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St. Petersburg im Jahre 1879: Der Skandal um die schöne siebzehnjährige Katharina Bugatow erhitzt die Stimmung am Zarenhof. Trotz ihrer Verlobung mit Gardeleutnant Pjiotr, lässt sie sich auf ein Treffen mit dem Frauenschwarm und Herzensbrecher Fürst Gregor Medinski ein. Was für sie erst eine spannende Spielerei ist, wird bald ernster: Erst als Medinski von Zar Alexander nach Sibirien verbannt wird, wird sich Katharina ihrer wahren Gefühle bewusst. Ist es nun schon zu spät?-
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Seitenzahl: 354
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Susanne Scheibler
Ein Frauenschicksal am Zarenhof
Saga
Rebellin aus Liebe
Rebellin aus Liebe
Copyright © 2021 by Michael Klumb
vertreten durch die AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Die Originalausgabe ist 1980 im Lübbe Verlag erschienen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1980, 2021 Susanne Scheibler und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726961249
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Katharina Bugatow lag auf dem Teppich vor dem Kamin und las. Das Morgenkleid aus rosafarbenem Musselin war wie eine Wolke um sie gebreitet. Hin und wieder wippte sie mit den Füßen. Dann rutschte der Stoff zurück und gab ihre Beine frei.
Sie waren sehr hübsch, mit festen runden Waden und schmalen Fesseln. Überhaupt hatte sie eine äußerst reizvolle Figur mit einer Taille, die so schlank war, daß sie kaum geschnürt zu werden brauchte, und einer für ihre siebzehn Jahre schon erstaunlich fraulichen vollen Büste. Allerdings gab es andere Dinge an ihrem Äußeren, die sie unzufrieden stimmten. Das glatte, schwarze Haar zum Beispiel, das sich durchaus nicht zu niedlichen kleinen Löckchen ringeln wollte, wie die Mode sie vorschrieb, und die bräunliche Haut, die durch keine Buttermilchumschläge oder andere Hausmittel so weiß wurde, wie es dem augenblicklichen Schönheitsideal entsprach.
Ich sehe aus wie ein Bauernmädchen, hatte Katharina oft verzweifelt gedacht und sich blonde Haare und ein süßes Puppengesicht mit Veilchenaugen gewünscht.
Wie anziehend sie gerade durch ihren dunklen Typ mit den mandelförmigen Augen und dem vollen Mund wirkte, wußte sie nicht.
Draußen auf dem Korridor ertönten hastige Schritte, dann wurde die Zimmertür aufgerissen.
Katharina erschrak und klappte das Buch zu, in dem sie eben gelesen hatte. Rasch versuchte sie, es unter den Teppich zu schieben.
Es handelte sich um einen französischen Roman – »Les Liaisons Dangereuses« von Laclos. Sonja Smirnow hatte ihn ihr besorgt. Heimlich natürlich – denn weder bei den Smirnows, noch bei den Bugatows oder sonst einer russischen Adelsfamilie pflegten derartige Bücher offiziell in die Hände junger Mädchen zu gelangen.
Katharinas Schrecken war also durchaus verständlich, als sie an jenem Novembervormittag des Jahres 1879, an dem ein bleigrauer, schneeverhangener Himmel über St. Petersburg hing, so unvermutet in der verbotenen Lektüre unterbrochen wurde.
Aber nicht ihre Mutter, wie befürchtet, betrat das Zimmer, sondern Schura, die alte Amme ihrer Schwester. Und Schura machte einen viel zu aufgelösten Eindruck, als daß sie für die verräterische Röte auf Katharinas Wangen und das eilige Verstecken des ominösen Buches einen Blick gehabt hätte.
Statt dessen brach sie, kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, in einen aufgeregten, von Schluchzern unterbrochenen Wortschwall aus.
»Sie müssen ihr helfen, Katharina Nikolajewna. Ich beschwöre Sie bei allen Heiligen, Sie müssen ihr helfen! Sonst... o Gott, das arme Herzchen ... Er wird sie umbringen, gewiß und wahrhaftig! Heilige Mutter von Kasan, welch ein Unglück! Und an allem ist nur diese Hexe Akulina schuld. Aber ich drehe ihr den Hals um, wenn ich sie erwische – so wahr ich Schura Iwanowna heiße!«
Da es im allgemeinen sehr wenige Dinge auf der Welt gab, die die phlegmatische Schura in solch eine Verfassung versetzen konnten, erriet Katharina sofort, daß die so dringend erflehte Hilfe ihrer Schwester Olga zuteil werden sollte. Worum es sich jedoch im einzelnen handelte, erfuhr sie erst, nachdem sich Schura soweit gefaßt hatte, daß sie einen einigermaßen zusammenhängenden Bericht geben konnte.
Danach hatte Olga – »das arme Täubchen, Gott sei ihr gnädig« – gestern abend ihren Kutscher entlassen müssen.
»Er hat gestohlen. Und nun sagen Sie selbst, Katharina Nikolajewna, was blieb ihr anderes übrig? Wo kommen wir hin, wenn wir Räuber und Mörder unter unserem Dach beherbergen? Aber anstatt daß Matwej, dieser diebische Hund, vor Scham über seine Schandtat in den Boden versinkt – was tut er? Er geht hin und hetzt die Akulina auf, dem gnädigen Herrn die ganze Geschichte mit Gregor Petrowitsch aufzutischen.«
»Was für eine Geschichte, Schura? Und was für ein Gregor Petrowitsch?«
»Je, nun ...« Das Gesicht der Alten verriet leichte Verlegenheit. Wahrscheinlich ging ihr eben erst auf, daß ihre Erzählung nicht ganz das Richtige für die Ohren eines siebzehnjährigen Mädchens war. »Gregor Petrowitsch Medinski. Sie werden sicher von ihm gehört haben. Ein schöner Mann. In ganz Petersburg spricht man von ihm. Und die Damen verrenken sich die Hälse, sobald er auftaucht. Wer will es da meiner Olga verdenken, daß sie verrückt nach ihm ist!«
»Du meinst...?«
Schura fing von neuem an zu heulen. »Sie liebt ihn, das arme Herzchen. Gott verzeih ihr die Sünde – wenn es überhaupt eine ist. So jung und hübsch – und mit einem Mann verheiratet, der ihr Vater sein könnte. Da ist Seine Gnaden, Fürst Medinski, doch ganz etwas anderes.«
Unwillkürlich nickte Katharina. Sie hatte Gregor Medinski im vorigen Monat einmal gesehen. Während der großen Militärparade auf dem Feld von Zarskoje Selo war es gewesen. Er hatte zu ihnen hinübergegrüßt, während sie mit Olga, deren Mann und ihren Eltern auf der Tribüne gestanden hatte.
Hinterher hatte Katharina ihren Vater nach seinem Namen gefragt, weil der blendend aussehende Mann ihre Neugier geweckt hatte.
