Die Arglosen in Ägypten - Georg Naundorfer - E-Book

Die Arglosen in Ägypten E-Book

Georg Naundorfer

4,9

Beschreibung

Das Buch beschreibt eine Nilkreuzfahrt, die nach einem Zwischenstopp in Kairo nach Assuan führt, von da bis zum südlichsten Punkt Ägyptens und anschließend per Schiff und Bus wieder bis Kairo. Die Kapitel entsprechen den Reiseetappen. Es ist kein Tagebuch, sondern eine essayistische mit erhellenden Rückblenden versehene Aufarbeitung der Geschehnisse und Besichtigungen während der Reise. Wie man mit Touristen umgeht, Ordnungsmacht und Terrorismus, die Besonderheiten altägyptischer Kultur, ihre verlogene Vermarktung und die auch heute oft noch vorsintflutlich anmutenden Lebensbedingungen, vor allem auf dem Lande, das ist hier beschrieben. Dass die Reise zusätzlich durch ein Erdbeben überschattet wurde, ist dabei nur Zugabe. Eine gute Lektüre, um seine eigenen Erinnerungen wieder aufzufrischen, aber auch als Vorbereitung einer solchen Reise.

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Ägypten ist nicht nur ein Tipp für Badeurlauber. Dieses Land bietet uns eine faszinierende Mischung aus arabischer Kultur, Vermarktung pharaonischer Geschichte, Anschlussversuchen an die technisch geprägte Zivilisation des Abendlandes und in unseren Augen noch romantischen Lebensbedingungen. Vor Europas Haustür liegend, ist es unserer Geschichte schon seit der Antike näher verbunden als der asiatische Raum und gleichzeitig fremder als Amerika oder Australien, die nachträglich von Europa aus besiedelt und geprägt wurden.

Was hier aufgeschrieben wurde, findet sich in keinem Reiseprospekt. Außer dem Mentalitätsspektrum derer, denen man dort begegnet, wird die nachvollziehbare Entlarvung angeblicher Wunder geboten und Zugang zu Dingen gewährt, deren angebliche Geheimnisse sich bei genauerer Betrachtung vor Ort ganz einfach erschließen. Die Wirklichkeit ist oft schöner als alle Illusion.

Das ist ein essayistischer Reise-, aber kein Expeditionsbericht. Das kann jeder noch heute da erleben, sogar als Pauschalreisender im Rahmen einer ganz normalen Urlaubsreise jedes beliebigen Reisebüros, wenn er neugierig mit wachen Sinnen und vorurteilslos mit etwas Verständnis in sich aufnimmt, was ihm dort geboten wird.

(Skizze der Reiseroute auf Seite →)

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang

Ankunft

Kairo. Erste Berührung

Assuan

Abu Simbel

Assuan (Zwischenspiel)

Schiffsgastronomie auf dem Nil

Komo Ombo

Edfu

Idyllen am Nil

Theben

Karnak und Luxor

Dendera heute und ehedem

Schiffs- und Landverpflegung

Bordfeste auf dem Nil

Abydos

Über Assiut nach El Minia

Fayoum

Gizeh, der Steinbruch der Nachfahren

Enttäuschung Memphis, wie Araber bauen, und etwas über Straßenverkehr

Sakkara

Kairo. Zweite Berührung

Kairo im Schnellzugtempo

Ägyptisches Museum

Der letzte Abend und die allerletzte Nacht in Kairo

Fazit. Wohin man zu fahren glaubte, und wo man eigentlich war

Abgesang

Skizze der Reiseroute Ägypten

Der Anfang

Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass ich die Möglichkeit hätte, einmal nach Ägypten zu kommen. Ägypten, das war von klein auf mein Wunschtraum. Wir hatten zu Hause zu viele Bücher im Schrank, in denen die Wunder der pharaonischen Kultur beschrieben waren. Dazu gab es noch Romane von Max Eyth, eine spekulative Abhandlung über die kosmischen Zahlen der Cheopspyramide und auch ein Buch über das Grab des Tut-ench-Amun. Schon mein Vater, den ich früh verlor, hatte diesen Traum gehabt, ihn sich aber auch nur aus dem Papier der Bücher erfüllen können. Er hatte erst kein Geld für eine solche Reise gehabt, dann kam ihm der Krieg dazwischen, und ich hatte später aus der DDR nicht dahin heraus gekonnt.

Plötzlich gab es dann unerwartet die Wende. Wie das nun einmal so ist, erst hat man keine Möglichkeit, das zu unternehmen, was man gern möchte, dann fehlt einem die Zeit dazu. Endlich nimmt man sie sich und überrollt sich dabei nicht selten selbst. Eingebunden ins Arbeitsleben ist der Urlaub etwas, was man wohl braucht, aber die Erlebnisse hinterher besinnlich auskosten, dazu fehlt wieder die Zeit. Es bleiben im nahtlos anschließenden Alltagsstress nur Erinnerungsfetzen, und falls man wirklich endlich zur Ruhe kommt, ist der Kraftaufwand, zu sich selbst zu finden oft so groß, dass es dann meist auch unterbleibt, weil die unverarbeiteten Erinnerungen schon verblasst sind. Als mich schließlich das Aus der Rente ereilt hatte, nahm ich mir vor, in Ruhe zu sichten, was sich in Jahren bei mir unsortiert in Schachteln und Schubladen angesammelt hatte und mir Regale und Kartons in der Wohnung blockierte. Da war zwar die Absicht gewesen, das alles nach kurzer Sichtung radikal von Überflüssigem zu bereinigen und das Meiste wegzuwerfen. Aber mittendrin merkte ich, dass ich dabei war, wegzuwerfen, was mein Leben ausmachte, und das sind die Erinnerungen, solange man sie noch heraufzubeschwören imstande ist, was meist nur an Hand sogenannter Erinnerungsstücke geht. Den größten Haufen dieser Dinge hat man, so auch ich, von den verschiedensten Urlaubsreisen mitgebracht. Es kam, wie es kommen musste. Statt auszusortieren und wegzuwerfen kam ich ins Sortieren und mit dem Sortieren entstand das Problem der Zuordnung. Ein Schnipsel folgte auf den anderen, eine Eintrittskarte kam zur nächsten, ein Foto zog die Suche nach dem nächsten nach sich. Ein Prospekt wurde ergänzt von einem Katalog, und auch an mitgebrachten Nippes oder Folklorestücken hingen für mich szenische Fetzen. Die Erinnerungen drängten auf Wiedererweckung, statt zum Vergessen.

