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Dieser Text ist der essayistische Langzeitreport eines unfreiwilligen Selbstversuches, die Beschreibung einer Realsatire. Die hier abgehandelten Dinge gehören normalerweise in einen Schelmenroman. Es ist ein Versuch, die Geschichte derer zu erzählen, die in der DDR lebten und wie sehr dieses Leben oft sogar unbewusst politisch durchtränkt und geprägt war. Es ist aber auch die Geschichte eines Staates, den niemand trotz seiner Bemühungen politisch je für voll genommen hat. Es ist die Geschichte der Abstrusitäten und Lächerlichkeiten, wie sie unter solchen Bedingungen dann zwangsläufig passieren und es wird auch deutlich, dass wir nie sicher sein können, auf dem richtigen Weg zu sein. Die DDR der Provinz war eine andere als die ihrer Großstädte. Es ist ein Abgesang auf das, was dieser Staat tatsächlich gewesen ist, aber bestimmt nie sein wollte. Was Sie hier sonst noch über die Mentalität der Deutschen erfahren, erhellt Ihnen bestimmt manches, was auch heute noch nicht gern zugegeben wird.
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Seitenzahl: 867
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Dieser Text ist ein ganz individueller Bericht über die untergegangene DDR und die Wiedervereinigung, ein Blick zurück ohne Zorn.
Es ist der Langzeitreport einer unfreiwillig erlebten Satire, eine Reihung politischer und anderer Schelmenstücke.
Die hier abgehandelten Dinge sind nur die Abschriften realsatirischer Ereignisse.
Für alle die, denen es nicht vergönnt war, es zu erleben, und die es auch nicht von denen erklärt haben wollen, die es anschließend versemmelt haben.
Der eine liest es, um es nicht zu vergessen und dem anderen ist es zu empfehlen, damit er auch einmal erfährt, wie Deutschland auf der eingesperrten Seite wirklich tickte.
Etwas Grundsätzliches über die gewesene DDR und ihre Bürger
Was auf der Welt eigentlich passiert
Wie es für mich ganz persönlich angefangen hat
Vom Schweineschlachten und auch ein bisschen vom Krieg
Wie schwierig eine Welt ist, die man noch nicht versteht
Erste Bilanz vor dem Neubeginn
Das Leben auf der Kuhbläke
Die rollende Woche eines Schulkindes
Wie man sich nach einem Krieg wieder einzurichten versucht
Das andere Leben auf dem Lande
Die Sache mit Berlin, eigentlich die mit Westberlin
Als mir die höhere Kultur beigebracht wurde
Mittelschule
Arbeit. Ein erster lehrhafter Kontakt
Lehrzeit. Wie das anfing
Der weitere Verlauf der Entwicklung auf dem Lande
Lehrzeit. Wie das weiterging
Berufsschule
Erste zaghafte Schritte ins selbständige Leben
Als ich unfreiwillig Soldat wurde und was für einer ich war
Auf Kommandierung
Vom Gleichgewicht des Schreckens im Sandkasten
Die Sache mit dem Studium
Das Studium als solches
Studentenwohnheim und Sprachausbildung für Ausländer
Leipzig und Leipziger Messe
Auslandspraktikum
Wie Wirtschaft funktioniert
Wie man einen Staat ökonomisch zu steuern versuchte
Die Sache mit dem Kombinat
Als der Sozialismus einmal eine Ernte einbrachte
Etwas über die deutsche Kleinstadt
Die Mühen der Ebenen der Kultur
Auto mobil. - Ein fast nostalgisch anmutendes Schaustück
Auto mobil. - Der prinzipielle Teil, wie er tatsächlich war
Dorffest in der real entwickelten DDR
Ländliche Idylle im Spätsozialismus
Wie das ist, wenn die Säge klemmt
Wie man unbemerkt in einen Super-GAU hineinschliddert
Der Aufbau der Parteienlandschaft der DDR - Ein Abriss
Bücher. - Was das für ein unbequemes Mistzeug sein kann
Vom Funktionsprinzip der Presse
Ein Exkurs über den Widerstand
Warum das mit dem Sozialismus nicht klappen konnte
Neunter Oktober 1989 (Vorgeplänkel)
Neunter Oktober 1989 (im Auge der Zyklons)
Neunter Oktober 1989 (Bilanz)
Danach - Die Schussfahrt ins Glück
Die Sache mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl, der Wiedervereinigung und der Brieftasche
Ein letzter analytischer Orientierungsversuch
Von der Ausreise aus der DDR und ihren Hürden, einem finanziell
erzeugten Loch im „Eisernen Vorhang“
und dem untauglichen Versuch, Ideologie und Wirklichkeit miteinander
in Übereinstimmung zu bringen.
Die DDR hat es nie gegeben. Das, was von ihr berichtet wird, ist nicht real. Die DDR war ein russischer Traum, den Deutsche nach dem schrecklichsten aller Kriege an ihrem Volk verwirklichen sollten. Und das alles, weil ihn ursprünglich ein deutscher Philosoph als Vision gehabt haben sollte. Die Russen hatten es als Erste probiert, diesen Traum selbst dauerhaft in der Realität zu träumen, was irgendwie nicht gelang. Man erkennt es daran, dass die Russen die DDR fallen ließen, als deren Verantwortliche trotzdem noch an diesem Wahngebilde festhalten wollten, nachdem die Russen diesen Traum als Traum erkannt und verworfen hatten. Daraufhin löste sich dieser Traum auch auf dem Gebiet der DDR, wenn auch langsam in Nichts auf, was er nicht gekonnt hätte, wäre er keiner gewesen. Die Regierung dieses zeitweiligen Gebildes DDR jagte einem Ziel hinterher, welches die Bevölkerung, die dort wohnte, nicht wollte. Die äußeren Gegner dieser Gesellschaftsstruktur bekämpften mit ihrer permanenten Ignorierung der DDR ein Gedankengebilde, welches nie in dem Volk verwurzelt war, welches da wohnte. Die Wende war eigentlich nur der Zusammenbruch eines Kartenhauses, in dem keiner wirklich gewohnt hatte. Die einen hatten immer darauf geschworen, dass es das beste Haus aller Zeiten sei, und die anderen hatten davor gewarnt, darin zu wohnen. Und die darin leben sollten, wollten dieses Haus überhaupt nicht. Nun war es weg.
Die Sache hat nur ein Problem hinterlassen. Die erwachten Träumer jammern nun dem Traum hinterher, den man sie zu träumen zwang. Je weiter sie sich von ihm entfernen, umso schöner wurde ihnen dieser Traum. Es ist ein Nachhall, der kaum verwehen wird. Schon in der Antike wurde der Traum vom vergangenen „Goldenen Zeitalter“ geträumt, obwohl es das schon damals nie gegeben hatte. Diese Darstellung hat nur den einen winzigen Fehler. Millionen Deutsche haben vierzig Jahre ihres realen Lebens in diesem Traum verbracht, ob freiwillig oder gezwungen, ist dabei ziemlich gleichgültig. Diese Traumzeit war ihr Leben, und das lässt sich nun wirklich nicht als geträumtes Hirngespinst abtun. Es gab Menschen, die in dieser Zeit da geboren wurden und auch da starben, die eigentlich nichts anderes kennengelernt hatten, als das, was nun nie gewesen sein sollte. Die DDR war ein Staat, der angeblich auf die idealistischsten Ziele aufgebaut sein wollte, die sich die Menschheit je stellte, kam mit dieser Absicht allerdings mehrere Jahrhunderte zu früh auf diese Welt. Sie hatte es deshalb sehr schwer. Diese Republik versuchte angeblich den Sozialismus aufzubauen, kam jedoch damit nicht zurecht, weil die in ihr lebenden Menschen ihre Vorstellungen nicht mit den mit diesem Sozialismus postulierten Zielen zu identifizieren vermochten, und diejenigen, die das alles in die Wege zu leiteten versuchten, auch nur glaubten, zu wissen, was Sozialismus wäre, und wie man das macht, den aufzubauen. Wir als ihre Bürger, sahen das zwar, wie sich die DDR vergeblich damit abmühte, konnten ihr aber, selbst wenn wir gewollt hätten, dabei nicht helfen, weil die Führenden sich in ihrem Wahn, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, bei ihrer Besserwisserei nicht helfen ließ, und sich auch gegen jeden Rat heftig sperrten. So tröstete man sich wenigstens gegenseitig über diese Misere hinweg und prägten dann beispielsweise solche Sätze wie: „Den Sozialismus aufzubauen ist eigentlich gar nicht so schwer, aber man gewöhnt sich so schwer daran. Die ersten fünfhundert Jahre muss man eben etwas mehr Geduld haben.“
Dieses Gebilde mit dem Namen DDR war von einer inneren Zerrissenheit geprägt, die schlimmer wurde, je länger dieser Staat bestand. Das alles hinterher aufzuzählen, was alles nicht stimmte zwischen dem Geredeten und dem Getanen wäre müßig. Eins war offensichtlich: Es wurde offiziell vom weltumspannenden proletarischen Internationalismus, der Befreiung der ganzen Menschheit und vom Reich der Freiheit geschwafelt, das errichtet werden sollte, und gleichzeitig die eigene Bevölkerung auf dem Staatsgebiet eingesperrt. Man kam aus der DDR legal nur mit List oder illegal über die Flucht ins westliche Ausland heraus. Dieses Ziel, dem Zwang des Eingesperrtseins zu entrinnen, war das einzige, was der DDR-Bürger bis zum Schluss verfolgte. Es stellte sich allerdings später heraus, dass diese Leute nicht unbedingt aus der DDR heraus wollten, sondern es ihr nur übel nahmen, weil es ihnen verwehrt wurde, das Herauslassen. Diese Leute wollten eigentlich nur heraus dürfen. Dass sie es sich vielleicht gar nicht leisten könnten, so weit dachten sie nur selten. Vom reisen sollen, oder vielleicht müssen, ganz zu schweigen. Die Ausrede, mancher müsse gegen seinen Willen zu seinem Glück gezwungen werden, war in diesem Fall offensichtlich nicht zu gebrauchen. Zu viele hatten ein anderes Glück im Auge als diese geplante Art des Sozialismus. Und es war ihnen angesichts derer, die sich in einem anderen Glück hinter der westlichen Grenze wohl zu fühlen schienen, auch nicht plausibel zu machen. Die verbündeten sozialistischen Staaten zogen mit an diesem staatlich verordneten Strang der DDR. In dieser Beziehung gab es das sogenannte miteinander unverbrüchlich verschworene sozialistische Lager schon. Wenn nämlich ein DDR-Bürger über deren Westgrenzen nach Bayern, Österreich, Griechenland, die Türkei oder über Jugoslawien nach Italien fliehen wollte, war das für sie ein lukratives Geschäft, denn es gab auf die Ergreifung dieser Flüchtlinge Kopfprämien, die sie sich nicht entgehen ließen. Tschechen, Ungarn und Bulgaren standen da eisern für uns DDR-Bürger auf Wacht, dass wir nicht in das andere Deutschland ausrissen. Das war es aber nicht, was wir als sozialistischen Internationalismus oder internationale Solidarität akzeptiert hätten, wie uns das im Parteichinesisch verklickert wurde.
