muss er die Kosten, vor allem die berühmten Lohnnebenkosten niedrig halten. Da kommt sein Gewinn her. Mich beschäftigt er nur, damit ich mit meiner Familie nicht verhungere. Das trifft für alle anderen bei ihm Beschäftigten auch zu, sie mögen sich nennen, wie sie wollen.

Das Letzte, das mit dem Verhungern, habe ich nicht aus der Luft gegriffen, das hat er mir selbst einmal gesagt, als ich zwecks einer Gehaltserhöhung bei ihm vorsprach. Er machte da nach meiner Erfahrungen auch keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Er gab auf der Strecke Lohn und Gehalt niemandem gegenüber nach. Da war er gerecht. Klare Fronten sind wichtig, vor allem im Wirtschaftsleben, und Ehrlichkeit auch. Wie brutal das beim Gegenüber ankommt, merkt man als Chef sowieso nicht. Zu zart besaitete Mitarbeiter sollen übrigens nicht allzu zuverlässig sein. Es wird nicht umsonst diese neudeutsche Tugend der Belastbarkeit neuerdings von Arbeitgeberseite her so hoch gelobt. Ob alle seine Blütenträume reifen, steht auch für den Unternehmer meist in den Sternen. Der sagt jedenfalls, dass er auch nicht besser dran ist, als unsereiner. Seine Probleme sind wohl andere.

Mein Chef war jedenfalls ein sehr aufrechter und geradliniger Charakter mit christlichen Wurzeln, ein alter Calvinist, wie er mir einmal verschmitzt und augenzwinkernd mitgeteilt hatte und im Glauben sattelfest. Der kannte auch Luthers Kleinen Katechismus und da stehen bekanntlich solche Sachen drin wie beispielsweise: „… dass wir unsere… Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben…“ Und das forderte er auch ganz selbstverständlich ein. Bedingungslos. Es war schließlich Luthers Ausformung von Gottes Gebot. Und beim Kalvinisten gehört es mit zur Grundüberzeugung, dass Gott die Versager hasst.

Erfolgreich sein, das ist Gottesdienst und wer das meiste Geld für sich auf seine Seite kriegt, den liebt Gott auch. Das kommt, wenn auch nicht überraschend, so doch unerwartet bestätigend auch wieder ganz neu aus Amerika. Wer da im Dreck herum kriecht, dem ist das angeblich vorherbestimmt. Der muss sich damit abfinden. Das ergibt sich schließlich ganz klar aus der Prädestinationslehre. Wenn Sie dazu Fragen haben, dann lesen Sie das bitte selbst nach. Alles muss ich Ihnen nicht erklären. In den USA sind sie davon derzeit ganz begeistert und die Armen dort deshalb auf die Reichen auch nicht so neidisch wie bei uns. Das haben mir alles erst das öffentlichrechtliche Fernsehen und auch die Bildzeitung beigebracht.

Mein Chef ist ja kein schlechter Mensch. Wenn aber, wie bei ihm, die Frau die Bücher führt, darf ihm im Geschäftsbetrieb nichts daneben gehen, sonst hängt sofort der Haussegen schief. Da kann er kaum etwas vertuschen und wenn die Firma nicht genug abwirft, dann muss er straff ran, sonst nimmt sie ihn sich zur Brust. Heutzutage ist es schließlich wichtig, das Niveau des Lebensstiles zu halten, und wenn es geht, noch anzuheben. Da nimmt sie ihn dann an die Kandare und nicht zu knapp. Ein so strenges Pflaster wünscht man sich zwar nicht, aber nur so herrscht Ordnung im Laden und man erreicht etwas im Leben. Das ermöglicht es einem als Chef auch einmal eine härtere Gangart mit den Mitarbeitern zu fahren, wenn zuhause eine solche Rückgratstütze weilt, die darüber wacht, dass die geschäftlichen Interessen als oberstes Prinzip gewahrt bleiben.

Als mir also an diesem Tag langsam dämmerte, nicht ganz fit zu sein, und weder aufmunternde Worte noch der sanfte Rüffel halfen, erschien mir angeraten, trotz dieser gesellschaftlichen Notwendigkeiten, denen zu dienen ich mich per Arbeitsvertrag eingelassen hatte, doch zum Arzt zu gehen.

Der Pfarrer hatte mir früher, als ich noch zur Christenlehre ging, in Berufung auf Jesus versprochen, dass es im Himmel, auch wenn man einmal aus verschiedensten Gründen manchmal kneift, später doch noch Vergebung für irdische Sünden hageln könnte, also bestimmt auch für dieses vorsätzliche Arbeitsversäumnis, und sogar wenn mein Chef in der CDU wäre und ich nicht. Ich ging also voller Gottvertrauen gleich zu einem Nervenarzt, der mich nach Begutachtung meiner Gliedertaubheit und nach Anhörung meines diffusen nicht sehr zusammenhängenden Gequassels in die nächstgelegene psychiatrische Klinik überwies, wo man sich um mich kümmern würde und auch die notwendige Medizintechnik, die Behandlungsräume und Medikamente zur Verfügung stünden, die erforderlich wären. Nein, Gummizelle nicht, was ich denn für Vorstellungen hätte. Erst einmal Ruhe. Nervenärzte, Neurologen, Psychiater oder wie Sie die nennen wollen sind Menschen, die der unerschütterlichen Überzeugung huldigen, dass Durchgedrehte mittels medizinischer Behandlungsmethoden wieder zu normalen Menschen gemacht werden können. Gott erhalte ihnen diesen ihren Glauben und uns diese gläubigen Ärzte.

