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Realdoku in Tagebuchform. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin einen Monat lang, und hinzu auf einer Reise durch China zu begleiten, und an den Schicksalsverknüpfungen und Dramen zu partizipieren, die den Winter 2002 zu einem Wimmelbild, einem Lied oder gar einer Symphonie machen. Das Leben selber diktiert die Handlung.
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Seitenzahl: 212
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Meinem lieben Onkel Hartmut
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.
Und drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus ihrem Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge
finden sich im Personenverzeichnis
Hier die engste Familie vorweg:
Oma Ella, (*1913) Omi väterlicherseits in Hessen
Buz (Wolfram), mein Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), meine Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Ein Buch ohne Vorwort.
Sie können gleich anfangen zu lesen…
Sonntag 1. Dezember
Montag, 2. Dezember
Dienstag, 3. Dezember
Mittwoch 4. Dezember
Donnerstag 5. Dezember
Freitag, 6. Dezember
Samstag 7. Dezember
Sonntag, 8. Dezember
Montag, 9. Dezember
Dienstag, 10. Dezember
Mittwoch, 11. Dezember
Donnerstag 12. Dezember
Freitag 13. Dezember
Samstag 14. Dezember
Sonntag 15. Dezember
Montag 16. Dezember
Dienstag, 17. Dezember
Mittwoch, 18. Dezember
Donnerstag 19. Dezember
Freitag 20. Dezember
Samstag, 21. Dezember
Sonntag, 22. Dezember
Montag, 23. Dezember
Dienstag 24. Dezember
Mittwoch, 25. Dezember
Donnerstag, 26. Dezember
Freitag, 27. Dezember
Samstag, 28. Dezember
Sonntag, 29. Dezember
Montag, 30. Dezember
Dienstag 31. Dezember
Grau und herb, so doch nicht ohne Reiz.
Blicke ich auf mein langes Leben zurück, so schaue ich auf einen schlanken gewundenen Pfad, der sich am Horizont ins Nichts verliert, und mit unzähligen zugeschnürten Säcken gesäumt ist: Den abgelebten Monaten, die mit all ihren kleinen Freuden und Verdrüssen Sack für Sack Stoff für ein Streichquartett böten.
Am ersten eines Monats fühle ich mich somit gelegentlich so wie jemand, der dem Küchenschrank einen frischen Leinensack entnehmen und auffalten darf. Einen Sack, der sich anfühlt, als sei er frisch gebügelt worden, so daß man ihn nur äußerst ungern zur Hand nimmt. Viel lieber würde man ihn im Schrank in seiner Formvollendung belassen, statt ihn mit den Ungewissheiten, die nun auf einen warten zu befüllen.
Zur Zeit fühle ich morgens nur wenig Motivation, mich zu erheben, da mir das Leben jenseits der vierzig einfach keine rechte Freude mehr ist. Ich habe Angst, daß ich nichts Gescheites zum Anziehen finde, und Buz mich vielleicht kritisch anblickt, weil ich in meinem Alter nicht mehr die Allerschönste bin. Wenn ich mich beim Frühstück vorzeitig vom Tisch erhebe und zur Türe strebe, dann sticht Buzen womöglich mein dicker Po ins Auge, und er denkt sich seinen Teil? „Sie scheint sich gut zu ernähren“ oder „ihr scheint´s zu schmecken?!“ Wenn ich aber sitzen bleibe, so wirkt es so, als verstünde ich es trefflich, mich vor der Arbeit zu drücken.
Ich bückte mich nach der Post, und freute mich so sehr über einen äußerst poetischen Brief von Chiara Tombras, einer Kommilitonengattin Buzens aus Griechenland, zumal aus diesem Brief hervorging, daß auch ihr Mann Spyros, über den Buz neulich lose gemeint hatte, er sei gestorben, doch noch lebte.
Nun könnte Buz z.B. antworten: „
Liebe Chiara und lieber Tombras!
