Das Männelspiel (Satiren) - Georg Naundorfer - E-Book

Das Männelspiel (Satiren) E-Book

Georg Naundorfer

4,8

Beschreibung

Satire ist gut, Kabarett ist besser, aber Realsatire schlägt beide um Längen. Literatur ist Weitererzählen. Ab und zu empfiehlt es sich also, manches aufzuschreiben, um es nicht zu vergessen. Dieses Buch vereinigt eine Reihe satirischer Abhandlungen zur Benutzeroberfläche Deutschland. Sie waren ursprünglich als Gebrauchsanweisung zur Eingewöhnung in die neue Welt für die gedacht, welche man nach dem Wenden ans Ganze angeflickt hat. Diese Abschrift sehr deutscher Märchen, Fehlinszenierungen, Deregulierungen, Lächerlichkeiten, Grotesken und Blähungen des neueren Deutschlandgeschehens dürften aber auch allgemein interessieren, weil sie einem im Alltag oft gar nicht mehr auffallen, weil wir inzwischen an sie gewöhnt sind oder in ihnen ganz selbstverständlich mitspielen.

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Satire ist gut, Kabarett ist besser, aber Realsatire schlägt beide um Längen. Literatur ist Weitererzählen. Ab und zu empfiehlt es sich also, manches aufzuschreiben, um es nicht zu vergessen.

Dieses Buch vereinigt eine Reihe satirischer Abhandlungen zur Benutzeroberfläche Deutschland. Sie waren ursprünglich als Gebrauchsanweisung zur Eingewöhnung in die neue Welt für die gedacht, welche man nach dem Wenden ans Ganze angeflickt hat.

Diese Abschrift sehr deutscher Märchen, Fehlinszenierungen, Deregulierungen, Lächerlichkeiten, Grotesken und Blähungen des neueren Deutschlandgeschehens dürften aber auch allgemein interessieren, weil sie einem im Alltag oft gar nicht mehr auffallen, weil wir inzwischen an sie gewöhnt sind oder in ihnen ganz selbstverständlich mitspielen.

INHALTSVERZEICHNIS

Das Männelspiel

(Anstelle eines Vorwortes)

Eingewöhnung

(Ein Versuch über die Benutzeroberfläche eines Landes)

Ein steuerrechtlich ganz klarer Fall

(Das Grimmige Märchen)

Von der Freiheit der Kunst des Affentheaters

(Was sich der unkonditionierte Bürger so denkt, wenn die Woge der großen Kunst in seine provinzielle Wohnküche hinein schwappt)

Der deutsche Ingenieur

(Ein Trauerspiel)

Im Rausche des Rechts

(Eine ziemlich aufgeputschte Sache, die man aber mit einem Deal ganz gut in den Griff kriegt)

Beiläufig ungewollte Fortbildung

(Einige Hinweise zur Erringung der wirtschaftlichen Selbständigkeit in heutiger Zeit)

Mediale Präsenz

(Was im Fernseher und hinter dem Fernsehen so alles los ist)

Vom Eszett und der Zahlenrechtredereform

(Ein Beitrag zur Reform der deutschen Sprache)

Wie man sich Probleme schafft, sie variiert, weiterentwickelt und dann aussitzt

(Vom Nutzen der Bürokratie am Beispiel des Tabakrauchens)

Adel verpflichtet zu nichts

(Ein unverbindlicher Vorschlag zur Sanierung der deutschen Staatsfinanzen)

Vom Versemmeln und vom Verdaddeln

(Der Versuch einer Mohrenwäsche – oder wie vielleicht die Maus dem Herrn Männel das mit dem Bankencrash erklären würde)

Belehrung, betreffend die Definition, den ordnungsgemäßen Gebrauch und die korrekte Verwendung von Humor in Deutschland

(Ein verfrühtes Nachwort)

Auf der Suche nach der Gemeinsamkeit

(Eine verzweifelte Angelegenheit)

Das Männelspiel

Anstelle eines Vorwortes

Sie kennen bestimmt das schöne Würfelspiel „Mensch, ärgere dich nicht.“ Da haben Sie ein Spielbrett mit vier oder sechs Anfangsdepots und darin je vier Spielfiguren. Jeder Spieler bekommt normalerweise eines dieser Depots. Alle zusammen benutzen ein Spielfeld und einen gemeinsamen Würfel. Gespielt wird nacheinander. Bei der Reihenfolge hält man sich entsprechend der vorgegebenen Spielrichtung praktischerweise an den Uhrzeigersinn. Es ist ein etwas verwinkelter Rundkurs. Jeder darf anfangs bis zu dreimal würfeln, um eine Sechs zu erzielen. Wer als erster eine Sechs wirft, darf beginnen.

Das Ziel ist, seine vier Spielfiguren als erster komplett nacheinander um den Rundkurs zu würfeln und dann an einem genau bezeichneten Ort am Ende der Spielfeldrunde in Sicherheit zu bringen. Unterwegs drohen den Spielfiguren die schrecklichsten Gefahren, denn jeder Spieler versucht jeden anderen, also dessen Figuren zu schlagen und aus dem Rennen zu werfen. Jedem dieser „Männel“ genannten Spielsteine geht es dabei nur um das nackte Überleben.

Man kann keine Bonuspunkte sammeln, Schnäppchen ergattern oder irgendwelche schützenden Eigenschaften erwerben, auch keine Besitztümer für die Ewigkeit sammeln. Lebend ankommen ist alles. Da gibt es Abwarte- und Lauerstrategien, Flucht-Taktiken und Überrollungsmanöver, Bereitstellungen, Angriffe aus dem Hinterhalt und auch sorglos einfach ihre Bahn ziehende Männel, denen ihr Schicksal anscheinend egal ist. Wer geschmissen wird, darf wieder neu beginnen. Gewonnen hat der Spieler, der, wie schon erwähnt, als erster alle seine Männel in Sicherheit gebracht hat.

Das ist ein Spiel für Kinder, aber kein Kinderspiel. Ein tiefsinniger Mensch hat mir einmal erklärt, was die Grundidee dieses Spieles ist und dass es das Leben abbilde, jedoch im buddhistischen Sinne aus der Sicht dieser Lehre. Das war mir neu und ich ließ es mir genauer erklären. Nun bin ich kein Buddhist und der es mir erklärte war es auch nicht. Dass uns der blutigste fanatische Anhänger dieser Religionsrichtung an Hand seines Glaubenskatalogs der Häresie anzuklagen vermöchte, muss ich hinnehmen. Es wird jedoch behauptet, dass der Buddhismus eine sehr friedliche Religion sei und die Buddhisten auch friedfertig, sofern man sie nicht reizt.