Nachdem mir meine Frau eingepackt hatte, was man für einen Krankenhausaufenthalt so braucht, setzte ich mich wieder ins Auto und meldete mich in der angewiesenen Klinik auf der richtigen Station beim zuständigen Arzt mit meiner Überweisung. Sogleich wurde ich nochmals auf den Zustand meines Nervenkostüms untersucht und erhielt ein paar gefährlich aussehende Pillen. Vitaminpräparate, wie es hieß, die dazu noch eine durchblutungsfördernde Wirkung hätten. Zu den Tabletten gab es eine leichte Gymnastik, die eine sehr hübsche Physiotherapeutin mit mir veranstaltete. Die meiste Zeit lag ich von da an im Bett, allerdings allein, wenn auch in einem Gemeinschaftszimmer, jedoch nicht mit ihr. Um mich herum nur Betten mit ruhig gestellten und nur apathisch reagierenden älteren Leidensgenossen, mit denen ich mich kaum unterhalten konnte. Ganz ohne Bewegung konnte ich aber nicht sein. Das hatte sich im Laufe meines Lebens so entwickelt und ich war, ohne es zu merken, schon zum Neurastheniker geworden, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Nur wenn der abgeschaltet wird, indem man ihm die Arbeit entzieht, wie mir in diesem Fall, dann macht sich das bemerkbar. Und so zog ich in Zeiten, in denen man mich nicht behandelte, auf Kundschaft aus.

Über der Station, auf der ich untergebracht war, gab es noch eine Männerstation. Das waren ältere Suchtkranke, meist Säufer und artverwandt Abhängige. Die waren ganz umgänglich und freundlich, zwar nicht ruhiggestellt, aber doch ziemlich unbedarft, was geistige Interessen betraf. Die droschen friedlich ihren Skat, sahen Fernsehen und unterhielten sich, während sie geduldig beim Mensch-ärgere-dich-nicht ihre Männel setzten über Fußball, Kleintierzucht, Briefmarkensammeln und Gartenarbeit. Die stellten da unter Beweis, wie bedürfnislos ein Mensch ist, wenn man ihn tun lässt, was er will und ihn sonst in Ruhe lässt.

Nie hätte ich vermutet, dass es unter dieser in der Gemütlichkeit angesiedelten Bevölkerungsgruppe dieser Station Süchtige geben könnte. Eigentlich fehlte ihnen zur Gemütlichkeit nur noch das Bier. Und gerade das wollte man ihnen hier abgewöhnen. Ich bekam da den Eindruck, dass die nur nicht zugeben wollten, dass sie nur deshalb nach etwas süchtig waren, weil sie die täglichen an sie herangetragenen Bosheiten des Lebens nicht mehr wollten und sich auch nicht mehr der Unzumutbarkeiten des gesellschaftlichen Konsenses erwehren mochten. Sie hatten das mit ihrer Sucht ausgeblendet. Man nennt das Kapitulation. Sie sahen das aber anders und ich muss sagen, dass in ihren Diskussionen eine Menge Lebensklugheit, wenn auch etwas naiv verpackt, enthalten war. Da hatte ich als sesselfurtzender Angestellter mit nur körperlich-seelischem Defekt nicht viel Anschluss gefunden, weil in mir noch der Ehrgeiz steckte, doch wieder brauchbar für den Idiotenzirkus des Alltags zu werden. Höchstens, wenn sie in den Keller gingen und auf der dort befindlichen Kegelbahn zu Gange waren, dann trottete ich mit. Aufsetzer sind immer willkommen. Da schob ich manche Ratte und musste mich dafür auch auslachen lassen. Da trainierte ich meinen Arm und das Kegeln bekam mir.

In dem Stockwerk unter unserer Station war eine Frauengruppe untergebracht. Was für welche das waren, ist mir nie klar geworden. Das waren alles so Frauen in den Siebzigern, plus minus zehn Jahre und eventuell auch älter gestreut. Die liefen alle in Kittelschürzen teils sehr hektisch, jede mit irgendetwas Undefinierbarem, zwar miteinander aber nicht gemeinsam beschäftigt in dem von der Tür her einsehbaren Gemeinschaftsraum herum, oder saßen apathisch an dem großen Tisch in der Mitte. Der von ihnen erzeugte Geräuschpegel war nicht unerheblich und auch sehr emotional gefärbt. Irgendwelche gezielte Richtung schien diese hektische Geschäftigkeit und Betriebsamkeit trotz allem Lärm, der damit verbunden war, jedoch nicht zu haben. Das ab und zu meist keifende Kreischen, was da regelmäßig mit auftrat hörte man manchmal bis in unsere Etage, wenn die schwere schallgedämmte eiserne Brandschutztür zu ihrer Station offen stand.