Er mochte etwa Mitte der Dreißig sein, groß, schmalhüftig, mit Schultern, die den Uniformrock eines kaiserlichen Generaladjutanten fast zu sprengen schienen. Wenn man ihn mit dem ältlichen Prinzen Golubkin, Olgas Gatten, verglich, mußte der Vergleich zu dessen Ungunsten ausfallen.
Im Grunde hatte Katharina nie verstanden, wieso ihre hübsche, elegante Schwester Pawel Golubkin geheiratet hatte.
Aber wahrscheinlich hatten Papa und Mama sie gar nicht erst groß um ihre Meinung gefragt. Das war eben so: Die Eltern begutachteten einen Bewerber, und wenn er ihnen passend erschien, wurde die Hochzeit beschlossen.
In Katharinas Fall war es nicht anders gewesen. Pjotr Rodenko hatte im September um ihre Hand angehalten. Hinterher hatte Papa sie rufen lassen und ihr, assistiert von Mama, mit gerührter Stimme sein Einverständnis zu ihrer Verbindung mitgeteilt. Eine Woche später waren sie verlobt.
Allerdings müßte Katharina lügen, wenn sie behaupten wollte, ihr wäre dies unangenehm gewesen. Im Gegenteil, es machte sie stolz, schon einen Heiratsantrag bekommen zu haben.
Außerdem hatte sie Pjotr gern. Er war jung, gerade erst zwanzig, und sie kannte ihn seit ihrer Kinderzeit. Karetnaja, das Gut ihrer Eltern, auf dem sie, abgesehen von einem zweijährigen Pensionatsaufenthalt in Moskau, groß geworden war, und der Rodenkosche Besitz lagen nur vierzig Werst voneinander entfernt. Man hatte von jeher einen nachbarlich-freundschaftlichen Kontakt gepflegt.
Schura hatte sich unterdessen ausgiebig in ein Taschentuch geschneuzt, allerdings ohne ihren Tränenstrom zu beenden. Er floß während ihres ganzen Berichtes weiter und erhöhte damit noch dessen Dramatik.
Die Sache war die:
Olga und Medinski waren für zwei Uhr zum Rendezvous verabredet. Nicht zum erstenmal, wie Schura verschämt zugab. Sie trafen sich in einer etwa fünfzehn Werst hinter Petersburg gelegenen Datscha eines Freundes. Und irgendwie mußte Akulina, die Frau des entlassenen Kutschers Matwej und gleichzeitig Olgas Kammerzofe, davon Wind bekommen haben.
»Wahrscheinlich hat sie hinter den Türen gelauscht, die Schlampe, wenn Olga und ich davon gesprochen haben. Und jetzt hat sie dem gnädigen Herrn alles wiedererzählt.«
Die nachfolgende Szene mußte entsetzlich gewesen sein.
Nach Schuras Schilderung war Golubkin wie ein Verrückter durch das Haus getobt und hatte nach seiner Frau geschrien.
»Ich schwöre Ihnen, Katharina Nikolajewna, ich habe ihn noch nie so wütend gesehen. Jeder, der ihm in den Weg lief, bekam Fußtritte und Ohrfeigen. Glücklicherweise hatte Olga gleich nach dem Frühstück das Haus verlassen, um Einkäufe zu machen. Ich sagte Seiner Gnaden, daß sie erst zum Diner zurückkommt. Aber anstatt sich damit zufriedenzugeben, fing er nur noch heftiger an zu toben. Er schwor, zu der Datscha hinauszufahren und Olga umzubringen, wenn er sie mit Medinski erwischt.«
Natürlich hatte Schura versucht, die ganze Geschichte als eine Erfindung Akulinas hinzustellen. Sie hatte sich, wie sie sagte, sogar vor Golubkin auf die Knie geworfen und unter Anrufung sämtlicher Heiliger Olgas Unschuld beteuert. Aber der Erfolg waren lediglich neue Fußtritte und Ohrfeigen des aufgebrachten Prinzen gewesen.
Später sei ihm dann der Besuch seines Vetters, des Grafen Wolsky, gemeldet worden. Mit ihm zusammen habe er sich in seine Zimmer zurückgezogen und das Trinken angefangen.
»Aber vorher hat er Wassili befohlen, für zwei Uhr den Schlitten bereitzuhalten. Und ich habe gehört, wie er zu Graf Wolsky sagte, er solle mitkommen, um zu sehen, wie ein russischer Offizier und Ehrenmann die Schande eines Ehebruches zu rächen wisse. Das waren seine eigenen Worte.«
»Entsetzlich«, sagte Katharina. »Was können wir tun? Wir müssen sie warnen. Olga darf keinesfalls ...«
Schuras Schluchzen schnitt ihr das Wort ab. »Ich sage Ihnen doch, ich weiß nicht, wo sie ist. Sie wollte Einkäufe machen und ein paar Besuche und sich dann mit Medinski treffen. Bevor ich zu Ihnen kam, habe ich noch versucht, wenigstens ihn zu erreichen. Aber er war gleichfalls ausgegangen. Und deshalb sind Sie die einzige, die jetzt noch helfen kann.«
»Aber wie?«
»Ziehen Sie sich rasch an. In einer halben Stunde können Sie bei der Datscha sein, noch vor Seiner Gnaden, dem Prinzen. Ich kenne den Weg und werde ihn dem Kutscher beschreiben. Wenn Olga und der Fürst schon dort sind, sagen Sie ihnen, was passiert ist, und fahren mit ihnen zurück. Und wenn nicht, warten Sie.«
»Gut. Aber was mache ich, wenn Golubkin inzwischen eintrifft?«
»Dann müssen Sie eben so tun, als hätten Sie das Rendezvous mit Gregor Medinski.«
»Ich? Unmöglich, Schura. Außerdem wird es mein Schwager sowieso nicht glauben, wenn Olga dabei ist.«
»Er darf sie natürlich nicht zu Gesicht bekommen. Sie ist irgendwo versteckt. Nur Sie sind da, Katharina Nikolajewna - und der Fürst.«
Während ihrer Worte hatte Schura Katharina zur Schlafzimmertür gedrängt. »Ich flehe Sie an, lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Es geht um Leben und Tod. Seine Gnaden ist rasend vor Wut. Wenn Sie zu spät kommen, wird er Olga umbringen – und vielleicht den Fürsten dazu. Können Sie das verantworten?«
»Aber...« Katharina blieb noch einmal stehen. »Aber wenn bekannt wird, daß ich mit Gregor Medinski... der Skandal, Schura ...«
»Kein Mensch wird etwas davon erfahren. Oder glauben Sie, Golubkin geht herum und posaunt die ganze Geschichte aus? ›Ich wollte meine Frau mit ihrem Liebhaber überraschen, aber dann war sie es gar nicht, sondern Katharina Nikolajewna?‹ – Hüten wird er sich, so etwas herumzuerzählen. Außerdem ist es ja sowieso nur für den Notfall. Wenn Sie sich beeilen, treffen Sie lange vor ihm bei der Datscha ein und sind verschwunden, bevor er überhaupt einen Fuß über die Schwelle setzt.«
»Also gut.« Katharina seufzte. »Besorge mir eine Schlittendroschke, ich bin in fünf Minuten an dem kleinen Seitenpförtchen, das zum Taurischen Garten führt. Aber sieh zu, daß du ein paar schnelle Pferde auftreibst. Viel länger als zwei Stunden kann ich nicht wegbleiben, weil dann Pjotr kommt, um mit mir und Madame de St. Fredaine zum Schlittschuhlaufen zu gehen.«
Als der Schlitten über die Newa-Brücke fuhr und freies Gelände erreichte, atmete Katharina auf.
