Rheingewinn - Harald Schneider - E-Book

Rheingewinn E-Book

Harald Schneider

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Beschreibung

Während sich Palzki auf Einladung seiner Cousine Elke Bissinger auf einem Hafenfest des Wormser Jachtclubs aufhält, wird dessen 1. Vorsitzende ermordet. Bei seinen Ermittlungen erhält er Hilfe von Elkes Mann Claus, der im Jachtclub Hafenmeister ist. Palzki entdeckt nach und nach die düsteren Geheimnisse einzelner Mitglieder. Nach einem zweiten Todesfall kommt es zu einer Verfolgungsjagd auf dem Rhein - bis ins Speyerer Reffenthal. Kann Palzki den gefährlichen Einsatz zum Abschluss bringen und einen handfesten Skandal aufdecken?

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Harald Schneider

Rheingewinn

Kriminalroman

Zum Buch

Hafenmorde Während sich Palzki auf Einladung seiner Cousine Elke Bissinger auf einem Hafenfest des Wormser Jachtclubs aufhält, wird dessen 1. Vorsitzende ermordet im Hafenbecken gefunden. Wegen einer seit Jahren anhaltenden Fehde, lässt der Wormser Kripochef Palzkis zufällig anwesenden Chef Klaus P. Diefenbach festnehmen. Im Auftrag des Ludwigshafener Polizeipräsidenten muss Palzki fortan inoffiziell ermitteln. Hilfe erhält er von Elkes Mann Claus, der im Jachtclub Hafenmeister ist. Palzki entdeckt nach und nach die düsteren Geheimnisse und Pläne einzelner Vereinsmitglieder und eines Bootshändlers. Als die Leiche eines Bootsbesitzers auftaucht und eine Jacht explodiert, kommt es zu einer rasanten Verfolgungsjagd auf dem Rhein bis ins Speyerer Reffenthal. Nur langsam und unter größten Schwierigkeiten kann Palzki die offenen Fragen zu passenden Puzzlestücken verbinden. Kann er seinen bisher gefährlichsten Einsatz zum erfolgreichen Abschluss bringen und einen handfesten Skandal aufdecken?

Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 23. Fall »Rheingewinn«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Marc Braner / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7756-0

Vorrede

»Was ist mit dir los? Du siehst so schlecht aus!«

»In der Tat, ich suche den Mörder meiner Frau.«

»Was? Um Himmels willen, deine Frau wurde ermordet?«

»Nein, ich sagte doch, dass ich noch suche.«

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Vorrede

Inhalt

Personenglossar

Die verhängnisvolle Einladung

Eine fast friedliche Idylle …

Rettung!

Der etwas unübliche Auftrag

Mannheimer Knastgeschichten

Jachterlebnisse

Siegelbruch

Innovative ärztliche Dienstleistungen

Verwirrende Erkenntnisse

Mitgliederschwund

Jede Menge Besucher

Fast wie Bruce Willis

Es ist kompliziert

Gewinner und Verlierer

Danksagung

Jacht oder Yacht – das ist hier nicht die Frage

Bonus Ratekrimi – Palzki und das Zahlenschloss

Bonus Ratekrimi – Palzki und der Motorradfahrer

Lesen Sie weiter …

Personenglossar

Stammpersonal

Reiner Palzki: Kriminalhauptkommissar und stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalinspektion Schifferstadt

Klaus P. Diefenbach: Palzkis Chef, Spitzname KPD

Gerhard Steinbeißer, Jutta Wagner, Jürgen: Kollegen Reiner Palzkis

Stefanie Palzki: Reiner Palzkis Ehefrau mit den Kindern Melanie, Paul, Lisa und Lars

Frau Ackermann: Palzkis Nachbarin, die Frau, die schneller spricht als ihr Schatten

Dietmar Becker: Krimischreibender Student

Doktor Matthias Metzger: Not-Notarzt

*

Realpersonen

Elke Bissinger: Reiner Palzkis Cousine, Ehefrau von Claus

Doktor Claus: Hafenmeister des Motor-Yacht-

Bissinger: Club Worms e.V.

Doktor Hans-Jürgen Krebs: 1. Vorsitzender des MYC und Zahnarzt

Professor Hans-Bernd Hopf: Mediziner im Ruhestand

Stefan Baum: Jurist und Kassenwart des MYC

Kerstin und Manfred Prangenberg: Vorstandsmitglied Kerstin und ihr Ehemann

Oliver Allegro: Bootshändler und Geschäftsführer der Allegro Handels GmbH

Günter Wallmen: Gehilfe von Doktor Metzger

Robert Schmidt: Inhaber der Currysau in Speyer

Die verhängnisvolle Einladung

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Der stämmige und kräftige Mittfünfziger hob bedrohlich seine Schultern und schaute mir mit stechendem Blick direkt in die Augen, dabei grinste er unheilvoll wie ein Westernheld kurz vor dem Ziehen der Waffe. Als psychologisch geschulter Polizeibeamter deutete ich seine unterbewusst ausstrahlenden Körpersignale als kurz bevorstehende Katastrophe. Er meinte mich, keine Frage. Während er langsam auf mich zuschritt, schoss mein Adrenalinspiegel auf ein nie erlebtes Allzeithoch. Bewegungsunfähig starrte ich mit halb offenem Mund die sportliche Gestalt an, die eine Aura und eine Autorität ausströmte, die keinerlei Widerrede duldeten.

Sein Grinsen wurde breiter, dennoch schätzte ich die von ihm ausgehende potenzielle Gefahr nicht ungefährlicher ein, eher im Gegenteil. Er fragte mit drohender Stimme: »Na, erkennst du mich nicht wieder?«

Durch seine unerwartete Frage gewann ich etwas Zeit. Noch immer hatte ich keinen vernünftigen Plan, wie ich dieser Situation begegnen konnte. Einzig der Ort, an dem wir uns befanden, gab mir ein Fünkchen Hoffnung. Würde es mein Gegner wagen, mich mitten in der Ludwigshafener Rheingalerie anzugreifen? Die Passanten, die uninteressiert mit scheinbaren Scheuklappen an uns vorbeihetzten, um das nächste Geschäft zu entern, waren mir keine Hilfe. Niemand nahm in der Anonymität des Einkaufstempels meine Notsituation wahr. Selbst wenn es den hiesigen Kollegen später gelingen sollte, Zeugen für dieses Aufeinandertreffen zu finden: Mir würde das, gesundheitlich gesehen, rein gar nichts nutzen. Ich überlegte, wann ich diesen Burschen überführt und in den Knast gebracht haben könnte. Es musste wohl sehr lange her sein, denn er sah mir eher nach lebenslanger Haft als nach einer Bewährungsstrafe wegen zu schnellen Fahrens aus.