Ich habe mal eine der Schwester des Aufsichtspersonals bei einer ihrer Rauchpausen auf dem Flur gefragt, was das für eine Station sei, aber sie gab mir nur vage Auskunft. Anscheinend hielten sich diese Frauen da alle in einem Gemeinschaftsschlafsaal auf, in dem Tag und Nacht Licht brannte und eine Aufsichtsperson passte die ganze Zeit auf, dass sie sich nicht gegenseitig umzubringen versuchten. Irgendeine gemeinsame Tätigkeit, und sei es nur ein Würfelspiel, war da nicht zu organisieren. Der gegenseitige Neid ließ es nicht zu, dass jemand einen einmal eroberten Würfel oder eine Spielfigur wieder aus den Krallen ließ. Ein gemeinsames Lied zu singen, unmöglich. Da verweigere jede anders. Eine mochte das Lied nicht, die nächste wolle etwas anderes singen, die dritte fände den Zeitpunkt unpassend. Alles immer in diesem Sinne und die meisten wären sowieso dagegen, wenn sie überhaupt begriffen hätten, worum es ginge. Es sei im Grunde auch unnötig, die beschäftigen zu wollen. Die hätten so schon genug Stress mit sich selbst. Da musste die Schwester aber schon wieder rein, um zu schlichten, weil, wie ich sah, sich zwei zu prügeln begannen und an den Haaren zerrten.

Die Säufer sagten mir, dass das die Schwiegermutterstation wäre. Sowas hätten sie als Einzelexemplar zuhause, zumindest früher einmal gehabt. Man sehe ja, was herauskäme, wenn das in größerer Menge auf einem Haufen geschmissen wäre. Denen konnte man aber auch nicht alles glauben, was sie erzählten. Die fragten mich unter anderem, ob ich auch von der Krankenkasse eingewiesen worden wäre, was ich verneinte. Aber es wäre schon ein Kassenarzt gewesen, der mich hierher überwiesen hätte, das gab ich zu. Da wollten sie wissen, ob ich den Unterschied zwischen Privatpatienten und Kassenpatienten kennen würde. Ich verneinte wider besseres Wissen und ließ es mir erklären.

„Also, pass auf, wenn du beispielsweise zu einer Abmagerungskur, wie du sie nötig hättest eingewiesen wirst, dann kriegst du normalerweise auch Bewegungstherapie verordnet. Da sperren sie dich in ein Zimmer, in dem in der Mitte ein riesiges Bett steht. Dann kommt eine hübsche junge Puppe rein, ganz nackt. Die sagt zu dir: ‚Wenn du mich kriegst, dann darfst du…’ Und dann rennt sie los, immer um das Bett herum. Da musst du ganz schön rennen, wenn es nicht umsonst sein soll. Das ist die Kur für die Privatpatienten.

Bist du Kassenpatient, dann sperren sie dich nackich in diesen Raum mit dem Bett und dann kommt eine von denen aus der Schwiegermutterstation rein und sagt: ‚Wenn ich dich kriege, dann musst du…’ Da solltest du mal sehen, wie du da rennen kannst.“

Das wurde mir ganz bedächtig erklärt, wie man eben mit einem redet, den man für plemplem hält. Sie hatten da wohl auch sonst genug Zeit und irgendwann hat man das schließlich auch satt, immer nur Körbe zu flechten oder sonst irgendetwas zu basteln. Kunsttöpfern ist sowieso nur etwas für Frauen. Diogenes hätte bei denen noch lernen können.

Dass es in dieser Klinik noch weitere Stationen gab mit noch skurrileren Insassen, konnte ich mir an Hand dessen, was ich sah, schon denken. Ich habe nicht weiter nachgeforscht. Meine Neugier hielt sich in Grenzen. Da ich meine Station nach Belieben verlassen durfte und mich niemand aufhielt, begann ich auch das Außengelände des weitläufigen Klinikums zu erkunden. Da herrschte Ruhe und Frieden. Nur selten sah man jemand vom Personal in größerer Eile zwischen den Gebäuden hin und her hasten. Die Zeit der herbstlichen Laubfärbung erlaubte es mir, die Spaziergänge unter den alten Kastanienbäumen zu genießen, an denen die Blätter im milden Schein der schon tiefstehenden Herbstsonne golden leuchteten. Da war ich einer der wenigen Patienten, die das wahrnahmen.