Die legalisierte Form der Republikflucht bestand für den DDR-Bürger in der Einreichung eines sogenannten „Ausreiseantrages“. Wie der bearbeitet wurde hing von den verschiedensten Dingen, Umständen, Gründen und auch von der antragstellenden Person und ihrer Funktion im Staatsgefüge ab. Von der sofortigen Ausbürgerung über verschiedene erprobte offizielle Schikanestufen, staatlicher Ausplünderung, zum Teil jahrelangen Wartezeiten, zwischenzeitlichen Degradierungen, Entlassung von der Arbeitsstelle, persönlichem Terror aus dem Umfeld, Dauerüberwachung und Verhaftung mit langjähriger Haftstrafe gab es kaum etwas, wozu der Staat und seine Diener nicht griffen, um dem Antragsteller diese „Ausreise“ zu versalzen. Die Vielfalt der Repressalien ist erst nach der Wende umfassend bekannt geworden. Dazu waren die damit befassten Stellen jedoch nicht verpflichtet. Es spielte viel persönliche Gehässigkeit von beiden Seiten und auch eine ordentliche Portion ohnmächtiger Wut auf der einen und Machtwahn auf der anderen Seite eine Rolle. Die Offiziellen saßen aber am einzig wirksamen Hebel. Da konnte mancher Schweinehund genüsslich seine Allmachtphantasien ausleben und auch mancher Pappritter seinen Amtsschimmel reichlich mit Futter versorgen. Das ist das, was Diktatur so verhasst macht. Es muss ja nicht immer so heißen. Hieß es aber. Die DDR, das war die angebliche „Diktatur des Proletariats“, obwohl es gleichzeitig unter dem Etikett „Demokratische Republik“ verkauft wurde und in Wirklichkeit ein durchorganisierter Bürokraten- und Funktionärsstaat war, der sich dann langsam zum Überwachungsstaat mauserte. Wer den Antrag auf Ausreise stellte, dem wurde automatisch unterstellt, die Politik und angeblich staatstragende Ideologie der DDR abzulehnen. Es wurde als Vaterlandsverrat gewertet, zu seinen Verwandten im feindlichen Westen übersiedeln zu wollen. Der Antragsteller wurde zum Feind des „real existierenden Sozialismus“. Der konnte, falls man ihn überhaupt ziehen ließ, nur unter entwürdigender Form und mit einem öffentlichen Tritt in den Hintern fortgejagt werden, falls sich kein Grund dafür fand, ihn wegen irgendeiner Sache zu kriminalisieren und einzusperren. Das musste man nicht haben, das konnte in diesem Staat aber jeder erleben, wenn er es stur genug darauf anlegte, sich mit ihm quer zu stellen.
Dann passierte aber einmal folgendes: In meinem Arbeitsumfeld rumorte es schon eine Weile und ein Gerücht machte die Runde, was erst wahrgenommen wurde, als sich etwas abzeichnete, was auf die „Einleitung von Maßnahmen“ schließen ließ. In einem kleinen Industriebetrieb in der Provinz und dazu noch in einer Kleinstadt kann nichts verborgen bleiben. Das Gerücht lautete: Der Guido zieht um. Na, dann zieht er eben um, was kann denn schon Besonderes daran sein. Alle Leute ziehen irgendwann um, dann eben auch der Guido. Dann wurde das Gerücht deutlicher: Der Guido zieht um nach Darmstadt. Da hat sich einer verhört. Der zieht vielleicht in ein Nest, was so ähnlich heißt. Darmstadt liegt doch „Drüben“. Genau, „Drüben“ das ist der „Westen“. Jetzt wird es interessant und jeder will wissen warum und als Naheliegendstes, ob er dort Verwandtschaft hat. Hat er nicht. Familienzusammenführung entfällt also. Warum ihn fragen, es geht nur ihn etwas an. Es ist ja auch nur ein Gerücht. Seine Arbeit macht er gut und sonst soll sich doch darum kümmern, wer Interesse daran hat. Natürlich besteht Interesse daran, was da läuft. Man sammelt also Informationen und zapft sie da, wo sie zu holen sind. Der Parteisekretär zum Beispiel, was sagt der dazu? Der Guido, ein so junger Genosse, gerade erst in die Betriebsparteigruppe der SED aufgenommen, der stellt doch bestimmt keinen Ausreiseantrag. Vertrauliche Informationseinholung beim Parteisekretär. Hat er? – Nein, er hat nicht. Schön und gut, aber warum guckt der dabei so gehetzt in der Gegend herum und warum flattern ihm so die Augen? Das macht ein Parteisekretär doch sonst nicht. Nun hätte man es auf sich beruhen lassen können, aber es wurde einfach keine Ruhe und es gab auch Gelächter. Wo Rauch, da auch Feuer …
Ein paar Tage darauf ist Versammlung beim Chef. Während der Arbeitszeit. Die Parteileitung sitzt. Sie holen noch ein paar Genossen aus den Abteilungen dazu. Es wird zur erweiterten Parteileitungssitzung, dann zur Parteigruppenvollversammlung. Alle Genossen sind nun mit drin in dieser Sitzung. Sie holen mehr Stühle. Die Produktion käme zum Erliegen, wenn es unter der Belegschaft noch mehr Parteimitglieder gäbe. Am Ende wird noch ein Instrukteur der SED-Kreisleitung beratend hinzugezogen. Es wird Kaffee aufgefahren. Es wird gequalmt, was das Zeug hält. Es geht etwas lauter zu, man hört es, weil sie ein Fenster aufmachen müssen, wegen dem Zigarettenqualm. Die Partei scheint in der Klemme zu sitzen. Der verwalteten Masse kann nicht alles erzählt werden, ohne die staatstragende Ideologie zu beschädigen. Ab und zu muss ein Feigenblatt tabu sein. Die Fama weiß zu berichten, der Umzug des Guido wird von einer Spedition von „Drüben“ gemacht. Der Guido hat sich zum Ausfüllen der Formulare jemand zu Hilfe genommen. Jeder weiß, dass der Guido einen Webfehler hat, zwar fleißig, aber im Kopf nicht ganz so helle ist. Es ist also etwas an der Sache dran, aber offiziell keine Verlautbarung. Langsam werden auch einige Parteigruppenmitglieder undicht. Das kommt, weil zumindest die Männer zuhause nicht alles verschweigen können, wenn ihnen die Frau auf die Pelle rückt, die natürlich auch von den ganzen Gerüchten weiß und Gesprächsstoff für ihr Kaffeekränzchen oder so braucht. Aus halben Andeutungen entsteht ein Puzzle und das vervollständigt man sich dann irgendwie plausibel mit dem übrigen Klatsch. Die von der Partei halten sonst wie die Mafia zusammen und wer dringlich ins Parteilehrjahr einbrechen muss, um für eine unaufschiebbare Sache, wie beispielsweise den fälligen Bericht an die „Staatliche Zentralverwaltung für Statistik“ noch eine Unterschrift vom Chef vor Postschluss zu bekommen, der merkt: Sie schweigen eisern, solange jemand mit im Raum ist, der nicht dazu gehört. Dabei kriegen sie da nur die Zeitung noch einmal „richtig“ erklärt.