Euer Brief hat mich wirklich äußerst
angenehm überrascht , dieweil ich gemeint hatte ,
Du, lieber Tombras, , lägest bereits seit
geraumer Zeit auf dem Gottesacker!“
Jener Brief, den Buz von einem Rechtsanwalt und Notar aus Kassel bekommen hatte, entpuppte sich als Brief eines ehemaligen Klassenkameraden, der sich eine so rührende Mühe gemacht hatte, Fotos vom letzten Klassentreffen zu einer ansprechenden Broschüre zusammenzustellen.
Eine Koreanerin hatte Buz einen sehr freundlichen Brief geschrieben, und stets das Wörtchen „ich“ ausgespart, da diese Aussparung in Korea eine ganz besondere Form der Höflichkeit darstellt.
Man macht sich selber so klein bzw. unsichtbar, daß man gar nicht mehr gesehen wird, und tut einem aus dieser Position des Unsichtbaren heraus Gutes. Beispielsweise einen Brief zu schreiben. Den Brief eines guten Geistes.
Mittags fuhren wir in herber, so doch ansprechender Weihnachtswetterlage in den Egelser Forst, und direkt auf dem Parkplatz trafen wir Frau Strunzke inmitten eines Pulks aus zwei Ehepaaren.
Zu mehr als einem kräftigen Händeschütteln langte es allerdings nicht, und die frisch gebackene Wittib, Frau Strunzke, sah ohne ihren jüngst verstorbenen Lothar etwas welk aus. Verblasen vom kühlen Winde der Einsamkeit.
Sogar ein fröstelnder Hund namens Caruso stand herum.
Nach dem Spaziergang, waren wir mit Frau Saathoff in der Teestube verabredet.
Der süße Buz kaufte Frau Saathoff einen wunderschönen Adventskranz, der im Teestubeninneren feilgeboten wurde, und dadurch, daß sich Frau Saathoff als Schlesierin so gerne beschenken läßt, leuchtete sie vor Freude ergriffen auf.
„Ein Schlesier lässt sich gerne beschenken!“ erfuhren wir, und hatten wieder etwas gelernt.
Wir nahmen an einem Tisch am Fenster Platz, und in dieser gemütlichen Stube war alles war so schön weihnachtlich geschmückt, daß es ganz leicht schien, die Sorgen, die einen beständig plagen, und die man im Alltag immer mit sich herumschleppt, kurz hinauszusperren.
Wir tranken „Müllers Traum“ (einen Kakao mit Kakaolikör und Sahnehaube) und aßen einen gebackenen warmen Käsekuchen.
Ein Behagen, als habe man sich soeben im Paradies niedergelassen, trat auf.
Frau Saathoff hat leider sehr stark abgenommen, und dies läge daran, daß sie als alleinstehende Frau meist gar keinen Appetit verspürt, und praktisch nie etwas ißt.
Die nach Konversation Ausgehungerte geriet ins Erzählen, und erzählte, daß sie von ihrem Mann Saathoff eigentlich nie geküsst wurde, weil das damals nicht in Mode war, und auch ihr Sohn Peter machte um die Küsser- und Gunstbezeugerei stets einen Bogen. Bloß als er ihr eines Tages gestand, daß er eine sehr viel ältere Frau zu heiraten gedächte, die hinzu noch ein achtjähriges Töchterlein mit in die Ehe zu bringen plante, da wiederum umarmte der Sohn seine alte Mutter als kleines Dankeschön dafür, daß sie nicht gleich loslamentiert hatte, plötzlich so lange und fest, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Das Radio, aus welchem weihnachtliche Klänge strömten, hat Buz einfach mit der Schnauze vorneweg auf ein Kissen neben sich gelegt, so daß die Klänge nur noch ganz gedämpft schallten.
Daheim versuchte ich, Buz dazu zu bewegen, den Tombrasens zu antworten. Zunächst wiegelte Buz auf Buzesart erstmal ab, weil er gemeint hat, die Mutti (ich), die richtet´s schon…
Der Spyros, ein alter Kommilitone, von dem es heißt, er sei so zirka zehn Jahre älter als Buz, hat vielleicht schon zu seiner Frau gesagt: „Ach, was willst du diesen Leuten denn schreiben??! Der König ruht doch schon auf dem Gottesacker. Dies zumindest habe ich gehört.“
Schon vor längerer Zeit habe ich spitz bekommen, daß man Buz siebenmal um etwas bitten muß. (Etwas, das Rehlein und Omi Ella gar nicht wissen, da die meist nach der dritten oder vierten Aufforderung, die Sache stöhnend selber in die Hand zu nehmen pflegen.)
