Regen in meinem Herzen - Sontje Beermann - E-Book
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Sontje Beermann

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Beschreibung

Sie will ihr Herz schützen, er darum kämpfen.

Nach dem Tod ihres Verlobten glaubt Svea Lüdemann nicht mehr an Schicksal. Aber sie lebt ihren Traum und führt ein Café am Ostseestrand.
Als ihr jedoch Raik Bosse vors Motorrad läuft, der heimgekehrte Rebell der Stadt, wirbelt das alles durcheinander. Sein Interesse löst totgeglaubte Gefühle in ihr aus und sie kann sich nicht gegen seine freche, unverblümte Art wehren, mit der er sich in ihr Herz schleicht.

Doch dann holt sie die Vergangenheit ein und droht, alles zu zerstören.

Ein emotionaler Ostseeroman mit Happy End

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Meine Buchtipps
Die kleine Pension Dünenblick
Meeresrauschen im Herzen
Rockstars `n` Kisses – Uncover Me
Rockstars `n` Kisses – Realize Me
Rockstars `n` Kisses – Want Me

 

 

Regen in meinem Herzen

 

Von Sontje Beermann

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Sie will ihr Herz schützen, er darum kämpfen.

 

Nach dem Tod ihres Verlobten glaubt Svea Lüdemann nicht mehr an Schicksal. Aber sie lebt ihren Traum und führt ein Café am Ostseestrand.

Als ihr jedoch Raik Bosse vors Motorrad läuft, der heimgekehrte Rebell der Stadt, wirbelt das alles durcheinander. Sein Interesse löst totgeglaubte Gefühle in ihr aus und sie kann sich nicht gegen seine freche, unverblümte Art wehren, mit der er sich in ihr Herz schleicht.

Doch dann holt sie die Vergangenheit ein und droht, alles zu zerstören.

 

 

 

 

 

 

 

Über die Autorin:

Sontje Beermann lebt mit ihrer Familie im Herzen des Ruhrgebiets.

Sie schreibt Romane, die ans Herz und unter die Haut gehen. Weil sie an große Gefühle und die Chancen im Leben glaubt.

Ihre romantischen Geschichten mit Happy End sind stark, leidenschaftlich und emotional, gewürzt mit einer guten Portion Humor. Und auch ein gewisses Knistern darf natürlich nicht fehlen.

 

 

 

 

 

 

Regen in meinem Herzen

 

 

 

Von Sontje Beermann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

1. Auflage, 2022

© 2022 Sontje Beermann – alle Rechte vorbehalten.

Cover: Dream Design – Cover and Art, Renee Rott

Lektorat: Franziska Schenker

 

Sontje Beermann / Katie McLane

c/o easy-shop K. Mothes

Schloßstr. 20

06869 Coswig

 

[email protected]

https://katie-mclane.de/Weitere-Romane/Sontje-Beermann/

 

 

Playlist

»Flight without Feathers« – Architects

»Living on the Edge« – Lionville

»Beautiful Way« – You Me At Six

»Thunder in your Heart« – Lionville

»In And Out of Love« – Perfect Plan

»Adrenaline« – You Me At Six

»I Will Wait« – Lionville

»Dying is absolutely Safe« – Architects

»Into the Night« – Lionville

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

»Mist, ich habe noch was vergessen.«

Greg legt den Helm neben meinem auf dem Bruchstein ab und steht wieder auf. Geht die Schräge zum Standstreifen hinab und um das Motorrad herum.

Rechts und links der Brücke rauscht der Regen nach unten wie eine Wand.

Ich lehne mich an den Betonträger und beobachte ihn, wie er etwas aus dem Seitenkoffer holt.

Übergangslos ist das beklemmende Gefühl da, das Gewicht auf meiner Brust.

Ich will ihm eine Warnung zurufen, doch kein Ton kommt aus meinem Mund.

Ich will hinlaufen, ihn fortziehen, doch alle meine Glieder sind bleischwer.

Dann ist da dieses Licht, eine dunkle Masse, ein dumpfer Knall ...

 

Svea Lüdemann schoss im Bett hoch, rang nach Luft. Ihr Herz raste, ihr Körper war in schweißgebadet und zitterte.

Ein Traum, es war nur ein Traum.

Viel zu real. Wie immer.

Nicht daran denken. Einfach nicht daran denken!

Als der Albdruck endlich abflaute, atmete sie mehrmals tief durch und fiel in die Kissen zurück.

Erst jetzt wurde ihr klar, dass es draußen bereits dämmerte, und sie drehte den Kopf in Richtung des Fensters, es zeigte nach Osten. Der Himmel färbte sich in einem wunderschönen Lilarosa und sie schaute so lange hinaus, bis es die dunklen Erinnerungen vertrieb.

An Schlaf war nicht mehr zu denken, sehr schade, denn es war ihr freier Tag.

»Ach, was solls«, murmelte Svea und schlug die Decke zurück.

Sie machte ihr Bett, stieg die steile Mittelholmtreppe zum Wohnbereich hinunter und schaltete per Sprachsteuerung ihr Lieblingsonlineradio ein. Wie jeden Morgen blieb sie vor der Kommode neben dem Kamin stehen und schaute auf Gregs Foto.

Mit der Fingerspitze strich sie über seine Wange. »Heute schaffe ich es leider nicht, dich zu besuchen. Ich will nach Kühlungsborn, eine kleine Geburtstagstour, weißt du? Und abends gehe ich mit Juliane essen, in die Klützer Mühle. Kennst du das? Ach klar, bestimmt. Sie wollte nicht, dass ich allein bin.« Sie verdrehte die Augen und zwang sich zu einem Lachen. »Ist doch ein Tag wie jeder andere auch. Was macht es da schon, ob ich nun neunundzwanzig bin, wenn du ...«

Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Stimme ab, also drehte sie sich um und tappte in die kleine offene Küche, um den Wasserkocher einzuschalten. Die zwei Minuten nutzte sie für einen Toilettengang, dann goss sie sich einen Tee auf und machte sich ein Müsli mit Obst zum Frühstück. Nebenbei bereitete sie sich ein paar Sandwiches für das Lunchpaket zu und kochte eine Thermoskanne Tee.

Eine gute halbe Stunde später war Svea startklar, packte auch Buch, Decke und eine Flasche Wasser in den Koffer an ihrem Motorrad. Nach einem letzten Kontrollgang verriegelte sie ihr kleines Haus und verstaute den Schlüssel in der Innentasche der Motorradjacke, zog den Reißverschluss nach oben. Auch ihr Bike unterzog sie einer Sicherheitskontrolle, bevor sie den Helm aufsetzte, aufstieg und die Maschine anließ. Die BMW erwachte mit einem satten Brummen.

Das TFT-Display leuchtete auf, das Navigationssystem fuhr hoch und sie gab ihr Ziel ein. Schaltete auf die Musik von ihrem Smartphone um, das in der linken Seitentasche ihrer Jacke steckte. Zum Schluss schloss sie die letzte Lasche am Kragen, klappte das Visier runter und streifte die Handschuhe über.

Auf geht’s!

Langsam rollte sie die Einfahrt hinunter, überprüfte die Verkehrslage und wandte sich nach links. Es war fast halb neun, die berufstätigen Bewohner von Boltenhagen waren bereits unterwegs und die Touristen noch nicht. Entsprechend ruhig war es bis zur Ostseeallee und im Ortskern selbst blockierten nur einige Lieferwagen den Verkehr, die wie immer halb auf der Straße parkten.

Svea umrundete sie vorsichtig, überholte ein paar Fahrradfahrer und folgte der Straße nach Tarnewitz. Nur ein paar flauschige weiße Wolken zierten den blauen Himmel, die Sonnenstrahlen hatten freie Bahn auf die blühenden Bäume an den Straßenrändern und auf den Grundstücken. Oh, wie sie es liebte, wenn der Frühling in den Frühsommer überging.

Ein paar Meter hinter der Ostseeklinik staute sich der Verkehr und als sie sich aufrichtete, erkannte sie weiter vorne das Blaulicht. Doch von einem Unfall ließ sie sich nicht die Laune vermiesen. Kurzerhand bog sie nach rechts in die Tarnewitzer Chaussee ab, die am Ende wieder in Richtung der Umgehungsstraße führte.

Gregs Eltern wohnten dort irgendwo, in dem alten Ortsteil von Tarnewitz, und sie erinnerte sich unwillkürlich an den Tag, als er sie ihnen vorgestellt hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre Gesichter, aber an die Kälte und Arroganz, die seine Eltern ihr entgegengebracht hatten. Genauso wie ihrem Sohn.

Svea blinzelte, um die Erinnerungen abzuschütteln und nach links abzubiegen.

Und im nächsten Moment war da dieser Jogger, der ihr direkt vor die Maschine lief.

Eiskalter Schreck durchfuhr sie, doch ihr Körper reagierte bereits. Ihr linker Daumen zuckte zur Hupe, während sie eine Vollbremsung hinlegte und nur Zentimeter vor den kräftigen, leicht behaarten Beinen zum Stehen kam.