Es wurde zu viel, und ich sah mich gezwungen, bei meiner Sortiererei auszuwählen. Ehe ich mich versah, hatte ich einen Wust verschiedenster unbewältigter Erinnerungen zu den vor allem mit der Familie unternommenen Urlaubsreisen beieinander, die vielleicht für mich, aber nicht für jeden von Interesse wären. Eine Sache drängte sich aber in den Vordergrund, die sich auf meine erste, wenn auch nicht weiteste, aber doch etwas weiter in die Fremde führende Reise bezog, und zwar die nach Ägypten.

Es war ein unwiderstehlicher Drang in mir, wenigstens das alles noch einmal alles nicht nur für mich, sondern auch für daran Interessierte nachzuvollziehen, wie das gleich nach der Wende war, und weil ich mir auch gerade einen neuen Lap-Top zugelegt hatte, bot es sich an, das auch gleich geordnet festzuhalten, zumal ich damals kein Tagebuch geführt hatte und mich auch nur mühsam anhand der nachträglich von Mitreisenden gekauften Fotos durch den Reiseverlauf zu hangeln vermochte, weil mir damals in Ägypten die Kamera nach einigen Tagen kaputt gegangen war, was ich erst ziemlich spät bemerkt hatte. Zwanzig Aufnahmen übereinander sehen als fertiges Bild zwar interessant aus. Vielleicht hat das sogar einen künstlerischen Wert in seiner Verdichtung auf das absolute optische Minimum. Man kann aber nichts darauf erkennen. Wer also Bilder in diesem Text vermissen sollte, dem kann ich nur raten, sich einen der vielen Bildbände über Ägypten zu kaufen. Da findet er mehr gute Aufnahmen zu den von mir beschriebenen Dingen, als ich sie ihm je liefern könnte.

Dieser Bericht ist auch keine Aufzählung oder ein Nachweis für den Besuch bestimmter Sehenswürdigkeiten, sondern er soll Ihnen ergänzend bringen, was Sie in keinem Reiseführer finden, das, was man sieht, wenn man es zu verstehen versucht.

Es wurde ein Bericht aus einem nahen und wenn man dort ist, doch so fernem Land, keine abenteuerliche Forschungsreise, aber doch abenteuerlich genug. Sie brachte mir den Beweis, dass wir uns keineswegs beschaulich zurücklehnen können und sagen, wir hätten alles gesehen, man hätte uns alles erzählt und die große weite Welt sei eigentlich nur etwas sehr breit gestreutes, was man im Fernsehen viel gemütlicher, informativer, gedrängter und umfassender auch haben könne. Vielleicht verlocke ich doch jemanden dazu, sich ebenfalls der Unmittelbarkeit einer nicht voll nach Drehbuch ablaufenden Reise und ihren Überraschungen auszusetzen. Ganz so spektakulär wie das mir passiert ist, braucht es ja nicht zu sein. Selbst Pauschalreisen können spektakulär verlaufen, ohne dass man darauf gefasst wäre.

Ich bin ein Bewohner der neuen Bundesländer. In Sachsen geboren, von den Amerikanern erobert, dann den Russen überlassen, anschließend von der DDR übernommen und bin nach der Wende 1990 dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland mit beigetreten worden. Dass mit mir das wie Millionen anderen auch passiert ist, dafür kann ich nichts.

Was sich in mir in den ganzen Jahren herausgebildet hatte, würde ich selbst als Fernweh bezeichnen und zwar nach den Weltgegenden, die mir verschlossen waren. Herumgekommen bin ich eigentlich nur in der DDR und mal in der CSSR. Es zog mich nicht in die Weiten Russlands oder wohin man sonst reisen durfte. Mit der Wende und der darauffolgenden Wiedervereinigung bestand plötzlich die Möglichkeit, das nachzuholen. Westeuropa, der Nahe Osten und Nordafrika, Stätten uralten Kulturgutes unserer westlichen Zivilisation waren nun unkompliziert bereisbar. Es zog mich weder nach Amerika, noch nach Australien. Auch die Südsee wäre mir auf Dauer zu langweilig.

Die Wende hatte aber auch eine Seite, die nicht vorhersehbare neue Erfordernisse mit sich brachte, die dem etwas entgegen standen. Um reisen zu können, braucht es außer Geld, was die meisten nicht hatten, vor allem Zeit. Die Notwendigkeit des Gelderwerbs zwecks Erhaltung der Existenz war vorrangig. Zuerst brach im Osten die Wirtschaft zusammen und jeder sah deshalb zu, wo und wie er sich damit einrichten könnte, ohne mit in den Strudel der Ereignisse weiter hineingerissen zu werden, als nötig.

Die Zeit verging. Das Jahr 1992 näherte sich schon seinem Ende, und es wurde September, ohne dass sich für mich in der ganzen Zeit die Möglichkeit ergeben hätte, mehr als nur kurz mal einige Tage Urlaub zu nehmen, weil im Zuge der Nachwehen der Wende sich der wirtschaftliche Aufschwung immer noch nicht einstellen wollte, der Betrieb, bei dem ich angestellt war, eine kleine Druckerei im westsächsischen Raum, immer weiter abbaute, erst produktionsmäßig, dann personell, und ganz langsam, aber sicher Schulden anzusammeln begann. Es wurden uns nicht mehr so oft Rechnungen bezahlt, und wir konnten deshalb auch nur noch die wichtigsten bezahlen. Eine verhängnisvolle finanzielle Schraube kam in Gang und drehte sich immer schneller einem Konkurs entgegen, wogegen es sich zu wehren galt. Da war keine Zeit für Urlaub.

Endlich verramschte uns die Treuhand, nachdem sie sich lange dagegen gewehrt hatte, uns an uns selbst zu verkaufen, mal schnell für die übliche D-Mark, und übergab uns dem altbundesdeutschen Erwerber, der dafür aber auch die Schulden mit übernahm. Jetzt wurde der Rest des Personals gesichtet, umstrukturiert und die Arbeit anders unter den Anwesenden verteilt. Was vom „Humankapital“ nicht gleich weiter zu gebrauchen war, wurde nicht übernommen und durfte gehen.