»Du erkennst mich wirklich nicht mehr, oder?« Mein Gegner blieb abrupt stehen und lachte. Seltsamerweise war es kein höhnisches Lachen, eher ein freundliches.

»Ich habe zurzeit Urlaub, daher sehe ich vielleicht etwas verlottert aus.« Er strich sich mit der Hand über seinen ziemlich zerrupften Dreitagebart. »Mannomann, du erkennst mich wirklich nicht mehr, Reiner.« Seine Hand schnellte nach vorne.

Im Reflex zuckte ich zusammen, bis ich bemerkte, dass er mir lediglich die Hand zur Begrüßung reichte. Zwecks Deeskalation schlug ich sofort ein, blieb aber in Habachtstellung.

»Da kommt auch schon die Elke.« Er schaute in Richtung eines Schuhgeschäfts.

»Welche Elke?«, fragte ich, doch der Kerl grinste nur.

»Hallo, Reiner«, begrüßte mich die Frau im gleichen Moment, in dem ich sie erkannte: Elke Bissinger, meine Cousine, die ich schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Eine zentnerschwere Last fiel von meinen Schultern.

»Mit deinem Bart habe ich dich wirklich nicht erkannt«, erklärte ich Elkes Mann, Claus, während sich mein Adrenalinspiegel spürbar senkte.

»Das kratzige Ding kommt spätestens morgen wieder ab«, sagte meine Cousine mit fester Stimme. Dann wandte sie sich an mich: »Was machst du alleine in der Rheingalerie? So viel ich weiß, zählt in deinen Augen Einkaufen zu den modernen Todsünden. Deine Frau hat uns zu diesem Thema ein paar wilde Geschichten über dich erzählt.«

Wie recht sie mit ihrer Vorstellung hatte. Zwei- oder dreimal hatte Stefanie versucht, mit mir gemeinsam Klamotten kaufen zu gehen. Jedes Mal erreichten wir nach kürzester Zeit die höchste aller innerfamiliären Eskalationsstufen. Ich war mir sicher, dass man die Scheidungsquoten halbieren könnte, wenn es ein Gesetz gäbe, das Ehepaaren verbot, gemeinsam Kleidung zu kaufen.

»Stefanie ist mit Melanie beim Kieferorthopäden in der Fußgängerzone. Da zurzeit meine Schwiegermutter bei uns ist, habe ich angeboten, die beiden nach Ludwigshafen zu fahren.« Dass ich mit diesem Angebot meiner Schwiegermutter aus dem Weg gehen wollte, hielt ich nicht für erwähnenswert.

»Und da wartest du hier?«

»Der Wagen steht oben auf dem Parkdeck. Ich war vorhin kurz draußen am Rheinufer, aber für Anfang April finde ich es noch ziemlich frisch.« Ich deutete ein Frösteln an.

Claus schaute bereits die ganze Zeit seine Frau mit seltsamem Blick an. »Sehe ich wirklich so schlimm aus mit den Bartstoppeln? Reiner hat mich angestarrt, als wäre ich ein Verbrecher.«

»Nein, nein«, wiegelte ich sofort ab. »Ich habe dich nur verwechselt. Irgendwie hast du mich im ersten Moment an – ach, ist ja egal. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, euch an diesem Ort zu treffen.«

»Alles in Ordnung«, beschwichtigte meine Cousine und blickte in die Ferne. »Da hinten sehe ich Stefanie und Melanie kommen.«

Nach einem mittelgroßen Begrüßungsintermezzo, von dem unsere Tochter wegen ihrer Ohrstöpsel rein gar nichts mitbekam, meinte Stefanie mit einem listigen Blick zu den beiden Bissingers: »Eigentlich müsste ich jetzt die Gelegenheit am Schopf packen und meinen Mann in eines der Kleidergeschäfte zerren. Sämtliche Hosen und Hemden, die ich ihm in den vergangenen 20 Jahren gekauft habe, hat er bei seinen Ermittlungen im Dienst ruiniert. Schaut ihn euch ruhig mal näher an: Reiner läuft in Klamotten herum, die im vergangenen Jahrtausend gekauft wurden.«

»Ich achte eben sehr auf Nachhaltigkeit, damals wurden noch bequeme Sachen produziert«, konterte ich und wollte das Gespräch in eine andere Richtung lenken, hatte aber nicht mit der Hartnäckigkeit meiner Frau gerechnet.

»Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als ihm ein paar Sachen im Internet zu bestellen«, meinte sie seufzend. »Ich hoffe, dass die Kleider passen und vor allem, dass sie rechtzeitig geliefert werden, bevor Reiners Urlaub vorüber ist. Mit diesem Outfit werde ich ihn jedenfalls nicht arbeiten gehen lassen.«

»Schreibst du mir dann eine Entschuldigung?«, fragte ich, um das Thema ins Lächerliche zu ziehen.

»Reiner hat auch Urlaub?«, fragte Elke. »Das trifft sich gut. Was meinst du, Claus?«

Ihr Mann sah sie ratlos an.

»Das Hafenfest meine ich«, zischte sie ihm zu.

»Ach so, ja, natürlich.« Er schaute zu mir. »Am Samstag haben wir unser jährliches Hafenfest. Wollt ihr nicht dazukommen? Das ist immer sehr lustig, und ihr lernt bestimmt ein paar nette Leute kennen.«

Stefanie strahlte. »Was meinst du, Reiner? Wir gehen sowieso viel zu selten gemeinsam aus. Und da zurzeit meine Mutter bei uns ist, brauchen wir die Kinder nicht mitzunehmen.«

Ich dachte weniger an unsere Kinder. Ein paar Stunden ohne meine Schwiegermutter waren ein paar gute Stunden.