Und tatsächlich: Meine empirische Entdeckung entfaltete sich auch heute: Ich bat Buz siebenmal, und versprach ihm zur Belohnung ein wunderschönes Essen. Und als ich zu kochen begann, schrieb Buz los.
Ich hatte mir zwei riesige Chilischoten für mein Essen gekauft, doch nun hatte ich Angst, die übergroße Schärfe könne meine Speisen verderben, und außerdem bekam ich Angst, ich könne mir Lippen, Hände und Augen mit der Peperoni verbrennen und so rief ich das süßeste Rehlein an, und fühlte die bergende Liebe meiner Mama so stark. Die Chilischote mag nur ein kleiner Vorwand gewesen sein, denn in Wirklichkeit wollte ich mich wie ein kleines Entchen unter Rehleins warme mütterliche Schwingen verkriechen.
Leider kokelte während des Telefonats mein Entenbraten an. Die Soße drum herum gerann zu schwarzem flüssigen Lakritz.
Wir hatten uns einen Gast geladen: Frau von der Nahmer, die nach einer Weile kam. Dank ihres großen Knoffhoffs konnte der Entenbraten gerettet werden.
Buz schnitt den Braten kunstvoll klein, und dann saßen wir beieinander und unterhielten uns ausgezeichnet. Z.B. darüber, daß Frau von der Nahmers Schwester als Sekretärin in der Kirchengemeinde von Meldorf arbeitet, und einst an Brustkrebs erkrankt war. Da durchschritt sie ein tiefes Tal an Leid, aus dem sie jedoch gestärkt und gereift wieder hervorging, erfuhren wir.
Frau von der Nahmer erbot sich, einen Schwank aus ihrem Leben zu erzählen, und trug ihn auf jene Art vor, wie sie ihre Reden zum „Musikalischen Sommer“ zu halten pflegt. An eine scharmante reife Dame erinnernd, die einen plattdeutschen Vortrag hält.
Leider ist mir der Schwank, der sehr belacht wurde, wieder entfallen.
Ich wiederum erzählte, wie stolz ich auf meine Entdeckung sei, daß man Buz immer siebenmal bitten müsse.
Grau, feucht und doch reizvoll
Beim Frühstück saßen wir auf dem wackeligen Gefühl, gleich losproben zu müssen, und dann probten wir auch los, denn wie eine Lokomotive rast das Emder Adventskonzert in der A´Lasco Bibliothek auf uns zu.
Mittags:
Buz und Heidi Abel wollten in die Markthalle und Buz frug mich nur halbherzig, ob ich wohl mitzukommen gedächte, und ich wiederum fühlte mich unschlüssig.
„Mir ist es egal,“ sagte Buz.
„Ich will aber nicht, daß dir das egal ist!“ sagte ich leicht gekränkt.
Buz ging aber nicht groß auf diese im Grunde hascherlhaften Worte ein, und dadurch daß Buz hernach in die Musikschule entschwinden würde, ging es mir im Prinzip wie so manch einer jungen unausgelasteten Ehefrau, deren Mann auf der Arbeit ist.
„Ich will, daß er wiederkommt!“ bilden sich störrische Gedanken in ihr und auch mir, die sich – von mir selber als blöd befunden - dennoch kaum abschalten ließen. „Jetzt! Sofort!“
Ich bastelte an meinem „Adventskalender“ für Rehlein. Jeden Tag schicke ich Rehlein einen langen und aussagekräftigen, handgeschriebenen Brief – ferner einen niedergetippten Tagebuchtag, mit dem man sich zehn Jahre jünger blättern darf, und eine Fotografie, so daß jeden Tag ein dickes Kuvert für Rehlein im Briefkasten liegt, und Rehlein sich freuen darf. Somit tippe ich zur Zeit den Dezember 1992 ins Reine, als Rehlein und ich tagtäglich von Ofenbach nach Wien fuhren, um mit dem Yossi Brahms-Sextette zu proben.