Wir taten von nun an das gleiche wie vorher, es war aber anders organisiert. Wenn erst noch etwas DDR-mäßiges in unserem Laden geherrscht hatte, mit festgelegten Arbeitszeiten, bezahlten Überstunden, freiem Sonntag, schriftlichen Arbeitsunterlagen und so, dann wehte nun ein schärferer Wind. Die Produktionsorganisation wurde auf computergestützte Datenverarbeitung umgestellt und wo vorher sechs oder auch sieben Leute an ihren Schreibtischen gesessen hatten, gab es ab sofort nur noch einen, der mit Hilfe eines Computers das gleiche Arbeitspensum zu erledigen hatte.

Gearbeitet wurde, wenn Arbeit da war, und so lange, bis sie fertig war. Der Kalender diente nur noch zum Zählen der Tage. Arbeitsanweisungen nur noch auf Zuruf und mit Verfallsdatum zwischen zehn Minuten und einer Viertelstunde. Tag und Nacht wurden zu genauso unbedeutenden Worten wie Sonnabend und Sonntag. Die Arbeitszeit betrug am Tag vierundzwanzig Stunden, und wenn das nicht langte, dann hängte man eben noch eine Stunde dran.

Wer das ihm aufgehalste Arbeitspensum nicht schaffte, wurde angehalten, etwas schneller arbeiten, denn für Bummelei beim Arbeiten konnte man keine Überstundenbezahlung erwarten, als Angestellter prinzipiell sowieso nicht. Geld war nebensächlich, denn man hatte bei diesem Arbeitszeitregime keine Gelegenheit, es auszugeben. Da brauchte der „Ossi“ auch keins. Bezahlt wurde nicht die Anwesenheit im Haus, sondern die reine Maschinenlaufzeit, und wer mit dem Einrichten der Maschine zur Arbeit nicht zurechtkam, der musste eben eher da sein, wenn er es abends nicht Zeit anhängen wollte.

Als einer der leitenden Angestellten hatte man es schwer, den Arbeitskollegen begreiflich zu machen, was da ins Laufen gebracht werden musste. Sie ahnten, dass sich das nicht mehr ändern würde und höchstens noch chaotischer werden könnte, und richteten sich auf ihre Art jeder für sich darauf ein.

Die neuen Kunden aus den Altbundesländern mussten wir erst an uns gewöhnen. Wenn man Kunden gegenübersaß und einen Auftrag, den der Chef bei einem Geschäftsessen an Land gezogen hatte, auf technische Details durchsprechen musste, um überhaupt zu klären, was gemacht werden sollte, kämpften die sich oft sehr mühsam mit einem ab, um sich verständlich zu machen. Da hieß es Vertrauen aufbauen, und ich war oft versucht, sie zu trösten und zu sagen:

„Ich nix Türke. Ich Sachse. Ich deutscher Ingenieur. Ich verstehen Deutsch. Ich Deutsch lesen und ich auch schreiben gelernt ...“ Das tat ich aber nicht, dachte es mir nur ab und zu. Diese Selbstdisziplinierung half einem sehr. Da verhandelte es sich manchmal schon leichter. Auch wenn man nie als hergelaufener fauler Ossi bezeichnet wurde, wurde man doch als solcher behandelt. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran und benahm mich entsprechend. Es hatte nicht nur Nachteile.

Nach Hause kam ich nur noch zum Schlafen, während die Nachtschicht lief, und auch das nur, weil ich zu Hause noch keinen Telefonanschluss hatte, mit dem man mich schnell mal in den Betrieb rufen konnte. Tagsüber empfahl sich während der Arbeitszeit statt des Telefonhörers ein Headset, um wenigstens die Hände frei zu haben, weil der Computer für die Arbeitsvorbereitung keine Einhandtastatur besaß, ich also beide Hände zur Arbeit brauchte. Das führte anfangs zu Kommunikationsschwierigkeiten, weil nicht immer klar war, mit wem ich redete, ob mit dem Kunden am Telefon oder mit denen, die sich vor meinem Schreibtisch ansammelten, um angeleitet zu werden oder Nachschub brauchten. Wenn ich dabei gleichzeitig noch in den Computer schrieb, sah es auch noch nach Selbstgespräch aus. Man gewöhnt sich allerdings an alles, auch wenn es anfangs nicht zu vermuten ist.

Nachts schwieg das Kundentelefon. Ich vermutete stark, dass es in den Altbundesländern, unter unseren Kunden und auch sonst in der bundesdeutschen Wirtschaft eine Menge faule Säcke gab, die nachts tatsächlich schliefen. Da verlor man leicht den Respekt vor ihnen, also hielt ich diese Vermutung vor der Belegschaft besser geheim.

Eines Abends, als ich zu Hause bei meiner üblichen privaten Presseschau, die ich mir nie nehmen ließ, am Tisch kurz vor dem Einnicken war, fiel ein Prospektblatt aus meiner Zeitung. Ich hob es auf. Das Titelblatt zeigte die Cheopspyramide und im Vordergrund den Kopf der Sphinx. Und dann las ich:

Land der Pharaonen

15tägige Sonderkreuzfahrt nach

ÄGYPTEN

Mit 10tägiger Nilkreuzfahrt,

10.10.1992–24.10.1992

mit Luxusschiff „Nilkönigin“

Zu der Zeit begannen die Reisebüros den Osten erst langsam zu erschließen. Die Werbung erreichte uns also noch ziemlich spärlich, deshalb auch diese meine heutzutage unverständliche Reaktion, ein heruntergefallenes Werbeblatt wieder aufzuheben und tatsächlich zu lesen, was darauf steht.

Ägypten, ewiges Traumziel meiner Sehnsüchte. Für dreitausend Mark konnte man dich per Schiff komplett in zwei Wochen durchmessen. Irgendwie war mir im Stress der letzten Zeit ganz das früher so sehr ausgeprägte Gefühl des in der DDR Eingesperrtseins abhanden gekommen. Für die damalige Reiselust war einfach kein Platz mehr im Gehirn vorgesehen, weil andere Sachen sich hineingedrängt hatten.

