...und wasche meine Hände in Unschuld - Susanne Scheibler - E-Book

...und wasche meine Hände in Unschuld E-Book

Susanne Scheibler

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Beschreibung

Ein atemberaubender historischer Roman um Liebe, Verrat, Schuld und das Streben nach Freiheit.Judäa zur Zeit des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus wird als Statthalter nach Palästina entsandt. Er hat ehrgeizige Pläne, doch droht er an dem immer wieder aufflackernden Aufstand der Juden zu scheitern, die sich gegen die Herrschaft der Römer wehren. Unter den Aufständischen befindet sich Esther, die temperamentvolle Geliebte des Aufwieglers Jesus bar-Abba. Als sie erkennen muss, dass auch er in Wahrheit keine hehren Ziele verfolgt, schließt sie sich Jesus von Nazaret an. Als dieser in Jerusalem verhaftet wird, verschärft sich die Situation...-

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Susanne Scheibler

„...und wasche meine Hände in Unschuld“

Historischer Roman

Saga

...und wasche meine Hände in Unschuld

 

… und wasche meine Hände in Unschuld

Copyright © 2021 by Michael Klumb

vertreten durch die AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 1987 im Goldmann Verlag erschienen

Das Buch ist 2002 auch unter dem Titel Pontius Pilatus - Richter wider Willen im Brendow Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2002, 2021 Susanne Scheibler und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726961256

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

»Weh’ der Welt, der Ärgernis halben.

Es muß ja Ärgernis kommen,

doch weh’ dem Menschen,

durch welchen Ärgernis kommt.«

MATTH. XIII, 7

I

Er kam mit einer Kohorte Prätorianern. Zweihundertachtzig Mann führten den Zug, zweihundert beschlossen ihn. Dazwischen schwankten hochbeladene Wagen mit Gepäck, Sänften, von kräftigen Äthiopiern getragen, die jede Stunde ausgewechselt wurden, damit man schnell vorankam, und ein Trupp berittener Offiziere umkreiste die vergoldete Lektika aus Ebenholz, in der der Kaiser saß.

Es regnete, seit sie am gestrigen Tag Capri verlassen hatten, und der alte Kaiser fror. Er war in Mäntel und Pelze gehüllt, die er mit mageren Händen immer wieder um sich feststopfte. Außerdem fühlte er sich matt. Aus trüben Augen blickte er nach draußen auf die Via Appia, deren Steinpflaster schwarz von Nässe war. Ein heftiger Wind trieb dunkle Wolken vor sieh her, fuhr heulend in die Kronen der Pinien und bog die Zypressen, daß es aussah, als verneigten sie sich vor dem kaiserlichen Zug.

Sie bot ein gespenstisches Bild, die berühmteste Straße des Römischen Reiches, über die einst die Legionen eines Pompejus, Julius Caesar und Augustus im Triumph nach Rom marschiert waren. Und Tiberius, der an böse Vorzeichen glaubte, dachte: Ich hätte in Capri bleiben sollen. Rom bringt mir kein Glück. Es hat mir nie Glück gebracht. Warum nur hat Thrasyllos behauptet, die Sterne stünden diesmal günstig und Rom würde mich wie einen heimgekehrten Sohn empfangen? Thrasyllos lügt – wie alle in meiner Umgebung. Sie sagen das, von dem sie glauben, daß ich es hören will, oder das, was ihnen nützt. Heuchler, Kriecher, schleimige Kreaturen, sie alle!

Der Kaiser schloß die Augen. Auch er war einst als Triumphator über die Via Appia gefahren, umbraust vom Gesang seiner Soldaten, umjubelt, mit Wagen voller Beute und Tausenden Gefangenen und er selbst im sechsspännigen vergoldeten Triumphwagen, den goldenen Lorbeerkranz auf dem Haupt. Das Volk hatte sich am Straßenrand gedrängt, und immer wieder war der Ruf in den blauen italischen Himmel aufgestiegen: »Ave, Imperator! Ave, Tiberius Claudius Nero!«

War er damals glücklich gewesen? Ach nein, denn er hatte früh erfahren, wie wenig das Geschrei der Massen bedeutete. Es war wie bei den Gladiatorenkämpfen: Schlug sich einer gut, schrien sie ihm Heil zu. Verlor er, wollten sie seinen Tod.

Damals, vor zweiundzwanzig Jahren, hatte das Volk gejubelt, weil Tiberius die Legionen des göttlichen Augustus in Germanien von Sieg zu Sieg geführt hatte. Aber ihm selbst war der Ruhm rasch schal geworden. Er liebte den Krieg und die Schlachten nicht. Er liebte die schönen Künste und die Philosophie. Doch Augustus brauchte Feldherren, und Tiberius hatte gehorcht, wie er es immer getan hatte, wenn der Kaiser befahl. So hatte er sich auch von Vipsania scheiden lassen, der einzigen Liebe seines Lebens. Der göttliche Augustus hatte es so gewollt, denn sein Adoptivsohn Tiberius sollte seine Tochter Julia heiraten. Was hatte ihn nur dazu bewogen, in blindem Gehorsam die Hure Julia gegen Vipsania, die Mutter seines kleinen Sohnes Drusus, einzutauschen? War es Ehrgeiz gewesen? Das heiße Verlangen, nach Augustus der Herrscher der Welt zu werden? Oder war es immer noch die Sehnsucht seiner Knabenzeit, als er sich so verzweifelt gewünscht hatte, der Kaiser möge ihn anerkennen und lieben wie einen leiblichen Sohn?

Vielleicht war es von alledem ein wenig gewesen. Zu lange hatte Tiberius abseits gestanden, zu lange hatte man ihn übersehen, wohl wissend, daß Augustus den Sohn seiner Gemahlin Livia aus einer früheren Ehe nur gezwungenermaßen duldete. Damals hatte Tiberius sich geschworen, er werde noch von sich reden machen und alle, die ihn verachtet hatten, sollten vor ihm kriechen lernen. Darum hatte er die Augusteischen Legionen in die Schlacht geführt und das Adlerbanner Roms in germanische Erde gerammt. Und darum hatte er Vipsania aufgegeben.

Der Kaiser verzog den schmalen Mund. Wenn es wahr war, daß man einen Größteil seiner bösen Taten schon hier im Leben abbüßte, dann hatte sich dies an ihm erfüllt. Seine neue Gattin Julia hatte gelacht und ihn mit jedem Mann betrogen, nach dem es sie gelüstete. Sie war wahllos und maßlos, und Tiberius hatte es vor ihr und sich selbst geekelt. Diejenigen aber, die ihm vordem nur Gleichgültigkeit bezeugt hatten, spotteten nun über ihn. Es war unerträglich gewesen, genauso unerträglich wie das Wissen, daß seine Mutter Livia alle, die ihm vielleicht noch den Thron hätten streitig machen können, umbringen ließ.

Angewidert und zutiefst gedemütigt, hatte sich Tiberius damals auf die Insel Rhodos zurückgezogen. Er hätte sich gern von Julia scheiden lassen, aber das war unmöglich. So blieb ihm nur der traurige Triumph, daß Augustus seine Tochter während Tiberius’ Abwesenheit auf das öde Pandataria verbannte, wo sie bis zu ihrem Tode blieb. Nach acht Jahren erst durfte Tiberius nach Rom zurückkehren. Aber er spürte es genau: Weder das Volk noch die Nobilität, noch der Kaiser liebten ihn. Er vergalt es ihnen mit Haß. Der Acker seines Herzens war dürre geworden; es sproß nichts mehr darauf, keine Liebe, keine Freude, nicht einmal mehr Hoffnung.

So wurde er Kaiser nach des Augustus Tod. Jetzt sah er die Menschen vor sich im Staub, und vor seinem Namen zitterte man, so weit sich das Römische Reich erstreckte.

Der Herr der Welt . . . Tiberius kicherte in sich hinein. Ein hohes Altmännerlachen war es, getränkt mit Bitterkeit.

Welch eine Ironie! Ein Wort von ihm genügte, um Todesurteile zu vollstrecken, ein Zucken seiner Augenbraue reichte aus, um einen Mann zu vernichten, und mit einem Wink seines Fingers konnte er einen Krieg auslösen – doch seinen Sohn, seinen einzigen geliebten Drusus, hatte er nicht mit der ganzen Gewalt seines Kaisertums, nicht mit dem ganzen Gold des Imperiums am Leben erhalten können. Drusus war gestorben, und Tiberius hatte gedacht, daß dies die Strafe der Götter für seinen Verrat an Vipsania sei.

Dann war die zweite Enttäuschung gekommen. Nachdem ihm kein privates Glück vergönnt schien, hatte er sich mit Leidenschaft und Selbstlosigkeit in sein Herrscheramt gestürzt. Er hatte das Gute gewollt – Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit für die Bürger Roms. Allerdings war er sich von Anfang an darüber im klaren gewesen, daß die Menschen von Natur aus schlecht waren, daß jeder nur rücksichtslos auf sein eigenes Wohlergehen bedacht war, wenn er nicht durch die Gesetze gezügelt und zum allgemeinen Guten gelenkt wurde. Nur ein strenges Regiment konnte der Ichsucht und Lasterhaftigkeit Herr werden, die unter den Bürgern Roms immer mehr überhandnahmen; die Menschen mußten zum Guten gezwungen werden, wenn es sein mußte, mit Gewalt.