Der Guido hatte sich dagegen gewehrt, aus der SED ausgeschlossen zu werden und sein „Dokument“ abzugeben. Er hing an seiner Partei und an seinem Parteibuch. Es stimmte demnach, dass er „ausreiste“, nicht „ausriss“, nein, „ausreiste“. In den „Westen“. Wieso dann dieser Tanz. Da stimmte irgendetwas nicht. Dass er in Darmstadt, oder wohin er umzog, nicht so ohne weiteres als Mitglied der SED auftreten konnte, war schon klar. Dass es da Schwierigkeiten bei der monatlichen Mitgliedsbeitragszahlung geben würde, stand außer Zweifel und die Beitragsmarken per Post zu schicken kam auch nicht in die Tüte. Wie war das überhaupt. Musste dafür nicht ein Devisenkonto eröffnet werden? Vereinnahmte die Partei dann den Mitgliedsbeitrag des Guido aus dem Westen als „Forum-Schecks“ und durfte dann damit im „Intershop“ einkaufen?
Der Guido hatte, so viel kam heraus, zu guter Letzt widerwillig um Genehmigung seines freiwilligen Austrittes aus der SED gebeten. Das ging nun überhaupt nicht. Es gab den reinen Rausschmiss, wenn man kriminell war. In der SED konnte ein Krimineller nie Genosse sein. Selbst bei Anklageerhebung vor Gericht erlosch die Mitgliedschaft automatisch. Das war uns bekannt. Feinheiten gab es da. Schon das mit der zeitweise ruhenden Parteizugehörigkeit war kompliziert. Ausgefressen schien er nichts zu haben, der Guido. Dazu hätte es geistig nicht gereicht. Ihn dann zu feuern wäre kein Problem gewesen, aber Willkür wollte sich die SED nicht auch noch nachreden lassen. Hätte er einen Ausreiseantrag gestellt, wäre er automatisch aus der Partei geflogen wegen ideologischem Verrat. Wie also war das bei ihm gelaufen. Antrag auf Austritt aus der SED gab es nicht. Da hätte jeder kommen können. Da war die Angst der Partei, dass jeder gekommen wäre. Es war eine verdammt verfahrene Kiste und nicht zu klären, warum so schwierig. Die Zeit verging und der Möbelwagen kam und der Guido reiste aus. Ende.
Das war das Ende, aber wir wollten den richtigen Schluss gern erfahren. Es liefen genügend Verfemte herum, die schon lange vorher ihren Antrag gestellt hatten und noch immer hier waren, und der war fort und alles war reibungslos gelaufen. Dann sickerte doch noch etwas durch, was das Westfernsehen schon längere Zeit behauptet hatte und uns gegenüber wenn auch nicht bestritten, so doch geheim gehalten worden war: Die DDR verkaufte ihre Bürger meistbietend für Devisen. Es war irgendwelcher Westbesuch beim Guido gewesen. Sie hatten sich einmal im Urlaub kennengelernt und konnten nicht mehr voneinander lassen. Die von „Drüben“ hatten über einen entsprechenden Verband den Abverkauf organisieren lassen. Sie hatten „gesammelt“. Als dann so bei und um die mehrere zehntausend D-Mark oder so gezahlt und das Geschäft abgeschlossen war, sickerte das zusätzliche Gerücht durch, ein westdeutscher Schwulenverein habe sich ein Parteimitglied der SED aus der DDR heraus gekauft. Da war alles schon zu spät. Augen zu und durch, mögen sich die Verantwortlichen gesagt haben, aber lasst es bloß keinen erfahren. Als es nun doch noch hinterher herauskam, kochte natürlich die Gerüchteküche erneut.
Frauen müssen alles ganz genau wissen. Die Frage tauchte auf, ob sie „Drüben“ vielleicht sogar so etwas wie das Hamburger „Eros-Center“ hatten, aber für die vom anderen Ufer. Irgendjemand war über dunkle Kanäle an ein zerfleddertes Exemplar der „St.-Pauli-Nachrichten“ herangekommen. Der Inhalt dieser Zeitung ließ solche Sachen vermuten. Das konnte ja der reinste Menschenhandel sein. Der arme Guido! Wie ist das eigentlich. In der Zeitung steht jeden Tag eine kleine Notiz unter der Überschrift „Menschenhändler verurteilt“. Wie unterscheidet sich denn das genau. Da stand etwas von „Schleuserbanden“. Aha, die machten das illegal, ungesetzlich. Und der Unterschied? Die Schleuserbanden bezahlen nichts an den Staat. Die Volkswirtschaft hat nichts davon, und der Finanzminister auch nicht. Die schmuggeln Menschen in den Westen und stecken das Geld dafür selber für sich ein, illegal. So etwas ist strafbar. Das war nun endlich geklärt.
Wie ist das aber, wenn offiziell Geld gezahlt wird. Geld gegen Ware. Es ist in dem Fall zwar egal, wer es einnimmt, verkaufen lassen sich aber offiziell nur Waren. Der Guido war also Ware. Wenn der Mensch zur Ware erniedrigt wird, dann ist das doch Sklaverei. Jemand hatte den Guido gekauft, also jemand kauft einen Menschen. Dann gehört doch die Ware danach dem Käufer. Waren wir auch Besitztum des Staates? Waren die Staatsbürger am Ende auch Volkseigentum? Dann hätte er doch jeden verkaufen können, auch gegen seinen Willen. Waren wir alle Sklaven? Wir schauten ins Gesetzblatt. Gott sei Dank, nein. Die DDR hatte erst neulich die Sklaverei abgeschafft. Sie hatte irgendeine internationale Konvention gegen die Sklaverei ratifiziert. Wir hatten den Gegenbeweis schwarz auf weiß. Die Frauen beruhigten sich. Vielleicht hatten die im Westen aber der Sklaverei noch nicht abgeschworen. Dann leistete die DDR den Sklavenhaltern im Westen Dienste. Die Sache mit dem doppelt freien Lohnarbeiter im Kapitalismus kam auf den Tisch. Von Lohnsklaverei und dem Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft hatten wir schon gehört oder bei Marx gelesen. Den Kapitalisten ist alles zuzutrauen. Wer hier allerdings vom Kauf von Arbeitsleistung zu spinnen versuchte, der war bestimmt auf dem Holzweg. Solche Hilfsarbeiter gab es da, wo der Guido hin gekauft war bestimmt schon genug. Wie kam man überhaupt auf einen Preis für einen Menschen? Ist das vielleicht so wie bei Grund und Boden? Der Pfarrer sagt doch auch bei der Beerdigung: „Asche zu Asche, Staub zu Staub…“ Erde zu Erde. Land ganz allgemein hat keinen bestimmten Wert. Es ist nicht hergestellt, es steckt keine Arbeitsleistung drin und somit auch keine „abstrakte Arbeit“. Land hat aber einen Preis. Es muss damit gehaushaltet werden, weil seine Menge nicht unendlich ist und es auch nicht vermehrt werden kann. So ließ sich das aus der höheren Ökonomie erklären. Der Guido war in dem Falle wie Grund und Boden zu betrachten. Er hatte keinen Warenwert, aber trotzdem einen Preis. Verkauft war er jedenfalls, da biss die Maus keinen Faden ab. So entging die Partei dem Vorwurf, ihre unkündbaren Mitglieder in die Sklaverei zu verkaufen. Sie „haushaltete“ nur mit ihren Ressourcen.
Letztes Aufbäumen ideologischer Unklarheiten: Ein Mensch kann schon deshalb nicht mit Grund und Boden gleichgestellt werden, weil sich Menschen doch vermehren. Grund und Boden tut das nicht. Der Guido war doch schwul. – Ach so, der vermehrt sich also nicht, dann könnte man das gelten lassen. Da haben die aber Schwein gehabt, die ihn verkauft haben. Allerletzte Unklarheit: Grund und Boden lässt sich zwar verkaufen, aber er bleibt an Ort und Stelle. Der Guido war aber verkauft und war fort.
Es war einfach nicht vermittelbar … Geld, oder Parteimitglied, das war hier die Frage: Natürlich Geld! – Diese Frage stand nie. Fidel Castro hatte doch ganz offiziell damit angefangen. Nach der sogenannten „Schweinebuchtinvasion“ wurde hinterher mit den USA über die dabei von den Kubanern gemachten Gefangenen verhandelt. Einen Gefangenenaustausch, wie sonst üblich ließ sich nicht durchführen. Der Gegner hatte keine Gefangenen gemacht. Es musste etwas anderes als Tauschobjekt gefunden werden. Nach einiger Schacherei erreichte Castro damals, diese Gefangenen gegen Traktoren zu tauschen, die ihm dann von den Amerikanern auch geliefert wurden. Es sollen 500 Traktoren gewesen sein. Je ein Traktor für zwanzig Gefangene. So war er diese ihm zugefallenen unnützen feindlichen Fresser los und gleichzeitig bekam seine Landwirtschaft einen nicht zu verachtenden Mechanisierungsschub. Das war auch Menschenhandel gewesen, aber kaum mit dem zu vergleichen, was gerade unter unseren Augen passiert war. Bei uns wurden meist sogenannte Dissidenten verkauft, aber die hatte sich die DDR oft selbst erst erzeugt. Das mit dem Guido war allerdings eindeutig eine Panne. Eins blieb jedoch geheim. War der Guido nun vorher noch aus der Partei hinaus bugsiert worden oder nicht, und wenn, dann wie. Fragen zu beantworten, die mit Ideologie verknüpft sind ist nicht so einfach. Es steckte schon Sinn hinter der internen Richtlinie der SED, keine Fragen zu diskutieren, solange die Partei noch keine Antwort darauf geben kann.