Ägypten. Und wenn es auch das Sparbuch abräumte. Da musste ich hin. Meine Allerbeste entsetzte sich, als ich plötzlich munter war, statt wie immer über der Zeitung weiterzuschlafen, bis sie mich weckte, damit ich ins Bett ginge. Der erste und wichtigste Einwand war: „Aber doch nicht mit dem Schiff. Da wird mir doch immer schlecht!“ Ich konterte sofort: „Das ist wie mit dem Elbdampfer, da hat es dir doch auch nichts ausgemacht.“

Ich kenne mich. Wenn ich schon automatisch für etwas argumentiere, dann weiß ich, dass mir nicht mehr zu helfen ist. Falls ich das dann nicht gleich erledige, dann schleppt sich das ewig, aber vermeidbar ist es kaum noch. Am nächsten Morgen buchte ich deshalb diese Reise per Telefon, und nach kaum zehn Minuten war alles geregelt, was meinerseits noch zu erbringen, welche organisatorischen Angelegenheiten zu beachten wären und wann wir wo bereitzustehen hätten, damit uns der Bus zum Flughafen Schönefeld mitnahm. Man hatte mir in der letzten Zeit nicht umsonst beigebracht unter Zeitdruck immer sofort, schnell, präzise und auch endgültig zu entscheiden, weil sonst nichts fertig wird.

Den Urlaub trug ich in den Wandkalender der Verwaltung ein und sagte Bescheid, dass ich in der Zeit nicht da sei. Dem Chef passte das nicht, er wollte auch nicht einsehen, dass ich sowieso nie einen Stellvertreter hatte und dass ich nicht auf seine verdeckte Kündigungsandrohung reagierte, muss ihm unverständlich gewesen sein. Das letzte Wort sei noch nicht gesprochen. Ich war aber der Meinung, dass vier Wochen vorherige Anmeldung ausreichen sollten bei einem Produktionsregime, welches auf maximal nur drei Tagen Vorausschau in der Auftragsabsicherung beruhte und bei dem die Reihenfolge der Aufträge in der Abarbeitung mehrmals täglich neu, je nach Lautstärke der Kundschaft am Telefon, umgesteuert wurde.

Damit war alles geklärt. Meine Frau und ich stiegen am 10. Oktober 1992 in den Reisebus, von da anschließend ins Flugzeug und machten endlich einmal wieder Urlaub. Während wir damit für alle Hiergebliebenen in Ägypten weilten, begann unsere Heimatzeitung die wir eigentlich nur zur Information über das Kreisgeschehen hielten, und die ihren Lesern sonst nur spärliche, vor allem nur politische Auslandsthemen näherbrachte, plötzlich unverdrossen fast täglich aus Ägypten über Ereignisse zu berichten, von denen wir unterwegs kaum etwas erfuhren. Wir hatten zu Hause jemanden beauftragt, die Zeitungen zu sammeln. Nach dem Urlaub lasen wir also:

Dienstag, 13. Oktober 1992

Erdbeben erschüttert Ägypten

Bislang 205 Tote und mehr als 2000 Verletzte

KAIRO (dpa). Bei einem Erdbeben in Ägypten sind am Montag Hunderte von Menschen getötet und Tausende verletzt worden. In der 15-Millionen-Stadt Kairo und dem Vorort Gizeh wurden nach Angaben des Innenministeriums bis zum Abend 205 Tote und mehr als 2000 Verletzte gezählt. Die Bergung der Opfer unter den Trümmern der mindestens 80 eingestürzten Häuser dauerte an.

Das stärkste Beben in Ägypten seit Jahren, das eine Stärke von 5,5 bis 6 auf der Richter-Skala erreichte, erschütterte um 15.09 Uhr Ortszeit vor allem den Großraum Kairo und dauerte mindestens 20 Sekunden. Aber auch andere Städte in Unter- und Mittelägypten waren betroffen.

In Kairo stürzten insbesondere kleinere baufällige und häufig ohne Genehmigung errichtete Gebäude in den dichtbesiedelten Vierteln, aber nach offiziellen Angaben auch mehrere Schulen und zwei 14stöckige Hochhäuser in den Vororten Maadi und Heliopolis ein. Passanten wurden von herabstürzenden Balkonen und Fassadenteilen erschlagen. In der islamischen Altstadt fielen drei von vier Minaretten der Hanafia-Moschee aus dem neunten Jahrhundert um. Das Beben war noch in Israel, Libyen und dem Sudan zu spüren. Das Epizentrum lag nach Angaben des ägyptischen Instituts für Astronomie und Geophysik rund 50 Kilometer südwestlich Kairos. Experten bezeichneten dies als ungewöhnlich, da der nächste Grabenbruch im östlich gelegenen Golf von Suez verläuft. Hier war es zuletzt 1979 zu einem schweren Erdbeben gekommen.

Die Nachrichten der Folgetage aus Ägypten waren auch nicht viel besser, oft noch schlimmer. Kein Wunder, dass man es zu Hause als unwahrscheinlich ansah, dass wir mehr als das nackte Leben aus dem Chaos gerettet haben könnten, wenn wir wirklich das Glück hätten, davongekommen zu sein.

Wir kamen uns am Ende direkt unanständig vor, als wir behaupteten, uns dort sogar erholt zu haben. Folgen Sie mir deshalb auf diese Reise, die zwar ungewöhnlich war, aber doch ganz glimpflich verlief. Ich werde mir jedenfalls erlauben, die ungefähr mit unserer Reise parallel laufenden Meldungen einer normalen Tageszeitung, und nicht etwa die eines Revolverblattes, in meinen Bericht mit einzustreuen. Auch diese knappen lakonischen Meldungen waren schlimm genug, wie Sie feststellen werden.

Ankunft

Das gleichmäßige Rauschen der Triebwerke unseres Airbus der „Egypt Air“ wurde schwächer und das Geräusch der Klimaanlage nun deutlicher hörbar. Es klang jetzt wie Fahrtwind.