Deshalb hatte er mit Härte regiert, vom ersten Tage an. Der Senat, diese sechshundertköpfige Hydra, hatte nach des Augustus Tod nur auf ein Zeichen der Schwäche gelauert. Einige wenige, weil sie den Traum der Republik immer noch nicht ausgeträumt hatten, die meisten, weil sie ihre schmutzigen Süppchen der Bestechung und Bereicherung ungehindert weiterkochen wollten. Sie alle hatten seinen Tod gewünscht, doch statt dessen hatte er Senatorenköpfe rollen lassen.

O nein, Rom brauchte keinen starken Senat; es brauchte einen starken Kaiser. Es brauchte Frieden und Sicherheit, und das hatte er dem Volk gegeben. Nur gedankt hatte es ihm nicht dafür. Geizhals nannten sie ihn, weil er neue Steuern eingeführt hatte und das Gold für Notzeiten hortete. Er schaffte die barbarischen Gladiatorenkämpfe ab, die Millionen Sesterzen verschlangen, er verzichtete auf Prunkbauten und kostspielige Gelage und mahnte die reichen Prasser zum Maßhalten.

Oh, er hatte gewußt, daß der Fisch immer vom Kopf aus zu stinken begann. Der Kopf, das waren der Senat, die römische Nobilität. Ein Moloch, der alles verschlang, was man ihm hinwarf. Geld stinkt nicht, war die Losung. Nur haben mußte man es, gleichgültig, woher, um es mit vollen Händen für die unsinnigsten Vergnügungen, für Laster aller Art wieder auszugeben. Deshalb hatte er das Gesetz gegen den Prunk und gegen den Ehebruch erlassen und insgeheim gehofft, das Volk werde seine Absicht begreifen.

Aber das Volk begriff nichts, außer daß nach des Kaisers Willen das Leben in Rom freudloser werden sollte. Das Volk liebte das große Spectaculum, das die Reichen veranstalteten. Es hatte die Triumphzüge der siegreichen Feldherren geliebt und sich um die Münzen geprügelt, die in die Menge geworfen wurden. Es hatte die Beute bejubelt, obwohl nichts davon ihm gehörte, und es hatte mit hungrigem Magen und leeren Taschen gegafft, wenn Hunderte von Opfertieren in den Tempeln geschlachtet wurden, an denen sich die Priester mästeten. Das Volk war dumm; es begnügte sich mit den Brosamen von den Festen der Großen, wenn die Brunnen in Rom eine Nacht lang Wein statt Wasser spien und auf dem Forum und in den Markthallen ganze Ochsen am Spieß gebraten wurden, damit sich jeder für ein paar Stunden den Bauch vollstopfen konnte.

Er, Tiberius, hatte den Frieden gewollt. Er hatte mit eiserner Hand für Ordnung und eine blühende Wirtschaft im ganzen Reich gesorgt, aber all dies hatte ihm nicht die Liebe des Volkes beschert. Freilich, wenn Mißernten Hungersnöte heraufbeschworen, wenn die Bedürftigen dann kostenlos Getreide, Öl und Brot aus den kaiserlichen Speichern bekamen, mochte die Plebs eine Zeitlang einsehen, daß er recht gehandelt hatte mit seiner Sparsamkeit. Doch dies währte nie lange. Dann hub das alte Jammern wieder an über den Knauser auf dem Kaiserthron, der verlangte, daß man nur verdünnten Wein trank, und den Circus Maximus und die Arenen hatte schließen lassen.

Darüber war Tiberius verbittert geworden. Er begann die Menschen zu verachten und zu hassen. Hatte ihm vordem das Herz geblutet, daß er die Massen mit Härte und oft auch mit Gewalt zur Vernunft bringen mußte, so war er jetzt überzeugt, daß sie nichts Besseres verdient hätten. Nein, er hatte kein Mitleid mehr mit den Menschen, sondern wollte ihnen am liebsten ins Gesicht spucken und sie in den Staub treten, weil sie ihm auch noch seinen letzten Traum zerstört hatten.

Seitdem besaß er nichts mehr, an das er sein Herz hätte hängen können, außer der Macht. Sie festzuhalten, füllte fortan sein Denken aus. Macht . . . Aber ach, sie hatte eine fratzengesichtige Schwester, und die hieß Angst. Angst, belogen, hintergangeri, gemordet zu werden. Angst, der gerade beginnende Tag könne der letzte sein, an dem man sich der Macht freuen dürfe. Aus Angst wie aus Enttäuschung über die Menschen hatte er, der tugendhafte, gutgesinnte Kaiser, begonnen, in wilden Ausschweifungen, im Tumult von Orgien und entfesselter Knabenliebe Zerstreuung und Ablenkung von den Martern seiner Seele zu suchen. Und aus Angst war er noch härter, war er erst wirklich grausam und unberechenbar geworden. Denn das war der einzige Triumph, den er noch hatte: die Angst, die er empfand, weiterzugeben an die, die seiner Willkür ausgeliefert waren.

Der Kaiser schrak aus seinen Gedanken auf. Die Sklaven, die die Sänfte trugen, hatten ihren Lauf verlangsamt und waren schließlich stehengeblieben. Über die Katzenköpfe der Via Appia donnerten Pferdehufe heran, bis sie kurz vor seiner Lektika verstummten: vermutlich eine Abordnung der Stadt Rom, die ihrem Princeps senatus entgegenkam, um ihn zu begrüßen. Rom – er haßte diese Stadt wirklich; genauso wie ihre schleimigen und kriecherischen Bürger, die ihm voller verlogener Ehrfurcht und Unterwürfigkeit begegneten, während sie es in Wirklichkeit am liebsten gesehen hätten, wenn er eher heute denn morgen krepierte. Er hatte recht getan, Rom vor einem Jahr zu verlassen und sich in seine Villa Jovis auf Capri zurückzuziehen, um nur noch gelegentlich für kurze Zeit in die Hauptstadt des Reiches zurückzukehren.

In diesem Augenblick hörte Tiberius draußen rufen: »Der edle Prinz Gajus Caesar Germanicus und Lucius Aelius Sejanus, praefectus Praetorio, sind gekommen, um dem Caesar das Geleit zu geben.«

Tiberius atmete erleichtert auf. »Ah, den Göttern sei Dank, Sejanus!« Der Kommandant der Prätorianergarde war seit langem sein engster Vertrauter, und es tat dem Kaiser wohl, daß er und nicht irgendein unerträglicher, heuchlerischer Senator ihm den Empfang bereitete. Wenn nur nicht Gajus Caesar ihn begleitet hätte. Er war neben Nero Caesar und Drusus Caesar einer der drei Söhne von Agrippina, der Witwe seines Neffen und Adoptivsohnes Germanicus, und wie seine Brüder schielte auch er gierig darauf, Tiberius’ Nachfolger zu werden. Gajus Caesar hatte seinen Vater auf seinen Feldzügen begleitet, und er war seit dieser Zeit der Liebling der Legionäre, die ihn zärtlich Caligula, das »Soldatenstiefelchen«, nannten, weil er sich als kleiner Junge tränenreich geweigert hatte, Kinderschuhe zu tragen, und statt dessen lieber in den viel zu großen Soldatenstiefeln herumgestolpert war. Und jetzt rechnete sich Caligula wegen seiner Beliebtheit bei den Legionären gute Chancen aus, Nachfolger des alten Kaisers zu werden. Aber er würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen – und seinen Brüdern und der alten Intrigantin Agrippina desgleichen.

Draußen wurde indessen der Vorhang der Lektika zurückgeschlagen, und Sejanus’ Gesicht erschien. »Salve, mein Kaiser! Rom heißt dich willkommen.« Der Erste Minister und Präfekt der Prätorianer war ein großer, hagerer Mann mit scharfen Zügen. Er lächelte strahlend. »Und nicht nur Rom! Auch dein Enkel, o Caesar, läßt es sich nicht nehmen, an deiner Seite zu reiten, wenn du in die Stadt einziehst.«

Tiberius preßte die dünnen Lippen aufeinander. »Eine Überwindung, die ich zu schätzen weiß. Sei gegrüßt, mein Sejanus, und auch du, Gajus Caesar.«

Der jüngste Sohn des Germanicus hob die Hand. Er war schmalbrüstig und dickbäuchig, mit riesigen Füßen und der scharf hervorspringenden Nase der Claudier. Auch Tiberius hatte diese Nase. Aber bei Caligula war alles vergrößert, verzerrt, irgendwie monströs. Augen wie aus grünem Glas, fahlblondes Haar, ein spitzes Kinn, ein viel zu großer, birnenförmiger Kopf auf schmächtigen Schultern. Eine Mißgeburt, dachte Tiberius wie so oft, wenn er seinen Stiefenkel zu Gesicht bekam. Nein, er liebte Caligula nicht, und es hätte auch kaum einen Grund dafür gegeben.

»Ave, Caesar«, sagte der junge Prinz mürrisch. Er blinzelte in den Regen. »Es betrübt mich, daß der römische Himmel dich nicht freundlicher empfängt, und ich hoffe zu den Göttern, daß du dennoch wohlauf bist.« Es klang eingelernt, und Tiberius vermutete ganz richtig, daß seine Mutter dem Jungen die Worte einstudiert hatte.

Der Kaiser nickte mit spöttischen Augen. »Ich fühle mich sehr gut.«

»Das freut mich«, erwiderte Caligula mit gespielter Begeisterung. »Du siehst auch über alle Maßen gut aus.«

Heuchler, dachte der Kaiser. Kleiner widerlicher Speichellekker! Er wußte, wie er aussah. Ein früh gealterter Mann mit verkniffenem Mund und trüben Augen. Und mit seiner Gesundheit stand es schon seit Jahren nicht zum besten. Er litt unter Atemnot und Schmerzen in den Eingeweiden, und Charikles, sein Arzt, predigte ihm, er müsse ruhiger werden, mehr nach dem Frieden der Seele trachten, denn es gebe kein körperliches Leiden, dessen tiefster Ursprung nicht im Innern des Menschen liege. Die Krankheit des Körpers sei immer auch ein Hilfeschrei der Seele.