Trotz der Pelzvermummung hatte sie befürchtet, auf der Ssergijewskaja oder dem Newski-Prospekt von Bekannten gesehen zu werden. Aber glücklicherweise hatte es wieder zu schneien begonnen, ein dichter Vorhang von weißen Flokken, der die Sicht schlecht machte und jeden der unterwegs war, danach trachten ließ, unter ein schützendes Dach zu kommen. Schon als sie die südliche Vorstadt erreichten und den Warschauer Bahnhof umrundeten, waren die Straßen wie leergefegt gewesen.
Hinter der Brücke fuhren sie ein Stückchen am Newa-Ufer entlang, dann in östlicher Richtung durch ein Kiefernwäldchen.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und trieb seine beiden Pferdchen zu schnellerem Tempo an. Schnaubend kämpften sie sich durch den Schnee.
Katharina hatte die Hände in ihrem Muff vergraben und die Pelzdecke bis zum Kinn hochgezogen. Trotzdem fror sie.
Sie fror immer, wenn sie aufgeregt war. Vor ihrem Debütantinnenball zum Beispiel hatte sie geschnattert wie eine Ente.
Dann kam die Datscha in Sicht. Sie lag hinter dem Kiefernwäldchen auf freiem Feld, ein einfacher Holzbau, buntgestrichen. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf.
Ein durchaus friedlicher Anblick – nur nicht für Katharina. Heiliger Sergius, dachte sie, auf was habe ich mich da nur eingelassen!
Der Kutscher wandte sich zu ihr um. »Wir sind da, Euer Gnaden. Befehlen Euer Gnaden, daß ich warten soll?«
Sie zögerte einen Moment und unterdrückte den lebhaften Wunsch, ihn zum Umkehren zu veranlassen. Statt dessen schüttelte sie den Kopf.
»Nicht nötig, Väterchen.«
Neben der Datscha hatte sie einen zweiten Schlitten entdeckt. Es war also schon jemand da, mit dem sie nach Beendigung ihrer Mission zurückfahren konnte.
Aber – wer war es? Medinski? Olga? Oder Golubkin?
Noch während sie darüber nachdachte, hielt der Schlitten. Der Kutscher sprang vom Bock und war Katharina behilflich, sich aus den Pelzdecken zu wickeln. Sie drückte ihm ein paar Rubelscheine in die Hand und stieg aus.
Als sie auf die Datscha zuging, hatte sie das Gefühl, Bleiklumpen an den Füßen zu haben.
Anscheinend hatte man ihre Ankunft beobachtet. Die Tür öffnete sich, noch während sie die Stufen hinaufstieg. Ein Mann stand ihm Rahmen, groß, mit welligen braunen Haaren und auffallend hellen Augen. Es war Medinski.
Katharina erkannte ihn sofort wieder, obwohl sie ihn nur einmal gesehen hatte, und sein Anblick erfüllte sie mit bodenloser Erleichterung. Es war noch alles zu retten, solange nicht Golubkin da war.
Während sie eilig an ihm vorbei in den winzigen Vorraum huschte, schloß Medinski die Tür hinter ihr und öffnete eine zweite, die in ein Zimmer führte. In einem Kamin loderten Holzscheite. Buntgeschnitzte Lehnstühle und ein niedriger Tisch standen davor. Ein Bärenfell war über einen Diwan geworfen.
»So zeitig habe ich Sie noch gar nicht erwartet«, sagte Medinski. Er hatte eine hübsche Baritonstimme, deren Tonfall allerdings fast immer ein wenig spöttisch klang.
Katharina wandte sich zu ihm und schlug den Schleier zurück, den sie über ihr Gesicht gezogen hatte.
»Ich bin nicht Olga.«
Es klang ziemlich kläglich, hauptsächlich deshalb, weil sie noch immer vor Aufregung fror und Mühe hatte, nicht mit den Zähnen zu klappern.
Wenn Medinski erschrocken war, so hatte er sich außerordentlich gut in der Gewalt. Er verriet sich höchstens in einem kurzen Zucken seiner Mundwinkel. Schweigend musterte er Katharina ein paar Sekunden. Dann kam er mit einem halben Lächeln näher. »Das sehe ich. Aber wer sind Sie überhaupt?«
»Katharina Bugatow. Ich ...«
Sie verstummte, weil sie von draußen ein Geräusch vernahm. Es klang wie das Geläut sich rasch nähernder Schlittenglöckchen. Katharina aber kam es wie die Fanfaren des Jüngsten Gerichtes vor. Sie wurde leichenblaß.
»Um Gottes willen – ob er das ist?«
»Wer?« fragte Gregor.
Sie stürzte zum Fenster und kratzte an den zugefrorenen Scheiben herum. »Golubkin. Er weiß alles. Und er hat gedroht, Olga umzubringen, wenn er sie mit Ihnen erwischt.«
Die Schlittenglöckchen waren jetzt ganz nahe. Katharina preßte ihr Gesicht gegen die Scheibe. Ihr warmer Atem taute das Eis auf.
»Jemand kommt auf das Haus zu. Ich kann nicht erkennen, ob ... doch, es ist eine Frau. Gott sei Dank - es ist Olga!«
Gregor war schon an der Vordertür. Katharina lief ihm nach und erreichte ihn gerade, als ihre Schwester die Stufen hinaufstieg.
»Katharina!« Die Prinzessin Golubkin, eine sehr hübsche, elegante Frau, starrte das junge Mädchen wie eine Erscheinung an. »Was, zum Teufel, tust du hier?«
»Schura hat mich geschickt. Dein Mann kann jeden Moment hier sein. Er weiß alles. Wir müssen sofort weg.«
»Zu spät«, sagte Gregor neben ihr. Erstaunlicherweise klang seine Stimme immer noch völlig gelassen. Entweder hatte er keine Nerven oder er war sich des Ernstes der Situation nicht richtig bewußt. »Dort kommt er nämlich.«
Olga schrie auf. »Wo?«
Medinski deutete in das Schneegestöber. »Dort. Ich sehe den Schlitten.«
Hinter dem Zimmer, in das Gregor Katharina geführt hatte, befand sich noch ein zweiter, fensterloser Raum, der als Abstellkammer benutzt wurde. Er war schmutzig und kalt und mit allerlei Gerümpel angefüllt. Deshalb protestierte Olga zuerst, als Katharina sie dort hineinschieben wollte.