Das mit dem Spiel läuft jedenfalls folgendermaßen: Der jeweilige Spieler, also der, welcher gerade würfeln darf, ist zwar vergleichsweise ein Gott im Sinne der Herrschaft über seine Männel und damit auch über die seiner Mitgötter. Damit ist er auch der momentane Übergott des Würfelschicksals, denn er bestimmt schicksalhaft, welches seiner Männel er in den Kampf schickt, aber wann und mit welchem Erfolg für sich oder welchem Schaden für seine Gegner, darauf hat er wenig Einfluss, denn der Zufall des Schicksals bindet ihn an die nicht beeinflussbare Augenzahl, die der von ihm geworfene Würfel am Ende zeigt. Würfeln muss er aber, auch wenn er ansonsten diese gottähnlichen Verfügungsgewalten hat.

Mit seinem Wurf endet allerdings diese Allmacht, denn die Augenzahl des Würfels ordnet nun alles zwangsläufig nach den vorher festliegenden Spielregeln, die nun schicksalhaft wirken. Im Anschluss daran besetzt der nächste Gott den obersten Thron, um das blinde Schicksal in das Chaos zu werfen. Der Würfel ist bei diesem Spiel der einzig Unbeteiligte. Er bestimmt zwar mit der Anzeige der geworfenen Punktzahl alles, aber er hat keinen Einfluss auf diese Anzeige. Er ist blind und kann sich immer mit seiner Unschuld aus allem herausreden, es sei denn er wäre „gezinkt“, also bestochen.

Die Männel des Spielers sind die Menschen, die somit seiner Willkür als Gott und dem alles überschattenden Zufall des Schicksals ausgeliefert sind. Diese Männel können geworfen werden, mehrmals oder auch überhaupt nicht, dürfen aber immer wieder von vorn neu beginnen. Jedes taucht bei Beginn des Spieles in den Zyklus der Wiedergeburten mit allem Drum und Dran ein.

Es ist ausgeliefert: Der Willkür des Gott-Spielers, dem Schicksal des Würfel-Ergebnisses, den Zufällen seiner Konfrontation mit anderen Männeln und den Machenschaften von deren Gott-Spielern, was sich im Verhalten von deren Männeln ihm gegenüber zeigt. Sein Ziel ist das Nirwana, der ewige Frieden am Ende des Kreises der Wiedergeburten und mancher erreicht es und die meisten erst sehr spät und nach vielen Rausschmissen und Wiedergeburten. Die Chance auf das Nirwana hat aber jedes Männel.

Den Männeln kann das eigentlich alles egal sein, denn im Endeffekt geht es um den Kampf der Gott-Spieler und wer von denen da verliert, der hat tatsächlich verloren. Ein Spiel, in dem man nicht Gott sein möchte ... und bei dem es einem aber auch als Spielfigur ziemlich dreckig gehen kann.

Dieser Reiz der extremen Mischung von absoluter Herrschaft bei gleichzeitigem Ausgeliefertsein an die blinde Gewalt des Zufalls, das hilflose Zusehen müssen, während andere einem das Fell über die Ohren ziehen dürfen, verbunden mit der Aussicht, das bei etwas Glück alles wieder zu seinen Gunsten wenden zu können, das macht den Reiz dieses Spieles aus. Es heißt deshalb Spiel, weil man wählen kann, ob man mitspielt und auch, ob, bzw., wie hoch man den Einsatz wagt.

Dieses „Mensch, ärgere dich nicht“ gibt es auch in Großausführung. Der Spielplan ist die Erdoberfläche. Die Spieler sind die Regierungen der Länder, aber in den letzten Jahren und Jahrhunderten sind noch andere Gott-Spieler dazugekommen. Eigentlich nur einer, und zwar der Besitz und da vor allem das Kapital, am deutlichsten verkörpert durch das sogenannte „Geld“. Damit das aber nicht zu vordergründig wirkt, hält man das lieber etwas im Ungewissen. Diese neue Unübersichtlichkeit hat schon immer ablenkende Namen gehabt und jetzt das schöne Etikett „Globalisierung“ gekriegt. Da gibt es nun den etwas entlarvenden Begriff des „Global-Player“, aber eins hat sich nicht geändert, die „Männel“, das sind wir, Sie und ich und die anderen ... Immer war das so.

Dann gibt es in diesem auf den Globus erweitertem Spiel über- und untergeordnete Spiel-Strukturen, wo auch oft Männel direkt mit Männeln gegen Männel spielen und sich dabei göttliche Rechte anmaßen. Das geht in der Familie los, setzt sich fort, ist schon im Kindergarten und in der Schule präsent, geht über Verwaltung, Vereinsmeierei und Arbeitsstelle, verliert sich dann in die Leitungsstrukturen der Wirtschaft und tritt überraschend ganz oben bei denen, die wir uns als Herrscher erwählten, oft unerwartet wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Gerichtsverhandlungen sind noch eine der durchsichtigsten Varianten des Spiels, obwohl gerade da nie klar ist, was herauskommt, trotzdem dort besonders auf die Einhaltung der Spielregeln geachtet wird.

Warum alles aufzählen. Sie sind nicht nur in einem Spiel, sondern in vielen, meist unbeabsichtigt und ungewollt, und die meisten Spiele, in denen Sie nur Spielfigur sind, kennen Sie sowieso nicht und werden es nur ab und zu erfahren, immer dann, wenn es Sie wieder mal anscheinend aus heiterem Himmel eiskalt erwischt hat. Beim Großspiel ist das aber so, dass die Geworfenen nicht in jedem Fall immer wieder neu beginnen dürfen und meist auch nicht mehr können. Das echte Spielfeld ist auch nicht genormt oder gleichmäßig eingeteilt, schon gar nicht gerecht. Die Würfel sind manipulierbar und jeder hat seinen eigenen, sie sind gezinkt und mancher zeigt nur Sechsen und andere haben welche nur mit Einsen. Es gibt auch welche mit Nullen und solche mit Zahlen in Wunschgröße, ähnlich dem Spielkarten-Joker. Es wird ohne Regeln gewürfelt und auch nicht nacheinander, sondern zugleich. Wer nicht mag, kann aussetzen, wann er will, hat aber dann meist den Schaden. Es gibt auch kein Ziel und man kann sich auch nicht in Sicherheit bringen. Jeder hat nur eine Chance und die heißt: „Kein Pech haben dürfen“. Sicher ist in diesem Spiel nur eins, der Kampf Männel gegen Männel und das ewige Gequassel vom Glück, dessen Schmied man selbst sei. Von Wiedergeburt und Nirwana keine Spur, obwohl die Glücksverheißungen der Religionen uns das seit Jahrtausenden versprechen.

Auch ich kam als Männel auf die Welt und das Spielfeld, auf dem ich mich befand, war sehr genau abgegrenzt. Es wurde versucht, innerhalb dieser Begrenzung nach festgelegten Regeln zu spielen und auch keine gezinkten Würfel zu benutzen. Heraus kam eine Spielvariante, bei der auch wieder, aber nur anders beschissen wurde als sonst üblich. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.

Das konnte also nicht gut gehen und nach vierzig Jahren wurde diese spezielle Variante des Männelspieles auch als totgespielt mangels neuer Spielideen und auch durch gemeinsame Übereinkunft aufgegeben. Die damit meist verbundene gewaltsame Zerstörung des Spielfeldes unter Teilvernichtung der Spielfiguren fand diesmal nicht statt. Man warf einfach nur die nicht mehr benötigten Spielregeln in den Müll und spielte dann mit den anderen deren altbewährtes Spiel nach den schon überkommenen alten Regeln, wie sie vorher gegolten hatten einfach wieder mit weiter, als ob es zwischenzeitlich gar nichts anderes gegeben hätte.