Schwätzer! Als ob es für den Beherrscher des römischen Imperiums etwas wie Frieden geben könnte! Er schleppte Vergangenheit und Zukunft mit sich herum und litt an einer Gegenwart, die so randvoll mit Einsamkeit war, daß er manchmal hätte schreien mögen.

Tiberius fing Caligulas Blick auf. Lauernd war er wie der einer Schlange. Er sieht erbärmlich aus, der Alte. Wann legt er sich endlich zum Sterben nieder und macht einem meiner Brüder oder mir den Weg frei? Es stand so deutlich in den grünen Augen, als hätte der Junge es ausgesprochen. Tiberius lächelte böse. »Gajus Caesar, ich danke dir nochmals für die Mühe, die du auf dich genommen hast. Und jetzt sollten wir zusehen, daß wir weiterkommen.«

Der Zug setzte sich von neuem in Bewegung. Müde sank der alte Kaiser in die Kissen seiner Lektika zurück. Am Horizont tauchten bereits die ersten Umrisse der Silhouette Roms auf.

 

Zur selben Zeit sprengte ein gepanzerter Reiter von Westen her den Janiculumhügel hinauf. Es wurde Abend, und ein kühler Wind kam von Norden, wo sich auf dem Gipfel des Soracte noch die Reste winterlichen Schnees als grauweiße Flecken vom kahlen Gestein abhoben. Jenseits des Tibers lag, in einen trüben Regenschleier gehüllt, die Stadt. Der Reiter zügelte sein Pferd und ließ den Blick über die marmorverkleideten Tempel und Paläste schweifen, über die rostfarbenen Ziegelfassaden der hohen Mietshäuser, die dicht an dicht standen, und die weißen Mauern der Villen inmitten von Parks und Zypressenhainen.

Roma aeterna, wie Tibull es besungen hatte. Ewiges Rom. Beherrscherin der Welt . . .

Der Reiter trug den Brustpanzer und den roten Mantel eines Tribuns der Prätorianer. Das bartlose Gesicht mit den dunklen, fast schwarzen Augen war nicht mehr ganz jung, aber kühn geschnitten, von bräunlicher Hautfarbe, und unter dem Helm mit dem roten Federbusch kam dichtes schwarzes Haar zum Vorschein. Er war von kräftiger Statur, mit starken Muskeln. Die über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen verliehen seinen Zügen etwas Gewalttätiges, das aber durch einen freien Blick der Augen und mehr noch durch den weich geschwungenen Mund, der Sensibilität und Sinnenfreude verriet, gemildert wurde.

Das Pferd unter ihm tänzelte unruhig, und der Mann klopfte ihm den weißen Hals. »Schon gut, Marcipor, komm weiter.« Sein Ziel war das Haus von Gajus Proculejus dem Jüngeren, das sich auf der andern Seite der Stadt bei den Gärten des Maecenas befand.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, als der Reiter über die Via Aurelia auf Rom zugaloppierte. Die Stille des Janiculumhügels mit seinen Hainen und Götterstatuen war hinter ihm zurückgeblieben. Auf der nicht allzu breiten, mit Katzenköpfen gepflasterten Straße drängten sich zweirädrige Karren, mit Eseln, Maultieren und Ochsen bespannt und beladen mit Körben voll getrocknetem Fisch und Fleisch, mit Käfigen, in denen Hühner flatterten, mit Amphoren voller Wein und Öl, mit Gewürzen, Käse und Oliven. Dazwischen wanderten regeridurchnäßte Bauern mit Lasten auf dem Rücken, Frauen mit Körben auf den Köpfen, die Kinder an der Hand. Man rief und redete durcheinander, und der Reiter hatte Mühe, vorwärts zu kommen. Gelegentlich hieb er mit seiner kurzen Peitsche auf einen Zugochsen ein, wenn der nicht zur Seite weichen und ihm Platz machen wollte, und einmal hätte er fast einen kleinen Jungen niedergeritten, der sich von der Hand seiner Mütter losgerissen hatte und einem Hundewelpen nachgelaufen war.

Im Vorüberreiten sah der Mann, wie der Knabe – er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein – sich gerade noch zur Seite warf, ehe ihn die Pferdehufe treffen konnten, und jämmerlich schreiend im Schmutz liegenblieb. Seine Mutter hob ihn auf und drohte dem Da vonreitenden mit der Faust. »Mögen die Töchter der Finsternis dich strafen!« keifte sie, aber der Reiter lachte nur und machte, daß er weiterkam. Er war nicht in der Stimmung, die Frau für ihre Frechheit zur Rechenschaft zu ziehen, wenngleich sie es verdient hätte. Man fluchte keinem Pontius Pilatus, Tribun der Ersten Prätorianerkohorte und Angehöriger der equites illustriores, des vornehmen Ritterstandes. Es hatte Glück, dieses Weib; hätte er einen weniger angenehmen Tag hinter sich gehabt, wäre es nicht so glimpflich davongekommen.

Aber Pontius Pilatus kam gerade von dem Landgut des Senators Fabius Clodius Sisenna zurück. Sisenna, den er dort besucht hatte, war ein Vetter und vertrauter Freund von Sejanus, dem Präfekten der Prätorianergarde und dem nach Kaiser Tiberius mächtigsten Mann des Römischen Reiches. Sejanus war dem Tribun Pontius Pilatus wohlgesinnt; das war allgemein bekannt, und Sisenna hätte es nicht zu betonen brauchen.

»Er schätzt dich, mein Pilatus, deiner früheren militärischen Verdienste wegen«, hatte der glatzköpfige Senator versichert. »Wenn ich mich recht erinnere, warst du es doch, der in Syrien mit großem diplomatischem Geschick eine Meuterei der Zwölften Legion verhinderte.«

Pilatus hatte geschmeichelt gelächelt. » Schon. Aber dieser Erfolg ist nicht der Rede wert; ein anderer hätte die Lage genauso gemeistert.«

Sisenna hatte die kurzen fleischigen Hände gehoben. »Deine Bescheidenheit ehrt dich, dennoch solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Außerdem weiß der edle Sejanus, daß du ein gebildeter, unbestechlicher Mann bist. Abkömmling eines alten samnitischen Fürstengeschlechts und mit den römischen Tugenden Mut und Stolz in reichem Maße ausgestattet. Es wird deine Prätorianer schmerzen, ihren Tribun zu verlieren, aber es warten größere, deinen Fähigkeiten angemessenere Aufgaben auf dich.« Und dann war er damit herausgerückt, daß Sejanus beabsichtige, einen neuen Präfekten in die römischen Provinzen Judäa und Samaria zu schicken. Und dieser Präfekt solle Pontius Pilatus heißen.

Praefectus Judaeae . . . Es wurde Pilatus heiß vor Freude, wenn er daran dachte. Er war sechsunddreißig Jahre alt, nicht mehr jung genug, um größere militärische Ehren zu erwerben, vor allem nicht in diesen friedlichen Zeiten. Früher oder später hätte er sich um einen Posten in der Verwaltung bewerben oder sich ins Privatleben zurückziehen müssen. Und nun dieses Angebot!

Aus seiner Zeit in Syrien kannte Pilatus Palästina; auch war er mit Annius Rufus, dem früheren Präfekten von Judäa, bekannt, und dieser hatte ihm vieles über die Besonderheiten und Schwierigkeiten der römischen Herrschaft in dieser eigenartigen Provinz erzählt. Es würde nach allem, was Pilatus wußte, nicht leicht sein, die fanatischen, ewig aufrührerischen Juden zu regieren, die alles Fremde ablehnten und in Rom nicht ihren Beschützer, sondern ihren Unterdrücker sahen. Aber wenn es ihm gelang, in Judäa einigermaßen erfolgreich zu sein, dann war ihm nach seiner Rückkehr die kaiserliche Anerkennung gewiß – wahrscheinlich sogar eine Berufung in den Senat.

Sisenna hatte getan, als sei alles schon so gut wie abgemacht. Sejanus habe ihn, Pilatus, dem Kaiser vorgeschlagen, da eine Ablösung des jetzigen Präfekten Valerius Gratus nach elfjähriger Amtszeit nicht nur angebracht, sondern hochnötig geworden sei. Tiberius werde noch heute in Rom eintreffen und sich vermutlich nicht lange aufhalten, da er sich bald wieder in sein bevorzugtes Domizil auf Capri zurückziehen dürfte. Deshalb solle der edle Pilatus sich bereithalten, demnächst zum Kaiser befohlen zu werden, um seine ehrenvolle Ernennung entgegenzunehmen.

»Praefectus Judaeae . . .« Pilatus murmelte die Worte vor sich hin. Welch ein Tag, ihr Götter! Welch eine Zukunft! Freilich würde es ihm nicht ganz leicht fallen, das glänzende Rom zu verlassen und, sicherlich auf Jahre, in der tiefsten Provinz, in einer vollkommen unkultivierten und barbarischen Gegend zu leben. Doch dies war der Preis für Größeres, und er würde ihn gern bezahlen.