Heute brachte ich drei kunstvoll verzierte Kuverte zum Briefkasten, um ein wenig Bewegung zu bekommen, zumal ich mich heut schon den ganzen Tag so gefühlt habe, als sei ich in einen gar zu warmen Winteranorak hineingestopft worden.
Kaum war ich wieder daheim, da entstieg die Mutti vom kleinen Ruben ihrer silbergrauen Zwerglimousine und stapfte mit einem unsicheren Lächeln durch den Schnee auf unser Haus zu.
Ich bot der etwas kontaktscheuen, leicht unsicheren reifen Frau (zirka 37 Jahre alt) einen Tee an, und frug sie über ihr Leben als Mutter eines jungen Violinschülers aus.
Ganz entzückt von den Aktivitäten ihres Sohnes als Violinist, ist die Mutti nicht, dieweil es immer so schiach klingt, wenn er übt. Dies sagte eine offenbar aus Österreich stammende Dame, die sich jedoch sehr große Mühe gab, norddeutsch zu sprechen.
„Ja, dann macht er etwas falsch!“ sagte ich, „ein König-Schüler dürfte niemals schiach klingen!“
Wobei das Wörtchen „schiach“ in Ostfriesland relativ ungebräuchlich ist. Zum Violinspiel des Knaben jedoch paßt es wie angegossen, wie wir nun lachend befanden.
Hernach kam der kleine Henning mit seiner Mutti, und Buz wühlt dem süßen Knirps immer so gern in der Frisur herum. Buz wünschte, dies wäre sein Enkel. Auch mit Hennings Mutti, die von ihrem libanesischen Ehemann beinahe mal ermordet worden wäre, hat Buz sich schon so sehr angefreundet, daß er ihr bereits das „Du“ angetragen hatte. Doch der schüchternen Dame kommt es zur Stund noch ein wenig zögerlich über die Lippen. Sie heißt Kathrin, und ist äußerst belesen. Sie liest in jeder freien Sekunde, und so bat ich sie, mir einen Bücherkanon aufzuschreiben. Wir würden demnächst nach China reisen, und ich möchte einen Sack voller Bücher mitnehmen, erzählte ich verbindend von Frau zu Frau.
Mit Feuereifer überlegte die freundliche Frau, welche Bücher wohl zu mir passen könnten.
Nach der Geigenstunde saßen wir sehr lange beim Tee zusammen. Wir erfuhren, daß sich die Kathrin als alleinstehende Frau mit zwei Kindern derzeit zur Diakonisse ausbilden lässt, und ganz viel Theologisches, wie beispielsweise das Kirchengeschichtliche studieren muß. Mit ihren Eltern hat sie leider keinen Kontakt mehr, und einmal erzählte sie geheimnisvoll, daß das, was sie in ihrem Leben schon erlebt hat für zwei Seifenopern ausreichen würde.
(„Soap Operas“ sagte sie international.)
Ich erzählte von meinem Schlangenbiss – schlimmer jedoch als der Biss, und das daraus resultierende schmerzende und entzündete Bein sei jedoch das verabreichte Antibiotikum gewesen, von dem ich die Masern bekam….
Das freundliche Licht in der Stube des spekulatiusartigen Haus´ gegenüber, wirkte am Abend so tröstend auf mich.
Auf dem Tisch lag eine scherzhaft formulierte Einladung zum Weihnachtsfest der Musikschule.
Buz und ich liefen über den Weihnachtsmarkt und sprachen über die Omi.
„Ich glaube, die Omi ist auf dem Friedhof besser aufgehoben“, sagte Buz liebevoll, da es einfach nicht mehr mit anzusehen ist, wie die alte Dame ihre Haftstrafe auf Erden absitzt.