Sie merken schon, dass es hier um die zeitweilige Spielvariante DDR geht, der auch ich zugeordnet war. Ganz gleich, wo ich mich auch befand, einer war immer da, der über mich gewürfelt hatte und mich zu setzen versuchte. Ich sollte rauswerfen und man wollte mich rauswerfen. Das Spiel war aber selbst oft für die jeweiligen Götter zu kompliziert, so dass es meist unklar war, wessen Männel ich sei. Meine Farbe wechselte mit der Beleuchtung und ich war schon frühzeitig allseits abgeschliffen und abgegriffen, oft zu unansehnlich, um zum Einsatz zu kommen und fiel auch manchmal von alleine um, woraufhin es sogar ab und zu zum Streit zwischen den Spielern kam, denn ich war ja nicht geschmissen worden, aber mein richtiger Standplatz war hinterher auch nicht mehr feststellbar.

Ich blieb im Spiel, weil das die Vollständigkeit erforderte, wurde aber meist nicht verwendet oder nur zum Schluss, wenn es überhaupt nicht anders ging. Auch mal als Zielscheibe zuerst aufgestellt, mit der Absicht, mich als erstes Opfer dem Feind zum Fraß vorzuwerfen, entrann ich mit diversen Tricks der Vernichtung und als ich selbst Schicksal spielen musste, hatte ich meist keine Lust zu würfeln. Da gibt es für mich zwischen Vorher und Nachher keine prinzipiellen Unterschiede. Eine Beule tut immer weh. Das ist die einzige absolut gültige Erfahrung, die ich aus dem ganzen Zirkus gewonnen habe. Da kann mein Spielführer sein, was und wer er will.

Um den aktuellen Bezug herzustellen und zu beweisen, wie gezielt das kollektive Unterbewusstsein eines Volkes intuitiv auf dem richtigen Wege ist, nur ein Entwicklungsbeispiel: Zum Ende der DDR begannen sich aus den örtlichen Karnevalsvereinen heraus Klubs zu bilden, die nicht nur vom 11. 11. des Vorjahres bis zum Faschingsdienstag des folgenden Jahres Narrenfreiheit beanspruchten, sondern auch für das viel größere Sommerhalbjahr. Diese Klubs begannen mit Turnierspielen im „Mensch-ärgere-dich-nicht“ und mieteten in der karnevalsfreien Zeit Gasthofsäle auf dem Lande für ihre Turniere an, in denen sie dann gegen andere Klubs zum Kampf antraten. Da war an alles gedacht. Es gab Klubfarben, Klubmützen, Klubschaals, Bierseidel, Buttons und was man sich an Fan-Artikeln vorstellen konnte. Vereinsfahnen und Fanklubausweise. Die Turniere liefen immer sehr dramatisch, emotional, feuchtfröhlich und lautstark ab. Sprechchöre feuerten die Spieler an und es gab Temporunden und auch mal Buh-Rufe bei einem Foul. Die Männel hatten Namen und persönliche Fans, wurden vor dem Spiel angespuckt oder beschworen, bedroht oder gesegnet, je nachdem man glaubte, das Glück zu befördern. Den Würfeln ging es auch nicht anders. Die Spieler setzten gegeneinander Alkohol als Anti-Doping ein, es wurden Nebelkerzen geworfen und Stinkbomben gezündet. Es gab auch ganze Fanklubs, die sich mit Knoblauch parfümierten und die gegnerische Mannschaft damit zum Rückzug oder zur Aufgabe zwangen. Es waren zähe Kämpfe, Männel gegen Männel, beim Männelspiel Männel gegen Männel. Das war der Beweis dafür, wie man aus einer simplen Spielidee heraus ohne irgendwelchen größeren Aufwand selbst unter den Bedingungen einer Mangelwirtschaft etwas ganz groß aufziehen kann, was sich zur Unterhaltung eignet. Das Prinzip Ehrgeiz, wie es sonst bei solchen Dingen wie beispielsweise Mannschaftssportarten auftritt, was dann zu Entartungen wie Starrummel und Machtgerangel unter Sportfunktionären wie im Fußball führt, war hier ausgeklammert. Spielen konnte jeder und Training nützte absolut nichts. Wo der Würfel alles entscheidet, wird Ehrgeiz zur Lächerlichkeit.

Der Staat sah dem Treiben mit gemischten Gefühlen zu. Und wenn er sonst immer versuchte, immer die Spitze unliebsamer Vereinigung mit seinen Leuten zu besetzen, hier tat er es wohl nicht. Es war Klamauk der besten Sorte. Bei Karneval, da war es etwas anderes. Der Karneval war eine aus der christlichen Tradition heraus gewachsene Blüte, ein Ventil, welches man noch gelten lassen konnte.

Bei diesem neuen Spiel handelte es sich auch um eine Narretei, aber ohne sofort erkennbaren Hintergrund. Bei solchen Dingen gerät die Ideologie schnell in Widerspruch zum Vorgang. Da kann es ohne ausreichend ernste Analyse des Gesamtbildes schnell zu Lächerlichkeiten kommen, die staatsschädigend wirken. Man war also vorsichtig. Ulbricht hatte beispielsweise nach der gezielten Diffamierung amerikanischer Tanzmusik auch etwas gegen den Beat, und unter Honecker brachten dann parteikonforme Bands sogar Lizenzplatten mit bekannten internationalen Rock’n-Roll-Titeln heraus, weil sich die mittels der Medien über die Mauer schwappende Musik nicht verbieten ließ. Wer weiß, worauf diese neue Spielwut abzielte. Abwarten bot sich also an.

Dabei hatten die Abwarter ganz oben völlig vergessen, dass sie sich selbst auch in diesem Männelspiel befanden. Als dann die Wende kam, wechselten auf einmal ganz oben an der Staatsspitze die, welche die Würfelgewalt hatten. Die waren auch, ohne das für sich so registriert zu haben, über das Würfeln und über ihre Partei ins Amt gekommen. Man merkte es allerorten. Manchmal war selbst der Würfler nur eine Fingerpuppe im Dienst höherer Interessen Anderer gewesen. Das Spiel ging weiter, bekam zwar einen anderen Namen, blieb aber Männelspiel. Die Regeln waren für die neu Hinzu erbeuteten noch ziemlich unbekannt, weil schon nicht mehr gewöhnt, aber das machte nichts. Man kann schließlich alles lernen. Viel wichtiger ist doch in solchen Zusammenhängen, wie man nach den neuen Regeln am besten bescheißt. Zwangsläufig eignen sich dafür konkrete Fallstudien und Beispiele.