Wann hatte ich zum letzten Mal so ausspannen können. Ich erinnerte mich nicht mehr. Ich hing also meinen Gedanken nach, und befasste mich einmal rein theoretisch mit meiner Existenz und zwar der als Mensch an sich. Weil ich mich aber an einem psychischen Tiefpunkt befand, schürfte ich geistig noch intensiver, noch eng begrenzter, und zwar über meine Existenz als Mann. Dazu hat der Normalbürger im Alltag meist keine Zeit. Darüber grübeln höchstens Philosophen und solche über den Rand gefallenen Typen wie ich.

Mir war immer wieder aufgefallen, dass Frauen und Männer grundsätzlich unterschiedlich an die Lösung von Problemen herangehen, dass sie sich trotz Zusammenlebens nicht aufeinander zu, sondern voneinander weg zu entwickeln scheinen, das war mir hier wieder einmal ungewollt und unbeabsichtigt, aber anschaulich demonstriert worden. Während Männer sich mit Gegebenheiten abfinden, lässt sich die kreative Initiativenergie der Frau nicht drosseln. Sie schafft sich Bahn, auch wenn ihre Gerichtetheit unsinnig ist, wie hier auf der Schwiegermutterstation. Das beweist, dass die Frau infolge ihres Strebens nach Veränderung der eigentliche, wenn auch nur unterschwellig, so doch entscheidende Motor des Fortschritts ist. Das war mir nicht nur hier, sondern schon vorher im Arbeitsleben und auch sonst so vorgekommen, auch wenn das meist als Unzufriedenheit, wenn nicht noch als Schlimmeres bezeichnet wird. Die Depression in die ich unmerklich im Laufe der Jahre gefallen war trieb diese Blüten. In meinem eigenen Saft schmorend verrannte ich mich natürlich geistig total, weil ich doch niemand hatte, mit dem ich mich entsprechend austauschen konnte. Statt Erholung verschaffte ich mir überflüssigen Gedankenstress, die beste Gelegenheit auch noch in eine weitere und vielleicht noch tiefere Depression zu verfallen. Prinzipielles bringt nun einmal nichts. Ich hatte mir einiges zusammengesponnen, aber das betraf wohl nur die allgemeine feindliche Außenwelt und das Arbeitsleben. So mit dem für mich eigentlich doch unbefriedigenden Ergebnis meiner Grübeleien allein, die mir meinen zeitweisen Lebensüberdruss nur noch verstärkt hatten, suchte ich also in dieser Klinik nach Abwechslung und ein bisschen auch nach Hilfe.

Eine Psychologin, die fast jeden Tag durch die Krankenstationen ihre Runde machte, suchte zu der Zeit bei den Patienten der Klinik irgendwelchen dienstbedingt gesprächsweisen Anschluss. Eine Klinik dieser Größe hat aufgrund wissenschaftlich begründeter Festlegungen nun einmal für verschiedene Aufgabengebiete eine bestimmte Anzahl zu besetzender Planstellen. Auf einer dieser Planstellen saß diese Psychologin. Sie war für uns zuständig und suchte natürlich ihre Arbeit zu erledigen. Ob möglich oder nicht, Planstelle ist Planstelle. In der Station, in der ich lag, gab es nur alte Männer mit geistigen Defekten, Schlaganfällen, Gehirnerschütterungen und plötzlich aufgetretenen Ticks, die meist mittels Medikamenten ruhiggestellt waren und demzufolge apathisch auf ihren Betten herumlagen. Mit Anfang Fünfzig war ich der Jüngste und gleichzeitig der einzig Ansprechbare. Es war bei Beginn der Behandlung vergessen worden, mir zu sagen, dass auch ich einem Schlaganfall erlegen war, wenn auch einem leichten. Das wurde mir erst ein paar Tage später nachgereicht. Nachdem ich nun Bescheid wusste, war mir wohler, denn sich mit unbestimmten Symptomen in einem Klinikbett herumzudrücken, da bekommt man schnell ein schlechtes Gewissen.

Als diese Psychologin, die ich so gegen Ende Dreißig schätzte, eines Vormittags wieder mit ihrer psychischen Schleppangel auch durch unser Zimmer streifte und ich ihr von Resignation gezeichnetes Gesicht sah, aus dem heraus sie, unbeschwerte Fröhlichkeit vortäuschend, uns nach dem Befinden abfragte und ihre Hilfe anbot, biss ich an dem ausgelegten Haken an, ganz vorsichtig. Sie stülpte mir aber sofort ihren Kescher über, und ehe ich mich versah, zog sie mich an Land.