Wir betraten die warmerleuchtete Optikerstube von Max Strecker, und wurden von einem sehr netten Fräulein bedient, mit dem man von der ersten Sekunde an befreundet war. Ich wollte nur Kontaktlinsenmittel kaufen, doch Buz gab zu bedenken, daß wir doch nach China reisen, und es somit vielleicht ratsam wäre, noch eine weitere Packung hinzuzukaufen?
Diese Worte waren nur für das Fräulein und keinesfalls für mich gedacht, denn der süße Buz ist so stolz, daß wir nach China reisen.
„Oder gibt es das auch in China?“ frug er mich bedeutsam, meinte jedoch ebenfalls nur das Fräulein.
„Natürlich gibt es das auch in China!“ sagte ich. „Die Chinesen haben doch oft so platte Nasen, daß eine Brille auf einem chinesischen Nasenrücken kaum Halt findet. Kontaktlinsen sind im Reich der Mitte höchst beliebt!“
Buz stopfte seine Taschen mit „Werthers Besten“ voll, die für die Kunden ausgelegt waren, und ließ sich seine Brille professionell reinigen.
Das Fräulein arbeitete so gründlich, wie es nur konnte, und man hörte sogar die professionelle Brillenputzmaschine leise summen…
Hernach besuchten wir das Reisebüro, wo wir sehr nett von Nadine Stöckl bedient wurden, die es sehr interessant fand, daß jemand an Heiligabend nach China fliegt. Die Maschine startet um 18 Uhr, und ich sah es schon vor mir, wie wir in das nur aper bestückte Flugzeug steigen, wo es uns Fluggästen heiligabendbedingt vielleicht ein bißchen nett und gemütlich gemacht wird?
Kaum daheim, so schrillte das Telefon:
Irgendjemand wollte Buzen einen russischen Pianisten unterjubeln, der sogar in Amsterdam studiert habe. Buz plauderte sich mit dem unbekannten Telefonatoren fest und erzählte, wie ihm täglich hunderte von Horowitze und Heifetze angeboten werden.
„Die spielen für'n Appel und ein Ei!“ sagte Buz.
Abends erlebten wir eine freudige Überraschung: Es klingelte an der Türe, und der müde Buz, der vor dem Televisor vor sich hingedöst hatte, öffnete:
Es war unsere neue Freundin Kathrin, die uns zwei Geschenke brachte: Ein Buch von Otfried Preußler und einen Eisenblutsaft. Hernach war die seelengute Frau sofort wieder weg, so daß man gar keine Gelegenheit bekam, heiße Worte der Rührung und Dankbarkeit anzubringen.
Zunächst grau, dann leuchtend und lieblich.
Am Abend regnete er sich wieder ein
Ich erhob mich, weil ich gelobt hatte Buz, auf den ein prall gefüllter Tag wartete, zu wecken.
Im Radio lief ein Werk, das genau so genial klang wie bester junger Beethoven, und dabei war es „nur“ von Anton Eberl, einem Tondichter, der einem gar kein Begriff ist. Ich freue mich so sehr über die fleißigen Redakteure beim NDR, die solch schöne Meisterwerke ausgraben, die kein Mensch kennt. Bloß, damit wir Hörer eine Freude haben.
Noch bei Finsternis frühstückte ich mit Buzen.
Aber nach einer Weile hatte sich die Finsternis unmerklich aufgelöst.
Buz legte meine Bach CD ein, und wir saßen da, und freuten uns an der kunstvoll gespielten Musik.
In mir keimte die Idee auf, die CD an Norbert Hornig zu schicken: Einen Experten für Interpretationen auf der Violine, und eine Variation vom Prof. Kebap aus Trossingen.
Ein Herr, der so kritisch ist, daß er sich bei den meisten Darbietungen wie unter Peitschenhieben krümmt. Doch heute gefiel uns die CD launenbedingt so gut, daß man dieses Risiko auf sich nehmen möchte. Im Geiste formulierte ich bereits ein Schreiben an den eiligen Gelehrten, in dessen Arbeitszimmer sich zu rezensierende CDs bis unter die Decke türmen. Buz regte an zu schreiben, daß er immer dann, wenn er Gidon Kremer und mich im Vergleich hört, denken müsse: „Was zwei Jahre ausmachen!“ Der Gidon war zum Zeitpunkt seiner Aufnahme 33 Jahre – ich jedoch bereits 35 Jahre alt!