Ich hatte die meiste Zeit des Fluges geschlafen, die Änderung des Schalleindruckes, die jetzt leichte Absenkung des Flugwinkels in Verbindung mit einer leichten Richtungsänderung hatte mich aber geweckt. Wir befanden uns eindeutig in einer Linkskurve nach unten, und als ich aus dem Fenster sah, glaubte ich einen Sternenhimmel zu sehen. Das war nicht mehr die undurchdringliche Finsternis des Fluges über die Ägäis mit ihren verlorenen Lichtpünktchen. Das war ein Märchen aus tausendundeiner Nacht. Über das unter uns liegende Nildelta ging es in weitem Bogen auf Heliopolis, den Flughafen Kairos, zu. Hier war es jetzt eine Stunde vor Mitternacht, die Uhr hatte ich schon vorgestellt. Man sah zwar kaum Verkehr auf den Straßen, aber die Straßenbeleuchtung reichte hier wirklich bis in den letzten Winkel. Da fiel mir der Assuan-Staudamm ein und die darin verborgenen Turbinen, die dem Vater Nil die Kraft abschöpften, womit dieses Land sich beleuchtungsmäßig so großartig in Szene setzen konnte. Ein wirklich einmaliger Anblick. Das schwache Säuseln der Triebwerke und das vergleichsweise langsame Abwärtsgleiten in dieses Lichtermeer. Staunende Stille der wie gebannt aus den Flugzeugfenstern schauenden Passagiere. Die Maschine setzte schließlich auf, die Mitreisenden spendeten der Besatzung Beifall, und wir rollten eine Weile auf dem Flugfeld herum, bis wir anhielten und nun tatsächlich angekommen waren. Die Gangway wurde herangefahren, wir holten das Handgepäck aus den Fächern über unseren Sitzen und reihten uns langsam und zäh drängelnd in den Strom der Aussteigenden. Draußen war es finster, windig, heiß und trocken. Also am Flughafen sparten sie offensichtlich mit Strom.

Zu Hause hatten wir bei der Einsammelfahrt durch Sachsen noch bis in den Spätnachmittag hinein die weit fortgeschrittene Laubfärbung, der ab und zu schon kahl werdenden Laubwälder und die mittel- bis dunkelbraune Färbung der umgepflügten Felder betrachtet. Die langsam zum Vorschein kommende Wintersaat des Getreides wies ein dunkles Giftgrün auf, die Wiesen ein noch unentschlossenes mittleres Grün, schon ins Grau spielend, und die Fichtenwälder der Erzgebirgsausläufer standen tief dunkelgrün und schwarz gegen einen blassblauen Himmel, über den flache, weiße, ins Grau verlaufende Wolkenfetzen zogen, von einer grellen, aber schon kraftlosen, niedrig stehenden Sonne beschienen. Mit Jeans, einem derben langärmeligen Hemd, den extra für diese Reise gekauften festen Schuhen und einer Windjacke bekleidet, wären wir gerade richtig fürs Herbstwanderwetter ausgestattet gewesen, Regenumhang mit Kapuze natürlich nicht zu vergessen. Das hier aber war Ägypten. Man hatte uns mitgeteilt, unbedingt eine warme Strickjacke oder einen Blouson für den Abend mitzunehmen. Es sei schon kühl. Hier aber war es um Mitternacht noch 30 Grad heiß. Natürlich im Schatten, denn die Sonne war gerade auf der anderen Seite des Globus mit dem Tag beschäftigt. Es war eine heiße Nacht im Nachtschatten der Erde.

Zuerst ging es zum Zoll, aber dort fand keine Kontrolle statt. Stattdessen musste man ein Zettelchen mit den wichtigsten Angaben aus dem Pass ausfüllen, was der zuständige Beamte sodann scharf prüfte. Bei mir strich er den Rufnamen durch und ersetzte ihn durch meinen zweiten Vornamen, der nicht einmal meiner Frau gleich eingefallen wäre und unter dem mich niemand kannte. Ich erhielt einen strafenden Blick, mein Visum, und dann war ich durch. Wenn ich jetzt etwas ausfressen würde, hätten sie keine Chance, mich zu kriegen. Sie machten das bei sonst keinem, nur bei mir. Alle durften ihren Rufnamen behalten, nur ich nicht. Warum, habe ich nie erfahren.

Anschließend warteten wir auf unser Gepäck. Um uns herum schwärmten Massen von freiwilligen Trägern, die uns helfen wollten und auf „Bakschisch“ aus waren. Es wurde viel in Arabisch und in Englisch geredet, alles sehr schnell und natürlich unverständlich. Arabisch und englisch beschriftete Hinweisschilder mit angeblich international geläufigen Piktogrammen halfen uns, den richtigen Fleck zu finden, wo unser Gepäck als Wühlhaufen abgekippt worden war. Wir fanden mehrerlei. Zuerst das richtige, wenn auch teilweise deformierte Gepäck und anschließend sogar den Ausgang aus diesem Tohuwabohu durcheinanderwirbelnder, dunkle Ghallabijas und weiße Turbane tragender Helfer, die jeder auf eigene Rechnung zu arbeiten schienen. Nach ihrem Gepäck suchende Touristen, nach ihren Frauen suchende Männer, nach ihren Kindern suchende Frauen, nach ihren Schäfchen angelnde Reisebüro-Angestellte mit Schildern, auf denen die Logos ihrer Firmen aufgeklebt waren, fliegende Händler und auf Geschäfte erpichte Taxifahrer von Sammeltaxis, das alles gab es hier zu dieser nächtlichen Stunde zu bestaunen oder auch abzuwehren. Wer wollte, konnte sich damit auch einlassen. Was heißt: Wollte. Wir mussten!

Den Reiseunterlagen war zu entnehmen gewesen, jeder Reisende zahle zu Beginn eine bestimmte Summe in die Trinkgeldkasse der Reiseleitung, aus der dann alle Verbindlichkeiten bezahlt würden. Das sei bewährt und bewahre vor Unannehmlichkeiten und Belästigungen. Zu Hause hatte die Bank uns allerdings keine ägyptischen Pfund ausgehändigt. Man warnte vor Diebstählen und pries Travellerschecks als das internationale und sicherste Zahlungsmittel an. Von Bakschisch, notwendigem Kleingeld und Verhaltensregeln bei der Ankunft war keine Rede gewesen. Nun sah ich mich fünf Ägyptern gegenüber, welche die zwei Koffer und die Reisetasche, die meine Beste und ich als Reisegepäck ausgewählt hatten, aus der Halle tragen wollten, wobei wir noch nicht wussten, ob überhaupt ein Bus des Reiseunternehmens bei dem wir gebucht hatten da war, uns abzuholen, und was die „Helfer“ als Auslösung für unser Gepäck draußen haben wollten, wenn wir es überhaupt wiederbekämen. Sie waren nicht böse, aber laut und auch hartnäckig, und es gab hier bestimmt mehr als nur vier Himmelsrichtungen, nach ihren Gesten zu urteilen.

