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Der Fluss des Lebens: Franz Hohler erzählt von seinen Wanderungen am Rhein.
Vom Rheinfall in Schaffhausen bis zur Quelle am Tomasee: Einem spontanen Impuls folgend wandert Franz Hohler den Rhein entlang und hält fest, was ihm begegnet: Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe, Historisches und Biographisches, Erinnertes wie allzu Gegenwärtiges, Tragisches wie Komisches – und in Liechtenstein eine Abwasserreinigungsanlage. Mal ist der Rhein mächtiger Strom, ungestüme Natur, die dramatisch in die Tiefe stürzt, mal gemächliches Rheinlein oder schrecklich verbaut und gezähmt, fast nicht zu finden. Aber immer ist er in Franz Hohlers gelassen-pointierter Prosa auch Sinnbild für das Leben und das wechselhafte Miteinander von Mensch und Natur.
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Seitenzahl: 92
Zum Buch
Vom Rheinfall in Schaffhausen bis zur Quelle am Tumasee: Einem spontanen Impuls folgend wandert Franz Hohler den Rhein entlang und hält fest, was ihm begegnet: Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe, Historisches und Biografisches, Erinnertes wie allzu Gegenwärtiges, Tragisches wie Komisches – und in Liechtenstein eine Abwasserreinigungsanlage. Mal ist der Rhein mächtiger Strom, ungestüme Natur, die dramatisch in die Tiefe stürzt, mal gemächliches Rheinlein oder schrecklich verbaut und gezähmt, fast nicht zu finden. Aber immer ist er in Franz Hohlers gelassen-pointierter Prosa auch Sinnbild für das Leben und das wechselhafte Miteinander von Mensch und Natur.
Zum Autor
Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Verlag.
FRANZ HOHLER
Rheinaufwärts
Luchterhand
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Covergestaltung: buxdesign / Ruth Botzenhardt
unter Verwendung eines Motivs von © Christian Altorfer
ISBN 978-3-641-30143-9V001
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Nach Wochen der Vorsicht, in denen ich bloß manchmal am frühen Morgen einen kleinen Spaziergang riskierte, um dem Pandemie-Drachen nicht in die Klauen zu laufen, oder in denen ich mit meiner Frau das Ritual begann, am Sonntagmorgen an den Waldrand des Käferbergs zu gehen und erwartungsvoll nach Osten zu blicken, um zu sehen, wie die Sonne und damit auch das Leben aufging, nach Wochen der Vorsicht also der erste Ausflug, als ob nichts wäre. Fast nichts.
Eine Gesichtsmaske in der Hosentasche steige ich in Oerlikon in den Regionalexpress nach Schaffhausen, im oberen Stock der 1. Klasse sitzen noch zwei weitere Passagiere, die Maske bleibt, wo sie ist. Der Rheinfall fällt wie eh und je, doch für sich allein, von Menschen unbehelligt. Kein Besichtigungsboot kreist im großen Wasserbecken, in das er sich ergießt, und auf der Besucherplattform am andern Ufer ist niemand zu sehen. Wahrscheinlich ist sie noch gesperrt, wie auch die Uferpromenade in Schaffhausen, um größere Menschenansammlungen zu vermeiden.
Täusche ich mich beim Gang durch die Stadt, oder schwingt in den Blicken der wenigen maskierten Menschen ein leiser Vorwurf an die Unmaskierten mit?
Ich überquere den Rhein auf der Brücke nach Feuerthalen und mache mich auf den Uferweg flussaufwärts.
Der Rhein fließt überaus gemächlich, es ist ihm nicht anzusehen, dass er sich wenig später in die Tiefe stürzen wird, die Wassertropfen wissen noch nichts von ihrem Schicksal.
Bald hinter Feuerthalen ein altes Klostergelände mit dem vielversprechenden Namen Paradies, an der dazugehörigen Gastwirtschaft teilt ein Plakat mit: Paradies – Offen ab 11 Uhr, und als Trost für Enttäuschte: Wir freuen uns auf Sie!
Da es erst 10 Uhr ist, gehe ich weiter, lasse mich auch nicht zu einem Besuch in der Eisenbibliothek verlocken, die sich mit über 40 000 Bänden zum Thema Eisen in einem Seitenarm des Klosters eingenistet hat. Im Schaarenwald nehme ich das, was man in Japan ein Waldbad nennt, lasse mich unter frischgrünen Baumwipfeln von Vogelrufen bezaubern, die ich noch nie gehört habe. Ab und zu kommt mir ein Paar in meinem Alter entgegen, wir weichen uns aus, so gut es geht, und grüßen uns fast komplizenhaft, Strafentlassene.