Nach dem Frühstück erschien eine seltsam wesenlose zirka 35-jährige Klavierschülerin. Still wie ein Geist und von zurückhaltendem Wesen schien sie sich auf Zehenspitzen durchs Leben zu bewegen.
Selbst die Klavierstunde spielte sich seltsam lautlos ab. Nie hörte man jemanden etwas sagen, und somit hörte es sich so an, als würde jemand entrückt in andere Dimensionen geistesabwesend vor sich hin klimpern.
Onkel Dölein hatte geschrieben!
Ein Brieflein, aus dem hervorging, daß der Onkel sich sehr über meine Diariumsblätter freut.
Sie hatten Besuch von ihren Kindern, berichtete der Onkel. Doch jetzt sind die Kinder wieder weg, und die Eheleute sitzen wieder herum und schweigen sich an.
Nach neun Uhr rief ich unsere Cellistin Gina an, doch die begeisterte Hobbyschläferin Gina hatte noch geschlafen, und durch den Hörer strömte mir Mundgeruch und Bettschwere entgegen.
(Kann denn Schwere strömen? frägt sich hier ein Lektor.) Ja, sie kann – doch leider eher auf eine wälzende behäbige Art.
Ich begann einen Brief an eine Sekretärin: „Darf ich Sie Hildegard nennen?“ frug ich zu Briefbeginn leicht sonderbar, löschte diesen befremdlichen Passus jedoch bald wieder hinweg.
Buzens Tag war heut folgendermaßen zugerumpelt: Gleich im Anschluß an den Unterricht mußte er auf die Bank, und hernach blieb nur noch ganz wenig Zeit für einen Besuch in der Markthalle – Buzens persönlichem Vorparadies. Gleich an die Nachspeise hintangeschmiegt mußte er in der Musikschule Dienst schieben, und am Abend nach Bonn reisen.
Am Nachmittag rief der Achim an, der mit so viel Frische die Zügel in die Hand nimmt, um uns ein Konzert in Worpswede zu organisieren.
Das Lachen vom Achim erinnerte mich an den Maler Klecksel, der bei uns in Form eines großformatigen Kalenderblattes an der Wand hängt: In der Hand einen Bierhumpen, und den Mund zu grölendem Gelächter geöffnet.
Die erste Pflicht der Musensöhne
Ist, daß man sich ans Bier gewöhne
Ich finde das Bild so köstlich, doch der Achim empfand diesen Vergleich als ein wenig gehässig, und ich war ganz bestürzt darüber, da ich den Ausdruck „gehässig“ in diesem Zusammenhang als völlig unpassend empfand.
Mittags wurde das Wetter so zauberisch:
Es leuchtete rotgülden in unsere Wohnung herein, während ich ausloste, was zu tun sei.
Sodann freute ich mich sehr, daß „Haushalt“ drankam, denn bei uns sah es entsetzlich aus.
Ich dachte über Herrn Ahrend* nach, der demnächst Geburtstag hat, und auch wenn zur Zeit Funkstille herrscht (eine der vielen Baustellen in unserem Leben), so empfände ich es doch als unpassend, sich gar nicht zu räkeln.
*Wie ein guter Geist war Herr Ahrend in unser Leben getreten. Er besuchte unsere Konzerte, machte herrliche Aufnahmen – doch eines Tages wurde er von unsensiblen Musikanten des „Musikalischen Sommers“ beleidigt und geringschätzig behandelt. Wutentbrannt reiste er ab, und ist seither mit allen verfeindet. Auch mit uns – und dabei sind wir ihm doch so wohlgesonnen!
Rehlein rief seinerzeit gleich an, um die Wogen zu glätten, doch der Hocherboste klatschte nur den Hörer auf.