Wir sahen uns in der damaligen Zeit immer von offizieller Seite mit einem Spruch Maxim Gorkis über die Menschenwürde konfrontiert, der angeblich die Basis der gesellschaftlichen Wertigkeit des Menschen im Sozialismus ausmacht. Er lautete: „Ein Mensch, - wie stolz das klingt!“ Darauf machten wir uns beizeiten einen eigenen Reim.
Soweit ein Beispiel zur Denkweise des „gelernten“ DDR-Bürgers. Wundern Sie sich also über nichts, wenn Sie weiterlesen. Er wusste durchaus Bescheid, stellte sich aber öffentlich dumm. Wenn ihn sein Staat für dumm zu verkaufen versuchte, und das war immer der Fall, wenn es sich bei den Vertretern dieses Staates um ideologieverblendete Funktionäre oder dümmliche halbgebildete subalterne Befehlsempfänger mit entsprechend bornierten Machtallüren handelte, dann benahm der Betreffende sich entsprechend dieser Behandlung und verblödete zielgerichtet in angebrachter Weise. Das war die ganze Strategie des DDR-Bürgers, zwar oft gemischt mit etwas Angst und einer großen Portion Verachtung, aber sie erwies sich als erfolgreich. Dass es allerdings eine Menge Leute in entsprechenden Positionen gab, die sich eine reale Sicht auf die Dinge bewahren wollten und deshalb auch vernünftige Entscheidungen und Regelungen zu fällen und durchzusetzen versuchten, dürfte außer Zweifel stehen. Es hätte sonst nicht so lange funktioniert, ehe es endgültig zum Kurzschluss kam.
Das zur Einstimmung aus der Mitte der achtziger Jahre, als die allgemeine Stagnation in Wirtschaft und Gesellschaft der DDR schon zum Allgemeingut geworden war und die hoch gepriesene Ideologie schon lange nicht mehr Schritt halten konnte, mit den praktischen Entwicklungen. Sogar die staatstragende Partei mag sich von ihrer Ideologie beengt gefühlt haben. Wichtig war immer, von allem, was sich abgreifen ließ auch zu profitieren, von jedem Kuchen das größte Stück abzukriegen und möglichst nichts dafür zu tun. Alle, die sich für etwas engagierten und ihren eigenen Vorteil dabei aus dem Auge verloren, sahen sich meist als Benachteiligte. Der Sozialismus interessierte keinen. Jeder sah, wie er über Beziehungen zu dem kam, was er brauchte. Alle wirtschafteten wie anderswo auch, kümmerten sich kaum um Politik und ließen dabei den lieben Gott einen frommen Mann sein. So bildete sich ein Staat heraus, der von angeblich getreuen klassenbewussten und allseits umfassend gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten wimmelte.
Aber wer genauer hinschaute sah, wenn es nicht um in resignierender Gleichgültigkeit dahinlebende Individuen handelte; tatkräftige Leute, die sich unter dem Deckmantel der Ideologie und auch ohne diese Ausrede kräftig ihren privaten Interessen widmeten. Es waren hauptsächlich widerborstige aufsässige, unwillige, zynische und raffgierige Mitläufer, die nur auf ihren persönlichen Vorteil aus waren und alles mitnahmen, was ihnen zufiel und was sie für sich ergattern konnten. Und sie waren so, weil ihnen unter diesen Bedingungen oft gar nichts anderes übrig blieb, wenn sie den Ehrgeiz hatten, sich ihr Leben entsprechend erträglich einzurichten. Und wer hätte das nicht gewollt. Auch wenn ich bisher einige Standardformulierungen des sogenannten Parteichinesisch verwendet habe, Sie haben bestimmt bemerkt, es hat auch seine unbeabsichtigt lächerlichen Seiten, die sich mittels paradoxer Gegenüberstellungen herausarbeiten lassen. Und dann: Wie sehr unterscheidet sich eigentlich unsere derzeitige raffgierige Neidgesellschaft mit ihrer politischen Beliebigkeit und ihrer Raubtiermentalität davon, was ich in den letzten Sätzen vom DDR-Bürger behauptet habe?
Der DDR-Bürger war und ist zweifellos schon immer auch für das passfähig gewesen, worin wir heute leben, man will es nur nicht wahr haben. Eigene schlechte Angewohnheiten fallen einem auch meist erst dann auf, wenn sie einem nachgemacht werden. Noch besser passt hier, was der Lateiner sagt: „Quod licet Jovi, non licet bovi.“ Da haben Sie den ganzen Unterschied zwischen Ost und West. Es ist eine Sache des Standpunktes, des Dünkels und der damit verbundenen Vorurteile. Wie verlief aber die Entwicklung dieses Landes, welches bei Kriegsende auch nicht anders aussah als der Rest Deutschlands, dass es am Ende zu derartigen Auswüchsen kommen konnte. Verfolgen Sie nun mit mir die Entstehung und Entwicklung dieses Gebildes DDR, zum Teil an Hand von Episoden meines eigenen Lebenslaufes und dem, was andere vor meinen Augen fabrizierten und was ihnen dabei passierte. Lernen Sie verstehen, warum das kein Staat der „Proletarier“ und ihrer angeblichen Diktatur, sondern ein von einer bürokratisch organisierten Funktionärshierarchie verwaltetes Staatsgebilde war. Vollziehen Sie mit mir nach, wie sich das alles entwickelt hat, welche Prinzipien damals der Steuerung der Presse, der Kultur und der Wirtschaft zugrunde lagen, welche Zerrbilder die jetzt miteinander wiedervereinigten deutschen Staaten voneinander hatten und warum das mit dem Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, immer noch so schwer ist. Das hier ist keine reine Autobiografie, auch wenn es so losgeht und manchmal danach aussieht. Es ist vorrangig ein Lebenslauf der DDR und ihrer ziemlich hausbackenen Art der Herrschaftsform, welche uns als „Diktatur des Proletariats“ verkauft wurde, und die im Grunde genommen nur die Inszenierung ihrer eigenen Parodie war. Ein Langzeitreport von einem, der unfreiwilligerweise mit dabei gewesen ist und der lange nicht geglaubt hat, mit in der falschen Richtung unterwegs zu sein.
Von der Ohnmacht des Menschen, der Ahnungslosigkeit der Tiere,
der Ignoranz der Natur, vom Schuster und vom Schneider
und unvermutbaren wirtschaftlichen Zusammenhängen
Jeder Mensch hat zwei wichtige Kalendertermine. Den einen kennt er meist. Das ist sein Geburtstag. Den bekommt er von denen gesagt, denen er es glauben muss. Den anderen kennt er nicht, weil man ihm das dann zwar noch sagen kann, er es aber nicht mehr hört. Was dazwischen liegt, heißt „Das Leben“, und keiner, der hineingekommen ist, weiß, was mit ihm vorher war und die wieder hinausgegangen sind, von denen hat keiner sich wieder gemeldet. Jetzt, da ich schon mehr Kalender verbraucht habe, als ich noch verbrauchen könnte, finde ich, es lohnt sich nicht, in einer Welt zu leben, in der es nicht wenigstens ein bisschen drunter und drüber geht. Eine Prise Pfeffer und ordentlich Salz muss überall dran sein, sonst ist das Leben zu fade. Ich kann jedenfalls sagen, dass ich ein gerüttelt Maß blühenden Unsinns und auch höherem Blödsinns im Leben abbekommen und auch selbst verzapft habe. Wenn mir jemand einreden wollte, ich hätte etwas verpasst, dem würde ich nicht glauben.
Als Kind verstand ich nicht, was um mich herum passierte und nahm die eigene Hilflosigkeit in dieser grausamen Zeit der unzumutbaren Zumutungen nicht als wirklich in mich auf. Kind sein ist eine verzweifelte Angelegenheit. Heranwachsend begann ich zu begreifen, was mit mir gespielt wurde und das Ergebnis aller Erziehung bestand in dem Erlernen von Strategien, wie dem Ziel dieser Erziehung zu entrinnen sei. Darauf folgte die Phase in der die Vorbereitung auf ein künftiges selbstbestimmtes eigenes Leben wichtiger wurde, als alle gutgemeinten Hinweise, es doch ganz anders machen zu sollen. Es schlossen sich die Zeiten an, in denen es wichtig war als Rädchen mit anderen verzahnt im Mechanismus der Wirtschaft und auch sozial etwas Nützliches zu sein, eine Familie zu gründen und sich selbständig einzurichten, sich für sich selbst und auch für andere verantwortlich zu fühlen. So zielgerichtet auf den ausgetretenen Pfaden herkömmlicher Tradition unterwegs fand ich mich dann plötzlich an einer Stelle wieder, an der es galt bei Strafe des Scheiterns zu einem treibenden Rädchen in einem Getriebe zu werden, in welches ich mich hatte einbauen lassen.
Dabei kam ich je nach Alter nacheinander in die verschiedensten Lebenssituationen und jede dieser neuen Situationen erforderte einen anderen Blickwinkel auf die Welt, weil sich doch die individuellen Vorstellungen davon laufend weiterentwickeln und in jedem Lebensabschnitt eine ganz eigene Sicht auf die Welt erzeugen. Dummerweise entwickelt sich das Umfeld gleichfalls und auch wenn man glaubt, sich selbst treu geblieben zu sein, in jeder Situation schaut wieder ein anderer Mensch mit anderen Vorstellungen in ein anderes Lebensumfeld. Wir sind nun einmal alle in unser gesellschaftliches und soziales Umfeld eingebaut und so wie wir darauf einwirken, so wirkt es andererseits auch wieder auf uns zurück. Als ich alt genug war, ging ich dann plötzlich kaputt, aber zum Glück nur halb und sozusagen „auf Raten“. Ich hatte das Leben zu ernst genommen. Es passierte ein gutes Stück nach der Wende. So bekam ich Zeit, das hier einmal niederzuschreiben.