Ich habe mal so etwas gesammelt. Es sind Abschriften aus dem Alltag der verschiedenen Varianten des Männelspieles. Die Juristen machen das auch so. Selbst die begreifen oft nur anhand solcher Beispiele die Gesetze, nach denen sie dann die ihnen Ausgelieferten verdonnern. Es ist nicht alles lustig, aber vielleicht doch ab und zu ganz amüsant.

Ich fange da mal ganz sachte an, wie der Sachse so sagt und beginne bei der Basis, dem Privaten, komme dann zum Prinzipiellen, von da ausgehend ins Großflächige, Globale und gerate zuletzt ins Allumfassende. Es ist auch nicht alles selbst erlebt und ich bürge auch nicht für die Berichte derer, die mich informierten. Nur weil etwas stimmig ist, muss es noch nicht wahr sein und ob sich meine Interpretationen dann mit Ihren decken, bezweifle ich sowieso. Persönlich bedingt ist das alles sehr an dieser Nahtstelle der deutschen Wende angesiedelt. Ich habe schließlich auch oft hinter die Kulissen dessen geschaut, was man Ihnen und mir vorspielt und vieles, was Ihnen selbstverständlich erscheint ist für mich manchmal unannehmbar, lachhaft oder sogar lächerlich. Persönlich bedingt ist alles, was ich Ihnen bringe ziemlich medienorientiert, aber für mich sieht die Welt eben so aus, wie ich sie Ihnen hier beschreibe.

Die Szene wechselt für Sie vielleicht auch manchmal zu abrupt, aber vergessen Sie nie das Motto des Spieles: „Mensch, ärgere dich nicht ...“

Georg Naundorfer

Eingewöhnung

Ein Versuch über die Benutzeroberfläche eines Landes

Im Jahr des Heils 2000 begab ich mich trotz aller Vorhersagen des Weltunterganges durch Nostradamus mit meinem Zweier-Golf, Baujahr 1991 zu meiner letzten Fahrt gen Westland auf die Autobahn. Es war dies eine Besuchsfahrt und mir war so, als würde es meine letzte sein, ich war mir nicht mehr ganz sicher im Straßenverkehr. Das Alter. So ist das mit der Zeit und wie mein Lieblingsdichter Wilhelm Busch schrieb: „Erst trägt sie dich, dann trägst du sie, und wenn’s vorüber, weißt du nie.“

Es war ein runder Geburtstag, nicht meiner, diesmal der eines noch älteren Westverwandten, und eingeladen hatte ich mich selbst, weil ich wusste, dass ich auf diese Weise alle dortige Verwandtschaft noch einmal bei einer gemeinsamen Feier treffen würde. Schließlich muss man auch seine Erinnerungen auf eine solide Basis stellen. So kann alles in einem Aufwasch erledigt werden, keiner fühlt sich bevorteilt oder benachteiligt wegen eines vorher oder nachher liegenden Besuches und alle wissen, was man gesagt hat, was nachträglichen Verschwörungsgerüchten den Wind aus den Segeln nimmt.

Ich fuhr also los. Erst die Autobahn entlang. Da kann man sich kaum verfahren. Dann ging es auf die Straße. Wie das so kommt, man verfährt sich, weil man vorher nie dahin durfte. Und wenn die Straßenkarte schon über zwei Jahre alt ist, gibt es meist schon wieder neue Straßenverlegungen, Ortsumfahrungen oder anders gestaltete Kreuzungen, die nicht immer die Fahrt nach den gewohnten Himmelsrichtungen zulassen, weil der immer angestrebte kreuzungsfreie Verkehr auch mal eine Kleeblattkurve mit Über- oder Unterquerungen mit sich bringt, die noch nicht in die Karte eingezeichnet sind. Das waren die Nachteile einer ständig am Leben gehaltenen Straßenbaupolitik, solange es noch keine Satellitennavigationsgeräte gab.

Nach Nordrhein-Westfalen hatte ich mich gefunden, auch in die Nähe der gesuchten Ortschaft, aber dann war ich ratlos. In einer uniformen Einfamilienhaussiedlung mit schmalen Straßen fuhr ich mit dem rechten Räderpaar auf den Bürgersteig, um anzuhalten und nach dem Weg zu fragen. Alle Autos standen hier so abgestellt, um die Straße nicht für den Durchgangsverkehr zu blockieren. Da macht man das auch so. Der Versuch, jemand zu fragen, der auf der Straße herumlief war aussichtslos, weil in einer solchen Siedlung weit und breit niemand zu Fuß unterwegs ist. Hier standen wenigstens noch Autos auf der Straße. Ich kenne inzwischen Siedlungen, da fahren nur Autos aus sich automatisch öffnenden und schließenden Garagentoren aus und ein. Da ist der Mercedes die fahrbare Verlängerung der Couch. Eine so vornehme Gegend war es jedenfalls damals noch nicht. Eine alte Dame stand da vor ihrer Haustür auf einer kurzen, aber breiten Treppe, so zwischen Rasen, Rosen und Koniferen. Die winkte, als ich auf sie zuging, um sie nach der von mir gesuchten Straße zu fragen. Das Winken entsprach mehr dem, wie man Fliegen verjagt, also mehr Wedeln. Sie hob dabei den Kopf und blickte mich hoheitsvoll und sehr abweisend sichtlich gewollt von oben herab an, sagte aber nichts.

Da kam plötzlich noch eine jüngere Dame mit bösartig verkniffenem Gesicht hinter ihr aus dem Haus herbei gehuscht, die mich giftig anblickte, mir sofort unmissverständlich sagte, dass ich verschwinden sollte, vor allem mein Auto, worauf sie sich der alten Dame zuwandte und sie mit den liebevollen Worten: „Komm, Mutter …“, ins Haus führte. Dann flog die Tür zu. Ich hatte eigentlich nur: „Guten Tag“ gesagt.

Ich versuchte es noch an einer anderen Stelle mit fast gleichem Erfolg. Da kam ich nicht erst zum Aussteigen, denn ein ca. 80jähriger Giftzwerg stürzte sofort mit hochrotem Kopf wütend auf uns zu, als wir vor seinem Haus anhalten wollten und drohte mit sofortigem Abschleppen und der Polizei, falls wir nicht sofort verschwinden würden. Die lange Heckenschere, die er dabei vor meiner Windschutzscheibe schwenkte, ließ mir geraten sein, ihm zu folgen. An dem Schlaganfall, den er oder der Golf sich bei meiner Weigerung bestimmt holen würden, wollte ich keinen Anteil haben und auch nach einer eingeschlagenen Frontscheibe war mir eigentlich nicht sehr und ich fuhr beschleunigt weg. Auch wenn schon die Bulldogge sich hinter dem Zaun auf die Hinterbeine stellt und einem auf Augenhöhe entgegen bellt, falls sie merkt, dass man anhalten will, verkneift man sich den Wunsch zur orientierenden Frage sowieso. Ich fand mich trotzdem dahin, wohin ich wollte, auch wenn es länger dauerte, als geplant. Die Straßenbeschilderung in Deutschland ist gut. Einheimische finden sich damit gut zurecht, weil sie schließlich wissen, wo sie sich befinden.