Etwas später werde ich von einem groß angelegten Tafelwerk darauf aufmerksam gemacht, dass hier im Koalitionskrieg von 1799 die Österreicher eine Brücke über den Rhein bauten, um den Franzosen in Süddeutschland entgegenzutreten. Hunderte von Schaffhausern, Feuerthalern und Diessenhofern wurden zur Mithilfe am Bau abkommandiert, die Klöster mussten Bäume aus ihren Wäldern dafür hergeben. Das ist lange her. Ein fernes Echo klingt noch in Flurnamen nach, Russenmoos, Schanzenwiesli, Mörderbuck.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Rheins erstreckt sich die deutsche Exklave Büsingen, in der ein Schweizer zollfrei ein Pfandleihhaus für Luxusautos betreibt. Viele Immobilienhändler, ließ er uns neulich in einem Interview wissen, hätten bei der aufkommenden Corona-Krise ihre Autos bei ihm verpfändet und holten sie nun, da ihnen der Bund mit hohen Geldbeträgen unter die Arme greift, wieder zurück.
Ich marschiere autolos wie Hans im Glück weiter, betrete in einem nächsten Kloster mit dem anrührenden Namen St. Katharinental eine golden funkelnde Barockkirche, doch da Bildschirm und Kopfhörer, die über historische und spirituelle Hintergründe der Kirche Auskunft gäben, außer Betrieb sind, wie auf einem aufgeklebten Zettel zu lesen ist, muss ich mich nicht damit beschäftigen, sondern setze mich an den Rhein, esse ein Sandwich, das ich mir beim Brezelkönig in Schaffhausen gekauft habe, und schaue zu, wie eine Grenzpatrouille mit einem Schweizerfähnchen am Heck langsam den Fluss hochfährt. Ihr Boot ist englisch angeschrieben, Border Guard, wenn ich richtig lese. 3 Mann und 1 Frau sind an Bord, 1 Mann isst ein Sandwich, 1 Frau trinkt aus einer PET-Flasche.
Kurz danach erreiche ich Diessenhofen, hinter dessen dörflichem Namen sich ein richtiges Städtchen verbirgt, gehe zum Bahnhof, wo jede halbe Stunde ein Zug zurück nach Schaffhausen fährt, und denke beim Einsteigen, warum wandere ich nicht von hier aus weiter am Rhein entlang, so weit, bis ich zu seiner Quelle komme?
19.5.2020
In Diessenhofen steige ich mit meiner Frau aus dem Zug. Der Bahnhof liegt etwas außerhalb des Städtchens, auf dem kurzen Weg dorthin kommen wir am Gebäude des lokalen Fernsehsenders »Tele D« vorbei. Hier wurde ich zu Beginn des Jahres anlässlich einer Lesung in Stein am Rhein interviewt und dachte, es wäre sicher schön, in der Altstadt einmal einen Kaffee zu trinken.
Das tun wir jetzt, ein Café hat geöffnet, wir setzen uns draußen hin, bestellen einen Cappuccino, den wir, umrahmt von alten Häuserreihen und mit dem Blick auf das Stadttor, langsam austrinken, uns den Milchschaum von den Lippen wischen und dann aufbrechen.
Der Wanderweg verläuft lange Zeit direkt am Rhein. Die Gelassenheit, mit der er uns entgegenströmt, überträgt sich auf uns und dämpft unsern forschen Schritt nach und nach. An den Mauern, mit denen das Ufer befestigt ist, zeugen eingelassene Eisenbügel und herausragende Steine von Funktionen, die ich der Schifffahrt und Flößerei früherer Zeiten zuordne, ohne zu wissen, wofür genau sie gebraucht wurden.
Große Mückenschwärme tanzen über dem Weg, eine Joggerin bewegt ihren rechten Unterarm wie einen Scheibenwischer vor ihrem Gesicht. Vor einem Jahr habe ich bei der Eröffnung einer Kampagne über das Insektensterben mitgewirkt – sollten das schon Anzeichen einer Erholung sein?
Das Leben hat seinen gewohnten Gang nach dem Stillstand noch nicht wieder aufgenommen, die Seuchengefahr liegt wie ein Generalverdacht in der Luft.
Die Badeplätze sind mit Abstandsermahnungen auf Plakaten versehen, auf einem Campingareal, einer Wagenburg eher, wo sich Wohnmobil an Wohnmobil reiht, sind trotz des schönen Vorsommerwetters kaum Leute zu sehen. Ab und zu putzt einer einen Klapptisch oder ein paar Plastikstühle vor seinem aufgebockten Wohnwagen. Der Lebensgenuss steht erst bevor.
Ein Schwan hat auf einer Kiesbank unmittelbar neben dem Wanderweg sein Nest gebaut und blickt uns feindselig an, obwohl wir unsere Unschuld beteuern.