Pilatus schrak aus seinen Gedanken auf, weil wieder einmal eine größere Menge Volks das Durchkommen erschwerte. Hinter einer Biegung erkannte er den Grund dafür. Unweit der Straße, dort, wo ein breiter, ungepflasterter Weg zu einem Landhaus hinführte, dessen heller, säulengetragener Porticus durch das Dunkel von Zypressen und Wacholder schimmerte, hatten sie ein Kreuz errichtet. Ein Mann hing daran, nackt und mager, die Haut von Peitschenhieben blutig. Im Dämmerlicht war nicht sofort zu sehen gewesen, ob er noch lebte, denn der Kopf war herabgesunken. Doch als er jetzt näher kam, erkannte Pilatus, daß sich der Brustkorb des Gekreuzigten in mühevollen Atemzügen hob und senkte.

Der Anblick des Mannes – ganz offensichtlich ein entlaufener Sklave, den sein Herr wieder eingefangen hatte und jetzt, wie es allgemein üblich war, zur Abschreckung für die anderen hinrichten ließ – verursachte Pilatus Unbehagen. Das Gesicht war gedunsen und bläulich verfärbt. Er litt unter Atemnot und holte gurgelnd Luft. Es sah aus, als läge ein Fisch auf dem Trockenen und kämpfte mit dem Ersticken. Nicht viel anders war es ja auch. Da das ganze Körpergewicht an den ausgebreiteten, festgenagelten Armen des Mannes hing, würde es irgendwann zu einem Blutstau kommen. Dann würde endlich unter Erstikkungsanfällen und Krämpfen der Tod kommen, ein grausamer Tod, der sich Zeit ließ. Der da am Kreuz würde sich noch eine Weile quälen, es sei denn, man ließe Milde – aber was für eine Milde! – walten und nähme ihn kurz vom Kreuz ab, um die Beine zu brechen. Daraufhin trat nämlich der Tod schneller ein.

Pilatus wandte den Blick ab. Er liebte derartige Grausamkeiten nicht. Er verstand die vornehmen Leute nicht, die ihre Sklaven bei der geringsten Verfehlung brutal auspeitschen oder sie bei einem Fluchtversuch wie Hochverräter und Aufrührer am Kreuz hinrichten ließen. Und er begriff das Volk mit seiner blutrünstigen Schaulust nicht, die es bei solchen Anlässen immer in Scharen zusammenlaufen ließ. Auch wenn vielleicht einige im stillen murren und sich empören mochten – die meisten standen in fiebriger Begeisterung da, um zu gaffen. Seit Tiberius die Spiele abgeschafft hatte, gab es für das römische Volk offensichtlich nicht mehr genügend blutige Sensationen. Deshalb rannte die Plebs zusammen, wo immer eine Hinrichtung stattfand. Die Massen liebten so etwas; unter dem göttlichen Augustus hatten sie sich zu Abertausenden ergötzt, wenn Gladiatoren mit wilden Tieren gekämpft oder sich gegenseitig umgebracht hatten.

Pilatus hatte inzwischen das Kreuz und den Auflauf hinter sich gelassen, und nun hieb er Marcipor die Stiefel in die Seiten und sprengte davon. Es war schon fast dunkel, und Procula erwartete ihn.

Sie war die Tochter von Gajus Proculejus, und eigentlich hieß sie Claudia Proculeja. Aber schon als Dreijährige hatte sie sich selbst, wenn man sie nach ihrem Namen fragte, Procula genannt. So war es dabei geblieben, und selbst ihr Vater und ihre Mutter Marcella nannten ihre Tochter nicht anders.

Pilatus lächelte. Procula war achtzehn Jahre alt und seit über zehn Jahren seine Verlobte. Lange hatte er für das scheue, magere Kind mit den großen blauen Augen nicht das mindeste Interesse gehabt. Nun gut, er würde sie einmal heiraten, wie ihre und seine Familie es beschlossen hatten. Aber bis dahin floß noch viel Wasser den Tiber hinunter, und es gab keinen Grund, inzwischen auf die Freuden der Liebe zu verzichten. Pilatus hatte sie genossen, wo immer sie sich boten, und ohne einen Gedanken an Procula zu verschwenden. Erst im letzten Sommer hatte sich das geändert.

Pilatus hatte seine junge Braut immer nur in großen Abständen gesehen; um so mehr hatte ihn die Veränderung erstaunt, die plötzlich mit ihr vorgegangen war. Aus dem linkischen Geschöpf mit den eckigen Bewegungen war ein ausgesprochen schönes Mädchen geworden. Freilich, zart war sie immer noch, aber von einer Anmut, die den Sechsunddreißigjährigen bezauberte. Es bestand kein Zweifel, daß Procula ihn liebte. Viele Jahre hindurch war er der Mittelpunkt ihrer kindlichen Träume gewesen. Auch jetzt noch, wo sie erwachsen war, haftete ihrer Zuneigung viel Schwärmerisch-Kindliches an, aber es war gemischt mit einer unbewußten und für Pilatus deshalb um so reizvolleren erwachsenen Sinnlichkeit. Außerdem war Procula klug und fröhlich, sanft, aber nicht zu sanft, sondern durchaus fähig, ihren Willen durchzusetzen, wenn ihr daran lag, und all diese Eigenschaften machten Pilatus sicher, daß sie eine prachtvolle Frau werden würde.

Wir werden bald heiraten, dachte er, während er auf den Pons Aemilius zuritt. Noch in diesem Frühling, bevor wir nach Judäa aufbrechen. Er versuchte, sich Proculas Gesicht vorzustellen, wenn er die Neuigkeit berichtete, die er am Nachmittag von Sisenna erfahren hatte. Sie hatte so hübsche, lachende Augen, die in der Erregung blaugrün schimmerten. Ach, Procula . . .

Marcipor galoppierte über die Tiberbrücke. Linker Hand schimmerte auf der Insel im Fluß das helle Mauerwerk des Aesculaptempels, und der Wind trug die klagenden Stimmen der Todkranken und Sterbenden zu dem eiligen Reiter hinüber. Das waren die Armen und Sklaven, die in den halbzerfallenen Hütten hinter dem Tempel ihr Ende erwarteten, weil ihre Angehörigen oder Besitzer sie nicht mehr pflegen mochten. Dann wurden sie auf die Tiberinsel gebracht, um dort zu krepieren, denn anders konnte man ihren armseligen Tod nicht bezeichnen.

Pilatus vermeinte, daß Wasser und Wind den Geruch von Verwesung mit sich; brächten. Und vor Proculas helles Bild schob sich das des gekreuzigten Sklaven und wischte die blitzende Freude hinweg, die er empfand, seit er die pompöse Villa des Senators Sisenna verlassen hatte.

 

»Und das ist wirklich wahr?« fragte Procula. Ihr Gesicht glühte. »Du sollst der neue Statthalter in Judäa werden?«

»Jedenfalls nach dem Willen des Sejanus«, antwortete Pilatus. »Was soviel bedeutet wie nach dem Willen des Princeps.«

»O mein Lieber, mein Liebster!« Als sie Pilatus umarmte, spürte er ihren Herzschlag unter der dünnen veilchenfarbenen Tunika. Darüber trug sie einen offenen weißen Mantel mit goldenen Schließen an den Schultern. Wie schmal sie war, wie leicht! Pilatus konnte ihre Taille beinahe mit beiden Händen umspannen. Und ihre elfenbeinfarbene Haut, die Haut einer vornehmenjungen Römerin, die nie der prallen Sonne ausgesetzt und von Kind an mit allerlei Essenzen und Pasten gepflegt worden war, war so weich wie die eines Neugeborenen. Welch ein Vergnügen, mit den Fingerspitzen über diese Haut zu streicheln! Ihr dunkelbraunes Haar, das im Licht einen rötlichen Kupferton erhielt, war nach griechischer Art frisiert, am Hinterkopf zusammengebunden und zu großen Locken gedreht, die auf den mädchenhaften Nacken fielen. Wahrhaftig, sie war eine Schönheit, und ihre Umarmung erregte Pilatus. Seine Hände glitten unter ihren Mantel, um sie fester an sich zu pressen, während er sie küßte. Er atmete hastig, als Procula ihm ihre Lippen öffnete.

»Ach, meine Schöne«, murmelte er und hätte sie am liebsten jetzt und hier, in der dämmrigen Stille des Atriums, genommen und geliebt. Über dem offenen Dach spannte sich der Nachthimmel, und nur ein paar Öllampen brannten vor dem Altar der Hausgötter und dem Schrein mit den Wachsbildern der Ahnen. Aus dem Peristyl klang leise Musik von Lauten, Flöten und einer Syrinx und mischte sich mit dem Plätschern des Springbrunnens im Impluvium.

»Du zitterst ja«, sagte Pilatus.

»Mhm . . .« Procula nickte. »Aber mir ist nicht kalt.« Sie lachte und umfaßte sein Gesicht mit ihren Händen. »Ist das nicht verrückt? Du bringst es fertig, daß mir heiß wird und ich dennoch zittere. Du solltest mich nicht auf diese Weise küssen, jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Aber es gefällt dir doch?«

»Zumindest sollte ich es nicht zugeben. Wir sind noch nicht verheiratet, und meine Mutter sagt, du würdest jede Achtung vor mir verlieren, wenn ich vor unserer Hochzeit zu freigebig mit meiner Liebe wäre.« Sie knabberte an seinem Ohrläppchen. »Findest du, daß ich zu freigebig bin?«

»O nein«, entgegnete er atemlos und entzückt. »Du bist das süßeste, geizigste . . .« Er verstummte, weil der Vorhang zu einem der Nebenräume zurückgeschlagen wurde. Eine Sklavin huschte herein und speiste die Lampen mit frischem Öl. Procula nahm Pilatus’ Arm.