Ob man ihm zu seinem Geburtstag einen Ankreuzbogen schicken sollte? Beispielsweise mit der Frage, ob es sich wohl noch lohne, darauf zu hoffen, sich eines Tages wieder mit ihm anzuwärmen?
Am Nachmittag schaute ich „Brisant“, und wir Zuschauer erfuhren, daß das „Raubein“ Klaus Löwitsch, ein Schauspieler mit einem imponierenden, sonnenaufgangsförmigen Kopf, im Alter von nur 66 Jahren heute in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben ist.
Abends verabschiedete ich Buz, der heute zur Tante Antje nach Bonn reist.
„Grüß Omi! Doch es war niemand da, der meine Worte hören konnte. Ich wollte, daß alle wissen, daß unsere Omi noch lebt – doch es war niemand da, der meine Worte hörte.
Die Kerzenpyramiden in den nordischen Fenstern leuchteten so schön.
Nachdem Buzens Auto um die Ecke entschwunden war, und ich wieder ins Haus trat, fühlte sich das Haus ganz komisch an, und ich wußte überhaupt nicht wie und wo ich meinen Lebenspfad weiter abschreiten solle, wenn niemand mehr da ist, dem man Gutes tun kann?
Buzens Schüler Ruben, ein Bub, der einer höchst verhuschten österreichstämmigen Dame gehört, hat seinen Bogen bei uns vergessen! Da lag er auf unserem Flügel herum, schien jedoch nicht vermisst zu werden?
Ich rief die Kathrin an, um mich für die schönen Geschenke zu bedanken.
Die Kathrin ist oder war Krankenschwester und berichtete, daß bei ihnen auf der Station auch mal jemand mit Schlangenbiss lag. Und bei diesem Jemand mußte eine Bluttransfusion vorgenommen werden.
Abends telefonierte ich mit dem Friedel.
Ich erfuhr, daß es dem Friedel seelisch manchmal schlecht geht. Beispielsweise letzte Woche: Da mußte er an seine Kinder denken, und konnte es nicht fassen, daß sie im einfach abhanden gekommen sind.
Mit meinen Lieben in Ofenbach telefonierte ich auch. Ming bescherzte mich damit, wie seine Freundinnen jetzt vielleicht immer jünger werden? Als nächstes kommt die Uta von der Brigitte (Jahrgang 85), dann eine von Herrn Siebens Zwillingen (Jahrgang 86), und hernach ist dann tatsächlich schon bald die Hilke-Marie fällig? (Jahrgang 92).
Grau und bergend
Einfuteralisiert lag ich im Bett, während sich draußen ein bleicher Nebelhauch ausbreitete, von dem man sich auf beruhigende Weise umschlungen fühlen durfte.
Ich träumte, daß Opa und Omi Mobbl ein kleines Apfelgärtchen hatten, in welchem ein Tischlein-deck-dich stand. Eine häßliche ältere Frau mit Zigarette stand so rum, und ich mußte immer wieder fassungslos darüber nachdenken, was uns passiert ist. Dies glaubt mir doch kein Mensch!
Beide Großeltern schienen mal gestorben zu sein, und wurden sogar schon beerdigt. Doch da saßen sie doch noch, und dies, wo Mobbls Begräbnis schon fast zweieinhalb Jahre zurücklag?!
Mobbl unterbrach meine Gedanken und riet mir, in die Küche zu gehen und noch mehr Käse abzuhobeln. Die Küche sah aber gänzlich anders aus als im wahren Leben: Groß, gepflegt und vornehm. Doch in den hohen und edlen Küchenschränken befanden sich hauptsächlich Partituren der größten Meisterwerke der Musik, die Buz einer jäh aufgewallten Lust Ordnung zu schaffen zufolge, alphabetisch geordnet hatte. Somit mußte ich sehr lange am Käserad herumsuchen – von dem es später traumesunlogischerweise hieß, es befände sich im Kofferraum, da es nebenher auch als Ersatzreifen genutzt würde.
Wir BILD-Leser erfuhren heute die näheren tragischen Umstände vom Tode von Klaus Löwitsch: Daß er schon im Februar die häßliche Diagnose „Bauchspeicheldrüsenkrebs“ bekommen habe!