Wütend stellte sie die Füße auf den Asphalt und schob das Visier hoch. »Geht’s noch, du Arschloch? Wie wäre es mal mit Gucken?«

Seine Augenbrauen wanderten auf dem markanten Stirnbein fast bis zum Ansatz seines verschwitzten hellbraunen Haars, das in der Sonne kupferfarben glänzte. Die Lippen in dem gepflegten Vollbart verzogen sich zu einem arroganten Grinsen, während der Jogger die Kopfhörer abnahm und sie sich um den Hals hängte.

»Komm mal wieder runter, Süße! Ist doch nichts passiert, oder? Ich -«

Sein Blick traf ihren, er verstummte und neigte den Kopf leicht zur Seite.

Seine übertrieben coole Art reizte sie bis zur inneren Explosion und nun klopfte ihr das Herz erst recht bis zum Hals. »Nichts passiert? Aber nur, weil ich langsam gefahren bin und schnell genug reagieren konnte. Du kannst doch nicht einfach auf die Straße laufen, ohne dich umzuschauen.«

Er blinzelte mehrmals, seine Mundwinkel sanken herab. »Jetzt mach mal halblang. Hättest du aufgepasst, hättest du mich wohl schon eher gesehen und bremsen können. Oder?«

Sie hörte die Herausforderung in seiner Stimme, ignorierte sie aber. Stattdessen schnaubte sie. »Achte einfach das nächste Mal besser auf deine Umgebung!«

Svea klappte das Visier runter, drehte den Lenker ein wenig nach links und fuhr etwas zu schwungvoll los. Zum Glück behielt sie die Maschine im Griff und sah zu, das sie fortkam.

Nur, um kurz vor der Umgehungsstraße erneut anzuhalten, damit sie sich beruhigen konnte. Sie setzte sich auf, schob ihre zitternden Hände unter die Achseln und legte den Kopf in den Nacken.

Verdammte Scheiße, das hätte echt schief gehen können.

Wie konnte das passieren, ausgerechnet ihr? Sie hatte doch jeden Grund, übervorsichtig zu sein?

Als Herz und Atem wieder auf Normalniveau gesunken waren, seufzte sie auf und ließ die Hände auf den Tank sinken.

»Scheiß Erinnerungen«, murmelte sie schließlich und umfasste die Griffe des Lenkers. Die musste sie dringend besser im Zaum halten. Und sich öfter ablenken.

Genau deshalb machte sie doch diesen Ausflug, oder? Um ihr Leben mit neuen Erlebnissen zu füllen.

»Genau.«

Also legte sie den ersten Gang ein und fuhr nach Kühlungsborn, um genau das zu tun.

 

*

 

Himmel, was für Augen!

Selbst als diese kratzbürstige Bikerin längst außer Sicht war, starrte Raik Bosse ihr nach. Vollkommen gefesselt, mitten auf der Straße.

So groß, so klar, blaugrau.

Natürlich war ihm keineswegs entgangen, wie scharf sie in Lederhose und silbergrauer Motorradjacke ausgesehen hatte. Oder der lange geflochtene Zopf aus schwarzem Haar auf ihrem Rücken.

Doch ihre Augen ... hatten irgendetwas in ihm berührt. Keine Ahnung, was.

Natürlich hatte er die Wut darin gesehen, und noch etwas dahinter, aber ...

Hinter ihm näherte sich ein Motorengeräusch, also überquerte er endlich die Straße. Setzte die Kopfhörer wieder auf und joggte weiter.

Er bemühte sich, diese Begegnung zu vergessen, doch beim Stretching vor dem Haus seiner Eltern schoss ihm die Erkenntnis durch den Kopf.

Traurigkeit.

Genau, das hatte er in ihren Augen erkannt. Aber warum?

Ach, scheiße, seit wann kümmerte er sich um die Befindlichkeiten irgendwelcher Weiber?

Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch und schaltete die Musik aus. Lief ums Haus herum und betrat die Küche durch die unverschlossene Terrassentür. Alles blitzte vor Sauberkeit und es war still, welch eine Wohltat.

Schlüssel, Handy und Kopfhörer landeten auf der Arbeitsfläche, er schaltete das Monstrum von Kaffeevollautomaten ein. In der Zwischenzeit suchte er Eier, Speck und Toast zusammen, stellte eine Pfanne auf den Herd.

Kurz bevor er mit allem fertig war, klappte die Tür hinter ihm.

»Raik.« Seine Mutter legte eine gute Portion Tadel in das eine Wort, warum auch immer, und er verdrehte die Augen.

»Morgen.«

»Warum warst du nicht beim Frühstück?«

»Ich war joggen.«

»Du weißt, wie wichtig deinem Vater und mir das gemeinsame Frühstück ist, bevor alle aufbrechen.« Sie holte sich eine Tasse und ging zum Vollautomaten, wählte einen doppelten Espresso.

Er warf ihr einen Blick zu und verzog den Mund. Paulina Bosse, die ungekrönte Königin der Kurpromenade. Wie immer perfekt in Stoffhose sowie Bluse gekleidet und mit makelloser Frisur, einem bombenfesten, blondierten Bob.

Er war erst eine Woche wieder zu Hause und es ging ihm bereits verdammt auf den Nerven.

»Also?«

»Was, also?« Raik stellte den Herd aus, nahm die Toastscheiben aus dem Toaster und legte sie auf einen Teller, dann stapelte er krossen Speck und Spiegeleier darauf.

»Ich warte auf deine Entschuldigung.« Sie lehnte sich an die Arbeitsfläche und nippte an ihrem Kaffee.

Es war ihm zu blöd, darauf zu antworten, damit hatte er schon als Student aufgehört. Stattdessen holte er sich eine Tasse und stellte sie unter den Auslauf, drehte das Wählrad auf »Café Creme« und startete.

»Nun, deine Manieren haben sich in den letzten sechs Jahren kein bisschen gebessert.«

»Ich habe inzwischen einen anderen Tagesrhythmus, tut mir leid.«

»Du könntest dir wenigstens ein bisschen Mühe geben, wenn wir dich schon hier wohnen lassen.«

Er biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. Nahm Kaffee, Teller sowie Besteck und setzte sich an den Tisch. »Du hättest Nein sagen können, als ich gefragt habe. Niemand zwingt euch dazu, mich zu beherbergen.«

»Das ist Unsinn und das weißt du auch. Ihr vier seid hier immer willkommen, aber ihr kennt die Regeln.«

Ja, und die galten noch immer nur für ihn. Seine drei Geschwister konnten sich seit jeher alles erlauben.

Seine Mutter räumte ihre Tasse in die Spülmaschine. »Was hast du heute vor? Suchst du dir endlich einen Job?«

»Mal sehen.« Er konzentrierte sich auf sein Frühstück.

»Du kannst dich nicht ewig treiben lassen und von deinen Ersparnissen leben.«

»Danke, dass du dich um meine finanzielle Lage sorgst, aber das ist vollkommen überflüssig.«

»Ich wollte nur –«

»Ja, Mama, ich weiß, was du wolltest. Lass es einfach, okay?«

Sie presste die Lippen zusammen, hob das Kinn und stolzierte ohne ein weiteres Wort hinaus. Das Klackern ihrer Pumps verstummte im Wohnzimmer.

Raik stieß die Luft aus, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem Essen. Sie hatten keine Ahnung von seinem Leben oder wie er es bisher gelebt hatte. Sie hatten ihn kein einziges Mal danach gefragt, auch nicht in den vergangenen Tagen. Aber Hauptsache, sie versuchten, ihm ihren Stempel aufzudrücken.

Genau deswegen war er damals abgehauen.

Und es war Zeit, es bald wieder zu tun.

Wenn er nur gewusst hätte, wohin.

 

*

 

»Danke, Bruderherz, ohne dich wäre ich aufgeschmissen gewesen.«

Sophie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und Raik grinste.

»Für dich immer, weißt du doch.«

Sie stieg aus, warf die Tür zu und winkte zum Abschied.

Zwei Sekunden sah er ihr nach, dann legte er den Gang ein und fuhr zurück.

Er liebte seine drei Jahre jüngere Schwester abgöttisch, würde alles für sie tun. So wie heute früh, als sie ihn um sieben Uhr aus dem Bett geschmissen hatte, weil ihr Wagen nicht ansprang. Also stieg er schnellstmöglich in seine Klamotten und fuhr sie zur Uni nach Wismar, schließlich schrieb sie gerade die letzten Prüfungen zu ihrem Master in Vertrieb und Marketing.

Mit ihr lag er komplett auf einer Wellenlänge, danach kam sein älterer Bruder Gerit. Der hatte ihn gleich an seinem zweiten Tag in der Heimat eingeladen, ihn in dem Autohaus zu besuchen, das er leitete. Damit sie sich mal ungestört unterhalten konnten. Bisher verspürte Raik jedoch keine Lust dazu, das Leben seines Bruders wirkte einfach zu perfekt, mit Frau, erstem Kind und eigenem Haus.