»Wozu? Wenn er alles weiß, wird er nach mir suchen. Also kann ich genausogut gleich hierbleiben.«
»Du gehst da hinein«, beharrte Katharina und drängte ihre Schwester über die Schwelle. »Versteck dich hinter der Truhe und rühr dich nicht. Erst wenn wir alle weg sind, kannst du wieder herauskommen.«
Sie schloß die Tür hinter ihr und begann, sich in größter Eile ihres Mantels und ihres Schals zu entledigen.
Gregor betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Sagen Sie, was soll das? Olga hat recht. Für sie ist es völlig zwecklos, sich zu verstecken. Lediglich Sie sollten es tun, damit Sie aus der Angelegenheit herausgehalten werden. Golubkin ...«
»Seien Sie still«, unterbrach ihn Katharina und lauschte angestrengt nach draußen. Dann warf sie ihren Mantel über einen Stuhl.
»Er muß jeden Moment hier sein. Wahrscheinlich hat er den Schlitten eher angehalten und kommt das letzte Stück zu Fuß, um Sie zu überrumpeln. Aber man wird es hören, wenn er die Vordertür öffnet. Das ist dann das Zeichen für Sie, mich zu umarmen.«
»Wofür bitte?« fragte Medinski verdutzt.
»Mich zu umarmen. Am besten, wir setzen uns auf den Diwan. Und – denken Sie daran – Sie dürfen mich nicht eher loslassen, bis mein Schwager im Zimmer steht. Er muß sehen, daß Sie mich küssen. Sonst wirkt es nicht glaubhaft. Haben Sie das verstanden?«
»Allerdings. Aber...«
»Es ist die einzige Möglichkeit, Olga zu retten. Und nun kommen Sie schon her.«
»Ich denke nicht daran. Sie müssen verrückt sein. Wenn sich die Sache herumspricht, sind Sie kompromittiert. Also verschwinden Sie jetzt in die Abstellkammer. Lassen Sie mich allein mit Golubkin reden. Er wird sich mit mir duellieren wollen und ...«
Medinski brach ab, weil sich Katharina plötzlich mit einer ungestümen Bewegung gegen seine Brust warf. »Um Gottes willen, küssen Sie mich. Er ist da. Ich höre seine Schritte.«
Ohne ihn aus ihrer Umarmung zu lassen, zog sie seinen Kopf zu sich herunter.
Er widerstrebte. »Seien Sie doch vernünftig! Herrgott, Sie sind wirklich das halsstarrigste Frauenzimmer, das mir je begegnet ist.«
»Schimpfen Sie, soviel Sie wollen«, sagte Katharina mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber küssen Sie mich endlich! Los!«
Sie kniff die Augen zusammen und hielt ihm ihr Gesicht hin. Und dann küßte er sie nach einem kurzen Zögern tatsächlich – aber keineswegs so, wie sie erwartet hatte.
Niemals zuvor hatte ein Mensch sie auf diese Weise geküßt, auch Pjotr nicht. Der brave, schüchterne Pjotr mit seinen unbeholfenen Zärtlichkeiten …
Dieser Mann hier war weder brav noch schüchtern. Und seine Lippen waren es noch weniger.
Zuerst empfand Katharina Schrecken, dann Zorn. Aber als sie in einer instinktiven Abwehrbewegung das Gesicht zur Seite wenden wollte, packte Medinski ihr Kinn mit eisernem Griff und zwang es wieder zu sich empor.
Draußen knirschte der Schnee. Die Vordertür knarrte. Und dann trampelte Golubkin ins Zimmer, gefolgt von seinem Vetter Nikita Wolsky.
Blind vor Wut stürzte er auf Gregor zu und riß ihn von Katharina weg.
»Hab ich euch erwischt! Oh, du dreimal verdammte Hure! Ich drehe dir den Hals um, du ausgekochte, niederträchtige ...«
Seine Stimme erstarb. Fassungslos glotzte er Katharina an.
Er hatte eine ganze Menge getrunken und war zunächst geneigt, den Anblick seiner Schwägerin für eine Ausgeburt seines wodkabenebelten Gehirns zu halten.
Erst, als sie sich auch nach mehrmaligem Blinzeln nicht in Luft auflöste, sondern lediglich ein paar Schritte von ihm zurücktrat und sich auf den Diwan fallen ließ, begriff er, daß sie Wirklichkeit war.
Allerdings war es das einzige, was er begriff.
Akulina hatte ihm doch gesagt, er würde Olga hier finden.
In der Datscha des Prinzen Jakimow. Und in der Gesellschaft von Gregor Medinski. Die Datscha war da. Gregor Medinski war da. Nur Olga nicht.
»Pawel Sergejewitsch«, sagte Katharina in sein verblüfftes Schweigen hinein. »Was tun Sie hier? Wer hat Ihnen gesagt... Gott, ich bin verloren.«
Sie hatte sich diese Worte schon vorher überlegt und sie sehr wirkungsvoll gefunden. Madame Tourvel in »Les Liaisons Dangereuses« sagte so etwas Ähnliches, nachdem sie von Juliette als Geliebte Valmonts erkannt wurde.
Katharinas einzige Sorge war gewesen, dabei auch genügend verwirrt zu erscheinen.
Aber diese Sorge erwies sich als überflüssig. Verwirrter als sie konnte kein Mensch sein. Und zwar wegen Gregor Medinskis Küssen...
Als er sie trotz ihres Sträubens auf so gewaltsame Weise festgehalten und Weitergeküßt hatte, war etwas Merkwürdiges mit ihr passiert. Sie hatte nämlich plötzlich ein atemloses und für ihre Begriffe äußerst ungehöriges Vergnügen dabei empfunden.
Unter halb gesenkten Lidern warf Katharina einen Blick zu Gregor hinüber. Er stand mit verschränkten Armen neben dem Kamin. Entgegen der Mode trug er keinen Bart, aber trotzdem wirkte er männlicher als alle Männer, die sie bisher gekannt hatte.
Sein Gesicht war ernst, ohne die Spur eines Lächelns.
Und dennoch wußte sie plötzlich, daß er diesen Ernst nur spielte wie ein Schauspieler, der Abend für Abend in derselben Rolle auf der Bühne steht und jede Nuance mit der größten Leichtigkeit beherrscht, ohne innerlich daran beteiligt zu sein.
Und das ärgerte Katharina.
Es ist alles nur ein Spaß für ihn, dachte sie. Pawels Aufregung, Wolskys Verlegenheit, Olgas Angst in ihrem sicherlich sehr unbequemen Versteck – und vor allem die Sache mit dem Kuß. Er hat es absichtlich darauf angelegt, mich zu verwirren. Und das ist abscheulich.
In diesem Augenblick wandte Gregor den Kopf in ihre Richtung. Er sah ihre ärgerlich gerunzelte Stirn und kam zu ihr hinüber. Sie wollte zurückzucken, als er nach ihrer Hand griff, aber es war schon zu spät. Einen flüchtigen Moment spürte sie seine Lippen.