Was ich mir unter psychologischem Beistand vorgestellt hatte, wusste ich selbst nicht. Eigentlich steckte nur Langeweile und ein bisschen Einsamkeit, ein Alleingelassen sein mit der eigenen Gedankenhölle dahinter. Außerdem hatte mir dieses späte Mädchen wegen seiner täglichen vergeblichen arbeitssüchtigen Werbungen mit ihrem Angebot psychologischer Hilfe leid getan. Wenn ich nun einmal dabei war, konnte ich mich auch über einige Unklarheiten aufklären lassen, die ich hatte. Mein Zeitgefühl war mir nämlich durcheinandergeraten; oft verschwanden Stunden im Nichts, als wäre die Zeit beschleunigt, dann aber dehnten sich irgendwelche Sachen endlos, und die Zeit schien zu kriechen. Eine Mahlzeit konnte zeitlich so ablaufen, dass ich meinte, kaum mit dem Essen angefangen zu haben, als mein Essen aber schon kalt und alle fertig waren. Das Geschirr wurde bereits abgeräumt, während ich noch an meiner vollen Schüssel mit Eintopf saß. Andererseits sah ich zeitweise, wie sich alles um mich herum nur im Zeitlupentempo zu bewegen schien. Bequem hätte ich den Vorbeikommenden ihre Schuhe mitten in der Bewegung neu besohlen können, so langsam lief die Zeit ab. Wieso diese Zeitdehnungen und dann wieder der Schlupf? Das wollte ich von ihr wissen.

Da kam ich an die Richtige. Seit wann? Wie lange schon? Ob früher auch? Bei welchen Gelegenheiten? Ein Fragengewitter… Ob sie sich das alles merkte, weiß ich nicht, denn aufgeschrieben hat sie sich eigentlich sehr wenig, obwohl der kleine Schreibblock und ein Stift immer mit dabei waren. Sie erblühte da förmlich, nachdem sie mit meiner Person in den Besitz eines sogar noch kooperativen Behandlungsobjektes gelangt war. Es dauerte nicht lange, da bestätigte sie meine Vermutungen. Der jahrelang unbemerkt in mich hineingefressene Stress habe zu körperlichen Symptomen geführt, und so bekam ich erstmals einen groben Hinweis, was man unter psychosomatischen Krankheitsbildern versteht und zusammenfasst.

Nun pflegen die Psychologen die vor ihnen sitzenden Patienten dazu aufzufordern, doch ganz einfach zu sagen, was sie bedrückt. Das müsse raus, fordern sie dazu in einem Ton auf, als wüssten sie schon alles. Man solle es aber selbst sagen. Nur durch die eigene verbal gefasste Darstellung könne man das betreffende Problem packen und es einer Lösung zuführen, es sozusagen aus dem Wust der unklaren Bedrohungswolke psychischer Ängste eliminieren. So kam eine Sitzung zur anderen und irgendwann begann ich ernsthaft darüber nachzudenken, was ich ihr eigentlich Wichtiges mitzuteilen hätte. Von dem unaufhörlichen Gezänk, das sich aus den ständig nur gut gemeinten gegenläufigen Einwirkungen von Müttern und Schwiegermüttern auf das Familienleben entwickelt, glaubte ich, nichts erzählen zu müssen. Das ist etwas, was wohl zum Alltag gehört. Heimlich nahm ich sogar an, dass dieser ewige Kampf – der einen, mir ihre Tochter entfremden zu müssen, und der anderen, sie ebenfalls von mir wegzubeißen, um mich wieder für sich zu vereinnahmen – unsere Ehe in ihrem Bestand erst richtig gefestigt hat. (Sie kennen das: Weil du mir meinen Sohn weggenommen hast, nehme ich dir jetzt deinen Mann weg. Weil du mir meinen Mann wegnehmen willst, nehme ich dir deinen Sohn weg.) Sind dann auch noch Kinder mit im Spiel, dann ist sowieso keine Übersicht mehr in den ganzen Schlamassel zu bringen. Das kann sehr belasten, so ein ständiger unerklärter Krieg. Ich glaubte die Ursachen meines Zusammenbruches jedoch an anderer Stelle verankert.

Meiner Psychologin erzählte ich deshalb andere Sachen, mehr an der Gelderwerbsseite, arbeitsseitig Angesiedeltes, erst nur Allgemeines, was einem Missliebiges widerfährt, aber dann unter anderem in aller Ausführlichkeit ganz emotionslos die Begebenheit, wie gleich nach der Wende eine Truppe fahrenden Volkes durch unser Städtchen gezogen war und unserer Firma das Härten von Industriemessern angeboten hatte.

Da wollte ich erst einen Beweis und ein Muster haben, ehe ich mich darauf einlassen würde. Sie zogen dann mit einem Handbeil, das ich ihnen mitgab, davon und brachten es am nächsten Tag zurück, frisch geschliffen und mit gehärteter Schneide. Vor meinen Augen zerhackte einer von ihnen damit ohne größeren Kraftaufwand auf einer Stahlplatte eine zentimeterstarke Eisenstange in handliche Stücke, wobei das Beil auch hinterher noch genauso rasiermesserscharf und ohne eine einzige Scharte war. Ich hätte ihnen Arbeit genug geben können, aber sie verlangten Westgeld; darüber verfügten wir noch nicht, und das Geschäft kam aus diesem Grunde nicht zustande. Dieses Beil stellte ich sicher, und es hielt sich von da an neben meiner Aktentasche im unteren rechten Fach meines Schreibtisches auf, und zwar ganz hinten. Es hätte ja etwas passieren können. Beim Beil erwartet niemand eine solche gefährliche Schärfe. So lag es da mehrere Jahre, wie sich hartgewordene Radiergummis, abgeschriebene Kulis oder Zettel mit irgendwelchen Texten beziehungsweise Werbemuster und Ähnliches auch in einem Schreibtisch ansammeln und ihren Platz beanspruchen, ohne dass sie je wieder benutzt oder zur Kenntnis genommen worden wären.