»Sollen wir etwas mitbringen?«, freute sich eine glückliche Stefanie. »Einen Salat oder einen Kuchen?«

»Nein, nur gute Laune«, sagte Elke. »Den Weg kennt ihr ja.«

Elkes Mann Claus war im Vorstand des Jachtklubs Worms, der ein eigenes Vereinsgelände nebst Hafen unterhielt. Vor zwei Jahren hatten sie uns auf ihrem Motorboot zu einem kleinen Ausflug auf Rhein und Neckar eingeladen. Seit diesem Tag weiß ich, dass man durchaus auch auf einem Fluss seekrank werden kann. »Bist du noch Hafenmeister?«

Claus bestätigte und begann sofort zu schwärmen. »Wir haben in den vergangenen Jahren kräftig renoviert und das Gelände samt Vereinsheim auf Vordermann gebracht. Als aktuelles Projekt erneuern wir gerade die Tankanlage der vereinseigenen Tankstelle.«

Ich bemerkte, wie Stefanie plötzlich erblasste.

»Was ist los?«, fragte ich sie ängstlich, da ich nichts gesagt hatte und somit zumindest verbal in kein Fettnäpfchen getreten sein konnte.

»Wir können nicht zum Hafenfest.«

»Warum nicht? Den Weg nach Worms finde ich sogar ohne Navi.«

Meine Cousine nickte. Sie verstand Stefanies Problem, ohne dass sie es ausgesprochen hatte. »Es ist ein zwangloses Fest, niemand kommt im Anzug oder Abendkleid. Eine sportlich legere Kleidung ist völlig okay.«

»Aber nicht dieser ausgebeulte Museumslook«, meinte meine Frau bissig und starrte mich an. »Wenn du mit mir zu dem Hafenfest willst, hast du jetzt genau eine einzige Chance.« Ihre Augen schweiften in tödlicher Entschlossenheit auf das Bekleidungsgeschäft schräg gegenüber.

Ein Verweis auf das Fernsehprogramm am kommenden Samstag, um dem Fest entgehen zu können, hätte zum ersten Kapitalverbrechen in der Rheingalerie geführt. Mit demütigem Blick gab ich mein Einverständnis. Fremdbestimmung dieser Art war ich seit Jahren bis zum Exzess ausgeliefert.

Zum Abschied schlug mir Claus grinsend auf die Schultern. »Armer Reiner, die Ehe ist kein Paradies, das ist sie noch nie gewesen.« Er zwinkerte mir schelmisch zu, ohne dass es seine Frau bemerkte.

»Da freue ich mich jetzt sehr darauf«, meinte Stefanie, nachdem sich Bissingers verabschiedet hatten.

»Aufs Klamottenkaufen?«, fragte ich entsetzt.

Meine Frau zog eine Schnute. »Ich meine natürlich das Hafenfest.«

»Wie lange dauert das denn noch?«, maulte nun Melanie, die einen ihrer Ohrstöpsel entfernt hatte. »Ich will nach Hause, in einer halben Stunde muss ich im Chat sein.«

»Da wirst du Pech haben«, meinte ihre Mutter. »Ich gehe erst noch mit Papa in das Kleidergeschäft dort drüben.«

Melanie wurde leichenblass. »Ne, oder?«

»Das Leben ist nicht immer ein Paradies«, gab ich ihr zu verstehen.

»In dieser Familie ist es die Hölle«, antwortete sie trocken. »Sobald ich 16 bin, ziehe ich aus.«

»18, wolltest du sagen«, verbesserte ich sie. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege …«

»Hört auf zu streiten und euch gegenseitig hochzuschaukeln«, unterbrach uns Stefanie streng. »Du kannst solang in der Buchhandlung auf uns warten, Melanie. Such dir ein schönes Buch aus.«

»Ein Buch?« Melanies Stimme überschlug sich beinahe. »Was soll ich mit einem Buch? Ihr findet mich im Laden gegenüber bei den Handys.« Trotzig trabte sie davon.

Stefanie schnaufte ein paarmal fest durch. »Das mit Melanies Auszug mit 16 Jahren lasse ich mir noch mal durch den Kopf gehen.«

Die deutsche Sprache gilt als die Sprache der Dichter und Denker. Mit der immensen Wortvielfalt kann keine andere Sprache der Welt mithalten. Wenn es darum geht, Emotionen, blumige Beschreibungen oder detaillierte Sachverhalte niederzuschreiben, ist die deutsche Sprache geradezu prädestiniert. Hinzu kommt, dass die mannigfaltigen Einflüsse aus anderen Sprachfamilien seit Jahrhunderten für eine lebendige Verständigung sorgen.

Trotz dieser perfekten Voraussetzungen ist es leider unmöglich, die Szenen, die sich in der nächsten Stunde zwischen dem Ehepaar Palzki abspielten, mit Worten zu beschreiben. Sämtliche Versuche scheiterten bereits im Ansatz kläglich. Autor, Lektorat und der Weltsicherheitsrat entschieden in einer Dringlichkeitssitzung, dass es dem Fortgang der Geschichte nicht allzu abträglich ist, wenn der Nachwelt Informationen zum Kleiderkauf der Familie Palzki verschwiegen werden.

Eine fast friedliche Idylle …

»Bist du soweit?«

»Ja«, rief ich zurück. Stefanie wuselte seit den frühen Morgenstunden aufgeregt in der Wohnung herum. Bereits gestern hatte sie eine prall gefüllte Wagenladung Lebensmittel nebst mehreren Limokästen besorgt, damit der Rest der Familie sowie ihre Mutter in unserer immerhin mehrstündigen Abwesenheit nicht Hunger leiden mussten. Warum sie ausgerechnet heute eine große Aufräumaktion im Wohnzimmer und in der Küche starten musste, erschloss sich mir nicht. Ich hütete mich aber davor, sie nach ihrem Motiv zu fragen. Hatte sie die Einladung zum Hafenfest mit einer Einladung zur Weltumsegelung verwechselt? Gegen Mittag hatte sie begonnen, ihren Kleiderschrank auszuräumen. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. Während ich mich geistig auf unseren Termin vorbereitete und zeitunglesend auf der Couch lag, vernahm ich vereinzelte Satzfetzen aus dem Schlafzimmer wie beispielsweise: »Nein, das ist wohl zu bunt« oder »viel zu eng« oder »nicht mehr modern« oder »zu aufdringlich« oder »ich weiß nicht«.