Mit Oskar, seinem jüngeren Bruder, erging es ihm hingegen komplett gegensätzlich. Ihr Verhältnis war nie das beste, obwohl sie nur zwei Jahre trennten. Vielleicht, weil Oskar derjenige war, der nach ihrem Vater kam und alle seine Erwartungen erfüllte. Super Studienabschluss, Erfahrungen in diversen Ländern sowie Hotels und vor zwei Jahren hatte er die Leitung des nächstgelegenen Superior Hotels übernommen. Die Vorbereitung, um später mal in das Hotel der Familie einzusteigen.

Zu allem Überfluss stand im Juni Oskars Hochzeit mit Vanessa an, mit der er seit dem Studium zusammen war, doch Raik hatte keine Ahnung, ob er dann noch hier sein würde.

Zurück in Boltenhagen parkte er seinen Wagen auf dem Platz hinter dem Kurhaus, blieb aber erst einmal sitzen, den Blick nach innen gerichtet.

Was, zur Hölle, tat er eigentlich hier?

Ja, es war diese Unruhe, die ihn nach Hause getrieben hatte. Die irrwitzige Annahme, er könnte hier Antworten auf die offenen Fragen finden, die sich seit geraumer Zeit in seinem Kopf und seiner Brust türmten.

Aber Raik verstand null, warum es sie überhaupt gab oder woher sie kamen.

Die letzten sechs Jahre waren verdammt cool gewesen. Er eignete sich jede Menge Wissen sowie Praxis an und verdiente einen Haufen Kohle. Entwickelte sich weiter, lernte die schönen Seiten des Lebens kennen. Oh ja, ganz besonders das. Auch wenn er da nur reingeschlittert war. Aber wer war schon so blöd und schlug die Einladungen zu Partys aus, den Champagner, die Frauen?

All das hatte er sehr genossen, tat es noch immer. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass es im Leben mehr für ihn gab. Nur wo? Und wie?

Mit einem Seufzen zog er den Schlüssel ab und angelte zwischen den Vordersitzen hindurch die Messenger-Bag mit seinem Laptop von der Rückbank. Stieg aus und verriegelte den Wagen. Er wollte sich ein wenig die Beine vertreten und herausfinden, wie sehr sich seine Heimatstadt verändert hatte. Später würde er es sich dann in einem Café gemütlich machen und ein wenig durchs Netz surfen, vielleicht ereilte ihn ja ein Geistesblitz in Sachen Zukunftsplanung.

Er lief bis zur Ostseeallee, wechselte die Straßenseite und schlenderte aus dem Ortskern hinaus. Sein Blick schweifte von Schaufenster zu Schaufenster, dann auf die andere Straßenseite und blieb an einem Motorrad hängen. Er stutzte und blieb stehen, das war doch ...

Raik erkannte die Maschine sofort, die mineralweiße Metalliclackierung mit den dunkelblauen Handlinierungen an Tank, Seitenteilen und Koffern. Der passende weiße Helm lag auf dem Sitz, also würde sie bald wiederkommen.

Wie aufs Stichwort tauchte die Kratzbürste auf dem Gehsteig auf und trat neben die Maschine. Das lange gewellte Haar floss blauschwarz über ihre Schultern und den Rücken, der Pony reichte ihr bis zu den faszinierenden Augen. Mehr konnte er auf die Schnelle nicht erkennen, denn sie beugte sich zum Seitenkoffer, öffnete ihn und verstaute einen gut verpackten Blumenstrauß darin. Mit dem Rücken zu ihm schlang sie ein Gummi um ihr Haar, setzte den Helm auf und nahm auf der Maschine Platz. Kurz darauf steuerte sie die BMW aus der Parklücke, wendete und fädelte sich in den Verkehr ein, fuhr in gemächlichem Tempo davon. Und wieder stand er nur da und sah ihr nach.

Wer war sie?

Und warum, zum Teufel, interessierte ihn das überhaupt?

Egal, ich muss es wissen.

Gehetzt schaute er sich um, lief über die Straße und zum Blumenladen. Vielleicht konnte man ihm dort sagen, wer sie war, normalerweise kannte im Ort jeder jeden.

Raik streckte die Hand nach dem Griff aus, doch in dem Moment wurde die Tür von innen geöffnet und seine Gedanken von der Blondine abgelenkt, die direkt vor ihm stehenblieb und ihn anlächelte.

»Sieh mal einer an, Raik Bosse ist wieder in der Stadt.«

»Angelika, hi.« Er grinste und musterte seine ehemalige Mitschülerin von unten bis oben. Sie war noch immer so sexy wie vor fünfzehn Jahren, als sie ihre ersten Erfahrungen miteinander gemacht hatten. »Du siehst toll aus, wie geht es dir?«

Sie klimperte mit den Wimpern und strich über seinen Oberarm. »Oh, vielen Dank, es geht mir bestens. Und dir?«

»Kann nicht klagen.«

»Besuch mich doch morgen Abend mal beim Belgier, wir könnten uns über alte Zeiten ... unterhalten.«

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, Angelika und ihren Angeboten fehlte seit jeher jegliche Subtilität.

»Ja, ich denke, das könnte ich tatsächlich mal tun.«

 

Kapitel 2

»So, da bin ich.«

Svea tätschelte den Grabstein und ging daneben in die Hocke, las seinen Namen und lächelte tapfer. Während sie Greg von ihrem Ausflug nach Kühlungsborn erzählte, packte sie die Blumen aus, die sie in Sandras Blumenparadies gekauft hatte. Den Strauß vom letzten Montag nahm sie aus der Vase, kippte den Rest Wasser auf die Wiese und spülte sie mit dem Brauchwasser aus, das sie extra mitgebracht hatte. Dann drückte sie die Friedhofsvase wieder in den Rasen vor dem Stein, füllte sie mit Wasser und stellte die bunten Tulpen hinein.

»Sind sie nicht wunderschön? Sie haben mich im Laden regelrecht angestrahlt.«

Sie packte die verwelkten Chrysanthemen von letzter Woche in das Papier aus dem Blumenladen, legte das Bündel neben den Stein und setzte sich ins Gras. Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen betrachtete sie die fast schon heuchlerische Inschrift, »Gregor Sühle – Geliebter Sohn.«

Von wegen! So, wie die Herrschaften Sühle Greg behandelt hatten, bezweifelte Svea, dass sie ihn von Herzen geliebt hatten. Seitdem sie in Boltenhagen lebte, hatte sie nie einen Hinweis darauf bemerkt, dass die beiden das Grab ihres jüngeren Sohnes besuchten. Darüber hinaus hatten sie Svea weder respektiert noch akzeptiert, nirgends durfte auftauchen, dass sie verlobt gewesen waren. Und auf der Beerdigung ...

Tränen stiegen ihr in die Augen, ihr Blick verschwamm. Auch nach so vielen Jahren tat es noch weh. Mit einem verschämten Lachen wischte Svea die Feuchtigkeit fort. »Tut mir leid, ich weiß, ich soll nicht weinen. Aber ich kann nicht anders, du fehlst mir so sehr. Nicht nur zu Hause, besonders im Café. An jeder Ecke. Ich weiß, du bist bei mir. Manchmal kann ich dich spüren, aber ...«

Sie seufzte, drehte den Kopf und schaute zu der Schule hinüber, die ein paar Meter weiter hinter der Friedhofshecke aufragte. Die Kinder schienen Pause zu haben, sie hörte Gelächter, Rufe und Stimmengewirr. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass die kleine Party zum fünfjährigen Bestehen ein voller Erfolg war, oder? Sogar der neue Bürgermeister und die Gemeindevertreter sind gekommen. Eine davon, Frau Markwart, organisiert unter anderem den Markt an Pfingsten und das Brückenfest Anfang August. Sie hat mich eingeladen, an beiden Veranstaltungen mit einem eigenen Kuchenstand teilzunehmen. Genial, oder? Endlich nimmt man das Café und mich wahr, ich bin so froh, dass inzwischen andere Menschen im Gemeinderat sitzen, die alte Besetzung war sehr eingefahren und ziemlich untätig. Natürlich habe ich sofort zugesagt. Jetzt muss ich nur noch planen, was ich anbieten will, wie viel, und wann ich mit den Vorbereitungen anfangen muss. Ach ja, und Einkaufslisten schreiben, natürlich.«

Wieder schaute sie den Stein an, las seinen Namen. »Hast du Lust, dir mal ein paar Marketingideen für diesen Sommer auszudenken? Irgendwie fehlt mir gerade die Kreativität dazu, ich bin abends einfach zu müde. Vermutlich werde ich eine weitre Aushilfe einstellen, damit ich mich nicht zwischen Backstube und Gästen zerreißen muss. Oder was meinst du dazu?«

Svea horchte in die Welt und ihr Inneres hinein, spürte positive Schwingungen. »Okay, dann machen wir es so. Morgen früh erstelle ich einen Aushang und frage später Sarah, ob sie vielleicht jemanden kennt, der uns unterstützen kann.«

Schließlich warf sie einen Blick auf die Uhr. »Schade, aber ich muss los. Tut mir leid.« Sie stand auf und klopfte sich den Hintern ab, bückte sich nach dem Blumenbündel sowie der leeren Plastikflasche und legte die Hand auf den Stein. Mit geschlossenen Augen hielt sie inne und spürte die Wärme an der Oberfläche, darunter lauerte die Kälte.