»Laß uns in den Garten gehen. Mein Vater hat zwei neue Statuen aufstellen lassen. Er ist sehr stolz darauf, und es wird ihn freuen, wenn ich sie dir zeige.«

»Er hat mir schon davon erzählt. Es sind eine Diana und ein Silen, nicht wahr?«

»Ja, und sie sind denen nachgebildet, die im Palast des Kaisers auf Capri stehen.« Im Gehen lehnte sie ihren Kopf an Pilatus’ Schulter. »Wirst du nach Capri müssen, damit Sejanus dich dem Kaiser vorstellt?«

»Senator Sisenna meint, Tiberius sei schon auf dem Weg nach Rom. Sonst freilich wird man mich in die Villa Jovis befehlen, um mir auf den Zahn zu fühlen, ob ich auch der richtige Mann für die Präfektur in Judäa bin.«

»Dann wirst du bestimmt reisen müssen«, meinte Procula, während sie das Peristyl durchschritten. »Wie oft hat es schon geheißen, der Kaiser sei auf dem Weg hierher, und dann ist er wieder umgekehrt. Er haßt Rom – oder er hat Angst davor.«

»Nicht so laut«, mahnte Pilatus erschrocken. Zu leicht konnten die Musikanten im Peristyl oder einer der emsig durch das Haus huschenden Sklaven etwas aufschnappen. Und es war gefährlich, auch nur ein abfälliges oder mißverständliches Wort über Tiberius zu äußern, seit er die Lex Crimen Laesae Majestatis erlassen hatte und durch Spitzel und Denunzianten jede Majestätsbeleidigung erbarmungslos ahnden ließ. In letzter Zeit häuften sich die Verhaftungen, Todesurteile und Selbstmorde wegen angeblicher Majestätsbeleidigungen, und die Angst ging in Rom um. Diejenigen, die eine sogenannte majestas anzeigten, erhielten ein Viertel des Vermögens des Angeklagten, der Rest fiel an den Kaiser. Nur wer sich vor seiner Verurteilung selbst umbrachte, konnte seine Familie vor der Armut bewahren, denn dann wurde sein Letzter Wille respektiert, und alles, was er besaß, verblieb seinen Erben.

Procula drückte Pilatus’ Arm. »Ich sage nur, was viele denken. Oder drücken wir es anders aus: Der Kaiser liebt Rom – doch er haßt die Römer. Und er fürchtet, daß Agrippina eine Verschwörung gegen ihn anzetteln könnte.«

Nicht nur Agrippina, wenngleich sie eine gefährliche Natter ist, dachte Pilatus. Aber es gibt noch andere . . . die den Traum der Republik noch immer nicht ausgeträumt haben und alles daransetzen würden, ihn wieder wahr werden zu lassen. Der Princeps wittert nicht zu Unrecht überall Verrat. Laut sagte er: »Du hast doch nicht etwa Verständnis für die Witwe des Germanicus?«

»Warum nicht? Vergib mir, Lieber, aber dein Sejanus müht sich allzu offensichtlich um die Macht. Ist es nicht seinen Überredungskünsten zuzuschreiben, daß Tiberius Rom verlassen hat, um sich hinter den Festungsmauern von Capri zu verschanzen? Warum wohl? Ich sage dir, Sejanus will Rom beherrschen. Präfekt der Prätorianer und Tiberius’ Arm zu sein, genügt ihm nicht. Deshalb ist es nur gerecht, wenn Agrippina die Thronfolge für einen ihrer Söhne zu sichern sucht, ob es nun Nero Caesar, Drusus Caesar oder Caligula ist . . .«

Agrippina war die Enkelin des Kaisers Augustus, und Tiberius hatte in zweiter Ehe ihre Mutter Julia geheiratet und Agrippinas Gatten Gajus Julius Caesar Germanicus adoptiert, so daß beider Söhne und die drei Töchter Drusilla, Julia Livilla und Agrippinilla seine Enkel geworden waren. Blutsmäßig waren sie allerdings die Großneffen und -nichten von Tiberius, da Germanicus der Sohn seines Bruders Drusus war. Aber sei es, wie es wolle – auf jeden Fall waren Caligula und seine älteren Brüder die Urenkel des göttlichen Augustus und in den Augen ihrer Mutter die einzigen rechtmäßigen Nachfolger des nach dem frühen Tod seines Sohnes Drusus kinderlosen Tiberius. Darum war Agrippina der wachsende Einfluß des Sejanus ein Dorn im Auge. Sie wußte, daß Tiberius ihre Söhne nicht liebte, und in Rom redete man bereits hinter vorgehaltener Hand davon, daß der Kaiser eines Tages Sejanus zum Mitregenten machen könnte. Dann stünde es schlecht um den Thronanspruch der Germanicus-Söhne.

Pilatus und Procula hatten indessen den Laubengang erreicht, an dessen Ende die beiden neuen Statuen aufgestellt waren. Sie waren überlebensgroß, und das flirrende Mondlicht, das Wechselspiel von Licht und Schatten, wenn der Wind die Blätter der Lorbeerbäume bewegte, verlieh ihren gemeißelten Zügen geheimnisvolles Leben.

»Sind sie nicht schön?« fragte Procula.

»Schon«, sagte Pilatus und nahm sie in die Arme, »aber sie sind nichts gegen dich!« Hungrig drückte er seine Lippen auf ihre, doch diesmal bog Procula den Kopf zurück.

»Schmeichler! Im übrigen hat meine Mutter wohl schon recht, und ich sollte nicht so nachgiebig sein . . .«

»Ich liebe dich«, murmelte er an ihrem Hals.

»Ich dich auch! Trotzdem, du bist soviel erfahrener als ich. Es ist nicht recht, daß du . . .«

»Daß ich was?«

»Du verführst mich. Du nutzt es aus, daß du soviel mehr weißt, und verwirrst mir damit den Kopf.«

Er lachte leise. »Ich werde dich alles lehren, was ich weiß, mein Herz, und dann wirst du mir turmhoch überlegen sein. Venus selbst wird keinem Mann mehr Freude schenken können als du.«

Als er ihre Brust berührte, wich Procula zurück. »Mach es mir nicht so schwer, dir nein zu sagen – bitte. Laß uns warten, bis wir Mann und Frau sind. Ich habe es meiner Mutter Marcella versprochen.«

Sie sah sehr süß und verführerisch aus und gleichzeitig auf eine rührende Art hilflos. Pilatus zwang seinen Atem zur Ruhe. »Ach, Procula, Procula, was machst du nur mit mir«, sagte er, erstaunt, daß dieses junge Geschöpf soviel zarte Gewalt über ihn hatte. Er nahm ihre Hände und küßte sie. »Ich bin dein Sklave, meine Schöne, und meine größte Freude ist es, dir deinen Willen zu erfüllen.«

»Lügner!« antwortete sie zärtlich. »Geliebter Lügner!«

Dann wollte Procula ihm von neuem um den Hals fliegen, doch diesmal hielt er sie ein Stückchen von sich ab.

»Nach unserer Hochzeit«, sagte er neckend. »Komm mir bloß nicht zu nahe, Carissima – ich bin zwar dein Sklave, aber auch nur ein Mann. Darum laß uns lieber ins Haus zurückgehen, sonst werde ich doch noch alles daransetzen, daß du dein Versprechen gegenüber deiner Mutter brichst.«

 

Flavia Valeria, die Witwe des Senators Lucius Imola, ließ einen Sklaven auspeitschen. Sie stand auf dem Balkon ihres Schlafgemachs und blickte in den von Fackeln hell beleuchteten Innenhof hinunter. Dort lag der große, kräftige Cappadocier gefesselt über einem Holzbock, während der Aufseher die Strafe vollzog. Dreißig Hiebe hatte Flavia Valeria angeordnet, zehn hatte der Cappadocier schon erhalten.

Er gab keinen Ton von sich, aber sein Gesicht war schweißüberströmt, und die gequollene, aufgeplatzte Haut, die dünnen Blutrinnsale, die an Schultern und Rücken hinunterliefen, waren vom Balkon aus deutlich zu sehen. Flavia verschränkte die Arme vor dem grünen Hausgewand aus Musselin. Ihre Augen hatten einen feuchten Schimmer, und der Mund mit den sehr weißen, ein wenig unregelmäßigen Zähnen war halb geöffnet.

Sie sah das gern, dieses Aufzucken des gequälten Fleisches, sobald die Peitsche herunterfuhr. Es bereitete ihr eine dunkle, animalische Lust, die in der Tiefe ihres Schoßes aufstieg und allmählich ihren ganzen Körper mit Wärme anfüllte. Flavia beobachtete, wie der Cappadocier vor jedem neuen Schlag die Muskeln spannte, um nicht schreien zu müssen. Schade, dachte sie. Ich liebe es, wenn sie dabei schreien. Dann wurde die Wärme in ihr jedesmal zu kleinen, heißen, unerträglichen Flammen, und sie ging zurück in ihr Schlafzimmer, warf sich über das Bett aus Zedernholz, und ihr hastiges, wimmerndes Keuchen mischte sich mit den Schreien des Ausgepeitschten.