Auf der Welt ist alles einmalig und unwiderruflich. Sobald es geschehen ist, konserviert es die Zeit. Es gehört zur Vergangenheit und an der kann nichts mehr geändert werden. Das weiß jeder. Das glaubt aber keiner. Der Berufsstand der Historiker beweist es, denn laufend schreiben sie nachträglich das um, was nicht mehr zu ändern ist. Im Privatbereich läuft das meist auch nicht viel anders. Einer trägt den ganzen Jammer dieser Welt mit in sich herum und ficht alle Kämpfe seines Lebens noch einmal, zehnmal oder noch öfter und immer wieder aufs Neue durch, trägt seine persönliche Hölle im Kopf durch die Zeit, blind für die Welt. Diese Leute laufen im Hamsterrad und fühlen sich um ihr Leben betrogen. Selten finden wir jemand, der das Leben nimmt, wie es kommt, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, was er eventuell verpasst oder falsch gemacht haben könnte.
Wer sich im Leben allerdings nur die positiven Dinge merkt, dem kann es passieren, dass die Schönheit der Erinnerung die tatsächliche Vergangenheit zu überwältigen droht und dann macht sich Nostalgie breit. Auch davor ist keiner gefeit. Den richtigen Mittelweg zu finden, alles so zu bewahren, wie man es erlebt hat, Schlussfolgerungen zu ziehen, sich ein klares Bild schaffen, Geschehnisse objektiv zu sehen, unveränderliche Tatsachen als solche stehen zu lassen, das liegt auch nicht jedem. Vielleicht alles verstehen zu wollen und auch noch zu begreifen, eventuell auch noch alles verzeihen und womöglich sein Leben nach der Bergpredigt Jesu auszurichten; wer es versucht, der wird zum unglücklichsten Menschen auf dieser Welt. Dann lieber Narr sein und wenn das nicht geht, dann sollte man sich wenigstens vor sich selbst, ab und zu zu dieser eigenen Narrheit bekennen. Man unterliegt im Leben neben den normalmenschlichen Einflüssen auch denen der jeweiligen Politik. Gerade Politik bietet in der Rückschau zu oft den Eindruck des ohnmächtig Lächerlichen und wäre es auch, wenn sie nicht für den Einzelnen oft so verheerende Auswirkungen hätte. Lesen Sie also vor allem, was ich mit Politik zu tun bekam, ohne es zu wollen, und wie tief Politik in das Leben des Einzelnen eingreift.
Mir widerfuhr es, auf einem Fleck dieser Welt geboren zu werden, der zu den Scherben eines zusammenbrechenden Reiches gehörte, dann als Beute etwas in der Luft hing, von einem vierzig Jahre dauernden Zeitfenster mit sehr starkem, stellenweise sogar gemauertem Rahmen unter dem Namen Sozialismus überstrichen wurde und nun schon längere Zeit im Magen einer Demokratie verdaut wird, der es davon seit Jahren dauernd sauer aufstößt. Das Wetter zog darüber hinweg und es regnete, hagelte, schneite, war ungewiss trübe, mal kalt und mal warm und die Sonne schien und auch mal nicht, und der Wind wehte und auch das nicht immer. Auch die Politik zog wie das Wetter über das Land, aber sie blieb in ihren Wirkungen bei weitem hinter dem zurück, was die Natur in ihrem jährlichen Kreislauf hervorbrachte und sichtbar werden ließ. Ansonsten, rein naturwissenschaftlich und biologisch tat sich nichts anderes als anderswo auch. Die Bäume wurden im Frühjahr grün und ließen im Herbst die Blätter fallen. Es gab fruchtbare Jahre und solche mit schlechten Ernten. Es gab Grenzen und auch mal keine, überschreitbare und unüberschreitbare und die Vögel bekamen es nicht mit, so wie sie auch jetzt über Grenzen lachen würden, wären sie blöd genug, Menschen verstehen zu wollen. Der Hund betrachtete den Menschen als seinen besten Freund und unterwarf sich ihm bedingungslos. Die Katze bewahrte weiterhin ihre Unabhängigkeit, sah darauf, dass man sie als nützlich ansah und ließ sich ansonsten bedienen. Die Pferde erwischte es wie immer eiskalt, denn es ist schließlich egal, ob sich ein Pferd im Kampf der Menschen miteinander oder bei den Aufnahmen zu einem Indianerfilm das Genick oder die Beine bricht. Selbst bei Beinbruch lauert da der Gnadenschuss. Den Kühen nahm man die Milch, aber es war ihnen egal, ob ein Kaiser, Diktator oder die Demokratie herrschte. Die Schweine grübelten über den Sinn ihres Lebens, aber er wurde ihnen immer bis zu dem Punkt verheimlicht, bis es für sie zu spät war, und auch die Hühner hatten es wie überall auf der Welt sehr schwer, wenn sie die menschlichen Erwartungen an sie erfüllen wollten.
Das passierte überall auf der Welt und auch da, wo ich lebte. Es wurden Häuser gebaut und auch welche abgerissen, als man es aber am Ende besah, wohnten dort immer noch Menschen, die sich nicht von anderen Umwohnenden angrenzender Staaten unterschieden. Auch die bewohnte Landfläche hatte nicht bemerkt, dass sie eingeteilt, abgegrenzt und vor allem von Politik verwaltet worden war. Es waren vierzig Jahre vorbei und als alles wieder in einem Topf geworfen war, behaupteten die einen Menschen von den anderen: Die wären ganz anders, man habe sich „auseinanderentwickelt“ und meinte damit, die anderen wären „zurückgeblieben“. Vom Nachholbedarf an Wissen und materiellen Dingen wurde plötzlich gefaselt.
Das ist das, was ich als das Blöde und Irrwitzige am Menschen betrachte; er muss sich immer abgrenzen. Je geringer der Unterschied, umso zäher der Gegensatz, damit ihn jeder auch merkt. Beim Menschen ist das so, weil es ihm einzureden ist, Tieren nicht. So flickt beispielsweise der Schneider dem Schneider am Zeug, aber schon der Schuster dem Schneider nicht mehr. So lange wir uns also gegenseitig am Zeug flicken, kann das mit dem „Sichauseinander-entwickelt-haben“ nicht weit her sein. Wir leben zurzeit in der EU unter einem Dach zusammen und ob nun Franzose, Pole, Spanier, Tscheche, Deutscher, Ungar oder Italiener, sie respektieren einander, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen und auch auf eine oft konträre Geschichte zurückblicken, vielleicht sogar einmal Erbfeinde waren. Nicht so im wiedervereinigten Deutschland. Da wird sogar regierungsseitig der Unterschied zwischen West und Ost ständig weiter zementiert. Der Ossi ist bestimmt eher gleichberechtigter Europäer als voll akzeptierter Deutscher. Man will es nicht zugeben, aber dieses Aufeinandergehetze brachte unserer Regierung auch nach über zwanzig Jahren noch manche schöne Einsparung im Staatssäckel. Und das geht auch so weiter. Ob nun beim Lohn, der Rente oder sonstigen Sozialleistungen und auch mancher Unternehmer weiß, wie er das nutzt, um dabei aus verschiedensten Töpfen sehr gut abzuschöpfen. Nachdem nun in Deutschland wieder eine Generation herangewachsen ist und der ewige Streit, früher sei alles besser gewesen, von zwei Seiten gegeneinander geführt, schärfer und zunehmend unverständlicher wird, habe ich mich daran gemacht einmal aufzuschreiben, was denn wirklich in dieser finsteren Zeit, in der sich der Wessi sicher war, hinter der Zonengrenze begänne schon Sibirien, tatsächlich so furchtbares passiert ist. Sogar die Nachgewachsenen, die es nicht mehr erlebt haben können geraten sich deshalb manchmal gegenseitig in die Haare. Wer mag ihnen das beigebracht haben? War das im Osten wirklich durchgängig dieser gnadenlose Überwachungsstaat der Staatssicherheit gegen den der Ossi jeden Morgen neu, die ganzen Jahre im Kampf um die Menschenrechte stand? Wir als die Bewohner dieses Staates hätten das doch merken müssen. Es stimmt schon, dass fast alle Lebensbereiche in der DDR einer ideologischen Durchdringung unterlagen, aber der Großteil der Bevölkerung nahm das doch nicht für voll. Vieles was heute an Vorkommnissen und Geschehen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich und vom politischen Tagesgeschehen, in der Zeitung steht ist mir jedenfalls schon von früher her so vertraut, so dass ich manchmal der Meinung bin, Wiederholungen zu erleben. Die Arten des Sandes, und die Methoden, mit denen er der großen Masse der Bevölkerung in die Augen gestreut wird, sind mir noch sehr geläufig, denn es hat sich methodisch erschreckend wenig geändert. Die Abgehobenheit gerade dieser Bereiche und ihr unerschütterlicher Glaube an die eigene gefälschte Statistik ist so vehement, dass ich manchmal bei der Zeitung nachsehe, welches Jahr wir haben. Es wird mir das jetzt alles in einer anderen, zwar genau so verlogenen Diktion wie früher geboten, das wäre aber angeblich ideologiefrei. Wieso ist reine Geldgier denn plötzlich keine Ideologie mehr?