Die Verwandtschaft brachte sofort mein Auto in Sicherheit und zwar in der in unserer Erwartung bereits vorher beräumten Zweitgarage. Das geschah wohl nicht nur aus Gründen des Diebstahlsschutzes. Die Nachbarn sah man nicht, weil sie wohl hinter den Gardinen lauerten und bestimmt schon gleich die Polizei anrufen würden, wenn sie das alte Auto dieser niederen Preisklasse, wenn auch einer deutschen Marke, mit dem ihnen unbekannten Nummernschild in ihrer Straße erspäht hätten.

Wir wurden sehr herzlich begrüßt und tauschten unsere Erfahrungen und Ratschläge aus und was man noch so redet, wenn man sich lange nicht gesehen hat. Von der Wiedervereinigung, die nun schon zehn Jahre dauere und wie frei es sich doch jetzt für uns atmen müsste, auch wenn wir arbeitslos wären. Ich hatte es ganz schwer mit der Lunge und bezog auch schon Invalidenrente, gerade dass ich diese Fahrt noch am Stück geschafft hatte. Meine Frau hatte genau wie ich, noch andere Sorgen, die sie auch nicht gleich jedem auf die Nase binden wollte. Was soll man da sagen ...

Abends wollten wir in den Nachbarort fahren, weil wir da in einer Pension mit Übernachtung und Frühstück eingemietet waren. Ich wurde nach den Erfahrungen des Vormittags sicherheitshalber geleitet und fuhr also der breiten und langen ehemaligen Geschäftslimousine meines Onkels hinterher, die er trotz seines hohen Alters noch immer und auch furchtlos fuhr. Die Hauptstraße bestand aus einem drei Meter breiten Asphaltband, welches rechts und links von abgerundeten breiten Bordsteinen begrenzt wurde. Daran schloss sich jeweils rechts wie links ein gepflasterter Streifen von ca. einem Meter Breite an. Dann rechts und links außen je ein Streifen Gestrüpp und dahinter vielleicht die Fußwege vor den Geschäften. Irgendwo dazwischen dann noch der Fahrradweg. Der Straßenraum war jedenfalls ausreichend breit geplant worden, infolge seiner Aufteilung und Bewirtschaftung aber furchtbar knapp geworden, so dass es nun nicht mehr überall für zwei Fahrbahnen reichte. Von den Pollern und Stahlrohrabweisern, vor unmotiviert im Verkehr auftauchenden Bäumen rede ich jetzt noch nicht, und auch nicht, was mir da sonst noch in der Düsternis so begegnete oder vor mir unverhofft und sorglos die Fahrbahn kreuzte. Mit dem sogenannten Großstadtdschungel hatte das wohl nichts zu tun. Das ist auch nach eigener Anschauung etwas anderes.

Anfangs fuhren wir auf dem schmalen Mittelstreifen, aber dann kam Gegenverkehr. Das Geleitfahrzeug vor mir scherte nach rechts aus, fuhr über den abgerundeten Bordstein auf den höher liegenden Pflasterstreifen, was ich mit schlechtem Gewissen dann auch tat. Am Vormittag hatten mich schließlich alle von diesem Streifen wieder runter gejagt. Der Gegenverkehr benutzte neben dem Asphaltband mit zwei Rädern den Pflasterstreifen auf der Gegenseite. Irgendwie war das hier jetzt richtig. Anschließend fuhren wir wieder auf den Mittelstreifen und beim nächsten Entgegenkommer rumpelte man zwangsläufig wieder schief mit zwei Rädern auf dem holprigen rechten Pflasterstreifen.

Dann kamen wir in einen Kreuzungsbereich. Da gabelte sich die Mittelstreifenfahrspur plötzlich vor einer Rabatte mit Gestrüpp und spaltete sich in zwei Fahrbahnen auf. Allein, so in der Dunkelheit, wäre ich voll in die Rabatte geknallt, trotz der auf 30 km/ h begrenzten Geschwindigkeit. Dieses straßenbauliche Überraschungsmoment halte ich im Rahmen der Arbeitsbeschaffung für örtliche Grobschmiede und Autowerkstätten für eine empfehlenswerte und überall nachnutzbare Idee. So erreichten wir den Kreuzungsbereich, der auch das Überqueren eines leicht erhöht gepflasterten Streifens aus grau und rostrot abgesetztem Fußgängerübergang und Radweg erforderte. Wir hüpften hinauf und wieder hinunter, und nach Überquerung der Kreuzung auf der anderen Seite lief das Hüpf-Ritual in umgekehrter Reihenfolge ab. Radweg, Fußweg, einspurige Straße und nach Ende der Gestrüpprabatte wieder das Asphaltband mit den zwei seitlichen Pflasterstreifen und dem Aufsteigen bei Gegenverkehr. So ging das länger als eine Viertelstunde. Bei 30 km/h ist ein Kilometer schon sehr lang, aber wir waren noch langsamer. An diesem Tag hatte ich fast sechshundert Kilometer Straße und Autobahn zurückgelegt und es war nichts passiert, aber auf diesen zehn Kilometern bürgerinitiativ-beamtet-beruhigten Stück Scheiß-Straße schlug ich mir bei etwas mehr als zwanzig Stundenkilometern an meiner Rostlaube einen Stoßdämpfer und den Auspuff kaputt.

Am nächsten Morgen musste ich mich allein wieder zurückfinden. Das ging besser als ich dachte. Man muss es nur gewöhnt sein, wollen und keine Angst haben. In der Gegend der großen Kreuzung, die ich oben beschrieben hatte, ergatterte ich die letzte Parkbucht und setzte mich da hinein, denn meine Frau wollte unbedingt noch etwas besorgen. Es ist ja bekannt, dass man, wenn man zu Besuch weilt, nie in einen Laden kommt, um noch etwas zu kaufen, weil das unhöflich ist. Man fährt doch die weite Strecke wegen des geselligen Beisammenseins mit der Familie und nicht wegen Einkaufen, oder der schönen Gegend, oder, um etwas zu erleben. Auch darf man als Einheimischer nicht überall kaufen, weil nicht alle Geschäfte seriös sind. Das sind Dinge, die man als Besuch natürlich erst beigebracht bekommen muss. Geschäftsleute trafen sich nach der Wende im Westen noch nicht so gern gegenseitig zufällig beim Einkaufen bei Aldi. Inzwischen soll sich das auch in den Altbundesländern etwas geändert haben. Das war und ist zu allen Zeiten immer so gewesen, dass sich alles langsam entwickelt. Daran ändert man auch mit Ungeduld nichts. Das sind Lernprozesse. Die brauchen ihre Zeit.