Das kleinste Zahlungsmittel, welches ich besaß, waren Travellerschecks im Werte von zehn DM. Die wollte ich nicht so unter die Massen werfen, denn das entsprach 20 ägyptischen Pfund, und der Durchschnittslohn eines staatlichen Angestellten im gehobenen Dienst lag in Ägypten, so hieß es, bei etwa 300 Pfund im Monat. Wir rafften unser Gepäck wieder an uns, und der letzte, der zäh an uns klebte, ein Araber um die Siebzig, dem man vielleicht eher sein Gepäck hätte tragen sollen, ließ erst los, als ich ihm ein Fünfzig-Pfennig-Stück gab, was er nie und nimmer wieder los werden würde, aber dankend annahm. Er wünschte mir auf Englisch fünftausend Jahre Glück, Leben, Gesundheit oder ähnliches und verschwand dann auch.

Wir schleppten uns nun samt Gepäck im Strom der anderen Reisenden aus diesem Hexenkessel von Gepäckausgabe und wurden vor der Tür von Reiseleiterinnen der richtigen Firma auf Anruf aus der Masse heraus gefangen und in einen Bus verfrachtet, der uns in unser Hotel bringen würde. Im Bus war es sehr windig und heiß, weil zwar die Klimaanlage auf Hochtouren lief, aber da die Türen offen standen, nützte das nichts. Langsam wurde es voll, und am Ende saßen wir alle, die wir Sachsen mittels eines Busses verlassen hatten, wieder einträchtig in einem Bus, diesmal in einem ägyptischen, der außen und innen ausreichend Beulen aufwies und dessen Fenster nicht alle vom gleichen Hersteller zu sein schienen. Die Türen waren undicht, es roch nach Diesel, und als wir losfuhren, krachte es ordentlich im Getriebe, ehe sich ein Gang endlich entschloss, kraftschlüssig zu werden und das Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Gleich merkten wir, dass die Federn des Gefährtes nicht mehr die jüngsten waren, und auch die Stoßdämpfer schienen keine Lust zu haben, zum Fahrkomfort beizutragen. Das Vehikel nahm Fahrt auf, und als wir die Straße nach Kairo erreicht hatten, konnte man deutlich hören, dass der Bus aus Einzelteilen zusammengebaut sein musste, denn jedes Teil klapperte und schepperte in einer anderen Tonart. Dabei schaukelten wir in die verschiedensten Richtungen, und ich begriff nun endlich, weshalb es so viele Haltestangen, Überrollbügel und breite Griffe im Sitzbereich eines Busses gibt. Wer jetzt noch nicht wieder munter geschüttelt war, würde es auch nie werden. Draußen huschten die Villenvororte Kairos vorbei, von einer Straßenbeleuchtung angestrahlt, die aus großen Quecksilberdampflampen bestand, die ganz nackt und nach allen Seiten strahlend ohne jeden Schirm die Straße fast taghell erleuchteten. Das also war es, was wir beim Anflug gesehen hatten. Das grellweiße Licht gab der Kulisse etwas Gespenstisches, dazu das Scheppern des Busses und über dem allen die Stimme einer Reiseleiterin, die sich mittels Mikrofon und Bordsprechanlage vergeblich verständlich zu machen versuchte. Vielleicht wollte sie uns begrüßen, informieren, wie es weiterginge; vielleicht wollte sie auch etwas anderes von uns. Wir haben es nie erfahren.

Kairo bei Nacht, im Licht der Straßenbeleuchtung. Hier und da eine Moschee, moderne Straßenkreuzungen mit Ampelregelung. Moderne Hochhäuser, Verwaltungsgebäudefronten, ziemlich viel Grün am Rand der alleeartigen breiten Hauptstraße. Von einer Hochstraße herunter sah ich ein spärlicher beleuchtetes Wohnviertel aus eng aneinander gebauten hohen Lehmhäusern. Ein Aufblitzen des Nils, als wir ihn über eine Brücke querten. Es ging ziemlich schnell, und ehe wir uns versahen, hielt der Bus vor unserem Hotel. Auch hier war es heiß, sogar heißer als im Bus. Während sich das Hotelpersonal um unser Gepäck zu kümmern begann, folgten wir unserer Reiseleiterin in die Vorhalle des Hotels, wo sie uns bedeutete, wir sollten an der Rezeption unsere Anmeldeformulare ausfüllen und dann in den dahinter liegenden Raum kommen, wo sie uns dann auf die Zimmer verteilen würde.

An der Rezeption saßen zwei dunkelhaarige Frauen, die irgendeine eine Hoteluniform trugen und nun Formulare an uns zu verteilen begannen, aber keinerlei Auskunft gaben, da sie unsere Englisch-Brocken nicht verstehen wollten oder konnten. Es stellte sich heraus, dass sie nicht nur Formulare mit ausschließlich englischem Text verteilten, sondern auch, dass es sich um zwei verschiedene Arten von Fragebogen handelte. Schließlich tauchte ein sehr dicker und sehr freundlich lächelnder Herr auf, der überhaupt nicht sprach, aber ebenfalls einen Packen Formulare zu verteilen begann, die auch englisch, aber wieder anders gegliedert waren. Es fehlte an Stiften, an Platz zum Ausfüllen der Bögen, an Information, was wir überhaupt ausfüllen mussten und was nicht, wozu und bei wem das dann abzugeben wäre, denn die Rücknahme ausgefüllter Bogen wurde verwehrt.

Außerdem war die Fragestellung für manche Rubrik sehr lang, und man schien Text zu erwarten, wo wir nur Kreuzchen zu machen gewöhnt waren oder die Übertragung von Daten aus dem Pass. Einwandern wollten wir jedenfalls nicht. Ich kramte meinen Pass heraus und begann einfach etwas hinzuschreiben, jeweils dort, wo es am besten hinzugehören schien. Die meisten Felder ignorierte ich und ließ sie frei. Welches Formular das richtige war, war mir sehr nebensächlich. Jeder hatte eine andere Sorte.