So wie in der Realität.

Sie atmete tief durch und nahm die Hand fort. »Bis dann.« Dann verließ sie den alten Friedhof in Klütz.

Zu Hause zog sie sich um und fuhr mit dem gebrauchten VW Caddy zu ihrem Café. Stellte ihn auf dem dazugehörigen Parkplatz ab und schaute schräg über die Straße zur Strandoase. Das Hostel wurde von ihrer bisher einzigen richtigen Freundin hier betrieben, Juliane Kroll. Und wie jeden Mittwoch würde sie nach Feierabend zu Svea rüberkommen, zu ihrem Mädelsabend. Eine Gewohnheit, die sich schnell bei ihnen eingestellt hatte und die sie nie mehr missen wollte.

Svea ging zum Café Ostseeglück hinüber, dessen Anblick sie immer wieder mit Stolz erfüllte. Das rotgeklinkerte Gebäude mit windgeschützter Terrasse war nach der Wende entstanden und hatte einen alten Kiosk ersetzt, so viel sie wusste. Es lag zwischen Straße und Düne, direkt an einer Treppe zum Dünenkamm, auf dem ein weiterer Fuß- und Radweg verlief, genau zwischen den Strandaufgängen 1 und 2. Vor der Tür konnte man das Meer nur riechen, von der kleinen Galerie im Café aus sogar wunderbar sehen.

Vor ihrer Unterzeichnung des zehnjährigen Pachtvertrages mit der Gemeinde hatte das ehemalige Restaurant fast ein Jahr leer gestanden. Und als sie die Anzeige entdeckt hatte, nur wenige Monate nach Gregs Tod, war es ihr wie ein Zeichen erschienen. Sie hatten so viel Zeit dort verbracht und Zukunftspläne geschmiedet, das konnte nur ein Wink des Schicksals sein. Oder ein Zeichen von Greg.

Sie musste lächeln, dieser Gedanke tat ihr jedes Mal gut, auch nach all den Jahren.

»Moin, Svea.«

Der Ruf ließ sie zusammenzucken und zum Dünenweg schauen. Ein Mitarbeiter der kommunalen Reinigungsfirma stand neben der Treppe oben auf dem Deichkamm und rauchte eine Zigarette.

»Moin, Theo«, grüßte sie mit erhobener Hand zurück, als sie ihn erkannte, dann ging sie zur Personaltür und schloss sie auf.

Nach Betreten des Ostseeglück folgten immer die gleichen Abläufe. Svea brachte Jacke und Handtasche in das Mini-Büro hinter der Küche, warf einen Blick ins Lager, den kleinen Umkleideraum mit Personaltoilette und drehte eine Runde durch die Küche. Als sie in den Gastraum lief, um das Gleiche zu tun, öffnete sich die hintere Tür.

»Guten Morgen, Svea«, rief Juana und strahlte sie wie jeden Morgen an. Die immer gutgelaunte Mutter von drei Kindern fungierte in erster Linie als ihre Reinigungskraft, unterstützte sie aber auch vormittags im Café. Ihr Mann Thorsten war früher zur See gefahren und sie hatten sich in Tampico, Juanas mexikanischer Heimat, kennen- und liebengelernt, als sein Schiff dort mehr als eine Woche festgehangen hatte. Der Rest war eine große, abenteuerliche Liebesgeschichte, von der Juana immer wieder gerne erzählte. Thorsten arbeitete inzwischen im Wismarer Holzhafen und zusammen verdienten sie bestimmt nicht die Welt, aber sie waren glücklich, hier ein Zuhause gefunden zu haben.

»Juana, guten Morgen. Alles gut bei dir?«

»Aber natürlich, alles bueno.« Sie lief nach hinten durch.

Himmel, manchmal war sie neidisch darauf, wie unbeschwert Juana durchs Leben ging.

Mit einem Seufzen trat Svea hinter den Tresen und schaltete das Radio ein, dann fuhr sie mit ihrer Routine fort. Gastraum kontrollieren, Deko richten, Bestandsaufnahme der Getränke und der Kühltheke machen. Viel Kuchen und Snacks waren vom Vortag nicht mehr übrig, also musste sie sich ranhalten. Und morgen würde sie früher anfangen, um die Cookie-Vorräte in den großen Gläsern aufzufüllen.

Auf dem Weg in die Küche überlegte sie, was sie backen wollte, und schaute nach, ob Lager und Kühlschrank die Zutaten dafür hergaben. Nahm alles Benötigte heraus und legte es auf den großen Edelstahltisch in der Mitte des Raumes. Zuletzt streifte sie sich die Latzschürze über, band sie zusammen und legte los.

Wie immer bereitete sie als Erstes ein paar herzhafte Snacks für das Mittagsgeschäft vor, danach kamen Franzbrötchen und drei Sorten Muffins.

Um zwölf öffnete Juana das Café, stellte die Infotafel vorne an den Dünenweg und kümmerte sich um den Verkauf, bis Svea auch mit den Kuchen fertig war. Sobald alle in der Kühltheke standen, ging sie hinaus und schrieb das heutige Angebot auf die große Tafel: Rhabarber-Streusel-, Butter-, Käsekuchen und ihre Spezialität, Apfel-Walnuss-Kuchen.

Der Tag verging wie im Flug. Aufgrund des schönen Wetters waren viele Touristen unterwegs, und die genossen ihre Bestellungen auf der Terrasse. Nachmittags kamen oft ein paar Studenten vorbei, um zusammen zu lernen, zu arbeiten oder einfach nur Kaffee zu trinken und zu quatschen. Viele von ihnen kannte sie bereits näher und manchmal fühlte sie sich noch immer wie eine von ihnen. Besonders, wenn sie um einen Buchtipp baten oder einen Rat in Sachen Liebe. Dann fühlte sie sich wie eine gute Freundin oder große Schwester, und das tat verdammt gut.

Ab sechs Uhr wurde der Kundenstrom dünner, ab sieben leerte sich der Gastraum so langsam. Da sie das Café um acht Uhr schloss und Juliane in einer guten halben Stunde hier aufschlagen würde, fing sie mit dem Aufräumen an, schreib eine Liste für den nächsten Tag. Dabei lauschte sie der Radiomusik und summte vor sich hin. Am Ende inspizierte sie die Kühltheke und musste schmunzeln, es war nur noch ein Stück vom Käsekuchen da.

Svea schoss ein hübsches Foto davon und schickte es per Nachricht an Erik, den Besitzer des Tattoostudios Baltic Ink, dessen Laden direkt hinter dem Fachwerkgebäude des Hostels stand. Natürlich mit Hintergedanken.

Kurz darauf vibrierte ihr Handy und sie entdeckte als Erstes das breit grinsende Emoji zu Beginn seiner Nachricht.

 

Erik: Bin kurz vor acht bei dir.

 

Svea: Zum Mitnehmen oder Hier-Essen?

 

Erik: Wenn ich bis nach Ladenschluss bleiben darf ...

 

Svea: Kein Problem.

 

Sie schob das Smartphone in die Gesäßtasche ihrer Jeans und grinste. Juliane würde garantiert nichts dagegen haben.

Das Stück wanderte auf einen Teller und zurück in die Vitrine, anschließend brachte sie die Glasplatte sowie ein Tablett voller Geschirr in die Küche und sortierte alles in die Spülmaschine.

Wieder im Gastraum baten auch die letzten beiden Tische um die Rechnung. Lächelnd bedankte sie sich für Besuch und Trinkgeld, schloss die Geldbörse und ging zurück Richtung Tresen, als Juliane durch die offenstehende Eingangstür herein wirbelte.

Ja, ihre Freundin war definitiv der reinste Wirbelwind, ihr zierlicher Körper mit den sanften Kurven strotzte vor Energie. Passend dazu trug sie ihr braunes, mit helleren Strähnchen durchsetztes Haar in einer wuscheligen Kurzhaarfrisur und ihre braunen Augen strahlten fast jeden Tag.

Mit ausgebreiteten Armen eilte sie Svea entgegen und drückte sie an sich. »Hallo, Süße. Wie war dein Tag?«

Svea erwiderte die Umarmung und atmete ihren warmen, blumigen Duft ein. »Es war gut zu tun. Und bei dir?«

»Danke, kein Grund zur Klage. Meine aktuellen Gäste sind sogar in Shopping-Laune und ich werde in den nächsten Tagen wohl neue Seife sieden müssen.«

»Sie wissen gute Qualität eben zu schätzen.« Sie ließ ihre Freundin los und ging um den Tresen herum, während Juliane Mantel und Handtasche über den ersten der vier Hocker vor dem Tresen legte und sich auf dem zweiten niederließ.