Wie ich so im Auto sitze und mir die Gegend um meine Parkbucht besehe, merke ich plötzlich, dass das eine Ampelkreuzung ist. Da bin ich ehrlich erschrocken. Auf der Hinfahrt am Abend war mir das gar nicht aufgefallen. Die vier Eck-Gebäude der Kreuzung waren eine Apotheke, eine Drogerie, eine Bank und eine Kneipe. Jeder hatte seine Leuchtreklame in bunter Form und blinkend. Dazu standen überall Straßenlampen mit starken Strahlern und Reflektoren, Bäume, Sträucher, Poller, Straßenverkehrsschilder und Wegweiser. Die dazwischen angebrachten Ampeln hatte ich einfach übersehen. Da gab es Ampeln für Autos, für Fußgänger und für Radfahrer. Wie das mit der Verkehrsführung und der Beampelung für die Radfahrer geregelt war, habe ich an dem Tag an dieser Kreuzung nicht herausbekommen. Dazu habe ich nicht lange genug da geparkt. Ich machte es immer den Einheimischen nach. Wenn in Fahrtrichtung rechts, links oder oben eine grüne Lampe aufleuchtet: Gas geben und Hochstart, sonst fährt einem noch der Folgeverkehr hinten rein.

Der Deutsche kennt nur den Autofahrer und den Fußgänger, denen man auf der Straße mit Schildern zeigen muss, wie der Hase läuft. Dabei ist zu beachten, dass der Fußgänger an sich ein Autofahrer ist, der sich rein zufällig auf dem Wege von seinem Auto, oder zu seinem Auto befindet. Es gibt also nur den Autofahrer, zwar in verschiedenen Ausführungen, den zu Fuß und den im Auto, aber sonst nichts. Jetzt kommt der Fahrradfahrer ins Spiel. Der passt nicht in das Schema. Das ist keine Behauptung, sondern Tatsache und knallharter Fakt. Das ist daran erkennbar, dass Radfahrwege den Verkehrsablauf ganzer Kreuzungen stören können und auch eine Umfrage eines großen Meinungsforschungsinstitutes hat ergeben, dass der überwiegende Teil der deutschen Fahrradfahrer infolge der Einrichtung von Fahrradwegen der Meinung ist, dass die Straßenverkehrsordnung für sie nicht verbindlich ist. Soweit so gut. Schwerer zu interpretieren war jedoch, dass ein noch größerer Anteil der Fußgänger der gleichen Meinung war und die Verbindlichkeit der StVO für sich selbst verneinte (sofern sie nicht als Fahrer im Auto säßen). Ob die Fußgänger das auch auf die Radfahrer bezogen, oder ob hier verkappte Radfahrer in der Tarnung als Fußgänger auftraten, weiß wahrscheinlich nur der Redakteur, der diese amtliche Aussage in seinem Artikel so unzulässig und missverständlich verkürzte.

Ich habe versucht das zu begreifen, aber es gelang mir nicht. Die Schnittmenge zwischen Radfahrern und Fußgängern gibt keine Auskunft über die Schnittmenge von Autofahrern und Fußgängern. Es soll sogar eine Schnittmenge zwischen allen dreien geben (Das ist Mengenlehre. Kennen Sie doch? Alles in der Schule gehabt. 3. Klasse Grund- oder Hauptschule. Steht jedenfalls so im Lehrplan ...). Wenn Sie einen definieren wollen, kann er sich sofort als ein anderer tarnen.

Zurück zur Kreuzung: Es war ein Spätherbstmorgen und schon windig und kühl und auch früh noch spät dunkel, so dass ich das alles, wie gerade beschrieben, in seiner wahren und blinkenden Pracht in mich aufnehmen konnte.

Die Kinder begannen in die Schule zu gehen und ich sah, was sie alles bei sich trugen. Was da kam, waren zwei Mädchen, die etwa so reichlich zehn Jahre alt waren. Eine telefonierte mit einem Handy. Das mit dem Gepäck war ziemlich einheitlich, ging bei einem Tornister los, der höher als die gestrickte bunte Pudelmütze in die Höhe ragte, mit aufgeschnallter eingerollter Gymnastikmatte gekrönt, dann hing dem Kind der Turnbeutel an der einen Seite, die Brottasche an der anderen, um den Hals hing an einem Schlüsselgurt etwas, was die Busfahrkarte sein konnte, aber wohl ein Ausweis war. Eingemummt in buntgemusterten Anoraks und mit Strickhandschuhen, trug die zweite in Papier eingepackt noch irgendetwas Gebasteltes bei sich oder etwas, was vielleicht ein Kuchen war. Eine Hausaufgabe oder auch nur ein Geschenk von Mutti an den/die LehrerIn(nen).

Als sie an meiner in dieser Gegend so auffälligen altgolfenen Rostkarre vorbeikamen, schaute die eine zu mir herein. Also, dieser Blick, das war wie Stahl. So hat mich das letzte Mal ein Karatekämpfer aus dem Fernseher heraus angesehen. Vielleicht hatte sie das gerade beim Abschreckungstraining gegen Kinderschänder gelernt, bzw. in einem dieser einschlägigen Selbsthilfesonderkurse mütterlicher Initiativgruppen alleinerziehender geschiedener Frauen, oder auch nur ihrer Mutti abgeschaut, wie sie Papa anguckt, wenn er wieder mal besoffen ist.

Es war mir ziemlich egal, aber die Zunge hätte sie mir nicht noch herausstrecken müssen, ehe sie weiterging. Weiß der Teufel. So ausgerüstet und bepackt wie diese Kinder müssen damals so vor 2000 Jahren die römischen Legionen des Varus gepäckmarschmäßig nach Germanien eingefallen und dann im Teutoburger Wald oder in den Sümpfen um Osnabrück verlorengegangen sein. Das hier so nördlich in der Nähe des Ruhrgebietes war übrigens so ungefähr die Gegend. Tradition bleibt Tradition. Das Praktische der feldmarschmäßigen Verpackung und des Transportes seines Eigentums auf dem Rücken war jedenfalls überliefert, für gut erkannt, nutzbar und also auch noch heute in Gebrauch.

Dann kamen zwei Jungen in gleicher Verkleidung wie diese Mädchen, aber auf ihren BMX-Rädern und mit Fahrradhelmen. Die fuhren ganz vorsichtig und leise dicht von hinten an diese Mädchen heran und nun bekamen die jeweils eins auf die Mütze und den Tornister, worauf die eine ohne Besinnen mitten zwischen die vorbeifahrenden Autos auf die Straße sprang und nach ihrem dorthin gefallenem Handy haschte und die andere sofort laut schreiend hinter den beiden flüchtenden Radfahrer-Jungen herlief. Die flüchtenden Jungen stürzten sich nun mit ihren Rädern ohne irgendwelche Rücksicht mitten auf die Kreuzung und querten sie diagonal zur nächsten Ecke, wo sie auch gut ankamen. Abgesehen von dem quietschenden Geräusch, was die auf der Kreuzung befindlichen und abrupt bremsenden Autos erzeugten war nichts passiert. Das eine Mädchen hatte sein Handy wieder und telefonierte das Passierte empört und entsetzt sofort in alle Welt und das andere kam zurück, schaute in die Verpackung seines heruntergefallenen Paketes und weinte nun leise aus seinen stählernen Augen. Hoffentlich war es kein von ihr gebasteltes Geschenk gewesen.