»Ich dachte, du bist fertig?« Ich erschrak. Stefanies Stimme klang jetzt viel lauter. Ich faltete die Zeitung zusammen und entdeckte, dass meine Frau vor mir stand. Um ihr mit einem Lob zu imponieren und zugleich ihre Selbstzweifel zu zerstreuen, flötete ich ihr zu: »Du siehst gut aus, Stefanie. Das Zeu…, äh, das Ding steht dir wirklich fantastisch.«

»Mist«, sagte sie und verzog ihren Mund. »Dann ziehe ich vielleicht doch besser das …«

»Was soll das!«, unterbrach ich sie harscher als beabsichtigt. »Das passt alles gut zusammen, und außerdem sollten wir langsam losfahren.«

Meine Frau sah mich streng an. »Du bist ja auch noch nicht fertig. Bis eben hast du Zeitung gelesen.«

»Natürlich bin ich fertig.« Ich sprang möglichst leichtfüßig von der Couch auf. »Ich habe die neue Hose an und auch eines der neuen Hemden, die wir gekauft haben.« Die Hose zwickte unangenehm an mehreren Stellen gleichzeitig. »Ich muss nur noch die Schuhe anziehen.« Ich hatte noch nie verstanden, warum Frauen so viel Zeit investierten, um »fertig« zu sein.

»Na ja, meinetwegen«, murmelte sie. »Was willst du mit dieser verbeulten Tasche?«

»Mitnehmen«, erklärte ich mit ernster Miene. »Da sind meine Sodbrennentabletten drin. Wer weiß, vielleicht gibt es beim Hafenfest Weinzwang, und die ausgeschenkte Sorte ist eine von den sauren Sorten.«

»Und was hast du sonst noch in der Tasche? Einen halben Werkzeugkasten?«

»Ach Quatsch«, spielte ich herunter. »Nur ein paar Kleinigkeiten, damit ich für alle Eventualitäten gerüstet bin. Die Tasche lasse ich nachher im Wagen liegen.«

Die Verabschiedung von unseren Kindern war schonungslos kurz. Melanie schaute nicht einmal von ihrem Handy auf, Paul vermittelte dagegen den Eindruck, als warte er nur darauf, dass wir losfuhren, damit er irgendetwas Unheilvolles anstellen konnte. Die dreijährigen Zwillinge Lisa und Lars befanden sich mitten in einer bilateralen Diskussion und bewarfen sich gegenseitig mit Duplo-Steinen. Die diplomatischen Friedensverhandlungen überließen wir Stefanies Mutter und schlichen uns nach draußen.

»Bin ich wirklich so eine schlechte Mutter?«, fragte mich meine Frau während der Fahrt. »Ich freue mich so auf dieses Fest, und den Kindern scheint das vollkommen egal zu sein. Hauptsache, die Wäsche wird gewaschen und das Essen steht pünktlich auf dem Tisch.«

»Jetzt beruhige dich doch«, antwortete ich mit warmer Stimme. »Den Kleinen kannst du wirklich keinen Vorwurf machen, oder hast du dich mit drei Jahren für die Sorgen deiner Eltern interessiert?«

»Das nicht, aber von Melanie und Paul hätte ich mehr Interesse erwartet«, entgegnete sie. »Sie hätten uns wenigstens viel Spaß wünschen können.«

»Die beiden werden selbstständig, Stefanie. Eltern sind für pubertierende Kinder nur ein notwendiges Übel. Sie meinen es sicherlich nicht böse. Jetzt lasse aber mal deine unbegründeten Sorgen zu Hause und freue dich mit mir auf die kommenden Stunden. Das wird bestimmt ein schöner Tag.«

Meine Frau schaute mich zweifelnd von der Seite an. »Und du? Freust du dich auch? Oder würdest du lieber auf der Couch liegen und in die Glotze starren?«

»Aber nein!«, wehrte ich mich energisch und zog die am Oberschenkel kneifende Hose zurecht. »Ich freue mich genauso wie du. Ich hatte schließlich in den vergangenen zwei Wochen Urlaub, und das Hafenfest ist weit entfernt von meiner Dienststelle. Es ist auszuschließen, dass mir ausgerechnet dort mein Chef oder ein Kollege über die Füße laufen oder es gar zu einem Kapitalverbrechen kommt.«

Stefanie nickte zaghaft. »Für mich ist es auf jeden Fall sehr beruhigend, dass Herr Diefenbach nicht dabei ist. Jedes Mal, wenn wir gemeinsam mit deinem Chef irgendwo eingeladen waren, gab es einen Todesfall.«

»Heute wird es höchstens ein paar sprichwörtliche Bierleichen geben«, konterte ich. »Außer, es herrscht Weinzwang. Für diesen Fall habe ich mit meinen Tabletten vorgesorgt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte meine Frau. »Elke meinte, dass es ein ungezwungenes Fest wird. Ich freue mich darauf, ein paar nette Leute kennenzulernen. Was meinst du, sollen wir im Sommer eine Flusskreuzfahrt buchen?«

Schlagartig wurde mir übel. »Erinnerst du dich noch an die Fahrt auf dem Motorboot von Claus und Elke? Ich habe zwei Tage benötigt, um meinen Gleichgewichtssinn wieder in die Reihe zu bekommen.«

Stefanie versuchte, mich mit unbewiesenen Argumenten zu überzeugen, dass eine Flusskreuzfahrt nicht mit einer Fahrt auf einer kleinen Jacht vergleichbar sei. Als nonverbale Antwort konzentrierte ich mich auf den Verkehr und gab ab und zu ein neutrales Brummen von mir.

Bald fuhren wir im Wormser Süden auf der B9 parallel am Tiergarten vorbei. Da ich mir keine Blöße geben wollte, ließ ich das Navi ausgeschaltet. Die Streckenführung zum Jachthafen war kompliziert, auch wenn dieser höchstens 500 Meter Luftlinie von der B9 entfernt lag. Ohne mich zu verfahren, fanden wir auf halber Strecke den größeren, aber zum Teil versandeten Floßhafen.

»Da drüben geht’s rein«, erinnerte sich Stefanie und zeigte auf eine Schotterpiste, die wohl aus gutem Grund nur für Anlieger frei zu befahren war. Wir schaukelten und hüpften im Schritttempo von Schlagloch zu Schlagloch am Gelände des Kanuvereins vorbei und erreichten schließlich ohne einen Achsenbruch das offene Tor des Jachthafens.