Kommentarlos goss Svea ihr ein Glas Weißwein ein und stellte es vor ihr ab. Dabei kam sie nicht umhin, Julianes wie immer elegante Aufmachung zu mustern, die für eine »Herbergsmutter« eher ungewöhnlich war. Heute trug sie eine weiße Tunikabluse mit Dreiviertelärmeln und V-Ausschnitt, der ihr hübsches Dekolletee betonte. Natürlich hatte sie auch ein Set ihres selbst hergestellten Schmucks angelegt, eine Komposition aus Silber und perlmuttfarbenen Muscheln.

Juliana hob die Brauen. »Trinkst du keinen Wein?«

»Nein, ich muss noch Autofahren.«

»Ach, komm schon, nur ein kleines Glas.«

»Na gut, dann eine Schorle.«

Die war gerade fertig, als sich die letzten Gäste verabschiedeten, also lief Svea mit dem Tablett los, um die Tische abzuräumen und für den nächsten Tag zu säubern. Das Geschirr wanderte direkt in die Spülmaschine, sodass sie das Programm starten konnte.

»So, das war’s erstmal.« Svea seufzte und hielt ihrer Freundin das Glas zum Anstoßen hin, trank anschließend einen Schluck.

In dem Moment verdunkelte sich der Eingang und Svea schaute hinüber.

»`n Abend, die Damen!«, rief Erik. »Bin ich zu spät?«

Trotz seiner Größe bewegte der Tätowierer sich verdammt geschmeidig, was möglicherweise daran lag, dass er in seiner Freizeit boxte. Schwarze Jeans, Shirt und Lederjacke schmiegten sich an seinen sichtbar trainierten Körper und sie war davon überzeugt, dass er mehr Tattoos hatte, als man an seinen Armen sehen konnte. Am linken Handgelenk und im rechten Ohr trug er Edelstahlschmuck, sein dunkelblondes Haar war an den Seiten rasiert und oben länger. Dazu ließ er einen schmalen Vollbart stehen.

Julianes Augen weiteten sich, und sie sah erst ihn, dann Svea an. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Zu spät?«

»Nein, perfektes Timing, wie immer.« Svea holte den Teller mit dem Käsekuchen aus der Kühlung und stellte ihn vor dem dritten Hocker auf den Tresen. So musste er sich direkt neben ihrer Freundin niederlassen.

Die straffte automatisch die Schultern und drückte die Brust raus.

»Darf ich?« Erik blieb hinter dem Hocker stehen und lächelte sie von den strahlend blauen Augen bis zum leicht kantigen Mund mit der vollen Unterlippe an.

»Was für eine blöde Frage.« Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Oberarm.

Also nahm er Platz und schnupperte mit geschlossenen Augen an dem Kuchen.

»Möchtest du auch einen Kaffee dazu?«

»Sehr gerne, wenn die Maschine noch an ist.«

»Ich habe nur auf dich gewartet.«

»Du bist die Beste.«

Sie warf Juliane einen unauffälligen Blick zu und konnte sehen, wie die ihn anschmachtete.

»Gott, Svea, der Käsekuchen ist ein Traum.« Erik stieß ein fast schon lustvolles Seufzen aus, das vom Mahlwerk der Kaffeemaschine halb übertönt wurde.

»Das hört man doch gerne.«

»Nein, echt, dafür kannst du mich mitten in der Nacht anrufen.«

Sie lachte auf und stellte die Untertasse bereit, dann die volle Tasse darauf und alles neben seinen Teller.

»Danke.«

»Gerne.«

Sie schaute Juliane an, hob die Brauen und deutete mit dem Kinn in Eriks Richtung, der sich den Käsekuchen auf der Zunge zergehen ließ.

Juliane verzog nur verzweifelt das Gesicht und zuckte mit den Schultern. In seiner Nähe verging ihr jegliche Coolness, die sie sonst an den Tag legte.

»Störe ich bei eurem Mädelsabend?« Erik schaute erst Svea dann Juliane an, griff nach seiner Tasse.

»Nein, wieso solltest du?«, erwiderte sie einen Tick zu schnell.

»Weil ihr so ruhig seid.«

»Ach, der Tag war ziemlich anstrengend.« Svea nahm einen Lappen und fing an, die Kaffeemaschine zu säubern.

Juliane nahm die Vorlage auf. »Ja, und wie. Fast alle meine Seifen sind weg.«

»Hast du noch eine oder zwei mit dem Kaffeemehl?« Erik bohrte seine Gabel ins letzte Stück Kuchen, wartete aber erst auf eine Antwort.

Ihre Freundin runzelte die Stirn. »Hm, ich denke schon. Warum?«

»Dann leg sie mir bitte zur Seite, ich brauche bald Nachschub.«

»Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du mal eine bei mir gekauft hast.« Svea hörte die Überraschung in ihrer Stimme.

»Meine Schwester hat sie mir zu Weihnachten geschenkt.« Er aß den Käsekuchen und trank den Kaffee aus.

»Okay, ich schaue morgen nach und gebe dir Bescheid.«

»Alles klar, danke.« Er lächelte sie an, zog seine Brieftasche hervor und nahm Geld heraus. Dann legte er einen Zehner auf die Theke, stand auf und schob die Geldbörse zurück in seine Gesäßtasche.

»Schönen Abend, euch beiden.«

»Dir auch, Erik.« Svea startete die Spülung des Milchsystems und folgte ihm zur Tür, um sie abzuschließen.

Sie hörte, wie Juliane die Stirn mehrmals auf das Holz des Tresens knallte.

»Scheiße, ich bin so dämlich, oder?«

»Entweder das oder extrem schüchtern.« Svea brachte das gebrauchte Geschirr in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine aus und wischte noch einmal alles ab. Dann wanderte der Zehner in die Kasse und sie zog sich die Schürze aus, stellte ihre Weinschorle auf die Theke und setzte sich neben ihre Freundin.

»Okay, reden wir von was anderem, das ist schon peinlich genug.«

»Und über was?« Svea trank einen Schluck.

»Du hast mir doch am Montag davon erzählt, dass du beinahe diesen Jogger überfahren hättest.«

Sie nickte, ihr Magen verkrampfte sich.

Julianes Gesichtsausdruck wurde weich, genauso wie ihre Stimme. »Wie geht es dir damit?«

»Ich fühle mich unwohl, es hat viele Erinnerungen wieder aktiviert.«

»Vielleicht solltest du ein paar Therapiesitzungen machen. Ich glaube, du musst mal wieder mit jemandem über dein Trauma reden.«

»Das kann ich mir gerade kaum leisten, weder zeitlich noch finanziell.«

»Scheiß Privatversicherung.« Sie verzog das Gesicht. »Wenn ich dir helfen kann ...«

Svea schüttelte den Kopf und lächelte tapfer. »Nein, danke. Das wird schon wieder.«

Juliane seufzte und strich ihr über den Arm. »Ach, Süße, weißt du, was ich glaube?«

»Na?«

»Du brauchst einen Mann in deinem Leben. Jemanden, mit dem du reden kannst. Der dich in den Arm nimmt, dich auffängt. Bei dem du nicht stark sein musst.«

Bei ihren Worten versteifte sich Svea. »Ich brauche niemanden, ehrlich. Ich komme sehr gut allein zurecht.«

»Aber, Svea –«

»Nein, ich habe keinerlei Interesse.« Ihre Erwiderung fiel ein wenig zu heftig aus, das sah sie an Julianes Gesicht. Gerade wollte sie sich entschuldigen, da drückte Juliane ihren Arm und lächelte.

»Bis der Richtige in dein Leben tritt.«

Sveas Hals schnürte sich zusammen, der Druck auf ihrer Brust nahm zu. »Greg war der Richtige.«

»Greg ist tot.«

»Das ändert kein bisschen daran.«

»Du bist gerade neunundzwanzig geworden, es wird wieder jemanden geben.«

»Nein, niemals. Wie gesagt, kein Interesse.«

Juliane öffnete den Mund und holte Luft, doch als sie Sveas Blick sah, überlegte sie es sich. »Okay, lassen wir das. Es gibt noch genug andere Themen, oder?«

»Genau.« Ihre Verkrampfung löste sich.

»Dann lass uns doch darüber reden, wann wir wieder mal einen drauf machen.«

Svea rollte mit den Augen und stöhnte, das war ein Thema, aus dem sie sich nicht so schnell herauswinden konnte.

 

*

 

»Ich muss sagen, du hast in den letzten Jahren einiges dazugelernt.«

Angelika schnurrte wie ein sattes Kätzchen, richtete sich die Frisur und inspizierte ihren Lippenstift im Spiegel über den Waschbecken.

Raik wusch sich die Hände und grinste, schließlich musste er ihr vor ein paar Minuten die Hand auf den Mund drücken, damit man ihren Orgasmus auf keinen Fall vorne in der Bar hörte.

»Das kann ich nur zurückgeben.« Ja, mit dem Mund war sie beim Vorspiel echt gut gewesen. Deshalb hatte er sie zur Belohnung ordentlich rangenommen.