Bleiben wir aber bei der Geschichte von vierzig Jahren DDR. Nur aus der Rückschau ist erkennbar, was beabsichtigt war, wie man es durchsetzen wollte, was tatsächlich eingeleitet wurde, wie es ankam, ob die eingeleiteten Maßnahmen überhaupt wirkten, was man am Ende erreichte und was tatsächlich passiert ist. Das muss alles aus Erinnerungen an Erlebnisse, Anschauungen, Gegenüberstellungen und Wertungen zu paradoxen Vorkommnissen, sogar manchmal obrigkeitlichen Schelmenstücken und Narrenpossen herausgefiltert werden, wobei sich Ost und West manchmal gar nicht so sehr unterschieden haben. Mit wie viel Mühe, Qual und Ernst Prinzipe verfolgt wurden, bis die Lächerlichkeit erkämpft war, ist bisher noch zu wenig gewürdigt worden, es sollte hier einmal geschehen. An Stellen, wo die große Politik an der Basis verplätschert, ist erst zu spüren, wie lächerlich dieses Getöse sein kann. Wenn es Ihnen dabei passiert, alles noch nachträglich verstehen zu wollen, können Sie sich schon mal verirren. In dem Fall sollten Sie immer daran denken: Es ist vorbei!
Erwarten Sie jetzt keinen Tatsachenreport über die ideologisch tragische Verstrickung von Helden oder Gaunern und wie sich aus dem Wust der Hinterlassenschaft der Nazi-Zeit statt der bürgerlichsozialen Demokratie westlicher Systematik eine Schreckensdiktatur kommunistischer Prägung etablierte; und wo es um Opfer und Täter geht, um Mitläufer, Nutznießer, Gefährdete, vom Moloch verschlungene, die vierzig Jahre im härtesten Kampf miteinander gestanden haben. Kommen Sie einfach mit in einen Teil der Bundesrepublik Deutschland, uraltes deutsches Siedlungsgebiet, wohin zurzeit sich allmählich entvölkernde und entindustrialisierende Kommunen mit Hilfe ihrer Fremdenverkehrsvereine arglose Touristen zu locken versuchen. Kommen Sie mit dahin, wo sich Fuchs und Hase schon immer gute Nacht gesagt haben, Gegenden, die früher selbst vom fahrenden Volk nur bei Tage und in Eile durchquert wurden, Landstrichen, welche die Russen bei Kriegsende wohlweislich zu besetzen vergaßen und vor denen es selbst den Amerikanern grauste, so dass sie die unbesehen den Russen zum Tausch ließen. Kommen Sie mit in die schönen ländlichen Gegenden, woher jahrelang die vielen Dinge des täglichen Bedarfes kamen, vom Gardinenstoff über die Stores bis zum Möbelbezugstoff, das Riesensortiment an Textilien, Trikotagen und Strümpfen, Teppichen, Möbeln, Gebrauchs- und Edelporzellan, Haushaltgeräten und sonstigen Kleinartikeln des täglichen Bedarfs sowie Werkzeugmaschinen und feinmechanisch-optischen Präzisionsgeräte, Kameras, Spielwaren, Räuchermännchen und Weihnachtspyramiden, sogar Kraftfahrzeuge und Hausbrandbriketts; Waren, die als Niedrigstpreis-Sortiment das Rückgrat des Angebotes der altbundesdeutschen Versandhauskatologe, damit auch das Hauptgeschäft dieser Wirtschaftsbranche und auch den Wohlstand mancher Familie des Altbundesgebietes absicherten. Erzeugnissen, die manchen altbundesdeutschen Zwischenhändler durch das Aufkleben seiner eigenen Etiketten, reich und weltbekannt machten und kommen Sie auch mit in die Betriebe, die ihm neben den Waren diese seine Etiketten auch gleich noch mit lieferten. Kommen Sie mit in die DDR.
Wofür ich eigentlich vorgesehen war, die Sache mit dem Storch,
wie ein Kartoffeltopf sich in die Politik einmischte,
und meine ersten Kontakte mit bedrucktem Papier
Als ich auf die Welt kam, lagen diese Dinge und Vorgänge noch in weiter Ferne. An die BRD und auch an die DDR war überhaupt noch nicht zu denken. Es gab noch das sogenannte „Dritte Reich“. Das hatte damals in dem schönen Sommer des Jahres 1942 seine größte Ausdehnung erreicht und seine Grenzen lagen im Westen am Atlantik, reichten bis zum Nordkap, verliefen im Osten vor Leningrad, Moskau und Stalingrad, am Nordrand des Kaukasus, selbst die Ägäis gehörte mit dazu. Auch an Nordafrikas Küste war schon ein schmaler Landstreifen erobert. Man dachte noch großdeutsch und rassenhygienisch. Als reichsdeutscher männlicher Nachkomme war meine Zukunft als Kanonenfutter für die Erringung und Behauptung der Weltherrschaft vorgeprägt.
Es kam glücklicherweise ganz anders. Kaum erschien ich auf der Welt, begann dieses Reich sich rapide zu verkleinern. Ich habe an dieser Entwicklung jedoch keinerlei Anteil. Deutschland war schon in meiner frühen Kindheit kein Machtfaktor mehr und ich wuchs in eine Welt hinein, in der die große Politik anfangs ziemlich bedeutungslos war. Das private Überleben stand im Vordergrund.
Manche Leute kommen aus dem Allgäu, aus der Wetterau, von der Waterkant, aus der Zone oder dem Ruhrpott. Ich komme aus Sachsen. Mir widerfuhr ein Leben, wie es einem so widerfährt. Erst ist man nur „mit“. Dann merkt man, dass es das „Ich“ gibt. Anschließend kommt das „Selbst“ dazu. Es entsteht der anfangs noch ziellose Willen, das gefährlichste, was sich die soziale Umwelt bei einem Heranwachsenden vorstellen kann. Von da an artet das in einen Kampf zwischen den wechselweisen Versuchen, diesen Willen gebrochen zu kriegen und entsprechenden Fluchtversuchen, bis zum Stadium der absoluten Unterwerfung oder der offenen Auflehnung gegen alles. An dieser Stelle geht es sehr unterschiedlich weiter. Bei mir öffnete sich die Gasse zum Lernen, um unabhängig zu werden, und so zu entrinnen. Die mir zugedachten Rollen vom Spielzeug über das kluge Kind zum vertrottelt folgsamen Laufjungen, von da zum gehorsamen Knecht oder Diener wollte ich nie spielen. Manche Menschen kommen eben unfähig für Krieg und Frieden auf die Welt. Ich war einer von denen.
Die Frau, die mich später heiratete stellte sich ebenfalls als unerziehbar heraus und auch sie ließ sich nicht zur Dienstmagd der Schwiegermutter abrichten. Wir begannen sogar einen eigenen Hausstand mit selbsterzeugten Kindern zu führen, ohne erst jemand um Erlaubnis zu fragen, kauften ein Haus, zogen weg und versuchten auf eigenen Füßen zu stehen und uns in nichts hineinreden zu lassen. Es war einfach katastrophal, was wir anstellten und was da passiert ist. Das erzeugte bei allen, die es gut mit uns meinten Nervenzusammenbrüche am Fließband. Es brauchte diese ganze DDR und ihre Diktatur nicht noch extra dazu. Das wird anderen in ihrem Leben auch nicht viel anders passiert sein. Aber dieses ewige Gerangel in der Privatsphäre ist seit jeher der ablenkende Grund dafür gewesen, der es verhinderte, sich mit der ordentlichen Gestaltung eines Gemeinwesens zu beschäftigen, weshalb die Politik oft Gestaltungsmöglichkeiten bekam, die ihr hätten verbaut werden müssen. Wenn bei der Großmutter eine Henne trotz langer Mühe nur ein Küken erbrütete, dann nahm man es ihr weg und tötete es, weil eine Glucke, die nur ein Küken führt unrentabel ist und sie dieses Küken im Übereifer sowieso zu Tode behütet. Mir passierte es auch, das einzige Küken meiner Mutterglucke zu sein. Der vorgenannte Ausweg war für mich aber versperrt, da ich als Mensch geboren wurde. Sie hatte es schwer mit mir. Kurz gesagt, ich kam auf diese Welt aus Unkenntnis der Tatsache, dass das strafbar ist, weil das Geborenwerden immer irgendwann mit dem Tode bestraft wird. Leben ist aus dieser Sicht, streng juristisch gesehen, illegal. Der sofortigen Todesstrafe entgeht der Mensch nur deshalb, weil er zwar schuldig im Sinne der Tatsache „Leben“ ist, ihm aber keine definierbare Absicht als die Dummheit des „Erwischtwerden“ durch den Storch unterstellt werden kann. Von Vorsatz kann in diesem Zusammenhang beim Betroffenen nicht gesprochen werden. Sogar Verursachern ist in solchen Fällen oft nur Fahrlässigkeit vorzuwerfen. In meinem Fall lag Vorsatz der verantwortlichen Täter zugrunde. Sie haben mich beide gewollt.