»Bitte, meine Liebe, behalten Sie die Ruhe. Die Situation ist in der Tat peinlich. Aber ich bin sicher, Prinz Golubkin und Graf Wolsky werden Stillschweigen darüber wahren. Oder nicht?«
»Ja«, sagte Wolsky und richtete sich stramm auf. Er hatte genausoviel Wodka getrunken wie sein Vetter und versuchte, seine schwere Zunge hinter einer abgehackten, militärischen Sprechweise zu verstecken. »Selbstverständlich. Können sich auf mich verlassen. Verdammt peinlich, die Sache! Möchte nur wissen, wie Pawel Sergejewitsch darauf kam, seine Frau hier anzutreffen.«
»Olga?« fragte Katharina.
Golubkin nickte widerstrebend. »Man hat mir gesagt, daß sie hier ist. Und daß ...« Er zögerte und bewegte unbehaglich seine massigen Schultern, um dann doch, an Medinski gewandt, in plötzlicher Gereiztheit damit herauszuplatzen: »Daß Sie ihr Liebhaber sind.«
Olga saß währenddessen in ihrem Versteck in der Abstellkammer. Sie hatte sich hinter eine Truhe gekauert und fror erbärmlich. Außerdem schmerzten ihr die Glieder von der unbequemen Stellung. Sie hätte sie gern gewechselt, wagte es aber nicht, aus Furcht, irgendein Geräusch zu verursachen. Ihr pelzgefütterter Umhang und die Schleppe des resedagrünen Samtkleides schleiften im Schmutz.
Beides wird vollkommen ruiniert sein, dachte sie ärgerlich.
Dabei war das Kleid neu. Sie hatte es eigens für die Verabredung mit Gregor angezogen, weil sie wußte, daß er Grün an ihr liebte.
Aus dem Wohnraum der Datscha drangen die Stimmen zu ihr herein. Sie konnte durch die dünnen Holzwände jedes Wort verstehen.
Golubkin berichtete, was ihm Akulina gesagt hatte. Seine Stimme klang aufgebracht.
»Sie hat ein Gespräch zwischen meiner Frau und dieser alten Hexe Schura mitangehört. Daraus gingen alle Einzelheiten für die heutige Verabredung hervor. Und das – zum Teufel – kann sie sich doch nicht aus den Fingern gesogen haben.«
Akulina also, dachte Olga wütend. Na, die kann sich freuen. Bei der nächsten Gelegenheit fliegt sie. Das heißt, wenn es überhaupt noch eine nächste Gelegenheit für mich gibt.
Aber dann antwortete Katharina. Und sie fand die rettende Ausrede. »Das ist alles ein schreckliches Mißverständnis, Pawel Sergejewitsch. Und ich kann es Ihnen auch erklären. Olga hat von meiner ... meiner unglückseligen Neigung für Gregor Medinski gewußt. Und hin und wieder hat sie Nachrichten zwischen uns übermittelt. Sie war auch über unsere heutige Verabredung informiert. Wahrscheinlich hat sie mit Schura darüber gesprochen, während die Kammerzofe sie belauschte. Wie gesagt, ein Mißverständnis. Und Sie dürfen Olga deswegen keine Vorwürfe machen. Es ist alles meine Schuld. Ich habe sie dazu überredet, uns zu helfen. Sie war nie damit einverstanden und hat mir oft ins Gewissen geredet. Aber ich ... ach, ich muß wohl ein sehr schlechtes Geschöpf sein, daß ich so wenig auf sie hörte ...«
Olga atmete auf. Sie ist nicht ungeschickt, die Kleine, dachte sie. Und wie sie mit Golubkin umspringt – genau die richtige Art, um ihn weich zu machen.
Das nachfolgende Gespräch verlief auch merklich ruhiger. Anscheinend war Pawel nun endlich davon überzeugt, einem Irrtum aufgesessen zu sein. In seiner Erleichterung darüber wurde er nahezu freundlich – jedenfalls zu Katharina, deren gutgespielte Zerknirschung ihn rührte.
Lediglich Gregor bekam noch ein paar Grobheiten zu hören. Wie er als Mann von Ehre es wagen könne, ein junges Mädchen aus gutem Hause, das noch dazu die Braut eines anderen sei, zu verführen – und daß das im Grunde strengste Bestrafung verlange.
Wenn er, Golubkin, davon absehe, so nur aus Rücksicht auf die arme Verführte, die ein öffentlicher Skandal zeitlebens ruinieren würde.
»Ich danke Ihnen«, sagte Gregor – in genau dem geschraubten Ton, den auch Golubkin anschlug. »Sie sind sehr gütig. Sollten Sie allerdings als Verwandter und Freund der Familie Bugatow dennoch auf einem Duell bestehen, halte ich mich selbstverständlich zu Ihrer Verfügung.«
»Nein, nein«, knurrte Golubkin, und Olga in ihrem Versteck hätte am liebsten laut gelacht. Gregor hatte den Ruf eines ausgezeichneten Fechters und Pistolenschützen. Kein Wunder, daß sich Pawel nicht wegen Katharina, deren geschändete Tugend ihn im Gründe herzlich wenig interessierte, schlagen wollte.
»Lassen wir die Sache auf sich beruhen. Ich habe mich dazu entschlossen, und dabei bleibt es, sofern Katharina Nikolajewna mir verspricht, die Beziehungen zu Ihnen abzubrechen.«
»Ja«, sagte Katharina mit dem Brustton der Überzeugung.
»Dann kommen Sie, meine Liebe, ich bringe Sie nach Hause.«
Ein paar Minuten später wurde die Tür zu Olgas Versteck geöffnet. Gregor stand im Rahmen.
»Kommen Sie heraus, sie sind weg.«
Stöhnend und ächzend krabbelte Olga hinter der Truhe hervor. »Das war die schrecklichste halbe Stunde meines Leobens. Sie können sich nicht vorstellen, welche Angst ich ausgestanden habe. Außerdem bin ich halbtot vor Kälte. Fühlen Sie nur meine Hände. Und mein Kleid ist auch ruiniert.«
Er lächelte und schob sie zum Kaminfeuer. »Wärmen Sie sich auf. Und freuen Sie sich, daß Sie mit einem schmutzigen Kleid und kalten Händen davongekommen sind. Sie können sich bei Ihrer Schwester dafür bedanken.«
»Ja, sie hat sich wirklich tapfer benommen, die Kleine. Ich werde ihr etwas Hübsches dafür schenken. Ein paar Ohrringe oder so. Was halten Sie davon?«
Er zuckte die Achseln und zündete sich eine Papyrossi an. »Sie werden schon etwas finden. Meiner Meinung nach ist es vielleicht wichtiger, dafür zu sorgen, daß Ihr Gatte und dieser Wolsky wirklich den Mund halten. Sonst bekommt Ihre Schwester fürchterliche Schwierigkeiten. Wer ist eigentlich ihr Verlobter?«
»Pjotr Rodenko. Sie kennen ihn sicher. Er ist Leutnant beim Peobraschenskijschen Garderegiment. Ein stiller, langaufgeschossener Jüngling, recht hübsch – aber fad. Allerdings betet er Katharina an. Wenn sie verheiratet sind, wird sie mit ihm machen können, was sie will.«
»So, so«, sagte Gregor zerstreut. »Meinen Sie. Nun ja sie ist sehr reizend, wirklich.«
Olga lächelte ihm zu. »Hören Sie auf, von Katharina zu sprechen. Helfen Sie mir lieber aus dem Mantel. Und dann geben Sie mir einen Kuß. Den hab ich doch verdient nach all der Aufregung.«
Er gehorchte etwas zögernd. Aber als sie sich gegen ihn drängte und die Arme um seiner Hals schlang, erwachte sein Verlangen. Seine Küsse wurden heißer, der Atem ging schneller. Er streichelte über ihren Rücken, die Hüften …
Sie stöhnte auf, als er sie hochhob und zum Diwan trug. Er begann, den Verschluß ihres Kleides zu öffnen. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer nackten Haut.