Die Zeiten ändern sich und auch Beziehungsstrukturen, manches abrupt, anderes schleichend. Manchmal ändert sich etwas sogar zur Unerträglichkeit, ganz langsam, aber sehr entschieden. Die neue Zeit brachte, nachdem man uns als Firma aus dem Volkseigentum in die Privatwirtschaft verkauft hatte, mit dem neuen Besitzer und Chef auch neue Arbeitsbedingungen mit sich und an die musste man sich erst gewöhnen.

Wenn Sie beispielsweise gerade nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, weil Sie von der Menge der unbedingt noch zu erledigenden Aufgaben fast erschlagen werden und der Chef kommt abends so kurz nach acht Uhr, gleich nach der Tagesschau, weil ihm der anschließende Film nicht so zusagt, noch einmal in Filzlatschen vorbei und belästigt Sie mit irgendwelchen zusätzlichen zeitfressenden Kinkerlitzchen, während Sie noch verzweifelt am Einsatzplan der Ihnen zugeordneten, also seiner Leute für den nächsten Tag arbeiten, schon seit Stunden zuhause überfällig sind und nur noch eins wollen: fertig werden und abhauen; mag Ihnen das ungelegen kommen, so dass sie kaum noch reagieren. Nachdem sie schon vierzehn Stunden Arbeitszeit hinter sich haben, und zwar schon jeden Tag dieser Woche, und auch wissen, das Sie am nächsten Morgen mit der Frühschicht wieder mit antreten müssen, sind Sie schon froh, dass sie so spät abends wenigstens das nie zur Ruhe kommende Kundentelefon nicht mehr am Hals haben und sich endlich aufs Wesentliche, ihre tatsächliche Arbeit, die vorausschauende Organisation des Betriebsablaufes konzentrieren können.

Jetzt kommt der also noch und schiebt sich dazwischen. Sie schaffen es einfach nicht mehr, sich für sein Zeug zu interessieren. Sie sind einfach zu abgespannt dafür. Überstunden bezahlt der sowieso nicht. Er ist der Meinung, dass einer, der seine Aufgaben nicht in der regulären Arbeitszeit schafft, für die Firma schlicht untragbar ist. Diese Einstellung des Chefs erzeugt nämlich beim Angestellten Arbeitswillen und gleichzeitig im Arbeitnehmer ein gegen sich selbst gerichtetes schlechtes Gewissen, ein Schamgefühl gegenüber der Firma, wenn er das nicht schafft, was nicht zu schaffen ist.

Das kommt aus dem Fachgebiet der psychologischen Menschenführung im Management und ist eine sehr bewährte Methode zur Steigerung der Arbeitsleistung im Verwaltungsbereich. Wenn Sie da als Chef übersteuern, dreht der Untergebene höchstens durch. Mehr geschieht erst einmal nicht. Das können Sie also immer anwenden.

Beim Malocher an der Maschine kann er das nicht so direkt anwenden, da ist das gefährlicher, denn da fliegt ihm womöglich eines Tages seine ganze Fabrik um die Ohren, weil die Naturgesetze in der materiellen Produktion noch gewisse Einflüsse haben, die sich beim Papierkram nicht so plötzlich und auch nicht so handgreiflich entwickeln können. Bei Papierkram, da wirken andere Gesetze, unterschwellig, lautlos, zwar manchmal noch verheerender, aber das merkt man meist erst, wenn die Bilanz erstellt ist und mit der kann man sich Zeit lassen. Ein Konkurs kommt langsam. Eine Maschinenhavarie passiert plötzlich.

Eine angestellte Frau kann in der gerade geschilderten Situation des persönlich Überfordertseins dann eventuell immer noch in Tränen ausbrechen, was ihre durch Stress erzeugte Gefühlsblockade entschärft, und ihren Chef um Hilfe angehen oder sonstwie ablenken. Da tut es in jungen Jahren schon ein kurzes Röckchen oder ein tiefer Ausschnitt in Verbindung mit einem hilflosen Lächeln.