Von Mutti exzessiv bunt gemustert bekleidet und ausgerüstet, an jedem freien Fleck mit Lichtreflexstreifen bepflastert bewegten sich diese Kinder so unauffällig getarnt durch die Stadt, dass sie mit der ganzen Reklame völlig verschmolzen. Es war, wie in einem großen Lärm in einer großen Menschenmenge. Da hört man auch nicht, ob da noch jemand zu Recht und aus Schmerz schreit, oder nur aus Wut, bzw., um seinem Protest Ausdruck zu verleihen oder auch nur, um sich hervorzutun. Die Masse des erzeugten Lärms nivelliert alles.

Ich bewundere diese junge Generation. Statt wie unsereiner überall Vorschriften, Hinweise oder Strafbestimmungen zu vermuten, die sich damit befassten, sie zu gängeln, ignoriert sie einfach alles, was um sie herum geschieht und erwartet, dass schon nichts passieren wird. Es geht sie einfach nichts an. Der schmale Fußweg. Der schmale Radweg daneben, die Parkbuchten, die eisernen Poller, die abgrenzenden Blumenrabatten, die zwischen jeweils mindestens drei Abweisern aus verzinktem Eisenrohr dahinsiechenden mickrigen Straßenbäumchen in ihren Rindenmulchgevierten, die Pollersprungschanzen an den Kreuzungen, die abgerundeten Bordsteine, das komplizierte gemusterte Granitsteinpflaster der Fußwege, auf dem man sich alle Knochen brechen konnte, die massengrabartig gestalteten Mittelrabatten mit ihrem verwahrlostem Buschgestrüpp auf der Mitte der Straße, die Verkehrsregelung durch die Ampeln, es ging sie nichts an. Es interessierte sie nicht. Wenn sich die Polizei mit ihnen beschäftigte, gäbe es nur Ärger mit den Eltern. Sie waren schließlich noch nicht strafmündig. Man konnte ihnen gar nichts. Das bildet dann den Charakter.

Meine Gute kam wieder. Sie hatte bekommen, was sie gesucht und sogar billiger, als sie gedacht hatte. Wir fuhren zur Geburtstagsfeier.

Als wir ankamen war schon einiger Trubel, denn die offiziellen Gratulanten waren im An- und Abmarsch. Das Telefon schrillte sofort wieder los, wenn der Hörer aufgelegt war, denn der Nächste aus der Telefon-Warteschlange wollte nach einem Jahr seine Glückwünsche anbringen und zugleich die familiäre, die allgemeine und auch die politische Großwetterlage umfassend und breit ausgewalzt dabei erörtern. So kam es in der Stube zu einem Stau von Besuchern, die alle erst einmal mit Kaffee und mit Keksen ruhiggestellt werden mussten, bis sich auch für sie die Gelegenheit ergab, das Geburtstagskind beglückwünschen zu können. Es gab auch Likör und Wasser, je nach Wunsch. Ein ehemaliger nun im Ruhestand befindlicher Geschäftsmann hat zwangsläufig einen größeren Bekanntenkreis und da gehört die Pflege dieses Umfeldes auch später noch mit dazu. Die Abgesandte des Pfarramtes unterhielt sich derweil mit der Schwester des Apothekers, der nicht kommen konnte und ein Nachbar tauschte da ganz gemütlich mit dem Abgesandten der Handwerkerinnung Erfahrungen bei der Aufzucht einer edlen und sehr empfindlichen Zierhunderasse aus. Der Onkel telefonierte und bekam den Gratulanten auch mit Lautstärke nicht aus der Leitung. Es war auch noch ein Kind da, was man dem einen Gratulanten mitgegeben hatte, damit man es zu Hause los war. Das schrie ununterbrochen: „Opa, ich will Cola!“ Man hatte es wohl damit zum Mitgehen geködert. Niemand hörte darauf. Die Betschwester hatte sich an der Kaffeekanne festgesaugt, die Tante raufte sich die Haare, weil sie keine Cola im Haus hatte. Jemand hatte die ganzen Kekse aufgegessen und an der Haustür klingelte es. Die nächsten Gratulanten ...

Wir, als Familiengäste saßen in der Küche, hörten uns das Theater hinter der angelehnten Verbindungstür an, verhielten uns ruhig und versicherten mehrmals ernsthaft und auch glaubwürdig die Tatsache, dass wir schon gefrühstückt hätten und auch nur darauf warteten, unsere Glückwünsche anzubringen, was auch stimmte. Sie möchten sich bitte nicht durch uns gestört fühlen. Uns mit unter die Gratulanten in der Stube zu mischen fanden wir unpassend. Schon am Dialekt wären wir als Bewohner der ehemaligen „Zone“ erkannt worden und das hätte wohl dem Ansehen des Geburtstagskindes geschadet, so viel Ostverwandtschaft zu haben. Diese pikierte Abstandshaltung, die dann sofort entsteht, wenn man nach dem Wohnort gefragt wird und sie den nicht kennen, auch noch nie davon gehört haben. Sibirien ist schließlich sehr geräumig und geht bekanntlich auch gleich hinter Erfurt los ... Wir hatten es andernorts schon so erlebt.

Das an der Haustür hatte sich inzwischen geklärt. Eine Kiste Wein wurde geliefert, als Ergebnis der Sammlung irgendwelcher Geschäftsfreunde und sie wurde auch gleich geöffnet. Da sah man in der Holzwolle zehn Literflaschen von irgendeinem Müller-Thurgau in denen die Schimmelschlieren durch den Transport wieder aufgerührt herumschwammen, während noch jemand, der stellvertretend für die Sammler gekommen war, dem Beschenkten mit glänzenden Augen den Text auf dem Etikett vorlas. Den Wein hatte ich in unserem Getränkemarkt auch nicht genommen, obwohl er im Angebot war und die Literflasche nur noch eine Mark fünfzig gekostet hatte. Da war schon etwas los, bei diesem Geburtstag im Westen. Wir waren wohl etwas zu zeitig gekommen, denn die restliche Verwandtschaft kannte das Protokoll besser als wir. Die richtigen Geburtstagsgäste, also meine Cousinen und Cousins, Neffen und Nichten, die kamen erst kurz vor Mittag, als sich der Vormittagstrubel gelegt hatte. Mir wurde deutlich, wie schwierig es ist, selbst als Eingeborener im Westen die eingeschliffenen Rituale der gesellschaftlichen Konventionen selbst bei einer solchen Gelegenheit, wie einem Geburtstag, alle zugleich unter einen Hut zu kriegen.

Dann waren wir alle zusammen „Beim Chinesen“ essen. Das beschreibe ich nicht. Das kennt jeder, wie das ist. Da kommt man zur Ruhe und ich bin gern da. Man wird für sein Geld immer satt, und es schmeckt auch. Wir haben in aller Ruhe gefeiert. Es war wirklich sehr gemütlich und jeder kam auf seine Kosten. Nichts gegen ein Familienzusammensein, wenn man für sich feiern kann und alles was man als Wunsch äußert von höflicher Bedienung gleich gebracht wird. Ich dachte daran, wie das mit den Familienfeiern bei uns früher immer gelaufen war, an die Schwierigkeiten mit der Reservierung und dem Angebot der meist überfüllten Gaststätten, dass man das dann lieber zu Hause ausrichtete mit dem Fest, trotzdem es harte Arbeit war die entsprechenden Zutaten rechtzeitig und vollständig dazu heranzuschaffen, und dann selbst kaum zum Feiern kam, weil man doch nicht gleichzeitig kochen, Getränkenachschub holen die Gäste bedienen, sie dabei unterhalten und auch noch selbst das ganze feiernder Weise genießen kann.