Sie schloß die Augen. »Komm«, murmelte sie. »Komm...«
Aber Gregor Medinski ließ sich Zeit. Er fuhr fort, Olga zu küssen. Seine Zunge umspielte ihr Ohr, glitt tiefer über den Hals und berührte schließlich ihre Brust. Mit hastigen, ungeduldigen Händen streifte Olga das Kleid ab, entledigte sich ihres Mieders, der Spitzenwäsche. Ihr Körper war weiß und mädchenhaft, mit hochangesetzten, kleinen Brüsten und schmalen Hüften. Sie zitterte vor Erregung, als Gregor sich zu ihr legte.
Er war nicht ihr erster Liebhaber, aber der erste Mann, der eine solche Lust in ihr weckte. Lust, die der ältliche, schwerfällige Pawel Golubkin weder zu schenken noch zu befriedigen vermochte. Wenn er zu ihr kam, nahm er sie rasch und rücksichtslos, als hätte er eine Magd in eine Ackerfurche geworfen. Er dachte nur an sich und seine eigene Befriedigung.
Gregor Medinski dagegen ...
Seine Liebkosungen bewirkten, daß Olga das Empfinden hatte, in Feuer getaucht zu sein, und als er endlich ganz von ihr Besitz ergriff, schrie sie auf. Ihre Nägel hinterließen kleine rote Male auf seinem Rücken, und sie nahm keinen Blick von seinem dunklen Gesicht, weil sie es liebte, die Leidenschaft darin zu sehen, die sie ihm gab.
Nikita Wolsky verfügte über ein Jahreseinkommen von zwanzigtausend Rubeln. Da er gutes Essen und Trinken liebte, sich einen Reitstall hielt und ein Faible für elegante Garderobe und hin und wieder ein Spielchen hatte, war das viel zu wenig.
Allerdings besaß er als Ausgleich dafür ein sorgloses, heiteres Naturell, das ihn daran hinderte, sich Kopfzerbrechen über seine ständigen Geldverlegenheiten zu machen, und eine Anzahl begüterter Freunde, von denen er sich reihum in schöner Regelmäßigkeit zum Essen einladen ließ.
Um sich dafür zu revanchieren, versorgte er sie mit dem neuesten Petersburger Klatsch.
Er war eine Art wandelndes Nachrichtenmagazin, ständig zu irgendwelchen Besuchen unterwegs und mit dem unnachahmlichen Talent ausgestattet, Geschichten aufzuspüren, die andere Leute geheimzuhalten wünschten.
Man brauchte ihm bloß freundlich auf die Schultern zu klopfen und ihn zu fragen: »Na, mein Lieber, was gibt es Neues?« – um mit unfehlbarer Sicherheit eine Stunde lang über die Familienangelegenheiten der Chlessews, die verschiedenen Liebhaber der Woyschenskaja, einer Tänzerin an der Petersburger Oper, oder sogar die politischen Intrigen in Zarskoje Selo unterhalten zu werden.
Wolsky wußte, daß Fürst Narynko eine Schauspielerin aushielt, auf die seine Frau rasend eifersüchtig war, daß die Älteste der drei Smirnow-Töchter den Heiratsantrag eines Grafen Tschubow abgelehnt hatte, weil sie unsterblich in einen Gardeleutnant des Dunaijskijschen Infanterieregiments verliebt war, der seinerseits einer französischen Gouvernante nachlief, und daß sich Graf Nykulin und Fjodor Borewski wegen der Baronin Glottheim duelliert hatten.
»Aber nicht etwa ein normales Duell, sondern ›Blind man’s buff‹! Denken Sie nur! Sie haben doch sicher davon gehört. Die beiden Gegner schießen in einem völlig finsteren Raum aufeinander. Alles geht dabei in Scherben. Fenster, Spiegel, Lampen – bis einer nicht mehr fähig ist, zu schießen. Barbarisch, sage ich Ihnen. Borewski soll schwer verwundet sein. Seine Mutter hat drei Ärzte zu seiner Behandlung hinzugezogen.«
Da das Verbreiten solcher Geschichten Wolskys größtes Vergnügen war, verdroß es ihn zunächst sehr, über die Ereignisse in der Datscha des Prinzen Jakimow Stillschweigen bewahren zu müssen. Er hielt es auch nur eine gute Woche lang durch.
Dann vertraute er die Geschichte – natürlich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit – den beiden Brüdern Luchanow während eines feuchtfröhlichen Abends mit Champagner und Zigeunermusik in der »Eremitage« an.
Es gab Kopfschütteln und Gelächter. »Sieh an, die kleine Bugatow. Die fängt ja gut an, setzt Rodenko schon vor der Hochzeit Hörner auf. Wer hätte das gedacht! Aber das liegt wohl in der Familie. Die Prinzessin Golubkin soll es ja auch mit der Treue nicht so genau nehmen. Wissen Sie noch, damals, mit dem jungen Gremin ...‹‹
Und am nächsten Tag begann die Geschichte von Katharina und Medinski ihre Runde durch die Petersburger Salons zu machen.
Lediglich die Bugatows und Pjotr Rodenko wußten noch nichts davon. Sie erfuhren es – wie üblicherweise die Betroffenen – erst ganz zuletzt; und zwar unter solchen Umständen, daß ein Skandal nicht mehr zu vermeiden war.
Es war während eines Balles im Hause der Smirnows, zu dem auch Medinski erschien.
Katharina entdeckte ihn nach einem Walzer, den sie mit Pjotr getanzt hatte, im Eingang des Ballsaales, wie er gerade seinen Degen aus dem Portepee zog und einem livrierten Diener überreichte. Ohne sie zunächst zu bemerken, durchquerte er den Saal und begrüßte einige Bekannte.
Katharina starrte ihm mit gerunzelter Stirn nach.
Natürlich hatte sie damit gerechnet, Medinski auf irgendeiner Gesellschaft wiederzubegegnen. Aber sie hatte nicht gedacht, daß sein Anblick sie mit solchem Unbehagen erfüllen würde.