Nur einer von hundert Kranken überlebt fünf Jahre und wird eventuell wieder gesund, und zu diesen Einen zählte er offenbar nicht.
Der Achim hatte wie angekündigt seine neue CD mit Werken von Bach geschickt, und so wie ich es versprochen hatte, legte ich sie auch augenblicklich ein und hörte sie den ganzen Tag als Hintergrundsgeriesel.
Versprochen hatte ich allerdings auch, daß ich ihn gleich anrufen würde, um zu sagen, was ich davon halte. „Wenn meine Worte enthusiastisch klingen sollen, so müsste ich sie direkt ein wenig proben!“ dachte ich, da ich Interpreten gegenüber eigentlich aus verschiedenen Gründen heraus nicht so zu Begeisterungsausbrüchen tendiere. Doch es gäbe ja kaum etwas Armseligeres, als wenn man lauwarm „guut“ oder „sehr gut!“ sagen würde.
Demütigende Worte die jemand, der einen Kollegen um eine ehrliche Meinung bittet, zu hören bekommen könnte: „Ich verstehe manchmal nicht genau, was du meinst. Ich meine, Bach hat sich doch etwas dabei gedacht?!? Er hat doch wohl nicht einfach nur Gitarrentöne geschrieben?“
Und drum sollte man lieber niemanden um seine ehrliche Meinung bitten.
Was aber die Wenigsten wissen: Man sollte sich eine CD siebenmal anhören – erst dann darf man darüber reden.
Am Nachmittag schaltete ich die neue, rasch liebgewonnene CD auch dann nicht ab, als ich zum Joggen das Haus verließ. Bloß damit ich nach meiner Heimkehr gleich von warmen Gitarrenklängen empfangen würde.
Draußen war´s zwar sehr reizvoll, doch in meinem Leben geschah zu wenig. Man möchte so vielen Leuten schreiben, und bis jetzt ist noch nicht einmal der lange Brief, den Buz an Chiara und Tombras geschrieben hat, losgekommen. Allerdings hatte ich das Kuvert Nummer sieben für Rehlein und Ming kunstvoll gestaltet, alles einkuvertiert, und wurde bei diesem sinnbehauchten Treiben von einer Brise der Befriedigung und Selbsterfreuung gestreift.
Mit diesem frohen Gefühl trug ich den Brief durch die Dezembergräue zum Briefkasten.
Ich finde Aurich im Dezember immer so schön, doch vor fast jedem Haus in der Graf-Enno-Straße lag ein großer Hundehaufen.
Auf dem Hinweg sah ich einen leicht verloren wirkenden zirka 52-jährigen Herrn, und auf dem Heimweg den selben Herren erneut. Diesmal telefonierte er auf seinem Händi.
„Das habe ich für dich gemacht!“ hörte man ihn sensibel sagen, und als er weiterlief, klang die Melodie seiner verhallenden Worte vorwurfsvoll und bitter. Leider wurden sie mit jedem seiner hinforteilenden Schritte leiser und verklang schließlich ganz, und wie gerne hätte ich diesen Phrasen einer fremden Lebenssymphonie weitergelauscht!
Im Supermarkt erlebte ich eine Beziehungskrise zwischen zwei jungen Leuten: Ein junger Herr schaute ganz verfärbt aus vor fassungslosem Ärger, und seine künftige Exfreundin lief eiligen Schrittes hinter ihm her: „Alter! Renn nicht so!“ sagte sie auf norddeutsch. „Halt die Schnauze!“ zischte der junge Mann bös, „du sollst hier im Supermarkt keinen Skandal heraufbeschwören!“
„Und du sollst nicht so rennen!“ sagte die künftje Exe, und preschte angestrengt vorwärts. Schließlich hatte sie ihn eingeholt, und griff gar plump vertraulich nach seinem Gesäß!
Als ich meine Einkäufe zusammengesucht hatte und den Supermarkt verließ, war es bereits dunkel geworden, und vor dem Einkaufswagenhäusl stand Frau Saathoff und wühlte ganz ratlos in ihrer Tasche.