Zur linken Seite befand sich der etwa vier Fußballfelder große Binnenhafen, dessen Wasserfläche aufgrund des herrschenden Niedrigwassers einige Meter tiefer lag. Der längliche Jachthafen lag parallel zum Rhein, getrennt durch einen etwa 20 Meter breiten Damm, auf dem kurz vor dem Durchstich zum Fluss am anderen Ende des Hafens, das Vereinsheim hochwassergeschützt auf mächtigen Betonstelzen stand. Die aus schwimmenden und miteinander verbundenen Pontons bestehenden Anlegestellen befanden sich zentral mitten im Hafen und waren fast allesamt mit Booten in den unterschiedlichsten Größen und Varianten belegt. Über eine je nach Wasserstand verstellbare metallene Treppenstiege konnte der Pontonbereich betreten werden. Eine größere Jacht fuhr gerade mit einem waghalsigen Tempo in Richtung Rhein, was für einen mächtigen Wellengang im Hafen sorgte und die vertäuten Boote kräftig schaukeln ließ.

 

»Da hat es jemand ziemlich eilig«, sagte ich zu meiner Frau. Ich registrierte, dass Stefanie in die entgegengesetzte Richtung schaute. Auf einer großen Wiese, die innerhalb des eingezäunten Geländes lag, waren zahlreiche Bierzeltgarnituren aufgebaut, die gut zur Hälfte mit Menschen besetzt waren.

»Wir sind da«, meinte Stefanie und zeigte auf die schätzungsweise 40 – 50 Personen.

Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich, denn ich hatte etwas entdeckt, was mir gar nicht gefallen wollte.

»Was ist mit dir los, Reiner? Warum bist du plötzlich so blass?« Sie zögerte eine Sekunde. »Du hast den Wagen deines Chefs entdeckt, stimmt’s?«

Ich schüttelte den Kopf, schaute aber dennoch auf den Fuhrpark der Gäste am Rand der Wiese. »Viel schlimmer«, stammelte ich.

»Schlimmer?« Stefanies Unterkiefer klappte nach unten. »Eine Leiche?«

»Können wir unauffällig wenden und wieder heimfahren?«, nuschelte ich ihr zu.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie. Meiner Frau fehlte eindeutig der Weitblick. Ich zeigte mit zittriger Hand auf die parkenden Autos.

»Porsche, Lamborghini, Maserati, schau dir das doch mal an«, stammelte ich. »Hier sind wir fehl am Platz. Ich kann hier unmöglich parken. Für den Wert meines Wagens würde man nicht einmal einen Satz Reifen für eine dieser Karossen bekommen.«

Stefanie schüttelte verärgert den Kopf. »Ist das dein ganzes Problem, mein lieber Mann? Elke hat uns vergangenes Jahr erzählt, dass im Verein viele Ärzte, Rechtsanwälte und mittelständische Unternehmer Mitglied sind. Das sind aber auch nur Menschen wie du und ich. Egal ob reich oder nicht: Alle kochen nur mit Wasser.«

Nachdem ich mehrere Schrecksekunden überwunden und mich beruhigt hatte, musste ich ihr insgeheim recht geben. Zu viele hochrangige Mitglieder der Gesellschaft hatte ich in meiner Karriere zur Strecke gebracht, was aber nicht hieß, dass jeder Akademiker per se ein Verbrecher ist. Ob sich ein Mensch im Laufe seines Lebens zum Mörder oder Verbrecher entwickelt, ist nicht allein vom sozialen Status abhängig. Einen wesentlichen Unterschied gibt es meiner Meinung dennoch: Je höher der Bildungsstand der Täter war, desto gewiefter waren dessen Methoden, was vermutlich an dem erworbenen Wissen lag. Ein Chemiker hatte zweifellos Expertisen in der Anwendung seltener Gifte, ein Arzt kannte Möglichkeiten, die jeden schlampig arbeiteten Gerichtsmediziner täuschten, und ein Ingenieur verfügte als raffinierter Fallenbauer über einen physikalischen Background.

Am intellektuell anderen Ende standen Täter mit eher einfachem Gemüt, die ihre Opfer mit einer Bratpfanne erschlugen, weil sie in einer Chatgruppe gelesen haben, dass Pfannen antihaftbeschichtet sind.

Ich atmete kurz durch und parkte frech zwischen einem Porsche und einem Mercedes AMG. Getrieben von einem inneren Unruhegefühl scannte ich in Ruhe sämtliche Wagen und deren Kennzeichen ab.

Stefanie lächelte mich belustigt an. »Schaust du, ob Diefenbachs Dienstwagen darunter ist?«

Ich wollte gerade antworten, da wurden wir Zeugen eines Streits zweier Personen.

»Das können wir doch nachher in Ruhe klären, Stefan«, ereiferte sich ein sportlich schlanker Endfünfziger mit gestutztem Schnurrbart.

»Ich lass mich nicht schon wieder hinhalten« antwortete ein etwas untersetzter Mann, der eine dicke Zigarre in der Hand hielt. »Als Rechtsanwalt kann ich dir aber den Tipp geben, besser auf deine Frau Kerstin aufzupassen.«

»Lass meine Frau aus dem Spiel. Außerdem hat sie mit der Sache nichts zu tun.« Der Schnurrbartträger klang für einen kurzen Moment verwirrt.

»Ich meine ja nur«, antwortete sein Kontrahent. »Hast du sie gesehen?« Er wartete ein paar Sekunden ab. »Hans-Jürgen ist gerade mit seiner Jacht raus auf den Rhein.«

»Willst du damit etwa andeuten, dass …?« Sein Kontrahent stand kurz vor einem Wutanfall, doch sofort beruhigte er sich wieder. »Du willst bloß ablenken, weil du …«

In diesem Moment trat von hinten Claus Bissinger auf die beiden zu und legte beschwichtigend seine Arme auf deren Schultern. »Macht mal halblang, ihr beiden Streithähne«, sagte er und lachte dabei. »Wir trinken jetzt erst mal zusammen ein frisch gezapftes Bier, dann sieht die Welt wieder besser aus.« Dann entdeckte er uns.

»Ah, hallo, da kommt ja unser hoher Besuch.«

Unsicher gingen wir auf die drei zu. Der Zeitpunkt unserer Ankunft war nicht der passendste, was Claus aber mit seiner Lockerheit überspielte.

»Darf ich euch Reiner Palzki und seine Frau Stefanie vorstellen?«, sagte er zu seinen Vereinskollegen, die sich wieder beruhigt hatten. »Reiner ist der Cousin meiner Frau und ein sehr bekannter und besonders erfolgreicher Kriminalpolizist.«

Die beiden zuckten unisono zusammen. »Der Reiner Palzki aus Schifferstadt?«, fragte einer der beiden. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört beziehungsweise gelesen.«

»Hoffentlich nur Gutes«, entgegnete ich geschmeichelt.