Von Olga wußte sie, daß sie sich unterdessen von ihm getrennt hatte. Sie hatte es ihr völlig gelassen, beinahe heiter erzählt.
Und auf Katharinas schüchterne Frage, ob sie denn nun nicht sehr unglücklich sei, hatte sie gelacht.
»Aber nein, du Schäfchen, warum denn? Wir haben doch beide von Anfang an gewußt, daß es nichts von Dauer ist.«
»Aber ich denke, du liebst ihn?« hatte Katharina mit großen Augen gefragt.
Olgas Antwort hatte ein bißchen verlegen geklungen. »Lieben ... lieben! Er hat mir gefallen, das ist alles. Der Himmel möge mich bewahren, jemals einen Mann vom Schlage Gregors zu lieben.«
»Und – warum?«
Olga hatte die jüngere Schwester in die Wange gekniffen. »Weil er zwar reizend, aber ein skrupelloses, selbstsüchtiges Ungeheuer ist. Ein Zyniker, der vor nichts und niemand Respekt hat und kleine Mädchen wie dich zum Frühstück fressen würde, wenn man ihn ließe. Und weil... aber lassen wir das. Von solchen Dingen verstehst du nichts. Und vielleicht wirst du sie auch nie verstehen. Du hast nämlich Glück mit deinem Pjotr, mein Häschen. Das ist ein hübscher Junge und anständig noch dazu. Genau der Richtige zum Heiraten.«
Katharina hatte noch lange an dieses Gespräch gedacht. Und sie war zu der Überzeugung gekommen, daß Olga in der Beurteilung Gregor Medinskis unbedingt recht hatte. Kein Mensch konnte ihn schließlich besser kennen als sie. Wahrscheinlich hatte sie ihn früher geliebt und war nur von seinem schlechten Charakter abgestoßen worden.
Daß sie sich trotzdem nicht sofort von ihm getrennt hatte, lag eben an der rätselhaften Anziehungskraft, die er auf Frauen ausübte und die selbst sie, Katharina, verspürt hatte.
Aber natürlich war das nur ein Grund mehr, ihm aus dem Wege zu gehen und ihn aus tiefstem Herzen zu verabscheuen. Väterchen Dimitri, der alte Pope aus Karetnaja, hatte es oft zu ihr gesagt: »Das Böse übt immer eine große Anziehungskraft auf uns aus, mein Kind. Und das ist gerade das gefährliche daran. Wäre es nur abstoßend, würde es kein Mensch tun.«
Pjotrs Frage, ob er ihr etwas zu trinken besorgen sollte, riß Katharina aus ihren Überlegungen. Sie lächelte ihn an.
»Nein, danke. Ich bin nicht durstig.«
Guter, lieber Pjotr....
Auch in seiner Beurteilung hatte Olga vollkommen recht. Er war lieb und anständig. Viel, viel besser als Medinski.
Pjotr würde sicherlich niemals Geliebte haben. Und noch weniger würde er es wagen, ein Mädchen auf so unverschämte Art und Weise zu küssen, wie Medinski es mit ihr in der Datscha getan hatte.
Katharina beschloß, den ganzen Abend besonders nett zu Pjotr zu sein und Medinski, wenn möglich, überhaupt nicht zu beachten.
Aber dann tauchte er plötzlich in einer Tanzpause, die sie bei ihrer Mutter verbrachte, bei ihr auf. Er kam mit Nadja, der Zweitältesten Smirnow-Tochter, zu ihnen herüber, küßte ihrer Mutter die Hand und bat mit dem harmlosesten Lächeln der Welt, Katharina vorgestellt zu werden.
»Ich hatte bisher nur das Vergnügen, die Prinzessin Golubkin zu kennen. Aber meinen Glückwunsch, Gräfin – zwei so reizende Töchter! Und die Komtesse ist ihrer schönen Mama wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Es war genau das, was man in solchen Fällen zu sagen pflegte, und die Gräfin lächelte geschmeichelt.
Aber Katharina wäre Medinski am liebsten mit den Fingernägeln ins Gesicht gefahren.
Wie aalglatt dieser Mensch doch log! Und er wurde nicht einmal rot dabei. Statt dessen küßte er nun auch ihre Hand und ließ seine Blicke ganz ungeniert über das Dekolleté ihres Ballkleides wandern. Dann bat er sie um die nächste Quadrille, die der Ballordner gerade ansagte.
»Ich hoffe, Sie haben sie noch nicht vergeben, Komtesse?«
»Nein«, platzte Katherina gedankenlos heraus und hätte sich im nächsten Moment auf die Zunge beißen mögen.
Warum hatte sie nicht ja gesagt? Sie wollte doch gar nicht mit Gregor tanzen. Und im Grunde war es eine Dreistigkeit sondergleichen, sie überhaupt dazu aufzufordern.
Aber er hatte ihr schon seinen Arm geboten. »Bitte sehr, Komtesse.«
Sie waren kaum außer Hörweite, als Katharina ihrer angestauten Empörung endlich freien Lauf ließ.
»Sagen Sie, es macht Ihnen wohl Spaß, mir Ungelegenheiten zu bereiten? Sie wissen doch, daß die Golubkins und Graf Wolsky auch hier sind, und ...«
»Psst, nicht so laut. Man sieht schon zu uns hin. Lächeln Sie wenigstens, wenn Sie mir Vorwürfe machen. Sie haben so hübsche Grübchen. - Übrigens, dort in der Saaltür, ist das nicht Pjotr Rodenko?«
Sie wandte den Kopf und entdeckte ihren Verlobten in einer Gruppe junger Offiziere. »Ja.«
»Ich habe ihn kürzlich im Englischen Klub kennengelernt. Ein netter Junge. Nur ein bißchen langweilig. Haben Sie sich in seine sanften, braunen Augen verguckt? Oder die blonden Locken?«
»Hören Sie auf! Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten. Und schon gar nicht über Pjotr Rodenko.«
»Und warum nicht? Ich dachte immer, ein junges Mädchen spricht über nichts so gern wie über ihren Liebsten. Es ist wirklich traurig. Da gebe ich mir so viel Mühe, Ihnen zu gefallen – und es gelingt mir einfach nicht. Was haben Sie eigentlich gegen mich?«
Katharina schwieg verbissen, und er lachte leise, wieder mit diesem für sie so unerträglichen, arroganten Unterton. »Also nichts. Nun, das freut mich. Darf ich dann vielleicht hoffen, daß Sie mir noch die Mazurka schenken?«
»Bedaure – die ist schon vergeben.«
»Und natürlich an Pjotr Rodenko!« Medinski schüttelte bedauernd den Kopf. »Schade, schade. Ich fange immer mehr an, ihn zu beneiden. Dabei bin ich sicher, er kann nicht halb so gut Mazurka tanzen wie ich. – Übrigens haben Sie ein hübsches Kleid an. Die Farbe steht Ihnen gut, viel besser als das Braun, das Sie neulich trugen. Braun macht Sie ein wenig blaß, Sie sollten darauf achten. Das heißt – Verzeihung – vielleicht waren Sie neulich sowieso blaß, und es lag gar nicht an dem Kleid. Immerhin war die Situation ziemlich aufregend.«
»Wenn Sie nicht sofort von diesem abscheulichen Thema aufhören«, sagte Katharina mit zusammengebissenen Zähnen, »lasse ich Sie mitten in der Quadrille stehen. Ich wünsche nicht, an dieses ›neulich‹ erinnert zu werden.«
»Oh, das konnte ich nicht ahnen. Denn, wissen Sie, ich denke sehr gern daran zurück. Es war eine erhebende Stunde. Ein schönes junges Mädchen hat mich durch einen Kuß vor einem Duell gerettet...«
»Bedauerlicherweise! Und damit Sie klar sehen – ich habe es gewiß nicht Ihretwegen getan.« Sie beendeten die Quadrille mit einer Grande ronde. Dann schwieg die Musik, und Gregor bot Katharina seinen Arm. »Darf ich Sie zu Ihrer Mutter zurückbringen?«
Aber im gleichen Moment rief der Tanzmeister schon zur Mazurka auf. Mehrere Lakaien stellten eilig die Stühle dafür zurecht, und die Paare liefen aus allen Nebenräumen zusammen.