Ich muss aber annehmen, meine Eltern hegten völlig konträre Ziele bezüglich meiner späteren Verwendung, als ich absichtlich gezeugt wurde. Mein Vater brauchte einen Stammhalter und Hoferben, wie sich das für ein Geschlecht von Freibauern gehörte, die mindestens seit Luthers Zeiten nachweisbar und auch vorher nie fronpflichtig waren. Das war aber nicht im Sinne meiner Mutter, die mir schon als Fünfjährigem am Totenbett meines Vaters vor Zeugen das verbindliche Versprechen abnahm: „Du pflegst mich doch dann, wenn ich alt bin? Ich habe doch jetzt nur noch dich.“ Vorerst stand ihr mit ihren fünfunddreißig Jahren aber mehr der Sinn nach sofort sterben und nicht nach Pflege. Sie konnte sich aber in vielen Jahren nie entscheiden, was davon sie wollte. Selbst in ihren Neunzigern wollte sie immer noch das eine und drohte mit dem anderen.
Mein Vater war, als ich geboren wurde, im Krieg. Das war der zweite große Krieg der weißen Männer des 20. Jahrhunderts und mein Vater war schon im ersten gewesen. Als Freiwilliger von Anfang an und bis zum Ende. Und nun war er auch im zweiten und diesmal nicht freiwillig, aber wieder vom Anfang bis zum Ende. Das wusste ich noch nicht. Als ich begriff, dass ich tatsächlich und endgültig ein Kind war, gab es den Krieg nicht mehr und mein Vater war wieder zuhause. Zu der Zeit malte ich sehr gerne. Papier war sehr knapp, aber für mich fand sich immer etwas leeres Papier. Nur eins war tabu, in Bücher durfte ich nicht malen. Mangels Bilderbüchern besaß ich anfangs nur ein Buch mit vielen Bildern von Schiffen. Das kannte ich sehr früh und es speicherte sich in meinem Gehirn zwangsläufig nur optisch, also völlig wertfrei. Es war die Zeit der Stromsperren und so das bereits weit verbreitete Radio selten benutzbar. Unseres hatten angeblich sogar „Die Ammis“ gehabt, eine Formulierung, deren Inhalt mir entging. Es gab auch noch „Die Nazis“ und etwas leiser ausgesprochen „Die Russen“, aber das störte mich kaum.
Am wichtigsten war zu dieser Zeit die Zeitung. Da stand drin, welche Marken „aufgerufen“ wurden. Es war viel von Nährmitteln die Rede und was es frei gab. Auf eine Fleischmarke gab es auch mal ein Ei. Solche Sachen brennen sich ins Gehirn, wenn das im Umfeld die wichtigsten Gesprächsthemen der erwachsenen Frauen sind, und immer die Zeitung dabei. Nach ein paar Tagen war die Zeitung, die immer sehr lange angeguckt wurde, aus unerfindlichen Gründen plötzlich in mehrere ungefähr buchgroße Blätter zerrissen und die hingen an einem spitzen, etwas rostigen Nagel an der Wand im Abort. WC gab es zwar schon, aber nur in der Stadt und Toilettenpapier war nach dem Krieg zum Fremdwort mutiert. Die Zeitung wurde nach Aussage meiner Mutter, so ihrem hinterlistigem Zweck zugeführt. Wohin sie verschwand wusste ich jetzt, aber woher sie täglich neu kam eben nicht. Diese nebensächlich erscheinende Wissenslücke sollte wenigstens verfahrenstechnisch mein ganzes späteres Leben prägen.
Ich malte also. Das bereitete meiner Mutter Sorgen. Sie schrieb in alle Himmelsrichtungen an weibliche Verwandtschaft um Auskunft, was es auf sich haben könnte, dass ich immer nur Dampfschiffe malte, wobei sie unterschlug, dass es sich dabei um Schiffsuntergänge mit ersaufenden Leuten handelte. Man schrieb ihr zurück, sie solle sich keine Sorgen machen. Solange ich nichts Schlimmeres täte als ruhig in der Ecke zu sitzen und Schiffe zu malen, fühlte ich mich wahrscheinlich zuhause wohl. Dabei hatte ich nur gemalt, was ich aus meinem Buch vorher verinnerlicht hatte und das war nun mal ein uralter Flottenkalender aus Kaiser Wilhelms Zeiten und der war gespickt mit Marinebildern. Deutschlands Zukunft lag noch auf dem Wasser. Der Kaiser war noch jung. Die Seeschlacht von Tsushima war 1905, also gerade erst passiert, als dieser Kalender in Druck ging. Wobei damals noch niemand wissen konnte, dass dem aus der Schießerei zwischen der kaiserlichen Flotte des russischen Zaren und der des japanischen Tenno fast unbeschädigt entronnenen kleinen russischen Kreuzer „Aurora“ 1917 in St. Petersburg noch eine geschichtliche Rolle zukäme, deren Ausläufer uns noch sehr lange beschäftigen würden. Die schönen schnittigen Schlachtschiffe der späteren Kriegsteilnehmer des ersten Weltkrieges und vor allem die vor Tsushima auf den Bildern der Marinemaler absaufenden der Russen hatten es mir angetan. Das malte ich ab.
Unauslöschlich auf der Basis meiner frühen Papierwelt blieb mir ein Vorkommnis mit dem nicht zu rechnen war. Wir hatten einen Weltatlas, in dem auch Deutschland dargestellt war. Auf drei Seiten nebeneinander. Ganz in Rosa. Man schlug den Atlas auf und klappte die rechte Seite nochmals aus. Beim Aufklappen wurde alles vom Saarland bis zur Linie Lübeck-München sichtbar. Das hieß später unterschiedlich und zuletzt BRD. Nach dem Ausklappen wurde die Mitte sichtbar. Zwangsläufig hieß das Mitteldeutschland, wurde aber zuletzt DDR genannt, obwohl es zwischendurch auch verschiedene andere Namen hatte. Die große Klappe rechts war auch rosa gedruckt, war in dem Atlas auch Deutschland. Von Ostpreußen, Pommern, Schlesien, dem Riesengebirge, dem Freistaat Danzig, vom Korridor und dem Warthegau wurde von den Erwachsenen damals bei Betrachtung dieser Seite geredet.
Mein Vater nahm eines Tages nach einem mir unverständlichen Disput mit meiner Mutter diesen Atlas zur Hand, öffnete ihn an der bewussten Stelle, schlug die Klappe heraus, nahm einen dicken Zimmermannsstift und tat etwas Entsetzliches. Er bemalte ein gedrucktes Buch. Er zog einen dicken blauen Strich, wo auf dem Atlas die rechte Klappe der Karte begann. Von oben nach unten. Nicht ganz, aber ziemlich gerade, von Stettin bis Zittau. Dann machte er eine Bewegung, als wolle er die rechte Klappe abreißen, ließ es aber sein, denn meine Mutter war so schon entsetzt. Und ich erst. Dazu behauptete er, dass jetzt Schlesien, der Warthegau und Pommern weg wären, und Ostpreußen auch. Alles nur wegen dieses Striches. Der Sudetengau wäre übrigens auch weg, aber den hatte es zu der Zeit noch nicht gegeben, als dieser Atlas gedruckt wurde. So schnell kann Geschichte sein. Da kommt manchmal abhanden, was es vorher noch gar nicht gab. Die Situation drohte zu eskalieren, aber in dem Moment mischte sich der Alltag unserer Wohnküche in die Angelegenheiten der höheren Politik. Erst kochte der Kartoffeltopf über und das Kochwasser ergoss sich teilweise über den offenen Elektrokocher, der sich darunter befand.
Es knallte laut. Das tat es immer, wenn das passierte. Das vorher leise im Hintergrund dudelnde Radio war vor Schreck sofort still. Meine Mutter schnappte sich wie immer, auch diesmal todesmutig mit zwei Topflappen den Topf und goss die Kartoffeln ab. Sie waren jetzt gut. Dann fehlte mir ein Stück Film, wie sich das bei einem Schockerlebnis gehört. Meine nächsten Eindrücke waren die normal üblichen. Während meine Mutter die Pellkartoffeln zu schälen begann, holte mein Vater den Draht, seine Kombizange und die Kneifzange. Zuerst wurde die Sicherung geflickt. Das kann ich heute noch, obwohl ich es mir erst später selbst beibrachte. Nun spielte das Radio auch wieder. Dann wurde der Widerstandsdraht in unserem offenen Elektrokocher an der Stelle, wo er durchgebrannt war, und wo Schmelzperlen lagen, wieder neu verdrillt. Das lernte ich später notgedrungen auch, wenn es mir selbst passierte, dass der Kocher durchbrannte. Wir hatten wieder Strom, das Radio war beruhigt und der Kocher war auch wieder ganz. Die Welt war in Ordnung. Es gab Kartoffeln mit Quark. Anschließend rauchte Vater sein Pfeifchen. Den dazu erforderlichen Fidibus aus Zeitungspapier zündete er an den Spiralen des wieder reparierten Elektrokochers an. Streichhölzer waren damals knapp.