Das haben Sie als Mann nicht als Ausweg, selbst wenn es eine Chefin ist, die Sie zur Sau machen will. Lädt der Chef dann auf Ihnen noch seinen Frust ab, nach dem Motto: „Dem Esel, träge im Geschäfte, verleiht der Knüppel neue Kräfte“, und droht Ihnen mit einer Abmahnung, weil er sich nicht genug respektiert fühlt, da haben Sie als Mann, falls Sie keine Memme sind, nicht den Ausweg der Tränen. Da fangen Sie nicht wie ein altes Waschweib an zu jammern, wie beispielsweise Hark Bohm als Prokurist in dem Fassbinder-Film „Die Ehe der Maria Braun“. Da wird in Ihnen der Kampfgeist geweckt. Man hat sie schließlich als Mann zum Siegen erzogen. Da beginnen Ihre Nebennieren Adrenalin auszuschütten. Während sich Ihr Blickfeld unter dem Einfluss der anspringenden zusätzlichen Pumpleistung Ihres Herzens zu verdunkeln beginnt und Ihr Hirn einen ersten kurzzeitigen Schwindel registriert, kann Ihnen schon mal flüchtig einfallen, dass da noch griffbereit das Beil liegt.

„Gleichzeitig“, sagte ich zu der meinen Darlegungen immer noch andächtig lauschenden Psychologin, „dachte ich aber auch an die Folgen und an meine Familie, und da verweigerte die Psyche der Physis den Dienst, obwohl ich überhaupt nicht nach dem Beil gegriffen hatte. Sehen Sie, und da setzte erstmals kurzzeitig ganz unvermittelt dieLähmung des rechten Armes bei mir ein.“ Manche Leute glauben, dass sie die furchtbarsten Sachen machen dürfen, solange sie die ihnen hierarchisch Ausgelieferten dabei nur friedlich anlächeln. Ein Lächeln ruft immer nach einer Antwort, nach einem Lächeln. Wenn sie das erreicht haben, glauben sie dass man es ihnen nicht nur durchgehen lässt, dass sie jemand hin und wieder psychisch, sozial oder finanziell ermorden, sondern das aus der hierarchischen Bedrängnis geborene rituelle Antwortlächeln ihrer Opfer scheint ihnen auch noch zu bestätigen, dass das so alles ganz in Ordnung ist, wie sie das machen. Gegen ein Lächeln können Sie sich nicht empören, weil sich das nicht gehört.

Das ist dann das Dynamische, was überall vor allem die mittelständische Wirtschaft in Schwung hält, da, wo der Chef noch das Weiße im Auge des bei ihm Beschäftigten sehen kann. Da schläft auf alle Fälle der Chef gut, und ein jeden Tag gut ausgeschlafener Chef ist ein nicht zu verachtender Faktor für ein gutes Arbeitsklima in der Firma.

Es ist schon faszinierend, wie sich unter dem Einfluss von Besitzverhältnissen und pekuniären Zwängen im Zusammenhang mit persönlichen Vertragsbeziehungen im Wirtschaftsleben die Verhaltensweisen auch unter Männern völlig abwegig gestalten. Wenn ich beispielsweise mit einem Menschen wie meinem Chef, unbekannterweise gemeinsam eine Therapie in dieser Säuferstation gemacht hätte, dann wäre das etwas ganz anderes gewesen. Ist man miteinander unter der gleichen Fuchtel gleichgeschaltet, dann entwickeln sich die gegenseitigen Beziehungen meist viel positiver.

Das war es ungefähr, was ich meiner Psychologin erzählt habe. Sie wechselte zwar während meiner Ausführungen ab und zu etwas die Farbe, weil es doch einige zu extreme und zu drastische Entäußerungen meiner innersten Überzeugungen gewesen sein mögen, was sie sich da angehört hatte. Sie sagte aber dann, so vermöge sich Psychosomatisches auch zu äußern. Das Grundthema irgendwie gesprächsweise weiter zu vertiefen, lag wohl jenseits aller ihrer Vorstellungen. Mit so eiskalter Wut hatte sie bei mir keineswegs gerechnet. Das sagte sie mir aber nicht. Es war im Endeffekt schließlich nur Geredetes, aber sie hatte gemerkt, dass es für mich nicht lustig war.

Im normalen Leben ein Ding der Unmöglichkeit, darüber zu sprechen, und wenn, dann nur als eine Sache, die höchstens anderen passiert sein könnte. Es gehörte sich einfach nicht. Ich vertraute da auf ihre Schweigepflicht. Ob mich die Erzählung dieses für andere unbemerkbaren Vorfalles erleichtert habe, konnte ich nicht sagen.

Vor Jahren hatte mich wegen Überarbeitung erstmals ein Neurologe krank geschrieben. Eine Tablettenkur von etwas mehr als sechs Wochen, die ich zuhause durchführen konnte, hatte mich für die nächsten zehn Jahre wieder fit gemacht. Dabei sprang als positiver, unbeabsichtigter Nebeneffekt heraus, dass ich mir nach über zwanzig Jahren Totalabhängigkeit aus eigenem Antrieb das Rauchen gleich mit abgewöhnte. Meine Familie, vor allem meine Frau, sah das mit dem Nervenarzt daher nicht so verbissen und ich auch nicht. Jemandem, mit dem ich damals ein ganz zwangloses Gespräch geführt und den ich mit einer Sache geneckt hatte, rutschte da der Allerweltssatz heraus: „Du bist wohl verrückt?“ Das kann man im Spaß und unter vier Augen und unter Freunden durchaus verwenden, aber nicht vor Publikum zu einem, der die Arbeit anweisen kann. Allgemeine Erstarrung, ehe die ernsthafte Versicherung kam, man habe mich nicht beleidigen wollen. Um diesen Vorfall nicht unnötig hochzuspielen, konnte ich nur locker kontern, indem ich sagte, dass das keine Beleidigung darstelle, sondern höchstens unter Geheimnisverrat falle, womit das dann auch erledigt war. Soweit meine Erkenntnisse zur Wertigkeit psychischer Begrifflichkeiten im täglichem Umgang miteinander.