Als wir uns nach diesem Besuch auf die Heimreise machten, verfranzte ich mich wieder. Diesmal wollte ich niemand fragen. Irgendwann trifft man, wenn man aus dem Münsterländischen immer stur nach Süden fährt auf das Ruhrgebiet, da immer auf eine beliebige Autobahnauffahrt und dann findet man sich schon irgendwie. Als wir aber mit dem alten Golf durch ein ziemlich zugewachsenes Stück grüner Lunge zwischen der A 1, der A 44 und der A 2 tasteten, immer eingedenk der Tatsache, dass die Holzpoller im Grünland plötzlich mitten auf der Straße stehen könnten, kamen wir an einen Kreisverkehr. Der war durch herein gewachsene Äste und Zweige vom Gebüsch zwar ökologisch vorbildlich, naturbelassen und dadurch sehr gesund im Bewuchs, aber infolge dieser Tatsache auch sehr unübersichtlich für jede Art von Teilnehmern am öffentlichen Straßenverkehr. Ich halte also, obwohl anscheinend alles frei zu sein scheint, vorsichtshalber an und pliere nach links, ob da etwas kommt. Es kommt nichts und ich will gerade versuchen loszufahren, da erhält der Wagen von vorn einen Schlag. Es scherbelt unwahrscheinlich, so, als ob mir einer mit einem Handwagen voller Blechschüsseln vorn rein gebrummt wäre. Im letzten Moment sehe ich noch etwas von vorn rechts kommend, nach links über meine Kühlerhaube fliegen, da krachte es auch schon scheppernd in das Gebüsch links von mir hinein. Nachdem ich meinen Schock überwunden hatte, sehe ich da so einen drahtigen Typ, in Alter und Aussehen so eine Kreuzung zwischen Reinhard Mey und Rüdiger Nehberg in alternativer Naturburschenverkleidung wortlos und ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen seinen verbeulten Drahtesel aus dem Gebüsch zerren und beschleunigt damit verkehrt in die Einbahnstraße hinein, aus der ich gerade vorschriftsmäßig herausgekommen war, das Weite suchen. Der Stoßdämpfer vorn rechts an meinem Golf und der Auspuff, die waren schon kaputt. Jetzt hatte ich noch einen eingeschlagenen Scheinwerfer und endlich die schon lange erwartete und angekündigte Beule in der Motorhaube, die Kratzer im Lack nicht gerechnet. Erst der Schaden und dann noch Fahrerflucht des Radfahrers. Das war mir zu viel. Da hatte dieser Knilch ganz einfach, um nicht ganz um den Kreisverkehr fahren zu müssen, im vollen Tempo die schnellste Abkürzung genommen und war links eingebogen. Ich wollte nun nur noch nach Hause und strebte danach rücksichtslos zur Autobahn, um mich in Sachsen in Sicherheit zu bringen. Das habe ich dann auch geschafft.

Ich wollte so gern auch ein vollwertiger Bundesbürger sein, aber anfangs habe ich manches nicht begriffen. Ich dachte immer: Das kann doch nicht alles von der vielen Freiheit kommen. Ist das vielleicht so ein Problem wie das mit der Benutzeroberfläche, dieser berühmten Schnittstelle zwischen Computer und Mensch, wo sich die Kontrahenten auf eine Sache einigen, die sie beide nicht verstehen, was aber die Zusammenarbeit erst ermöglicht? Wenn man als Mensch mit einer solchen Benutzeroberfläche auskommen muss, dann ist es doch höchste Zeit nachzusehen, was denn am Bürokratencomputer kaputt sein könnte. Dann fiel mir aber ein, dass auch beim Computer der Normalmensch keine Wahl hat, sondern an das gewöhnen muss, was ihm der Computer bietet, wenn er mit ihm auskommen will. Dabei bin ich noch nicht einmal offiziell mit der Staatsmacht direkt in Berührung gekommen und ich gebe zu, noch lange solchen Sprüchen angehangen zu haben, wie sie die Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser verbreitete, die in einem Sketch die rhetorische Frage stellte: „ ... Was denn, das soll ooch Westen sein? – Das hätten die uns aber vorher sach’n müssen!“ Man hat eben anfangs so seine Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung.

Es scheint sich damals bei dem Radfahrer allerdings weder um Mey, noch um Nehberg gehandelt zu haben, denn ich habe später von dem einen keinen Song über eine solche Begebenheit gehört, und der andere hat auch kein Buch über ein derartiges Abenteuer geschrieben. Schade.

Das ist nun schon einige Jahre her. Als ich neulich zu Hause beim Spazierengehen über den neu gestalteten Untermarkt ging und über das da jetzt verlegte Kleinpflaster stolperte, zählte ich voller Behagen und innerlicher Freude alle die neuen verzinkten Stahlrohre, die einzeln in Betonfundamenten im Boden verschraubt waren, die Verkehrsschilder, die Zeitbegrenzungstafeln für das Parken, die Wegweiser und Vorwegweiser einschließlich ihrer Aufhängungen und Stellgerüste. Die Poller habe ich nicht gezählt. Dass da mindestens drei Bäume mehrfacher Größe ihr Leben lassen mussten, um als Holzpfosten die neu angepflanzten Bäumchen zu stützen, das nimmt man eigentlich schon gar nicht mehr wahr. Ich glaubte da sogar eine neu da aufgestellte futuristische Plastik zu erblicken, aber es stellte sich dann heraus, dass es sich um ein solar gespeistes Ensemble aus Parkscheinautomat, integriertem Papierkorb, Entsorgungsbox für Hundekot und Hydrant handelte. Wenn es nicht für einen selbst bedrohlich oder schädlich ist, so soll man diese Dinge wenigstens ignorieren dürfen. Ich werde mich jedenfalls redlich darum bemühen. Gewöhnt habe ich mich schon daran und ich glaube, irgendwann werde ich es auch begreifen. Bis dahin werde ich stolz darauf sein, denn lieben lernen werde ich das bestimmt nicht mehr.

Hinweis: Versuchen Sie niemals, einem Altbundesbürger gegenüber den leisesten Zweifel über durch amtliche Veranlassungen oder durch Verordnung geregelten Unsinn zu äußern. Er fühlt sich sofort in seinem Freiheitsbegriff verletzt. Sie verletzen damit seine Intimsphäre in Hinsicht auf sein Verständnis, was seine Staatsbürgerschaft und seine diesbezüglichen Mitwirkungspflichten und Rechte ausmacht, auf denen er eisern besteht.

Ein steuerrechtlich ganz klarer Fall

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