Sie zupfte ein letztes Mal an Shirt und Jeansrock, band sich die Bistroschürze wieder um. Lehnte sich mit der Hüfte an den Waschtisch und beobachtete ihn, wie er sich mit trockenen Händen durchs Haar fuhr und die lederne Bikerjacke überstreifte.

»Wie lange bleibst du in der Stadt?«

»Keine Ahnung.«

»Und was hast du zukünftig vor?«

»Weiß ich auch noch nicht.« Er drehte sich zu ihr um.

Mit einem vielsagenden Lächeln trat sie näher und strich über seine Brust. »Wie auch immer, du weißt ja, wo du mich findest.« Ihre Hand wanderte über seinen Bauch und zum Reißverschluss seiner Jeans, drückte leicht zu. »Ich bin immer für eine gute Nummer zu haben.«

»Das weiß ich.« Mit einem Grinsen machte Raik einen halben Schritt zurück, ging um sie herum und zur Tür. Schloss auf und verließ den Waschraum.

Da er nur eine Viertelstunde in der Herrentoilette verbracht hatte, waren sein Hocker und das halbe Bier unberührt geblieben. Also setzte er sich wieder hin, trank es aus und orderte ein neues. Aus dem Augenwinkel sah er Angelika Essen servieren.

Raik nutzte die Gelegenheit und schaute sich im Gastraum des Dorfkrugs zum Belgier um. Es hatte sich kaum etwas verändert, die Wände waren rustikal in rotbraunem Holz gehalten, aber einer Renovierung unterzogen worden. Und es gab zwischendrin ein paar moderne Möbel und ausgefallene Einzelstücke. Das Lokal schien auch noch genauso beliebt zu sein wie früher, sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Touristen. Die saßen drinnen wie draußen, um zu essen, zu reden und zu lachen, wie er an verschiedenen Dialekten festmachen konnte. Die Alteingesessenen oder Zugezogenen scharten sich hingegen an der Theke und den drei Bistrotischen.

Bart Wouters war inzwischen zurück hinter der Theke und brachte ihm ein neues Cornet, ein kräftiges belgisches Bier, das er schon immer gern getrunken hatte.

»Raik. Du bist wieder in der Stadt?« Der original belgische Besitzer des Wirtshauses, der seit kurz nach der Wende hier lebte, sprach nur mit leichtem Akzent.

Raik grinste und legte die Unterarme entspannt auf den Tresen. »Sieht ganz so aus.«

»Für länger?«

»Keine Ahnung, mal sehen.«

Bart nickte, hob den Kopf und richtete den Blick auf jemanden schräg hinter Raik. Ein breites, gezwungenes Lächeln zog seinen Mund auseinander und entblößte die markanten Schneidezähne.

»Armin, guten Abend.«

»Hallo, Bart«, ertönte es neben Raik.

»Wie immer?«

»Unbedingt.« Der Mann, dessen Stimme unangenehme Erinnerungen in ihm heraufbeschwor, schob sich auf den Hocker neben ihm.

»Hallo, Raik.«

Er presste die Lippen zusammen und schaute den Typen an. »Armin, sieh einer an. Was für eine Überraschung.«

Armin Beeskow hatte sich kaum verändert, war noch immer der kantige, füllige Typ, wenn auch etwas schlanker als vor sechs Jahren. Sein rechteckiges Gesicht wurde inzwischen von einem Schnauzer verziert, der die dünnen Lippen fast komplett verdeckte, und das dunkelbraune Haar war zu einer Tolle geföhnt, die vermutlich verwegen aussehen sollte. Dafür funkelten seine hellbraunen Augen vor Verschlagenheit, wie früher.

»Wie schön, dass ich dich hier treffe.« Armin lächelte ihn an. »Ich habe schon letzte Woche gehört, du seist wieder in der Stadt.«

»Du bist gut informiert.«

»Als Mitglied des Gemeinderats muss ich das doch sein, oder?«

Überrascht hob Raik die Brauen. »Du sitzt im Gemeinderat? Meinen Glückwunsch.«

Mein Beileid an Boltenhagen, das war definitiv keine gute Wahl.

»Danke, danke. Ja, seit letztem Jahr. Unsere Mitbürger wissen halt, was gut ist für unser Ostseebad.« Armin verzog einen Mundwinkel zu einem teuflisch anmutenden Grinsen und nickte Bart zu, als der ihm ein dunkles belgisches Ale hinstellte. Er nahm das Glas und hielt es ihm hin. »Auf die Helden dieser Stadt!«

»Cheerio.« Raik stieß mit ihm an.

»Raus mit der Sprache, wo hast du dich herumgetrieben?«

Er zuckte lässig mit den Schultern. »Fast überall auf der Welt.«

»Klingt interessant. Und was genau hast du gemacht?«

Raik beschloss, ihm nur die halbe Wahrheit zu sagen. »Ich war mit verschiedenen Rennteams unterwegs. NASCAR, Formel zwei und so.«

Armin stieß einen Pfiff aus. »Als Rennfahrer.«

»Nein, als Mechaniker. Oder genauer gesagt, Mechatroniker.«

»Und was hast du jetzt vor? Formel Eins?«

Dieser Gedanke war vollkommen uninteressant, aber dass musste Armin niemals wissen. »Kann gut sein. Ich lote gerade ein paar Angebote aus.«

»Und ist dieses Leben so aufregend, wie man immer hört?«

»Auf jeden Fall.«

Grinsend beugte er sich näher. »Sex, Drugs and Rock `n` Roll?«

»Ersetze die Drogen durch Disziplin, dann passt es.«

Armin nickte und trank einen Schluck, strich sich den Schaum vom Schnauzer. »Man muss hart für seinen Erfolg arbeiten und so manches Opfer bringen, richtig?« Sein Blick durchbohrte Raik regelrecht, bis ihm heiß wurde und das Gefühl aufkeimte, dass dieses Gemeinderatsmitglied ihm etwas ganz Bestimmtes sagen wollte.

»Schon möglich«, meinte er gedehnt, in seinem Hinterkopf regte sich etwas.

»Dafür sind der Sieg und die anschließende Party umso erregender.«

»Wenn du das sagst ...«

»Komm schon! Willst du mir erzählen, du hättest nicht reihenweise Weiber flachgelegt?«

»Spinnst du? Du findest kaum willigere Groupies als im Motorsport.«

»Habe ich mir fast gedacht.«

»Und wie sieht das bei dir aus?« Ihm fiel ein, wie beschissen Armin dran war, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Kurz, bevor Raik abgehauen war. »Hast du noch einmal geheiratet?«

Armin warf den Kopf nach hinten und lachte so laut, dass die Umstehenden ihn irritiert musterten. Und dann schnell wegschauten. Raik kniff die Augen zusammen. Hatte er was verpasst?

»Oh, nein, Kleiner, diesen Fehler begehe ich bestimmt kein zweites Mal. Es reicht, wenn ich meine beiden Ladies abwechselnd beglücke.«

Er hob die Brauen und senkte die Stimme. »Du hast gleich zwei Frauen in der Stadt?«

»Wo denkst du hin? Eine in Wismar, die andere in Schwerin.« Armin zwinkerte ihm zu. »Und du?«

Raik schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Ich bin frei wie der Wind.«

»So ist es richtig. Prost!«

Sie stießen erneut an und tranken.

»Mh.« Armin stellte sein Glas zurück auf den Tresen. »Apropos Frauen. Es gibt da eine, die mir ein ziemlicher Dorn im Auge ist. Oder besser gesagt, dem Wohl der Stadt.«

»Ja, und?« Am liebsten hätte Raik die Augen verdreht.

»Sie ist vor gut fünf Jahren hergezogen und betreibt seitdem ein Café, der letzte Gastronomiebetrieb am anderen Ende der Stadt.«

»Das war doch mal ein Restaurant.«

»Genau. Der alte Pächter ist in den wohlverdienten Ruhestand gegangen, das Ding sollte abgerissen und neu gebaut werden. Aber dann hat man eine letzte Anzeige geschaltet und sie hat zugegriffen.«

»Wo ist das Problem?«

»Das Café behindert das Konzept für den Abschnitt zwischen Redewisch und der Seebrücke. Es läuft schlecht, in der Ecke ist eh nicht viel los. Und nun liegt dem Rat ein Angebot vor, das nicht nur seitens der Steuereinnahmen lukrativer für die Stadt wäre, sondern auch für den Tourismus und das Image. Ich habe ihr Geld angeboten, damit sie einen Aufhebungsvertrag unterschreibt, aber sie weigert sich.«

Ach, verdammt, konnte er seine Intrigen nicht einfach für sich behalten? »Und was hast du nun vor?«

»Ich will ihr das Leben und das Geschäft madig machen. Sie soll aus der Stadt verschwinden und niemals wiederkommen.« Armin stutzte aus heiterem Himmel und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich glaube, ich habe gerade eine grandiose Idee.«

Raik musste lachen. »Ach, ja?«

Er nickte und beugte sich zu ihm. »Wie wäre es, wenn du ihr den Kopf verdrehst, sie ins Bett lockst und ihr das Herz brichst? Das kannst du doch noch, oder?«

Zwei Sekunden starrte Raik ihn perplex an, dann lachte er los. »Guter Witz, echt!«

»Nein, ich meine das ernst. Früher warst du doch super darin, der Bad Boy schlechthin.«

»Vergiss es!« Er winkte ab und widmete sich seinem Bier.