In der Klinik machte meine Genesung Fortschritte, und nachdem die Funktion eines noch nicht ganz parierenden Nervenstranges mittels angeklemmter Elektroden und durchgejagter Reizströme wieder gesichert war, konnte ich auch wieder einen Stift halten. Die Koordinierung der Finger verbesserte sich täglich. Geschriebenes wurde wieder leserlich. Die inzwischen zusätzlich in mein Genesungsprogramm aufgenommene Behandlung durch die Psychologin machte ebenfalls Fortschritte. Sie unterrichtete mich zwecks Stabilisierung meines psychischen Gleichgewichtes in Autogenem Training.

Ein sehr kurz gefasstes Heftchen, in dem ohne viel Brimborium diese Methode der geistigen Konzentration auf das Wesentliche ganz allgemeinverständlich dargelegt war, half mir dabei. Ich ging also ganz egoistisch auf mich selbst bezogen an die Steuerung der Atmung, des Herzschlages, der allgemeinen körperlichen Befindlichkeit unter strikter Abschottung gegen psychische Einflüsse, Zwangsvorstellungen, Irritationen und alle sonstigen störenden Gedanken. Man glaubt nicht, wie sehr einem das bei der Findung der eigenen Mitte zu helfen vermag.

Gleich nach der Wende, als sich diese ganzen esoterischen Schriften und parapsychologischen Ratgeberschwarten im Buchhandel des Ostens infolge vorher erzwungener Abstinenz zum kurzzeitigen Renner entwickelten, hatte ich mich im Selbstversuch an Meditation herangetastet, doch mit nur mäßigem Erfolg. Das Klinikumfeld erlaubte es mir nun, allen psychischen Ballast abzustreifen, und in dieser zeitweiligen Abschottung ertastete ich die Gefilde der Selbsthypnose in Trance. Trotz mehrfacher Versuche wollte allerdings nicht so richtig funktionieren, was sich meine Lehrerin so vorgestellt hatte, weil es nach ihrer Meinung unabdingbarer Bestandteil der richtigen Anwendung sei, wenn es zum Erfolg führen solle.

Beim Einstieg in den meditativen Trancezustand bestand sie auf einer Gedankenreise, die auf einer abgelegenen besonnten Sommerwiese mit duftenden Blumen, lautlos flatternden Schmetterlingen, summenden von Blüte zu Blüte fliegenden und nach Honig suchenden Bienen, zirpenden Grillen, weit oben am blauen Himmelszelt jubilierenden Lerchen und so weiter begann. Das führte meist zu einem riesigen alten Baum mit einer Geheimtür, einer Laubhütte mit einer Geheimtür oder sogar zu einer Felswand mit einer Geheimtür. Bis dahin konnte ich ihr mit geschlossenen Augen folgen, und dann sagte sie immer, dass sich diese Tür öffnen würde und ich hineinginge. So weit, so gut, aber das, was ich da Wunderbares sehen würde, sollte ich mir selbst ausdenken.

Es endete wie beim Fernsehen. Im spannendsten Moment fällt der Sender aus, und der ganze Bildschirm ist nur noch ein wuselnder Haufen schwarzer und weißer Bildpunkte als graues Rauschen, bevor die Meldung eingeblendet wird, dass der Sender soundso Bild- und Tonausfall hat. Es klappte nicht. Mit Tagträumen sei es bei mir nicht weit her, gab ich zu. Ich träumte lieber sehr handgreiflich und live. Es sei ohnehin schon sehr hilfreich gewesen, was ich gelernt hätte, zumal ich sehr genügsam und praktisch veranlagt sei. Das Mögliche wäre bei mir ausgeschöpft und ich damit zufrieden.

So, wie ich das sagte, muss es etwas falsch rübergekommen sein. Das spürte sie wohl nicht so sehr als Psychologin, eher steckte wohl weibliche Intuition dahinter, und in diesem Moment spielte ihre Neugier uns einen Streich. Sie wollte dazu unbedingt noch Genaueres wissen, und ich verriet ihr, dass es sich dabei nur um sehr unanständige Dinge handele und mein Gesundheitszustand so weit wiederhergestellt sei, dass ich mich nicht mehr nur auf theoretische Träume beschränken müsse.

„Konkreter bitte.“