Die Grenze zu Deutschland hat Kriegsspuren hinterlassen. Ein Bunker, dessen Zeit längst abgelaufen ist, blieb im Wald stehen wie ein Wachsoldat, der den Weg zu seiner Einheit nicht mehr gefunden hat, und ist vollkommen mit Efeu überwachsen. Sollte er je wieder gebraucht werden, wäre er jedenfalls gut getarnt.
Eine Gedenkstätte erinnert an ein Unglück, das sich 1944 ereignete, als man die Minen, die zur Sprengung der Brücke nach Hemishofen vorgesehen waren, angesichts der sich abzeichnenden Niederlage der deutschen Wehrmacht, wieder entfernen wollte. Eine Fehlmanipulation führte zu einer Explosion, bei der 10 Soldaten ums Leben kamen, ihre Namen und ihre Jahrgänge sind auf einer Tafel eingemeißelt, einige waren nur wenig über 20 Jahre alt.
Ein Vogel- und Zugvogelreservat drängt den Wanderweg immer wieder vom Rheinufer weg. Es kündigt sich nun durch eine gewaltige steinerne Scheune die Propstei Wagenhausen an, die Silhouette des Städtchens Stein am Rhein erwartet uns, ohne ein einziges Hochhaus, ein Blick über den Rhein zeigt eine herausgestuhlte Kaffee-und-Kuchenlandschaft, die mit genügend Abstand zwischen den Tischen genutzt wird. Das alte Kino »Schwanen«, in dem ich im Januar meine Lesung hatte, steht noch, und während wir zum Bahnhof hinaufgehen, denke ich, es wäre sicher schön, in der Altstadt einmal einen Kaffee zu trinken.
26.5.2020
»Endlich wieder Kino!« kündigt das »Cinema Schwanen« an. »Eintritt gratis – nur mit Reservation, 12. Juni ›J’accuse‹, 13. Juni ›Moskau einfach‹.«
Ich gehe über die Rheinbrücke, um in der Altstadt von Stein am Rhein einen Kaffee zu trinken, durch die Untergasse zum Untertor, dann die Hauptgasse hoch, aber um Viertel nach acht ist man offenbar zu früh. Dafür schaue ich mir in Ruhe die Fresken am Rathaus an, sowie diejenigen am »Weißen Adler«, welcher mit Motiven von Boccaccios »Decamerone« geschmückt ist, aber außer einem nackten Paar, das an einen Schandpfahl gefesselt ist, ist nichts Erotisches oder gar Obszönes zu erkennen.
Das Stadtwappen zeigt den Heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen, auf einer alten Fassade hinter dem Rathaus steht das Vorbild dazu. Georg sticht, auf dem Pferd sitzend, von links dem Drachen in die offene Schnauze, die ihm dieser von rechts unten fast bereitwillig entgegenhält. Da die Heraldiker Stein am Rhein immer wieder ermahnten, in einem Wappen habe eine seitlich abgebildete Figur stets von rechts nach links zu schauen, entschied der Stadtrat schließlich, das Wappen in diesem Sinn zu ändern. Tritt man aber beim Gang durch die Stadt auf einen Dolendeckel, sticht dort ein gusseiserner Georg wie eh und je von links nach rechts auf den Drachen ein, es gibt also für die Gießereien noch einiges zu tun.
Ohne Kaffee gehe ich zurück über die Brücke und betrete den Uferweg. Der Rhein beginnt sich hier zu weiten und umfließt drei Inseln. Zeitfern und schutzwürdig stehen sie da, auf eine von ihnen führt ein Holzsteg, dort soll der Mönch St. Otmar begraben worden sein. Die andern sind den Vögeln vorbehalten, auf Tafeln kann man das ornithologische Inhaltsverzeichnis der Inseln bestaunen. Den Wörtern Schnatterenten und Löffelenten bin ich bis jetzt nicht begegnet.
Ich verlasse den Kanton Schaffhausen und komme nach Eschenz, im Hoheitsgebiet des Kantons Thurgau. Auf einem Wegweiser zum Rhein steht »Buebebadi«. Während der nächsten 500 Meter denke ich über diese Einrichtung nach, überlege mir, was wohl passiert, wenn ein Mädchen in die Buebebadi käme, denn der Rhein sollte ja für alle da sein. Dann stoße ich auf den Wegweiser »Maitlibadi«, der allerdings mit der Warnung versehen ist »Nur für Einheimische«. Im Thurgau, fällt mir ein, ist man katholisch.
Schwalben sausen in Bodennähe über den Acker zu meiner Rechten, manchmal fliegt eine so knapp an mir vorbei, dass ich froh bin, keine Mücke zu sein.