»Es würde sich auch für dich lohnen«, raunte Armin ihm zu.

Er drehte den Kopf in seine Richtung, doch bevor er weitersprechen konnte, betraten neue Gäste den Dorfkrug und steuerten direkt auf die Theke zu. Zwei von ihnen begrüßten Armin lautstark und nahmen ihn in Beschlag.

Was Raik gerade recht kam, denn ihm war das Angebot reichlich suspekt. Vielleicht war das der Grund, warum es ihm ständig im Kopf herumschwirrte. Sogar auf dem Weg zum Haus seiner Eltern, den er zu Fuß zurücklegte.

Deshalb beschloss er, sich die Dame bei Gelegenheit mal anzusehen, die Armin Beeskow zu solch seltsamen Maßnahmen greifen ließ.

Er schien sich verändert zu haben, mal wieder. Bis zum Ende des Studiums war er der beste Freund seines Bruders Gerit, doch dann lernte er die falsche Frau kennen. Zwar stammte er aus der Eisdynastie der Ostseeküste zwischen Lübeck und Rostock, befand sich damals als Makler bereits auf einem steilen Weg nach oben, doch ihr schien das keineswegs genug zu sein. Sie übte Druck auf ihn aus, vergraulte seine Freunde und quetschte ihn mit der Scheidung aus wie eine Zitrone. Was Armin zu Alkohol und Drogen hatte greifen lassen. Und am Ende ...

Die Fernsehbilder von damals ploppten in seinem Kopf auf, sechs Jahre alt, aber noch genauso grauenvoll.

Raik schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben, und atmete mehrmals tief die kalte Nachtluft ein. Das war Vergangenheit, zum Glück, und dort wollte er die Erinnerungen auch belassen. Schließlich hatte er damals einige Wochen gebraucht, um sie zu verdrängen.

Er erreichte die Straße, in der sein ehemaliges Zuhause stand. Es war still und verdammt dunkel, nur alle paar Meter warf eine Laterne ihr kaltes Licht auf den Asphalt. Trotzdem entdeckte er ein Paar, das ein paar Meter weiter vorn in einem Wagen rummachte, dass die Karosserie wackelte.

Mit einem Grinsen wich er an den äußersten Rand des Gehwegs aus, um sie nicht zu stören. Beobachtete sie aber weiterhin und erkannte schließlich, wie die Frau sich auf seinen Schoß schwang und anfing, ihn zu reiten. Der Rhythmus war so heftig, dass das Auto leise ächzte, und als Raik auf gleicher Höhe war, hörte er ihr Stöhnen und Keuchen.

Er wandte den Blick ab, stockte aber wenige Schritte weiter. Irrte er sich, oder hatte er da langes, rotbraunes Haar gesehen?

Er zog sich ein paar Schritte weiter hinter einen Baum zurück und überwachte den Wagen nun von hinten. Ziemlich schnell hörte der Wagen auf zu schaukeln, für ein paar Minuten war es still. Dann kam wieder Leben in die Bude, das Paar zog sich an und verabschiedete sich voneinander. Schließlich stieg sie aus, er startete den Wagen und fuhr nach einem letzten Winken davon.

Die junge Frau strich ein letztes Mal ihr Kleid glatt, drehte sich um und lief in seine Richtung. Er bewegte sich so am Stamm entlang, dass sie ihn nicht entdeckte. Zwang sich zu Coolness, lehnte sich mit verschränkten Armen an den Baum und wartete, dass sie an ihm vorbeiging. Erst da sprach er sie leise an.

»Und? War’s gut?«

Sophia fuhr herum. »Hey! Spionierst du Perversling mir etwa nach?«

»Nein, das war reiner Zufall.« Raik stieß sich ab, schlenderte zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern.

Seine Schwester schaute ihn skeptisch an. »Jetzt kommt aber keine Standpauke à la großer Bruder, oder?«

Er schnaubte. »Wie käme ich dazu? Du bist alt genug.«

»Eben.«

»Ist er dein Freund? Oder nur was zum Spaß?«

Sie schmunzelte. »Du bist ganz schön neugierig.«

»Ich habe deine wildesten Jahre verpasst.« Er zuckte mit den Schultern und grinste schief.

»Was verdammt schade ist. Wir hätten so manche Party aufmischen können.«

»Auf jeden Fall.« Er wies mit dem Kinn Richtung Elternhaus, sie gingen los.

»Er heißt Till, ich kenne ihn von der Uni.«

»Aber es ist nichts Ernstes, sonst würdest du ihn mit nach Hause bringen.«

»Das geht erst, wenn ich ihnen jemanden zum Heiraten präsentieren kann.«

»Stimmt. Hat er keine eigene Bude?«

»Klar! Was meinst du, wo wir gerade herkommen?«

Sie lächelten sich an.

»Seid ihr erst frisch zusammen? Sah ziemlich heiß aus, was ihr da getrieben habt.«

Sie schlug ihm auf den Oberarm. »Du Spanner!«

»Hey, ich meinte, wie sehr das Auto gewackelt hat.«

»Ja, sicher.« Sophia schüttelte den Kopf. »Wir sind schon acht Monate zusammen und immer noch total scharf aufeinander.«

»Meinen Glückwunsch.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu und er hob die freie Hand. »Nein, ehrlich, ist doch super.«

»Aber kein Wort zu Mama und Paps.«

Er hob eine Augenbraue. »Ich habe eigentlich gedacht, du kennst mich besser.«

»Ich wollte das nur vorsichtshalber klarstellen.«

»Vollkommen unnötig.« Beim Laufen stieß er mit der Hüfte gegen ihre. »Wir sollten mal einen Kaffee trinken gehen, nur du und ich. Dann können wir uns ungestört unterhalten.«

»Willst du mir irgendetwas sagen?«

»Nee, aber wir haben das schon ewig nicht mehr gemacht. Ehrlich gesagt habe ich das sogar ziemlich vermisst, als ich weg war. Du könntest mich mal auf den neuesten Stand bringen, was Boltenhagen und Umgebung angeht.«

»Hm, mal sehen, wann ich dich dazwischenschieben kann.«

»Vielen Dank, Eure Hoheit, zu gütig.«

Ihr Ellbogen fuhr in seine Seite, ließ ihn aufstöhnen.

Unvermittelt legte sie ihm einen Arm um die Taille und rückte näher, soweit es das Laufen möglich machte. »Ich habe dich auch vermisst. Du warst immer mein Verbündeter.«

»Derjenige, der immer den ganzen Ärger auf sich genommen hat, weil sie dir kaum etwas zugetraut haben, meinst du wohl.«

Sophia lachte leise. »Ja, stimmt. Habe ich dir je dafür gedankt?«

»Nein.«

»Dann Danke. Dafür, dass du mein liebster großer Bruder bist. Und eben so, wie du bist.«

Ein warmes Gefühl durchströmte seine Brust. Wenn sich etwas wie Familie anfühlte, war es seine Schwester. »Du hast mir echt gefehlt, Sis.«

»Du mir auch, Bro. Bleibst du denn jetzt hier?«

Er beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. »Keine Ahnung. Es gibt nichts, was mich aktuell hier halten könnte.«

»Traurig, aber leider die Realität. Ich werde auch schnellstmöglich verschwinden.«

»Hast du schon etwas in Aussicht?«

»Till und ich haben ein paar Bewerbungen in Berlin laufen.«

Er nickte. »Hauptsache, du machst das, was dich glücklich macht.«

Inzwischen waren sie an der Haustür angekommen und Sophia hielt ihn am Arm zurück. »Und was macht dich glücklich?«

Sein Magen zog sich zusammen, deshalb bekam er kein Lächeln zustande. »Ich weiß es nicht. Und ich wünschte wirklich, es wäre anders.«

»Dann werden wir nächste Woche bei einem Kaffee darüber reden, ich analysiere dich und deine Situation.«

»Willst du dich etwa an mir ausprobieren?«

Sie grinste. »Ist doch ein super Praxisfall für meine eingerosteten Kenntnisse in Wirtschaftspsychologie. Bist du dabei?«

Er stöhnte theatralisch auf. »Was tut man nicht alles für die Familie!«

 

Kapitel 3

Als ob sie es geahnt hätte! Wie gut, dass Svea am Morgen einiges extra gebacken hatte, sonst wäre ihre Verkaufstheke bereits leer gewesen.