Flavia zählte die Schläge mit. Noch acht, noch sieben . . . ach, warum schrie er denn nicht! Verfluchter Kerl! Atemlos beugte sie sich nach vorn und beobachtete, wie der mächtige Körper auf und nieder zuckte. Galbus hieß er, der Sklave, und Flavia hatte ihn kurz nach Sonnenuntergang mit einer Botschaft zum Haus des Pontius Pilatus am Viminalis geschickt. »Und wenn er nicht daheim ist«, hatte sie Galbus eingeschärft, »so lauf zur Castra Praetoria. Dort wird man dir sagen, wo du den Tribunen findest. Gib ihm meine Botschaft und warte auf Antwort. Laß dich nicht abweisen, hörst du?«

Aber der Sklave war unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Zu Hause sei der edle Pontius Pilatus nicht gewesen und in der Castra habe er erfahren, daß er im Hause des Gajus Proculejus weile. Also sei er dorthin, und der Tribun habe die Botschaft der Herrin auch gelesen. Nur eine Antwort habe er ihm nicht mitgegeben. Vielmehr habe er das Pergament hastig zerrissen und fortgeworfen.

»Du hast es vor der Castra fortgeworfen!« hatte Flavia ihn angefahren. »Gib es zu, elender Lügner! Der Weg zu den Gärten des Mäcenas war dir zu weit!« Dabei wußte sie, daß der Sklave nicht log. Das war es, was ihre Wut weckte. Hatte nicht sogar in Galbus’ Gesicht Schadenfreude aufgeblitzt?

Der Aufseher ließ die Peitsche sinken. »Dreißig Hiebe, Herrin!« rief er. Flavia blickte auf Galbus’ jetzt schlaffen Körper hinunter. Einen Moment war sie versucht zu sagen: »Gib ihm noch zehn! Ich will, daß er schreit und winselt!« Aber dann wandte sie sich um und schlug den Vorhang zu ihrem Schlafgemach zurück.

Während unten im Hof der Sklave losgebunden und fortgeführt wurde, ließ sich Flavia von einer dunkelhäutigen Nubierin auskleiden. Eine andere rieb ihr Gesicht und Hals mit einer dikken Paste ein, die aus Eselsmilch und Schweinefett sowie verschiedenen Kräutern bereitet war und die Haut weiß und glatt erhalten sollte. Eine dritte löste ihr das am Hinterkopf zu einem Kegel frisierte rotblonde Haar und kämmte es, bis es üppig und glänzend über Flavias Rücken fiel.

Durch die mit Ornamenten verzierten Wandöffnungen der Heizung gelangte warme Luft in den Raum. Auch der Mosaikboden war angenehm warm. Flavia streifte die Sandalen ab und streckte die Füße aus. Im Gegensatz zu sonst verzichtete sie darauf, ihre Sklavinnen nach Neuigkeiten aus der Stadt auszufragen. Sie ließ die Paste einwirken und trank ab und zu einen Schluck heißen, gewürzten Weines, der auf einem niedrigen Tischchen neben ihr stand. Die Erregung, die sie vorhin beim Auspeitschen des Sklaven empfunden hatte, war verflogen. Sie fühlte sich leer und dumpf und niedergeschlagen. Pilatus kam nicht! Er hatte ihren Brief zerrissen und Galbus keine Nachricht mitgegeben.

Flavia Valeria war seit drei Jahren Pontius Pilatus’ Geliebte. Natürlich wußte sie, daß er mit der Tochter des Proculejus verlobt war, aber das hatte ihr bis vor kurzem kein Kopfzerbrechen bereitet. Ein naives, unschuldiges Gänschen, mit dem man Pilatus vor langer Zeit verkuppelt hatte und an das er kaum einen Gedanken verschwendete – so etwas war keine Rivalin. Freilich, eines Tages würde er heiraten müssen, um seinen Namen und sein Geschlecht zu erhalten: Aber seine Frau würde Flavia und nicht Procula heißen. Dessen war sie sich sicher gewesen, seit der dicke, asthmatische Imola soviel Anstand besessen hatte, im vergangenen Jahr ganz plötzlich und ohne langes lästiges Krankenlager in den Hades hinabzufahren und sie als vermögende Witwe zurückzulassen. Auf diese Weise hatte er sich die Unbequemlichkeit einer Scheidung erspart, die Flavia angestrebt hatte, sobald sie sich darüber klargeworden war, daß sie nicht nur ihr Bett, sondern ihr ganzes Leben mit Pilatus teilen wollte.

Sie hatte Lucius Imola immer betrogen; er war kahlköpfig, unförmig und mit übelriechendem Atem gewesen, und die wenigen Male, da er sich in der Dunkelheit des Cubiculums auf sie gewälzt und schnaufend das praktiziert hatte, was er für eheliche Liebe hielt, genügten ihr nicht. Sie war zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte und suchte anderweitig die Vergnügen, die er ihr nicht bereitete. Rom war voller schöner junger Männer, gelegentlich hatte es auch einen gutgewachsenen Sklaven gegeben, der ihr für eine Nacht gefiel, und in der römischen Gesellschaft klatschte man darüber, das Weib des Senators Imola habe sich mit dunkler Perücke und verschleiertem Gesicht in einem Bordell im Stadtteil Subura kräftigen Soldaten und Lastenträgern hingegeben.

Aber dann war Flavia Pontius Pilatus begegnet, bald nachdem er aus Syrien zurückgekehrt war, und von da an war alles anders gewesen. Bei einem Gastmahl des Sejanus hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, und der dunkle, breitschultrige Mann mit dem trägen, sinnlichen Lachen hatte sofort ihre Aufmerksamkeit erweckt. Noch in derselben Nacht hatten sie einander geliebt – im Palastgarten war es gewesen –, ungeduldig und schamlos, weil ihr heftiges Verlangen nicht mehr warten konnte, während im Speisesaal Senator Imola eine kleine ägyptische Tänzerin auf seine Liege gezogen, sie betastet und betrunken, mit schwerer Zunge, Verse von Catull rezitiert hatte.

Von da an hatte Flavia nur noch einen Liebhaber gehabt, und das war Pontius Pilatus. Sie liebte ihn mit einer Besessenheit, die sie anfangs erschreckte. Aber da sie nicht von ihm loskam, nahm sie ihre Leidenschaft schließlich hin wie ein unabwendbares Fatum und trachtete nur noch danach, ihn ebenso an sich zu fesseln, wie sie selbst ihm verfallen war. Doch das war schwer. Zwar hatte Flavia immer wieder den Triumph, daß Pilatus nach ihr verlangte, aber wenn er seine Lust gestillt hatte, entglitt er ihr. Er war geistreich, liebenswürdig, ein hinreißender Liebhaber, doch er war kein Liebender. Nur während ihrer ekstatischen Umarmungen gehörte er ihr. Danach zog er sich wieder in sich selbst zurück, wurde unangreifbar, spöttisch und, so fand Flavia, auf ärgerliche Weise seiner selbst sicher. Er beherrschte sie, nicht sie ihn, und all ihre weiblichen Tricks, die sie sich fieberhaft zurechtgelegt hatte, verfingen nicht.

Und da war nun dieses Gänschen Procula. Pilatus war immer, wenn sie das Gespräch auf Procula gebracht hatte, auf ein anderes Thema ausgewichen. Aber seit einiger Zeit spürte sie so deutlich, als hätte er es ihr gesagt, daß diese junge, kindliche Person etwas in ihm wachgerufen hatte, das sie, Flavia, trotz allen Mühens nicht in ihm hatte wecken können.

Flavia stand auf. »Wisch mir das Zeug aus dem Gesicht«, befahl sie der Nubierin in so heftigem Ton, daß die Sklavin zusammenzuckte. Mit einem weichen Tuch entfernte sie hastig die Paste von der Haut ihrer Herrin und reinigte ihr anschließend Gesicht und Hals mit parfümiertem Wasser. »Geht! Geht alle!«

Ungeduldig wartete Flavia, bis die drei Sklavinnen das Cubiculum verlassen hatten. Dann griff sie nach dem silbergerahmten Metallspiegel, der auf einer Truhe lag, und betrachtete sich lange. Es war ihr nacktes, ungeschminktes Gesicht, das ihr entgegenblickte. Glatte, rosige Haut. Der Mund ein wenig voll, aber nicht zu sehr. Schimmernde, topasfarbene Augen. Die paar Fältchen darunter ließen sich leicht mit ein wenig Schminke verdecken. Ihr Haar war üppig und gesund. Doch, sie sah jung aus, jünger, als sie es den Jahren nach war. Flavia hielt den Spiegel tiefer. Auch ihre Brüste waren noch jungendlich straff, ebenso der Bauch. Blendend weiße Arme, wollüstig der Schwung der Hüften und Schenkel . . . Was hatte die andere, die Achtzehnjährige, das sie, Flavia, nicht besaß? Was hatte sie ihr voraus?

Jugend, dachte sie, ist doch nicht alles. Jugend ist dumm, ungeschickt und . . . Sie suchte nach einem passenden Wort und fand keines. Jugend ist jung, dachte Flavia statt dessen, und ich werde dreißig. Mit einer unbeherrschten Bewegung warf sie den Spiegel zu Boden.

Pilatus kam am nächsten Abend. Diesmal trug er Zivil, eine blendend weiße Tunika mit dem purpurnen Saum der vornehmen Ritter und darüber die sorgsam gefältelte Toga. Zuvor hatte er einen Diener zu Flavia geschickt, ihr seinen Besuch zu melden, und sie erwartete ihn, geschminkt und frisiert, in einem Gewand aus topasfarbener Seide, mit goldgestickter Palla darüber. Als Pilatus auf sie zukam, legte sie ihm die Arme um den Hals. Die goldenen Reifen an ihren Hand- und Fußgelenken klirrten. »Endlich!« sagte sie lächelnd und wartete mit geschlossenen Augen auf seinen Kuß. Aber seine Lippen berührten sie nur flüchtig, ehe er einen Schritt zurücktrat.