Die Reiseleiterin erschien wieder auf der Bildfläche und regelte die Angelegenheit, indem sie alle Formulare für ungültig erklärte. Dann führte sie uns geschlossen in den benachbarten Raum ab, wo schon unser Gepäck auf uns wartete. Anhand einer Liste des Reisebüros begann sie erst die Namen und dann die zugehörigen Zimmer auszurufen, wobei sie bei Aushändigung der Schlüssel die Pässe einsammelte. Wir schnappten unsere Gepäckstücke und fuhren mit dem Fahrstuhl in eines der oberen Stockwerke, wo wir richtig das zugeteilte Zimmer fanden. Endlich allein in einem gut gekühlten großen Hotelzimmer! Leise rauschte die Klimaanlage. Zwei Betten, zwei Holzsessel, ein Tisch, ein Gepäckregal, Kleiderschrank, Stehlampe, Fernsehen, Telefon, Kühlschrank, dazu ein großer Sanitärraum mit Wanne, Dusche, Bidet und WC.

Als wir den dicken gesteppten Fenstervorhang zur Seite wuchteten, lag das nächtliche Kairo vor uns und leuchtete. Den Reflex des Europäers, das Fenster zu öffnen, verkniffen wir uns schnell. Die Fensterscheibe war heiß gewesen und der Fenstergriff natürlich auch. Die zwei zugeteilten Flaschen Mineralwasser im Kühlschrank nahmen wir dankend an, und nach einer nicht besonders gründlichen Reinigungsprozedur fielen wir wie tot in unsere Betten. Gerade, dass wir noch den mitgebrachten Wecker stellten, um nicht zu verschlafen.

Wir waren angekommen. In Ägypten, dem Land meiner Sehnsucht, seit ich Max Eyth gelesen hatte und die Berichte über Pharaonen, das Grab des Tut-ench-Amun, die Mumien, Abu Simbel und was sonst noch in Geschichtsbüchern stand, von der nicht aussterben wollenden Gemeinde um Däniken, von Sitchins Deutungen und Velikovskys Untersuchungen und anderen mir zugefallenen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen verschiedenster Autoren und aus den Artikeln im „Urania Universum“, dieser sich jährlich um einen Band vermehrenden Enzyklopädie, welche es nun nach dem Zusammenbruch der DDR auch nicht mehr gab.

Ich hatte mir einmal vorgenommen, falls es mir irgendwann möglich sein sollte, das, worüber ich gelesen hatte, wenigstens einmal anzufassen, und das ganz spezifisch Ägypten betreffend. Dazu war ich jetzt hier, und meiner besseren Hälfte hatte ich eingeredet, dass man mit dem Flugzeug fliegen kann, ohne dass einem gleich schlecht wird, und dass eine solche Menge Menschen, wie sie der Flieger mit einem Mal wegschleppt, wohl kaum der Meinung ist, dass man immerzu nur abstürzt, denn sonst würden sie ja nicht fliegen. Das hatte sich bisher glücklich bewahrheitet. Dann hatte ich mich noch dazu verstiegen zu behaupten, dass die Schiffe auf dem Nil nicht schaukeln, weil die Wellen viel zu klein sind im Vergleich zum Schiff und meine Frau deshalb keine Angst vor der Seekrankheit zu haben brauche. Ich hatte mich noch zu mehr verstiegen, was ich keineswegs vorher wissen konnte...

Kairo. Erste Berührung

Der erste Morgen fand uns nach einer Nacht, die geprägt war vom Ausschalten der Klimaanlage (wegen des Geräuschs), Einschalten der Klimaanlage (wegen der daraufhin zuschlagenden Hitze), Fenster öffnen und Fenster schließen mit kurzen Schlafphasen dazwischen, ziemlich mittelprächtig ausgeruht im Frühstücksraum des Hotels. Eine windige Frische umwehte uns, die auch aus der Klimaanlage kam und sich als sehr gewöhnungsbedürftig erwies, weil man sofort fröstelte. Das Wichtigste sei, dass man sich in den Tropen nicht erkälte, hatte es geheißen. Jetzt erst begriff ich. Wir befanden uns zwar in den Subtropen und das noch zu Beginn des Winters, aber erkälten konnte man sich nur mit Hilfe einer guten Klimaanlage. Der kurze Blick aus dem Haupteingang des Hotels hatte uns gereicht. Da packte einen die Hitze wie eine Faust an der Kehle, sobald man an die „frische Luft“ geriet.

Die Speisekarte enthielt außer Arabisch nur Englisch. Wir gerieten an die Seite mit dem Frühstück und fanden allerlei „egg“, und zwar „baked“, „boiled“, „roasted“, „scrambled“ und vielleicht noch drei oder vier weitere Sorten dieses „egg“. Wir hatten wohl Zeit, aber der Kellner nicht. So haschte er nach Worten, die er notieren könnte, und während man noch fragte, was denn der Unterschied zwischen „fried“ und „sunny side up“ sei, hatte er schon notiert, welche Sorte „egg“ man zu essen wünschte, obwohl man das doch selbst noch nicht wusste.

Das an jedem Platz stehende Wasserglas mit einer trüben roten Brühe schien eine Mischung aus Tomatensaft, einem Schuss Roter Bete und Wasser zu enthalten. Wir unterhielten uns auf der Basis, ob uns das Getränk bekommen würde oder nicht, denn wir waren vorbereitet, und das hieß: „Wasche es, schäle es, koche es, oder vergiss es...“ Wir vergaßen es und bestellten Kaffee. So kamen wir gleich beim ersten Mal um den Genuss des immer und überall angebotenen und auch immer zu empfehlenden Hibiskustees.

Das „egg“ kam und mit ihm Butter und auch Toast. Wir hatten Spiegelei und Rührei bekommen. Meine Frau das Spiegelei und ich das Rührei, woraufhin wir tauschten, denn wir mochten jeder nur gerade das andere. Nach absolviertem Frühstück sah die Welt sehr viel freundlicher aus. Anschließend gingen wir im Hotel auf Erkundung. Man muss schließlich immer wissen, wo die Toilette ist.