Sie sehen, wie das trotz mancher unvorhergesehener Zwischenfälle bei uns zuhause alles harmonisch miteinander zahnte. Diese erste Information über die neue Oder-Neiße-Grenzziehung hatte für mich zu der Zeit keine Weiterungen, wenn man davon absieht, dass ich in Zukunft doch heimlich in meinem Flottenkalender herumzumalen begann, was dessen antiquarischen Wert erheblich beeinträchtigte, wie ich über fünfzig Jahre später registrieren musste. Ich weiß nicht viel aus eigener Erfahrung von meinem Vater, der zwei Jahre nach Kriegsende starb. Erlebtes und Erzähltes vermischen sich. Er wurde mir als Ikone ausgebaut, Gegenstand fast göttlicher Verehrung durch meine Mutter. Er war Witwer gewesen. Seine erste Frau verlor er durch einen Unglücksfall und hatte anscheinend nicht vor, eine zweite Ehe einzugehen, tat es dann aber aus verschiedenen Gründen doch. Es gibt kaum etwas Schriftliches von ihm, obwohl er eigentlich mit meiner Mutter eine Briefehe geführt hat, weil die längste Zeit ihrer Ehe in die Kriegszeit fiel. Ihm fehlten Finger und halbe Finger, ihm fehlten Zehen und auch Zähne. Er war schon im ersten Weltkrieg Artilleriebeobachter gewesen, vor Verdun. Da musste er an der Front die Ziele ausmachen und vermessen, auf welche dann die Artillerie schoss.
Französische Scharfschützen hatten es auf diese Leute besonders abgesehen. Es hatte ihn dabei mehrmals, aber glücklicherweise immer nur halb erwischt. Ein Tagebuch gab es von ihm, aus dem ersten Weltkrieg, das war in Stenografie und an manchen Stellen in Morseschrift geführt. Ein Buch ohne innere Gliederung, einfach nur Gedankensplitter und Notizen von Anweisungen, Sachen, die nicht vergessen werden sollten oder durften. Das wenige, was ich mir daraus übersetzt habe bestätigte mir, dass mein Vater ein ganz normaler Mensch war und kein Gott und nicht frei von Zweifel, und er war ein Mensch seiner Zeit, der sich nicht widerstandslos verwursten lassen wollte. Ein Tatmensch mit eigenem Kopf hinein geboren in eine für ihn sehr unglückliche Zeit. Er war mir dadurch Vorbild.
Sehr deutlich in Erinnerung sind mir die Nachkriegsabende im Winter mit ihm. Es war wie immer Stromsperre, wir saßen zu dritt in der kleinen Wohnküche, im Küchenherd war Feuer, die Ofentür stand offen. Das flackernde Herdfeuer ersetzte das Licht und einen Kamin, weil mit den Kerzen und Bunkerlichtern gespart werden musste. Auf dem Herd stand ein Topf in dem irgendetwas solange gekocht wurde, bis es kapitulierte, endlich weich und damit essbar wurde. Meine Mutter hatte mich auf dem Schoß. Mein Vater spielte soweit er konnte, auf einem asthmatischen kleinen Schifferklavier: „Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins...“, und ähnliche Lieder. Mutter sang dazu und ich schrie. Es war nicht Hunger, es war Langeweile. Das Schifferklavierspielen war für Vater Notwehr. Wer singt, der streitet sich nicht und es lässt sich auch schlecht mit ihm streiten. Da hatte er ein Mittel zur Erhaltung des Familienfriedens in dieser schlimmen Zeit entdeckt. Hunger litten wir nicht. Essen war Pflicht. Es gab immer mindestens eine Mehlsuppe. Auch wenn ich sie nicht mochte, für mich schwamm immer ein kleiner „Butterfisch“ darin.
Über Beziehungsstrukturen in unsicheren Zeitläuften,
braunen Nachwehen, amerikanischen Luftangriffen
und was Flieger und Katze gemeinsam haben.
Wir wohnten auf einem Bauernhof. Das war unserer. Ich wusste das nicht, und es interessierte mich auch nicht. Besitzdenken entwickelt nur der, welcher nichts besitzt; vor allem, wenn sich das als fehlender gesellschaftlicher Rückhalt bemerkbar macht. Der Hof war verpachtet an einen Pächter, der schon lange auf diesem Hof saß und der nach einer im Dorf weitverbreiteten Meinung auch für dessen Besitzer gehalten wurde. Der hatte eine Menge Kinder. Die ältesten dieser Kinder trugen schon Soldatenuniform, die jüngeren arbeiteten auf dem Hof mit und die kleinen spielten mit uns. Und dann gab es noch das Baby. Man sagte der Pächtersfrau nach, dass sie ganz scharf auf das „Mutterkreuz“ gewesen sei. Das war so eine Art Orden für das „Kinderkriegen“. Aber sie hätte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, weil der Krieg zu schnell zu Ende war. Das Baby wäre zu spät gekommen.
Die während und nach diesem Krieg in diesem Hof wohnenden Mieter und Umsiedler parierten dem Pächter eher als meiner soeben frisch verwitweten Mutter, bei der sie eigentlich zwangseingemietet waren. Das hatte seinen Grund. Der Pächter konnte gegen Arbeit Naturalien bieten, und von seinem Wohlwollen hing es ab, ob sie bei ihm Hasenfutter mausen, oder Getreide bzw. Kartoffeln auf den abgeernteten Feldern stoppeln durften. Vor allem gab es bei ihm Milch und beim Schlachtfest fiel Wurstsuppe ab. Eier standen bei ihm zum Verkauf und manches Huhn aus seinem Stall hatte sein heimliches Legenest in Umsiedlers Schuppen, wo es sein Ei kostenlos ganz frisch an den Falschen lieferte.
Weiterhin wirkte auch noch die „ehemalige Systemnähe“, bevor sich die „neue Systemnähe“ abzuzeichnen begann. Wo jeder jeden kennt, sind auch die braunen Flecke auf der Weste bekannt, und ob die alten roten und die neuen roten Flecke so besonders zukunftsträchtig sein würden, das wurde bezweifelt. Wir€ als Familie waren in politischer Hinsicht jedenfalls farblos. Eines Tages kam einer der Pächtersjungen mit der Schreckensmeldung gelaufen, dass die Ziegen alle weg wären. Nun muss man wissen, unser Pächter hielt eine Herde Ziegen, die mal hier und mal da auf einer der Wiesen graste. Auf die wurde normalerweise immer gut aufgepasst, damit sie sich nicht in ein fremdes Waschhaus oder in andere Räume verliefen, wo fremde Menschen ihnen das Lebenslicht ausblasen und sie zu Nahrungsmitteln verarbeiten konnten. Es mögen so sechs bis acht Stück Ziegen verschiedenen Alters gewesen sein. Sofort schwärmte nun die ganze Pächterfamilie aus, sie zu suchen. Es dauerte auch nicht lange, da brachte einer die Ziegen heimgejagt. Die setzten in gestrecktem Galopp voller Angst quer über den Hof und sofort rein in den Stall. Als wichtigste Erinnerung ist mir geblieben, dass diese an mir vorbeipreschenden weißen Ziegen plötzlich alle an der Seite ihrer Bäuche ein großes mit Teer aufgemaltes schwarzes Hakenkreuz trugen. Von den Ziegen haben wir nie wieder eine zu sehen bekommen, weil sie dann alle gleich geschlachtet wurden. Das war das einzige Mal, wo für mich sichtbar wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Wie stark die Ideologie und ihre unversöhnliche Verhärtung bei diesem Vorgang mitspielten war deutlich sichtbar. Im Interesse einer politischen Diffamierung hatten die Täter sogar auf einen Braten verzichtet. Und das in dieser Hungerzeit. Da war der Krieg schon zu Ende und die DDR-Gründung stand gerade an.
Ähnliches kam auch nie wieder vor. Viel besser ist mir eine Sache in Erinnerung geblieben, die sich vielleicht zwei Jahre vorher abgespielt hatte. Unter Kindern spricht sich manches schneller herum als bei Erwachsenen, auch wenn man es ihnen nicht erzählt hat. Das ist wie mit der Katze, die merkt zuerst, wenn etwas „im Busch“ ist, auch wenn sie nicht weiß, was, so merkt sie es doch an der Nervosität im Haus und am geänderten Schweißgeruch der Menschen. Das ist Instinkt und geht den meisten Menschen im Leben durch Erziehung verloren, sie sind dann vernunftgesteuert und sehr rationell, vielleicht sogar gebildet. Der Instinkt ist aber wichtig und obwohl er als etwas Animalisches gilt, doch die Basis richtiger Intelligenz. Kinder sind dafür noch empfänglich. Die spüren sofort, ob sich etwas Ungewöhnliches ankündigt. Es war etwas in Vorbereitung, aber, was?
Als ich meiner Mutter, die nichts ahnte, endlich entschlüpft war, konnte auch ich mich damit befassen. Wir Kinder trafen uns hinter dem Haus und beschlossen den Stallausgang zu beobachten. Dort hatte es rumort und die „Großen“ waren drin. Zum Spielen verteilten wir uns dann auf dem Hof gegenüber dem Stall. Wir spielten unauffällig. Die Mädchen „Dreierhopp“ oder „Himmel und Hölle“, die größeren mit dem einzig verfügbaren Gummiball die neueste Variante der „Ballprobe“, ich hatte mein „Blech-Jo-Jo“, die anderen Jungen „Kreiselten“ und knallten ab und zu mit den Peitschen. Auffällig war nur, dass wir uns nicht wie sonst üblich miteinander zankten. Langsam wurde klar, was sich vorbereitete. Als dann nach zwei Holz-Unterstellböcken eine flache Holzwanne aus dem Haus getragen wurde, war alles klar. Das war der „Brühtrog“, es wurde offensichtlich ein Schlachtfest vorbereitet. Einige Kinder schwirrten ab, um ihren Müttern Bescheid zu geben, denn es dauerte nicht lange, so sammelten sich außer uns auch die Umsiedlerfrauen mit auf dem Hof, um mit dabei zu sein.