»Keine Vorwürfe? Womit habe ich das verdient?«

»Man bekommt nicht immer, was man verdient. Außerdem – was weiß ich, was dich gestern und all die Tage zuvor abgehalten hat. Und jetzt bist du ja da.«

Er sah erleichtert aus. »Du bist sehr großmütig, Flavia.«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hattest du wirklich wichtige Dinge zu erledigen, die keinen Aufschub duldeten. Dann bist du ohnehin entschuldigt. Und wenn nicht – ich mag es nicht, wenn man nach Ausflüchten sucht und sich am Ende in Lügen verwickelt. Das ist unser unwürdig, mein Pilatus.« Sie klatschte in die Hände und befahl dem eintretenden Sklaven, Wein zu bringen.

Im Speiseraum war der Tisch für zwei gedeckt. Flavia und Pilatus legten sich zum Essen nieder. Ein junger griechischer Sklave rezitierte, begleitet von einem Lautenspieler, aus den Elegien der Sappho. Er hatte eine helle, kindliche Stimme und kurze kastanienbraune Locken, die ihm in die runde Stirn fielen. Von großen Kandelabern hingen brennende Öllampen herab und verbreiteten Licht und Wärme. Der Boden des Raumes war mit getrockneten Lavendel- und Rosenblättern bestreut, und in den Nischen standen korinthische Bronzen.

Der mit Narde und Pfeffer gewürzte Falerner war stark und berauschte, und Flavia sorgte dafür, daß Pilatus immer wieder nachgeschenkt bekam. Während des Essens plauderten sie über allerlei Belanglosigkeiten. Was in der letzten Ausgabe der Acta diurna populi Romani gestanden habe, die allmorgendlich eine Stunde nach Sonnenaufgang auf einer Tafel unter den Rostren des Forums angeschlagen wurde, um die Römer über die neuesten Ereignisse zu unterrichten. Welch glänzende Rede Antonius Capulejus im Senat gehalten habe und daß das Gastmahl, das Licinus Macallus im vergangenen Monat zu Ehren Agrippinas und ihres ältesten Sohnes Nero Caesar gegeben habe, hundertfünfzigtausend Sesterzen gekostet haben sollte. Flavia zeigte Pilatus einen Halsschmuck, den sie vor ein paar Tagen erworben hatte, und erkundigte sich, ob er nicht einen neuen Koch für sie wisse, da ihr jetziger sich wohl außerordentlich gut auf die Zubereitung von Braten verstehe, aber seine Fischgerichte häufig danebengerieten.

»Wenn du zwei, drei Monate warten kannst, will ich dir gern meinen Creticus überlassen«, sagte Pilatus. »Denn dann werde ich nicht mehr hiersein, und mitnehmen will ich ihn nicht. Der Bursche versteht sich auf die Zubereitung von Fischpastete wie kein zweiter. Und sein marinierter Aal oder seine Muräne in Garumtunke sind wahre Köstlichkeiten.«

Flavia hatte nur eines aus seinen Worten herausgehört: Er ging fort. Er verließ Rom. Aber warum? Und für wie lange? Ihre Stimme klang hoch und aufgeregt, als sie ihn danach fragte. Sie waren allein; Sklavinnen hatten das benutzte Geschirr fortgeräumt und neuen Wein und Früchte gebracht. Auch den griechischen Sklaven und den Lautenspieler hatte Flavia hinausgeschickt.

Pilatus stellte sein Glas auf den Tisch. »Davon wollte ich dir gerade berichten. Noch ist es geheim, aber ich war heute morgen bei Sejanus, und er sagte, daß ich sicher damit rechnen könne. Der Kaiser wird mich als neuen Präfekten nach Judäa entsenden.«

Einen Augenblick war es still. Dann sagte Flavia langsam:

»Das ist eine Überraschung. Und du hast schon zugesagt? Verzeih, was für eine törichte Frage! Natürlich hast du . . .« Sie blickte ihn an, diesen Mann, nach dem ihr Herz und ihr Körper verlangten, und mühte sich, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken, als sie sich eine Strähne ihres rotblonden Haares zurückstrich. Wie er lächelte! So siegessicher, so verabscheuungswürdig zufrieden! Bedeutete es ihm gar nichts, sie zu verlassen? Oder hatte er die Absicht, sie mitzunehmen?

Flavia nahm eine Handvoll Nüsse aus einer getriebenen Silberschale.

»Nun, Jerusalem oder Caesarea sind natürlich nicht Rom. Aber eine Zeitlang werde ich es dort aushalten können. Schließlich ist es nicht für ewig. Ein paar Jahre gehen schnell herum.«

Pilatus setzte sich auf. »Es tut mir sehr leid, Flavia«, sagte er gedehnt, »aber ich fürchte, du hast mich mißverstanden. Ich gehe nach Judäa, und ich kann dich nicht mitnehmen.«

Die Nüsse entglitten ihren Händen und rollten in ihren Schoß und über den Boden. Flavias Augenausdruck machte Pilatus angst. Er war Soldat, er hatte in Schlachten gekämpft, und er erinnerte sich, daß manchmal die Männer so ausgesehen hatten, denen sein Schwerthieb ins Herz gedrungen war. Genauso hatten sie ihn angeblickt, mit diesen unnatürlich weiten Augen, in denen ein so unbegreiflicher, unaussprechlicher Schmerz stand.

»Flavia«, sagte er und sprang auf. »Geht es dir nicht wohl?«

»Doch«, brachte sie mit steifen Lippen hervor. »Es . . . es ist nur . . . Ich hatte mir tatsächlich einen Augenblick lang eingebildet, du wolltest, daß ich dich begleite. Was für eine alberne Idee! Was soll ich in dieser elenden Wüstenprovinz, wenn ich in Rom leben kann.«

Pilatus ergriff ihre Hände. Sie waren heiß, als hätte Flavia Fieber. Er lächelte unsicher. Er hatte sich nie viele Gedanken über seine Beziehung zu Flavia gemacht; er hatte sie begehrt und bekommen wie andere Männer vor ihm auch. Sie war schön und leidenschaftlich und erfahren genug, um einem Mann die größte Lust zu bereiten. Das hatte ihn immer wieder von neuem gereizt. Außerdem war sie unterhaltsam und gebildet. Bei Aphrodite, ja, er würde Flavia vermissen, trotz Procula und seiner Verliebtheit in sie! »Meine liebe, meine teure Freundin«, sagte er ein wenig schuldbewußt. »Wie gern würde ich dich bitten, mich zu begleiten. Aber es wäre nicht recht, dir gegenüber nicht und auch . . .«

»Wem sonst gegenüber?« fragte sie, da er schwieg und ihre Hände streichelte.

Ach, es hatte keinen Sinn, darum herumzureden. Flavia würde es verstehen. Sie war schließlich kein dummes junges Ding mehr. »Du weißt, daß ich verlobt bin. Gestern habe ich mit Gajus Proculejus vereinbart, daß ich seine Tochter heiraten werde.« Er fühlte sich unbehaglich, nun, da er es ausgesprochen hatte. Ihr Götter, laßt Flavia nur keinen Auftritt machen! Pilatus haßte so etwas.

Aber Flavia machte keinen Auftritt. Zwei Gedichtzeilen schossen ihr durch den Kopf; sie wußte nicht, von wem sie stammten, und es war auch gleichgültig. Wichtig waren nur die Worte: »Kein guter Wille kann aus Untreu’ Treue machen, und Tränen bringen niemals das zurück, was du verloren . . .«

»Und wann wirst du heiraten?« fragte sie heiser.

»Am dritten Tag nach den Kalenden des Juni«, erklärte er.

Ihre Kehle schmerzte. Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, den wütenden Schrei zurückzuhalten, der in ihr aufstieg. Statt dessen sagte sie bitter: »Einmal muß es ja sein, nicht wahr? Sie ist jung und gesund, die kleine Procula. Sie wird dir ein halbes Dutzend Söhne gebären. Und das ist doch so wichtig für euch Männer.«

»Ja, ich glaube schon.«

Sie lehnte sich zurück und entzog ihm ihre Finger. »Der Gedanke, daß ich dir diese Söhne gebären könnte, ist dir wohl nie gekommen?«

Er sah so verdutzt aus, daß sie begriff: er hatte wahrhaftig niemals an so etwas gedacht. Flavia lachte. »Starr mich nicht so an, es war ein Scherz. Wie du weißt, mag ich keine kleinen Kinder. Sie sind unappetitlich mit ihren tropfenden Nasen, dem sabbernden Mund und . . .«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach er sie erleichtert. »Vergiß nicht, daß wir nicht besser waren. Was nun meine Heirat betrifft . . .«

Sie sprang auf und hielt sich mit einer übertriebenen Gebärde die Ohren zu. »Davon will ich nichts hören! Oder habe ich dich jemals mit Geschichten über Lucius Imola gelangweilt? Was bedeutet schon eine Ehe? Die Acta diurna ist voll von Meldungen über Hochzeiten und über Scheidungen. Hast du etwa angenommen, ich würde mit einem Tränenstrom auf die Mitteilung deiner Vermählung reagieren? Wie geschmacklos!«

Nein, sie weinte nicht. Sie nahm den Schlag hin und ertrug ihn auf die einzige Art, die ihr möglich war: Sie redete sich ein, daß er nicht unwiderruflich wäre. Nichts auf dieser Welt war das – außer der Tod. Mochte Pilatus heiraten, und mochte er nach Judäa gehen! Er würde nicht ewig dort bleiben, und früher oder später würde er dieses Gänschens überdrüssig werden. Unschuld und Tugendhaftigkeit mochten vor der Hochzeit reizvoll sein; später erregten sie bei einem Mann wie Pilatus nur Langeweile. Dann würde er sich erinnern . . .