Samstagnachmittag rannten die Gäste ihr praktisch die Tür ein, Sarah und sie arbeiteten auf Hochtouren. Das Wetter war wunderschön, also genossen die Touristen und ein paar Einheimische Kaffee und Kuchen überwiegend auf der Terrasse. Die Tische blieben jeweils nur wenige Minuten unbesetzt und einige Passanten musste sie bereits abweisen. Natürlich nicht ohne ihnen erfolgreich Kaffee und Cookies zum Mitnehmen anzubieten.

Svea liebte solche Tage, da war sie voller Energie und stolz darauf, dass die Leute ins Ostseeglück kamen. Und die abendliche körperliche Erschöpfung gehörte sogar irgendwie zu diesem Glück dazu.

»Können wir zahlen?«

»Bin sofort bei euch.«

Die Hände voll gebrauchtem Geschirr eilte sie von der Terrasse Richtung Küche, stellte alles nur ab und überprüfte schnell, wann die Spülmaschine fertig sein würde. Dann flitzte sie zu den vier Studenten, die in der Ecke am Fenster saßen, und kassierte ab.

»Und? Wo geht ihr heute Abend hin?« Mit einem Lächeln schob sie das Kellnerportemonnaie in das Holster an ihrer Hüfte.

»Erst ins Brinckman, auf ein oder zwei Runden Billiard, und dann ins Lighthouse.«

»Hört sich gut an, dann wünsche ich euch viel Spaß.«

»Hast du Lust, mitzukommen? Mit deinem Freund?« Die Kleinere der beiden Mädels, eine Schwarzhaarige, lächelte sie an.

Den zweiten Satz überhörte Svea geflissentlich und lachte auf. »Vergiss es! Heute Abend bin ich froh, wenn ich die Füße hochlegen kann.« Sie winkte ab und ging los, Richtung Tresen.

»Schade. Vielleicht ein anderes Mal?«

Noch im Gehen drehte sie sich halb um und rief über die Schulter: »Ja, mal sehen.«

Sie wandte sich wieder nach vorn und prallte im nächsten Moment mit jemandem zusammen, geriet ins Straucheln. Ihr entfuhr ein erschreckter Laut, während zwei kräftige Hände sie an den Oberarmen packten und ein seltsames Gefühl durch ihren Körper schwappte. Sie registrierte die breite Brust, auf der ein silberner Sternenkompass an einer schwarzen Lederkette lag, die Bikerjacke und einen warmen männlichen Duft. Langsam hob sie den Kopf.

Ihr Mund klappte auf, damit sie sich entschuldigen konnte, doch ihr blieben die Worte im Halse stecken. Scheiße, das war doch der Jogger, den sie am Montag fast über den Haufen gefahren hätte.

Seine blaugrünen Augen weiteten sich und sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, das etwas in ihrem Magen auslöste. Außerdem strahlte er eine Präsenz aus, die ...

»Wie wäre es mal mit Gucken, Süße?«

Sein Ton war aufreizend, provokant, er hatte sie erkannt. Mist.

Sie räusperte sich und trat zurück, sodass er sie loslassen musste.

»Tut mir leid, mein Fehler.« Schnellstens lief sie in die Küche, um den Wechselkorb mit schmutzigem Geschirr zu füllen, doch das hatte Sarah bereits übernommen.

Verdammt, dann musste sie wohl doch den Typen bedienen. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und begab sich hinter den Tresen.

Er saß an der Theke und schaute sich um.

»Was darf es sein, der Herr?«

Er drehte sich zu ihr um, die Brauen bis zum Haaransatz hochgezogen. »Der Herr? Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir bereits bei du Arschloch.«

Hitze schoss ihr ins Gesicht, ihr Lächeln bröckelte. Jetzt hieß es, Haltung zu bewahren. »Tut mir leid, dass ich so überreagiert habe. Ich war total geschockt.«

»Schon gut, Schwamm drüber. Ich habe mir sogar angewöhnt, nach links und rechts zu schauen, bevor ich eine Straße überquere.«

Irgendwie gefiel ihr sein Humor, sie konnte nichts gegen das Grinsen ausrichten. »Sehr schön, dann hast du dir ja ein paar Bonuspunkte verdient.«

Er lehnte sich auf das Holz und beugte sich vor. »Und wofür kann ich die bei dir einlösen?«

Ihr wurde noch heißer, sie wollte nicht flirten.

»Also, was kann ich dir bringen? Kaffee? Kuchen? Oder lieber eine herzhafte Pastete?«

Sein Blick musterte sie von unten bis oben. »Was kannst du denn empfehlen?«

»Meinen Apfel-Walnuss-Kuchen, auf Wunsch mit Ahornsirup.«

»Klingt gut, nehme ich. Und einen Kaffee, schwarz, bitte.«

»Okay.« Sie kümmerte sie sich um seine Bestellung, froh über die Beschäftigung.

Die vier Studenten verabschiedeten sich und verließen ihr Café, sie erwiderte ihren Gruß.

Sarah kam aus der Küche und schnappte sich ein leeres Tablett, hielt jedoch inne. »Raik Bosse!«, rief sie überrascht. »Du bist also wirklich zurück.«

Svea warf den beiden einen Blick zu und konnte seinen verwirrten Gesichtsausdruck erkennen.

»Sorry, aber ...«

Sarah lachte und zeigte auf ihren dunkelrot gefärbten Pixie-Haarschnitt. »Kein Wunder, damals hatte ich noch lange blonde Haare. Sarah Nussmann, ich bin mit Sophia zur Schule gegangen.«

»Ah, okay. Tut mir leid, aber ich hatte kaum mit Sophias Klasse zu tun.«

Sie winkte ab. »Weiß ich doch, kein Problem.« Damit marschierte sie los und räumte draußen Tische ab, nahm Bestellungen auf.

»So, bitte schön.« Svea stellte diesem Raik den Kuchen hin, legte eine Serviette dazu und drehte sich zur Kaffeemaschine um. Hörte, dass er die Gabel aufnahm.

Kurz darauf hörte sie sein genießerisches Seufzen. »Wow, der schmeckt super.«

»Klingt, als ob dich das überrascht.«

»Ein bisschen. Das passt nicht so ganz zu der kratzbürstigen Bikerin von Montag.«

Die Kaffeemaschine begann zu fauchen, da drehte sie den Kopf zu ihm um. »Ich? Kratzbürstig?«

»Na, du hast schon Pfeffer im Arsch.« Er grinste und leckte die Gabel ab, seine Augen wanderten zu ihrem Hintern.

Was für ein Checker!

»Wie soll man da darauf schließen, dass du so gut backen kannst?«

Zur Antwort verdrehte sie nur die Augen und widmete sich wieder dem Vollautomaten. Kurz darauf servierte sie ihm den Kaffee.

»Danke.«

»Gerne.«

Sarah kehrte zurück und rief Svea im Vorbeigehen eine Bestellung zu. »Zwei Latte, ein Cappu, ein Kaffee. Zweimal Käse, ein Apfel-Walnuss, zwei Double Chocs auf einem Teller.«

»Alles klar.« An der Ausgabefläche legte Svea ein großes Tablett bereit und portionierte als Erstes Kuchen und Cookies, stellte die Teller darauf. Dazwischen quetschte sie die Unterteller und kümmerte sich um die Heißgetränke.

Und bei alledem fühlte sie sich beobachtet, von Raik, auch wenn sie das wohl kaum beweisen konnte. Am liebsten wollte sie ihm sagen, er solle das lassen, doch das wäre mehr als unfreundlich gewesen. Als Unternehmerin konnte sie sich so etwas keinesfalls leisten.

Sarah kehrte mit einem Tablett voll sauberem Kaffeegeschirr zurück und verteilte es an der Kuchenvitrine sowie neben der Kaffeemaschine, legte die Tassen kopfüber auf die Wärmeplatte. Zwei Minuten später marschierte sie mit dem vollen Tablett los.

»Da du ja jetzt weißt, wie ich heiße, kannst du mir bestimmt auch deinen Namen verraten, oder?«

Svea schaute auf und verspürte den Drang, ihre Hände zu beschäftigen, aber genau jetzt gab es nichts zu tun. Also presste sie ihre Finger auf die Arbeitsfläche. »Nun, er ist kein Geheimnis, er steht draußen auf dem Inhaberschild. Svea Lüdemann.«

»Klingt skandinavisch.« Er schob sich das letzte Stück Kuchen in den Mund, legte die Gabel ab und wischte sich mit der Serviette über die Lippen.

Sie zögerte einen Moment. »Stimmt.«

Er griff nach seiner Kaffeetasse, musterte sie beim Trinken über den Rand hinweg und erwiderte schließlich: »Wenigstens haben deine Eltern dich nicht in irgendeiner Sprache Schneewittchen genannt, auch wenn du so aussiehst.«

»Nein.« Sie musste lächeln.

»Hast du auch eine böse Stiefmutter? Oder Schwiegermutter?«

Das Gesicht von Gregs Mutter blitzte kurz in ihrem Kopf auf, die kalten Augen und der verkniffene Mund. »Nein. Weder noch.«

»Und seit wann lebst du in Boltenhagen? Du bist keine Einheimische.

---ENDE DER LESEPROBE---