»Jaja, natürlich«, bestätigte er sofort. »Ich hoffe, Sie sind nicht beruflich bei uns?«

Claus Bissinger nahm mir die Antwort mit einem Lachen ab. »Keine Angst, Stefan.« Zu uns gewandt, erklärte er: »Das ist Stefan Baum. Er ist Jurist und in unserem Verein der Kassenwart.« Nachdem wir die Hände geschüttelt hatte, stellte uns Claus die andere Person vor. »Das ist Manfred Prangenberg, seine Frau Kerstin ist Vorstandsmitglied.«

»Dann kommt mal mit«, sagte Claus nach der Begrüßungszeremonie. Baum und Prangenberg wünschten uns viel Spaß und gingen einträchtig in Richtung Ausschanktheke, als wäre nichts geschehen.

»Dort vorne sitzt die Elke.« Meine Cousine war in ein Gespräch vertieft und kehrte uns den Rücken zu. »Elke, dein Cousin ist da«, rief ihr Mann.

Elke drehte sich um und stand auf. »Hallo, ihr beiden, nett, dass es geklappt hat. Setzt euch doch zu uns.« Während wir ihrer Aufforderung nachkamen, stellte sie uns ihren Gesprächspartner vor. »Das ist Hans-Bernd Hopf, einer unserer Ärzte im Verein.«

»Längst im Unruhestand«, ergänzte Hopf humorvoll und bescheiden. »Herzlich willkommen auf unserer Vereinsanlage. Elke hat mir vorhin von Ihnen erzählt.«

»Habt ihr den Weg gut gefunden?«, fragte meine Cousine interessiert.

»Kein Problem«, antwortete ich stolz. »Ich habe gehört, es gibt Bier?« Mit meiner direkten Frage heimste ich bei Hopf ein paar Sympathiepunkte ein, wie mir sein Grinsen verriet. Außerdem hatte er ein halb gefülltes Bierglas vor sich stehen.

»Ich bringe Ihnen ein Glas mit«, sagte der pensionierte Arzt. Er trank sein Glas auf ex leer und stand auf. »Was darf ich Ihnen bringen, Frau Palzki?«

»Einen Apfelsaftschorle, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Mein Mann hat eben ohne mich beschlossen, dass ich auf dem Heimweg fahren darf.«

Eine beschwichtigende Antwort erübrigte sich, da sich nun Claus zu uns setzte. »Wir haben glücklicherweise einen sehr warmen Tag erwischt«, meinte er. »Trotzdem wird es gegen Abend kühler werden. Wenn es euch zu kalt wird, könnt ihr dann gerne direkt in unser Vereinsheim rübergehen. Irgendwann werden wir wahrscheinlich alle drin hocken.«

»Und der Ausschank?«, fragte ich neugierig.

»Alles doppelt angelegt«, erklärte Claus. »Einmal hier draußen sowie drinnen im Vereinsheim. Wir sind für alle Eventualitäten gerüstet. Für Wassersportfreunde wie uns gibt es kein schlechtes Wetter.« Er zeigte in Richtung Gebäude. »Passt bitte bei der provisorischen Absperrung neben der Treppe zu den Anlegestegen auf. Wir erweitern zurzeit die unterirdischen Tanks unserer vereinseigenen Tankstelle.«

 

Die beiden Zapfsäulen, die auf den Pontons im Wasser standen, hatte uns Claus schon beim vergangenen Besuch gezeigt. Jeder, egal ob Vereinsmitglied oder nicht, konnte mit seinem Boot in den Hafen fahren und mit einer Kreditkarte Diesel oder Superbenzin tanken. Der notwendige Treibstoff lagerte unterirdisch im oberen Bereich des Dammes und war gegen Hoch- und Druckwasser geschützt.

Im Lauf der nächsten Stunde stellten uns Elke und Claus weitere Mitglieder vor, deren Namen ich mir aufgrund der Menge nicht merken konnte. Mein Namensgedächtnis ist leider nicht sehr ausgeprägt, was für einen Polizeibeamten alles andere als ideal ist. Aber es war wie meistens im Leben: Man konnte nicht alles haben.

Beim dritten Bier erreichte mein Zufriedenheitspegel ein nahezu perfektes Level. Stefanie sah vergnügt aus und strahlte, das Wetter spielte mit, das Bier war kalt und schmeckte super, und die Leute, die wir kennenlernten, waren allesamt nett und wirkten kein bisschen abgehoben oder eingebildet. Diese friedliche Idylle könnte ewig anhalten. Leider war ewig im saloppen Sprachgebrauch ein ausgesprochen relativer Begriff.

Ein lauter Hilferuf ließ uns aufschrecken. »Da schwimmt ein Toter im Hafen!«, schrie eine hochfrequente Frauenstimme.

Mit offenem Mund starrte ich Stefanie an, sie starrte im gleichen Ausmaß zurück. »Da will uns jemand veralbern, oder?«, meinte ich in der Hoffnung, dass dem wirklich so war.

Neugierig sowie in homöopathischem Ansatz beruflich motiviert stand ich langsam auf und folgte einem runden Dutzend Personen, die in Richtung Wasser eilten. Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Bereits vom oberen Rand des Hafenbeckens konnte ich die Misere sehen: Ich stand neben der Treppe, die zu den Pontons führte, und die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenzugangs befand. In dieser Ecke sammelte sich regelmäßig viel Treibgut, vor allem Hölzer und Plastikmüll. Claus hatte mir erklärt, dass es im Rhein vor der Hafenzufahrt einen Strudel gab, der fast alles, was in Ufernähe rheinabwärts trieb, in den Hafen umlenkte. Auch zum jetzigen Zeitpunkt schwammen an dieser Stelle einige Bretter sowie viele Äste und Laub. Aufgrund der dunklen Jacke hätte man den Toten bei einem flüchtigen Hinschauen leicht übersehen können. Vermutlich sorgte die geschlossene Jacke des Toten für den notwendigen Auftrieb, denn Brust und Bauch befanden sich deutlich über der Wasserfläche, während Beine und Arme nicht zu sehen waren. Das Gesicht war übersät mit Laub und sonstigem Unrat.