Flavia wandte sich um und legte die Arme um Pilatus’ Hals. »Wann, sagtest du, wirst du nach Judäa aufbrechen? Im Juni? Dann haben wir noch viel Zeit für uns.«

Er war ein wenig betrunken; nicht viel, aber doch genug, um nicht mehr ganz Herr seiner selbst zu sein. Als er Flavia so nahe bei sich spürte, erwachte seine Begierde. Außerdem fand er, daß er in ihrer Schuld stand. Wenn sie ihn beschimpft oder verspottet hätte, wäre sein Zorn geweckt worden. Das hätte es leicht gemacht, mit einer Verbeugung und ein paar kühlen Abschiedsworten fortzugehen. Doch nun . . .

»Wie recht du hast, meine Schöne«, murmelte er an ihrem Hals und atmete den Duft ihrer Haut ein. »Du und ich, wir können uns noch viele Freuden schenken. Ach, Flavia, Flavia, wie froh bin ich, daß du so vernünftig bist. Ich befürchtete schon, du würdest mir eine Szene machen.«

»Und was hätte das genützt?« Sie blickte aus ihren topasfarbenen Augen zu ihm hoch.

»Nichts«, gestand er ehrlich. »Aber es gefällt mir, daß du es so gefaßt hinnimmst, so vernünftig wie ein Mann sozusagen. Denn ist es nicht viel gescheiter, eine so einfache, natürliche Angelegenheit wie körperliches Verlangen nicht – wie das Frauen gewöhnlich zu tun pflegen – durch allerlei Gefühle zu komplizieren?«

»Aber ich bin eine Frau«, flüsterte sie und drängte ihren Schoß gegen seinen.

Pilatus lachte dunkel. »Und ob ich das weiß, meine schöne Flavia. Doch zugleich besitzt du den Geist und den Verstand eines Mannes.«

»Weil ich nichts durch Gefühle ›kompliziere‹?«

Er legte seine Hände auf ihre vollen Brüste und strich mit dem Daumen über die rosigen Warzen, die durch den dünnen Schleierstoff schimmerten. »Ganz recht. Für dich ist Begierde etwas so Selbstverständliches wie Hunger und Durst, und du scheust dich nicht, ihr nachzugeben. So offen tun das sonst nur Männer. Wir sind uns sehr ähnlich, du und ich, und das ist es, was uns so lange Zeit zusammengeschmiedet hat. Wir brauchen uns nicht voreinander zu verstellen.«

Halt den Mund, dachte sie und unterdrückte das Verlangen, ihm die Nägel ins Gesicht zu krallen, tief, tief hinein in das Fleisch, bis das Blut hervorquoll. Aber sie spürte, wie ihr Körper, dieser verräterische, elende Körper, seinen Liebkosungen nachgab. Als Pilatus ihr das Kleid von den Schultern streifte, half sie ihm mit fiebrigen Händen. Und als sein Mund ihre nackte Brust saugend umschloß, stöhnte sie laut auf.

Pilatus genoß trunken ihr Verlangen. Er hob Flavia auf seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie auf das Bett warf. Und dann war alles wieder, wie es immer zwischen ihnen gewesen war: ihr weißer, geschmeidiger Leib, der sich unter ihm wand, ihre raffinierten Liebkosungen, die seine Lust ins Unerträgliche steigerten. Keuchen, Stöhnen, gestammelte Worte: »Ja, ja, so ist es gut. Komm zu mir . . . Fester, wilder . . .« Und schließlich der Schrei der Erlösung, das Verströmen, das sie gemeinsam in einer roten, feurigen Woge emporriß, bis sie langsam verebbte und sie hinabtrug in das dunkle Tal wohliger, wunschloser Erschöpfung.

Pilatus schlief bald darauf ein. Er schlief den entspannten, zufriedenen Schlaf eines Mannes, der eine gute Mahlzeit und eine verführerische Frau genossen hat, und merkte nicht, daß Flavia wach lag und sich nach einer Weile aufrichtete, um sein Gesicht zu betrachten. Sie sah es lange an, als müsse sie es sich für alle Zeiten einprägen: die schwarzen zusammengewachsenen Augenbrauen, die gerade Nase und den für einen Mann vielleicht eine Spur zu weichen Mund. Seine Lippen waren sehr rot, und über der Stirn lichtete sich das Haar ein wenig. Er suchte es zu verbergen, indem er es nach vorn kämmte. Sein Körper war breit und etwas gedrungen, mit athletischen Muskeln. Er war sehr stark, ein guter Wagenlenker, ein schneller Reiter, und noch immer übte er sich jeden Tag im Schwertkampf und Bogenschießen.

Flavia grub die Zähne in die Unterlippe. Ich gebe dich nicht auf, dachte sie. Niemals. Heirate deine kleine törichte Jungfrau, aber ich werde dich trotzdem nicht aufgeben. Sie löschte die Lampe neben ihrem Bett und glitt zu ihm unter das Laken. Und dann erlaubte sie es sich endlich zu weinen.

 

Zwei Tage später wartete Pontius Pilatus in einem Vorsaal des kaiserlichen Palastes. Sejanus hatte ihn wissen lassen, daß der Princeps ihn noch heute zu sehen wünsche.

Der Präfekt der Prätorianergarde und Erste Minister war schon seit Stunden beim Kaiser. Die Götter mochten wissen, worüber sie, gemeinsam mit Coccejus Nerva, Curtius Atticus und Vescularius Flaccus, die Tiberius’ engste Vertraute waren, so lange berieten.

Pilatus war nervös und ging in dem langgestreckten Raum, in dessen Nischen griechische Götterstatuen standen, auf und ab. Vor einer blendend weißen Pallas Athene blieb er stehen. Ach, die Götter! Pilatus unterzog sich zwar den vorgeschriebenen traditionellen Riten, wie es jedermann tat, aber in letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer, die Götter wirklich zu lieben.

Sie waren neidisch, kleinlich, bestechlich, voller Rivalitäten und Rachsucht. Wie die Menschen frönten sie ihren Lastern, betrogen einander und trachteten danach, sich gegenseitig aus dem Feld zu schlagen. Und doch waren sie zugleich unmenschlich streng und grausam, unberechenbar und voller Willkür. Glücklich der, dem sie mit Wohlwollen begegneten. Aber wehe dem, den ihre Rache traf – manchmal aus gerechtem Zorn, oft aber auch aus Mißgunst oder einer bloßen Laune heraus.

Müßten, dachte Pilatus manchmal, müßten Götter nicht anders sein, sternenweit entfernt von menschlichem Gezänk und irdischer Niedertracht, müßten sie nicht gütig, milde sein – Wesen, vor deren allumfassender Liebe der Edelste sich noch klein und demütig fühlen würde. Früher, als Knabe und in seiner Jugendzeit, hatte Pilatus heimlich geglaubt, daß es über all den Gottheiten, die zu verehren man ihn lehrte, solche wahren, gnädigen Götter geben müsse. Doch dies waren Träume, Illusionen. Denn wenn diese Wesen tatsächlich existierten, wie konnten sie dann solche grausamen und rachsüchtigen Götter unter sich dulden. Und wie konnten sie es zulassen, daß auf Erden nicht das Gute, sondern das Gesetz des Stärkeren regierte.

Und so hatte der junge Pilatus seine Träume begraben und der Mann gelernt, daß man danach trachten mußte, klüger, geschickter, bedenkenloser zu sein als andere, wenn man es zu etwas bringen wollte. Man mußte sich den Gegebenheiten anpassen, notfalls, indem man die Wahrheit ein wenig zu seinem Vorteil korrigierte, und man mußte versuchen, soviel an Glück und Erfolg in dieses Leben hineinzupressen, wie es eben ging, denn danach kam nichts mehr. Der Tod war das große Schweigen, war Dunkelheit, Vergessen und Vergessenwerden.

Pilatus schrak aus seinen Gedanken auf, als der Vorhang an der Stirnseite des Vorsaals zurückgeschlagen wurde und Sejanus erschien. »Es geht alles so, wie wir es wünschen«, sagte er lächelnd. »Der Caesar will dich sehen, mein Freund. Er wird dir einige Fragen stellen; beantworte du sie nur frei und wahrheitsgemäß. Es ist schwer, Tiberius zu belügen. Er würde es merken und sogleich mißtrauisch werden.«

Sie durchschritten mehrere Säle, und dann stand Pilatus dem Kaiser gegenüber. Tiberius war in ein Gespräch mit Coccejus Nerva vertieft, wandte sich aber bei dem Eintritt der beiden Männer um. »Mein Kaiser, hier bringe ich dir den Tribunen der Ersten Prätorianerkohorte, Pontius Pilatus«, sagte Sejanus förmlich.

Pilatus grüßte militärisch »Ave, Caesar. Mögen die Götter dir Gesundheit und ein langes Leben schenken.«

Tiberius neigte den Kopf. Aus seinen steingrauen Augen musterte er den Mann vor sich aufmerksam. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob das, was er sah, ihm gefiel, denn er schob die Unterlippe vor. »Komm näher, Tribun. Noch näher. Ja, so ist es gut. Du entstammst dem Geschlecht der Pontii?«

»Ja, mein Kaiser.«

»Ist Gajus Petronius Pontius ein Verwandter von dir?«