Katharina blickte sich nach Pjotr um. Aber er war nirgends zu entdecken.
»Was für ein treuloser Bräutigam«, sagte Gregor. »Er wird Sie doch nicht etwa versetzt haben?«
»Bestimmt nicht. Aber lassen Sie sich nicht aufhalten, wenn Sie noch eine Dame für die Mazurka engagieren wollen. Ich kann genausogut allein warten.«
»Ich bleibe hier und hoffe, er versetzt Sie doch. Wenn ich mich nicht irre, sah ich ihn nämlich schon zu Beginn der Quadrille mit den anderen jungen Herren den Saal verlassen. Vielleicht haben sie ihn in eine interessante Diskussion verwickelt, von der er sich nicht losreißen kann. Dann tanzen wir die Mazurka zusammen.«
»Nein«, sagte Katharina.
»Doch. Kommen Sie – die Paare stellen sich schon auf. Und von Ihrem Pjotr keine Spur.«
Katharina wedelte sich mit ihrem Fächer Luft zu. Sie tanzte leidenschaftlich gern Mazurka und wollte sie sich um keinen Preis entgehen lassen. Aber wenn Pjotr nicht bald kam ...
In diesem Augenblick begann das Zigeunerorchester mit den ersten Takten. Der Tanzmeister führte Sonja Smirnow auf das Parkett.
»Na?« fragte Medinski. Seine Augen blitzten.
Katharina warf den Kopf in den Nacken. »Gehen Sie nur, ich...«
Sie verstummte, weil plötzlich vor dem Ballsaal streitende Stimmen laut wurden. Und dann erschien Pjotr in der Tür. Er war weiß wie die Wand und zog den jungen Chlessew mit sich. Andere drängten ihm nach. Sie redeten auf ihn ein und versuchten, Chlessew aus seinem Griff zu befreien.
Aber Pjotr schüttelte sie mit einer wilden Bewegung ab.
»Laßt mich! Und du, Chlessew, komm mit! Sag ihr deine dreckigen Lügen ins Gesicht, wenn du die Stirn dazu hast. Sag es – oder ich schieße dich über den Haufen.«
»Pjotr!« rief Katharina entsetzt.
Die Musik brach mit einer schrillen Dissonanz ab. Nur der Zimbalspieler hämmerte noch ein paar Takte. Dann schwieg auch er. Die Tanzenden waren stehengeblieben. Sie bildeten eine Gasse, durch die Pjotr mit Chlessew am Arm auf Katharina und Medinski zukam.
Chlessew war anscheinend schwer betrunken. Er schwankte, und das Haar hing ihm ins Gesicht. Katharina dachte zuerst, das sei auch bei Pjotr der Fall – aber als sie in seine Augen sah, merkte sie, daß sie sich geirrt hatte. Sie waren vollkommen nüchtern und so zornig, wie sie es bei dem stillen jungen Mann nie für möglich gehalten hätte.
»Da sind Sie ja, Katharina Nikolajewna. Zu Ihnen wollte ich. Denn dieser Hund hier ...«, er deutete auf Chlessew, der mit trotziger Miene zu Boden sah, »dieser Hund hat Sie beleidigt. Er sagte, Sie seien die Geliebte des Fürsten Medinski, und jedermann in Petersburg wisse von Ihren Rendezvous. Und jetzt wiederhole es, Chlessew! Los! Aber laut genug, damit alle hören, was für ein gemeiner, dreckiger Lügner du bist!«
Die Paare wichen zurück. Nur Katharina und Gregor standen noch in der Mitte, Pjotr und Chlessew gegenüber. Katharina schwamm es vor den Augen. Das Parkett, die Lampen und Spiegel, grüne, rote, blaue, goldene Kleider, Uniformen und Fräcke – alles verschmolz zu einer einzigen riesenhaften, bunten Woge.
Jemand schluchzte unterdrückt auf. Katharina erkannte die Stimme ihrer Mutter. Dann ihr Vater: »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?«
Und dann Gregor. Er hielt immer noch ihren Arm. »Rodenko, seien Sie kein Narr. Sie sind betrunken. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie Ihren Rausch aus.«
»Nein«, sagte Pjotr. Seine Stimme klang schrill. »Ich bin nicht betrunken. Aber ich werde diesen Chlessew umbringen, wenn er seine dreckigen Lügen nicht zurücknimmt.«
Unter all den Menschen im Saal entdeckte Katharina plötzlich Olga. Sie stand neben der großen Tür, durch die Pjotr vorhin hereingekommen war, und ihr Gesicht war eine einzige Maske der Angst.
Armer, dummer Pjotr, dachte Katharina. Warum hast du das getan? Hättest du mich doch allein, unter vier Augen gefragt, dann hätte ich dir alles erklären können. Aber so ...
Sie löste sich von Gregor und ging auf Pjotr zu. Sein weiches, etwas energieloses Kinn zitterte. Er sah aus, als würde er im nächsten Moment zu weinen anfangen, und er tat ihr schrecklich leid.
»Lassen Sie Chlessew los, Pjotr.«
»Aber er hat gesagt...«
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Jedermann in Petersburg ist über meine Rendezvous mit dem Fürsten Medinski im Bilde.«
»Und das ist doch nicht wahr?« schrie Pjotr. »Es kann einfach nicht wahr sein. Sagen Sie es doch, Katharina. Haben Sie sich wirklich mit... mit Medinski...«
»Ja«, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. Dann ging sie hinaus.
Gregor rief hinter ihr her: »Warten Sie ... Oh, verdammt, Rodenko, was sind Sie für ein Idiot. Holen Sie sie zurück, sage ich! Rasch!«