 

Mehrere Personen standen bereits unten am Wasserrand und debattierten, wie man die Leiche, die höchstens fünf Meter vom Ufer entfernt trieb, bergen könnte. Während ich die Metalltreppe nach unten ging, rannte mir der Kassenwart Stefan Baum entgegen, was mich für einen kurzen Moment verwunderte. Doch dann sah ich, wie dieser eine der Holzlatten, mit der die Baugrube rund um die Benzintanks abgesichert war, mit roher Gewalt abriss und wieder nach unten rannte. Ein weiteres Vereinsmitglied war inzwischen ins Wasser gestiegen. Stefan Baum reichte ihm die Latte, und bereits beim zweiten Versuch konnte dieser die Leiche fassen und mit ruckartigen Bewegungen in Richtung Ufer treiben lassen.

»Meine Güte, das ist der Hans-Jürgen!«, schrie er, als er das Gesicht des Toten erkennen konnte. Mithilfe von zwei weiteren Personen wuchteten sie die Leiche auf das Schrägufer.

Während die Vereinsmitglieder ratlos und zweifelsohne schockiert herumstanden, hatte ich längst mein Handy gezückt und mit knappen Worten über den Notruf die örtliche Polizei informiert. Egal, ob ein Fremdverschulden vorlag oder nicht, dies war eindeutig ein Fall für die Polizei, und ich hatte nicht die geringste Motivation, mich in diese Sache einzubringen.

»Wir müssen die Polizei rufen«, hörte ich Stefan Baum zu den anderen sagen.

»Habe ich bereits veranlasst«, mischte ich mich ein. »Wer ist der Tote?«, fragte ich, um der Wormser Polizei eine kurze Starthilfe geben zu können.

»Das ist der Hans-Jürgen, also Hans-Jürgen Krebs«, erklärte mir Stefan Baum. »Das ist … äh … war unser Erster Vorsitzender. Und Zahnarzt war er auch, aber das ist ja jetzt egal.«

Den Vornamen hatte ich heute schon einmal gehört. »Ist das der, der vor einer guten Stunde mit seiner Jacht wie wild aus dem Hafen gedüst ist?«

Eine mir fremde Person antwortete: »Könnte sein, sein Boot liegt nicht in seiner Box.«

»Was ist passiert?« Von oben kam schnaufend Claus Bissinger angerannt. »Um Himmels willen!«, rief er, als er den Ersten Vorsitzenden auf dem Ufer liegen sah. »Tot?«, fragte er ungläubig.

»Wo warst du?«, stellte ich eine Gegenfrage. Inzwischen standen wahrscheinlich alle Besucher des Festes am Hafenbecken.

»Ich war in den Büros im Vereinsheim«, erläuterte Claus. »Wie ist das passiert, ein Unfall?«

»Keine Ahnung«, beschied ich ihm. »Die Wormser Polizei wird gleich hier sein.«

»Was machen Sie da?«, rief ich Hans-Bernd Hopf zu, der sich über die Leiche beugte.

»Vielleicht kann ich helfen«, antwortete der Mediziner im Ruhestand.

»Dem kann niemand mehr helfen«, attestierte ich als Nichtmediziner. »Bitte berühren Sie ihn nicht, die Spurensicherung wird bald kommen.«

»Spurensicherung?«, wunderte sich Claus und kombinierte: »Mord?«

Ich zog die Schultern hoch. »Außer er war Nichtschwimmer. Was aber nicht den Einschusskanal an der Schläfe erklärt.« Ob meine Feststellung den Tatsachen entsprach, wusste ich nicht, da ich die nichtblutende Wunde über dem linken Auge eben erst entdeckt hatte. Vieles sprach für ein Projektil, das keine nennenswerten Gefäße verletzt hatte und direkt in das Gehirn eingedrungen war.

»Erschossen?« Claus bekam große Augen, »Auf unserem Vereinsgelände?«

»Seine Jacht liegt nicht am Steg«, mischte sich Stefan Baum ein. »Vor einer guten Stunde soll er mit hohem Tempo den Hafen verlassen haben.«

Da ich noch kein Sondersignal hörte, stellte ich eine weitere Frage, die an die Anwesenden gerichtet war. »Kann jemand sagen, ob eine Person fehlt? Oder weiß jemand, ob der Tote alleine mit seiner Jacht unterwegs war?« Dies würde bedeuten, dass irgendwo auf dem Rhein ein herrenloses Boot trieb.

Ich hörte nur vielstimmiges Gemurmel. Niemand hatte etwas gesehen, keine Person wurde vermisst.

Kurz darauf fuhr ein langer Fahrzeugtross mit Höllenlärm auf das Gelände des Jachthafens. Warum die Beamten ihre Anfahrt auf dem Zufahrtsweg, der sowieso für den öffentlichen Verkehr gesperrt war, mit mindestens einem halben Dutzend Martinshörner ankündigen mussten, war mir ein Rätsel.

Das vorderste Fahrzeug, es war ein Zivilfahrzeug, versuchte, bis zum Treppenabgang zu fahren. Wegen der an dieser Stelle nur noch lückenhaft vorhandenen Absperrung der Baugrube konnte nur ein gewagtes Lenk- und Bremsmanöver den Absturz in die offen liegenden Benzintanks und somit eine gigantische Explosion verhindern.

Der Wagen hielt an, das Martinshorn verstummte, und der Enkel von John Wayne öffnete die Tür. Der stämmige Beamte stieg so formvollendet aus seinem Wagen wie die Westernlegende seinerzeit vom Pferd. Jede seiner Bewegungen, selbst seine todernste Mimik, musste er mit hohem Zeitaufwand vor einem Spiegel einstudiert haben. Seine Kleidung, bestehend aus Jeans, Jeanshemd mit Fransen sowie vor 40 Jahren modernen Cowboystiefeln, sollte seine Autorität unterstreichen. Getoppt wurde sein Outfit durch einen speckigen Westernhut. Nur der Gürtel mit den Colts fehlte, wobei ich vermutete, dass dieser im Auto lag.

Ich seufzte. Warum musste ausgerechnet immer ich mit solchen sehr speziellen und weltfremden Egomanen zu tun haben? Klar, ich konnte jetzt in die zweite Reihe treten und den weiteren Verlauf als Zuschauer beobachten. Als Polizeibeamter sah ich es aber als meine Pflicht an, die Lage zu klären und die erste Kontaktaufnahme auf ein erträgliches Niveau zu bringen, bevor der selbst ernannte Westernheld um sich schoss und den Verein grundlos dezimierte. Mutig trat ich auf ihn zu.