An einem Loch in der Wand des Durchgangs zum Foyer, welches sich als Bankschalter auswies, tauschten wir bei dieser Gelegenheit Reiseschecks gegen ägyptische Pfund und bekamen pro Mark zwei Pfund, so wie der Kurs ungefähr stand. Der kleinste Schein war der zu einem Pfund. Münzen gab es nicht. Eine ferne Erinnerung rumorte da in mir, die von „Piastern“ nebelte, aber das war aus den Erzählungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als es noch Deutsche in britischer Gefangenschaft gegeben hatte. Die hatten nach eigenen Angaben noch um Piaster geschachert. An diesem Schalter sah ich auch zum ersten Mal eine der kleinen ortsüblichen, verhältnismäßig altmodisch wirkenden und schon sehr abgenutzten Geldzählmaschinen. Sie belüftete die speckigen Scheine der Inlandwährung, damit sie nicht aneinander klebten. Ich traute ihr nicht, aber wo wir später auch hinkamen, bei jeder Bank oder Geldwechselstelle hatten sie dieses primitive Ding, mit dem man besser Spielkarten gemischt hätte, und es verzählte sich nie.

Wir begaben uns in die Hotelhalle, wo die organisatorischen Fragen seitens des Reisebüros mit uns besprochen wurden. Zwar werde im Großen und Ganzen das Reiseprogramm eingehalten, beschied man uns, aber die Einzelheiten könnten sich täglich ein wenig von der Reiseausschreibung unterscheiden. Die Gründe wurden nicht genannt. Es war Oktober 1992, und meines Wissens hatte etwas in Ägypten gebrodelt. Die Meldung, dass in diesem Frühjahr ein Nilkreuzfahrtschiff mit Touristen von politischen Extremisten beschossen worden war, hatte ich irgendwo in meinem Hirnkasten gespeichert, ohne sie wahrhaben zu wollen. Die Gier, etwas zu sehen, war größer als die Angst, dass uns etwas passieren könnte. Kurz und gut, die Nilkreuzfahrt fände statt, aber die zweite Hälfte im Bus. Sollte sie doch. Das war etwas unklar formuliert. Die eine Reiseleiterin sprach von einer Brücke und die andere etwas vom Nilwasserstand. Wieso ausgerechnet der Unterlauf nicht schiffbar sein sollte? ... Die Nilschifffahrt erfordere es.

Das Ausflugspaket war „all inklusive“, wenn man es vorher bezahlt hatte. Dass dieser Ausdruck wirklich alles umfassen kann, auch das, was man nicht will und auch gar nicht bezahlt hat, wurde uns erst später klar. Vorerst kam uns die Sache mit dem Ausflug nach Abu Simbel in die Quere. Der war nicht inklusive, sondern sollte pro Nase 250 DM kosten. Einige hatten den schon zu Hause gebucht. Wir nicht, und zwar infolge fehlender Information. Jetzt kam der Knüller. Wenn der Flieger von Assuan bis Abu Simbel nicht wenigstens halbvoll sei, fliege der Pilot nicht. „Was denn, das ist nicht sicher? Und was ist mit unserem Geld, was wir schon bezahlt haben? Warum bekommen wir das denn nicht gleich wieder?“ Ach, wir sollten dann zu Hause den Antrag auf Rückerstattung stellen...

Ich wollte aber unbedingt dahin. Meine Allerbeste protestierte: „Lass sein, das sind für uns beide immerhin fünfhundert Mark.“ Ich blieb unerbittlich: „Guck dir an, was das für ein Katzensprung auf der Landkarte von Assuan nach Abu Simbel ist. Ich komme im Leben nicht wieder in diese Gegend. Da würde ich mir zu Hause vor Wut in den ...“ „Es sind ungefähr 250 Kilometer.“ „Ja, der Kilometer pro Person 50 Pfennige, hin und zurück.“ – „Mach, was du denkst." - „Wir möchten mit.“ – „Zwei Personen, das macht dann 500 DM.“ – „Ich habe hier einen Reisescheck über 500 DM.“ – „Nur D-Mark.“ – „Dann in ägyptischen Pfund.“ – „Nein, nur D-Mark. Vielleicht wechselt es Ihnen jemand.“ Die Frage wurde laut an die Anwesenden gestellt, aber vergeblich. Wir waren alle „Ossis“, und da waren 500 DM ein Monatslohn oder Monatsgehalt.

Was eine Kreditkarte war, wusste kaum einer, und die EC-Karte, falls man schon eine hatte, galt noch nicht überall in Europa, geschweige denn in Ägypten. Der Euroscheck wurde noch nicht einmal innerhalb Deutschlands ohne Bankauskunft überall akzeptiert, Geldautomaten waren noch in der Entwicklung begriffen. Vielleicht gab es davon in Ägypten überhaupt noch keinen.

Hilfreicher Hinweis: „Sie können den Scheck auch einwechseln. Die Bank befindet sich gleich nebenan. Wenn Sie zum Hauptausgang hinauskommen, gleich rechts die nächste Tür.“ Wir zogen ab, um unser Glück zu versuchen. Das Geschäft mit der Nachzahlung kam langsam in Schwung. Es wollten noch mehr mit nach Abu Simbel, und es wurde weiter fleißig kassiert.

Als ich vor dem Hotel stand, sah ich, dass es diese Bank tatsächlich gab. Zwischen zwei griechischen Säulen mit einem Giebeldreieck wie der Parthenon waren polierte schwarze Steinplatten eingelassen, die dreieckig vertiefte, mit Gold ausgelegte Inschriften trugen. Die wichtigste war „BANK“, gerade über der großen Glastür in der Mitte. Aus der Hitze kommend, trat man förmlich in einen Eisschrank. Die Bank bestand aus einem einzigen, nicht sehr großen Raum. Publikumsverkehr fand wohl nur selten statt, jedenfalls nicht in der Zeit, in der ich diese Bank zu nutzen versuchte.

Hinter einem Tresen saßen drei Männer, zwei etwas weiter hinten und im Hintergrund noch einer allein. Einer lief zwischen denen allen herum. Während alle anderen schwarze Anzüge trugen, trug der Freilaufende nur ein schwarzes Jackett, aber darunter irgendetwas, vielleicht gestreifte Pumphosen, vielleicht eine hochgebundene Ghallabija. Seine Sandalen waren nicht die neuesten und er trug sie barfuß.

Man nimmt eben das Nebensächlichste zuerst auf. Ich grüßte mit „Good Morning“, bekam keine Antwort, lümmelte mich dem in der Mitte Sitzenden gegenüber an den Tresen, griente freundlich und erwartete eine Reaktion.

Meine Frau stellte sich neben mich. Ich grinste weiterhin den vor mir an und versuchte ihn mit einem lässigen „Hello“