Sofort hatte mich Wayne im Visier. Breitbeinig bellte er mich an: »Was hat das zu bedeuten?« Er zeigte auf die offene Grube mit den beiden Tanks.

»Das sind Benzintanks«, brüllte ich zurück.

»Sie brauchen mich nicht anzuschreien«, schrie er zurück. »Ich bin nicht taub.« Inzwischen waren auch die anderen Martinshörner verstummt.

»Da muss ich mich wohl getäuscht haben«, sagte ich nun in normaler Lautstärke. »So laut, wie Sie anfuhren, da dachte ich …«

Mit einer unwirschen Armbewegung gab er mir zu verstehen, dass ich schweigen sollte.

»Was ist das?« Er zeigte erneut auf die offene Grube.

Leider war mein Mund mal wieder schneller als mein Gehirn. »Also blind und nicht taub.« Ich wusste sofort, dass ich einen neuen Feind hatte. Bevor er eine Kurzwaffe aus dem Wagen holte oder seiner Artillerie den Schießbefehl gab, ergänzte ich: »Das sind die Benzintanks der Tankstelle des Vereins. Wenn Sie dort mit Ihrem Wagen reingefallen wären, hätten die Wormser heute ein schönes Feuerwerk bewundern können. Schade um Ihren Hut, davon wäre nicht mehr viel übrig geblieben.«

Ich hatte den Westernhelden in eine ihm ungewohnte Situation gebracht. Bestimmt war ich einer der Ersten, der ihm nicht unterwürfig gegenübertrat, sondern mehr oder wenig offen provozierte. Sein großer Unterkiefer mahlte nervös, was ihn ausgesprochen debil aussehen ließ. Er schaute für einen kurzen Moment in die Grube, dann fixierte er mich wieder: »Darüber sprechen wir noch.« Mindestens 20 Beamte und Beamtinnen standen vor ihren Fahrzeugen und warteten ab.

»Möchten Sie etwas über den Ermordeten erfahren?«

»Ermordet?«, brummte er sofort. »Wer sind Sie überhaupt? Woher wollen Sie wissen, dass jemand ermordet wurde?«

»Hans-Jürgen Krebs, der Erste Vorsitzende des Vereins«, sagte ich. »Das ist der Tote, meine ich. Mein Name ist Reiner Palzki.«

Der Westernheld stutzte. »Palzki? Etwa der Palzki aus Schifferstadt?« Er betrachtete mich näher. »Aber ja, jetzt erkenne ich Sie wieder. Vor ein paar Jahren, die Sache bei den Nibelungenfestspielen, können Sie sich erinnern?« Seine Gesichtszüge verkrampften sich, seine Stimme war rauer geworden.

»Ja, ja«, antwortete ich fröhlich und stichelte weiter, »das war damals ein gewaltiges Desaster für die Wormser Kripo. Haben wir Schifferstadter nicht einen Maulwurf in Ihren Reihen aufgedeckt?«

»Und wenn schon«, konterte mein Gegenüber zornig. »Heute übernehme ich die Leitung. Kein Möchtegernbeamter aus einer anderen Dienststelle hat mir etwas zu sagen.« Ihm fiel etwas ein, hektisch blickte er sich um. »Treibt sich Ihr verrückter Vorgesetzter auch auf diesem Gelände herum? Diefenbach?« Er schnaufte hart durch. »Mit dem habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Und das nicht nur ich, die Hälfte der Wormser Beamten würde ihn nur zu gerne ein Weilchen in Untersuchungshaft stecken. Argumente hätten wir genug, auch Richter und Staatsanwalt wären auf unserer Seite.«

Ich hatte nicht die geringste Lust, über meinen Chef zu sprechen. »Ich bin aus privaten Gründen auf dem Fest. Diefenbach ist nicht da.«

»Privat?«, hakte John Wayne nach und nickte vielwissend. »Ich wusste gar nicht, dass man als Polizeibeamter so viel verdient, um sich eine Jacht leisten zu können. Jedenfalls werde ich mich nachher um Sie und Ihre finanziellen Verhältnisse kümmern. Jetzt zeigen Sie mir aber mal die Leiche.«

Ich verzichtete darauf, das Missverständnis mit der Jacht und meinen finanziellen Möglichkeiten aufzuklären. Mit der ausgestreckten Hand deutete ich auf den toten Vereinsvorsitzenden. »Er trieb im Wasser, Vereinsmitglieder haben ihn herausgezogen.«

Wayne gab mit einer groben Armbewegung seinen Mitarbeitern zu verstehen, dass sie mit ihrer Arbeit beginnen konnten.

Claus, in seiner Funktion als Hafenmeister, half den Beamten mit diversen Hilfsmitteln, die er aus einem der Nebengebäude besorgte, die Leiche nach oben zu bringen, damit Arzt und die Spurensicherung mehr Platz für die Untersuchung hatten. Weitere Beamte waren auf Geheiß ihres Chefs in das Wasser gestiegen und sammelten mit breiten Rechen das Treibgut in blaue Säcke.

Die restlichen Beamten nahmen die Personalien der Anwesenden auf. Irgendwann standen Stefanie und meine Cousine Elke neben mir.

»Du scheinst die Verbrechen magisch anzuziehen«, sagte meine Frau. »Und dieses Mal sogar ohne deinen Chef.«

»Da kann doch der Reiner nichts dafür«, verteidigte mich Elke. »Es ist nur schade, dass unser Hafenfest nun beendet ist. Und natürlich wegen Hans-Jürgen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihn umgebracht hat. Er war ein so lieber und netter Mensch.« Sie schaute mich an. »Bis du dir sicher, dass er umgebracht wurde?«

Ich nickte betroffen. Der Tote lag inzwischen auf einer Folie neben der Baugrube. Während der Erstuntersuchung durch den Notarzt hatte ich mich unauffällig in der Nähe postiert und so mitbekommen, dass tatsächlich ein Projektil in der Schläfe eingedrungen und am Hinterkopf beim Austritt einen beträchtlichen Teil des Schädelknochens herausgerissen hatte. Da der Tatort unbekannt war, hielt sich die Arbeit der Spurensicherung in Grenzen.

»Jetzt sind Sie wieder dran, Palzki.« Der Wormser Beamte mit dem mir nach wie vor unbekannten Namen kam auf mich zu gestiefelt.

»Von mir aus, Cowboy!«, brüllte ich angriffslustig zurück.

»Was?« Abrupt blieb er stehen. »Wie haben Sie mich eben angesprochen?«