Rhöner Nebel - Friederike Schmöe - E-Book

Rhöner Nebel E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Anja Riedeisen bittet Privatdetektivin Katinka Palfy um Hilfe: Sie ist zu einer Feier in dem Internat in der Rhön eingeladen, wo sie vor 30 Jahren ein freiwilliges soziales Jahr ableistete. Aber aus Gründen, die Anja selbst nicht klar sind, hat sie Angst vor der Begegnung mit ehemaligen Kollegen und Schülern. An Ort und Stelle überwältigen sie die Erinnerungen an den Suizid ihrer Freundin Kirsten. Erst jetzt kann Anja sich eingestehen, dass sie nie an Selbstmord glaubte. Katinka Palfy ermittelt - und etliche Ehemalige haben ein Problem damit!

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Friederike Schmöe

Rhöner Nebel

Kriminalroman

Zum Buch

Es ist nie vorbei Anja Riedeisen bittet Privatdetektivin Katinka Palfy um Hilfe: Sie ist zu einer Feier in dem Internat in der Rhön eingeladen, wo sie vor 30 Jahren ein freiwilliges soziales Jahr ableistete. Eine der Nonnen, die damals auch dort Dienst taten, feiert ihren 80. Geburtstag. Aber aus unerklärlichen Gründen fürchtet sich Anja vor der Begegnung mit ehemaligen Kollegen, Schülern und ihrer ersten großen Liebe. Katinka soll sie als Beschützerin – offiziell „als Freundin“ – begleiten.

Vor Ort überwältigen Anja die alten Erinnerungen an den Suizid ihrer Freundin Kirsten. Erst jetzt kann Anja sich eingestehen, dass sie nie an Selbstmord glaubte. Katinka Palfy beginnt zu ermitteln. Was haben der frühere Zivildienstleistende Tobias, der Kirstens Freund war, und die anderen ehemaligen Angestellten zu verbergen?

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst u. a. die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Matthias / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6300-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Albertus-Magnus-Internat hat es meines Wissens in der Rhön nie gegeben. Falls doch, dann ist die in diesem Buch erwähnte pädagogische Anstalt eine gänzlich andere. Alle Figuren, Klarnamen, Decknamen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten Sie Ähnlichkeiten mit realen Personen feststellen, selbst wenn diese auffällige Autos fahren, spielt Ihnen vermutlich gerade Ihr eigener Kopf einen Streich. Die hier geschilderte Zeitgeschichte allerdings spiegelt die »echten« späten 1980er-Jahre in der oberfränkischen Provinz wider, ihr Lebensgefühl, ihre Nischen und die sich Stück für Stück herbeischleichende Aufbruchsstimmung. Und natürlich reflektiert die Handlung auch das, was mehr als 30 Jahre später aus der Region geworden ist.

Friederike Schmöe

*

9.1.1988

1.

Die Provinzoberin ließ Schwester Gertrudis warten.

Gertrudis ging im Flur auf und ab, weniger aus Nervosität als wegen der Kälte, die ihr die Beine hochkroch. Unter dem Rock trug sie dicke Strumpfhosen; ihre Stiefel waren mit Fell gefüttert und die Strickjacke, ein Weihnachtsgeschenk von Romana, wärmte zusätzlich. Trotzdem fröstelte sie. Das Mutterhaus in Würzburg war ein alter Kasten, renovierungsbedürftig. Schaudernd dachte sie an die Zeit, die sie hier verbracht hatte, bevor sie vor fünf Jahren ins Internat in die Rhön versetzt worden war.

Vor dem Neuanfang dort oben hatte sie sich gefürchtet. Doch die Rhön mochte rau sein und eisig, stets vom Wind umtost und auf den ersten Blick wenig anheimelnd, Gertrudis hatte sich schnell eingewöhnt. Zudem waren die Fenster gerade erst ausgetauscht worden, sie selbst als Direktorin des Internats und Hausoberin hatte das veranlasst, und sogar in einem harten Winter wie diesem hatten sie und ihre Mitschwestern es warm und gemütlich. Es zog nicht, und aus dem Wasserhahn kam heißes Wasser, das hatte sie für das ganze Internat durchgesetzt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch im Mutterhaus konnte man davon nur träumen. Der Provinzleitung waren die Hände gebunden, selbst wenn eine von außen auferlegte Askese niemandem mehr zeitgemäß vorkam. Nein, Gertrudis kannte das Problem, das hinter der zunehmenden Verwahrlosung steckte: Geldmangel. Eine neue Heizung für das riesige Gebäude? Unerschwinglich. Moderne Fenster? Nicht dran zu denken.

Auch im Internat brauchte sie eine Strategie. Die Bäder für die Schüler waren vorsintflutlich. Bei der Besichtigung zum Ende des Schuljahres, wenn noch unentschlossene Eltern in die Eingeweide ihrer katholischen Erziehungsanstalt blickten, schämte Gertrudis sich jedes Mal für die grau gekachelten Badezimmer.

Die Tür öffnete sich.

»Gertrudis, entschuldige, dass du warten musstest. Ich wurde am Telefon aufgehalten!« Die Provinzoberin zog Gertrudis an sich und deutete einen Wangenkuss an. Sie war eine grobknochige, kräftig gebaute Frau. Eine Bohnenstange wie Gertrudis ertrank fast in dieser Umarmung.

»Nicht der Rede wert.«

»Wir müssen über so vieles sprechen. Tee?«

»Gern.« Gertrudis wurde ins Zimmer geschoben. Ihr stand der Sinn nicht nach Tee, im Mutterhaus wurde entweder Hagebutte oder die Hauskräutermischung gereicht, beides hatte sie so gut wie ein Leben lang schlucken müssen. Sie verbiss sich ein Lächeln, das Wortspiel sagte so viel aus. Aber Gertrudis würde sich hüten, die Provinzoberin durch eine Ablehnung zu reizen. Schließlich ging es um etwas. Irgendwo im Stock über ihnen klingelte ein Telefon.

»Hausmischung?«

»Ja, natürlich!«

Die Provinzoberin lächelte breit. Sie war frisch gewählt und stürzte sich voller Energie in jede noch so kleine Einzelheit ihrer Leitungsfunktion. Selbst wenn es nur darum ging, Tee einzugießen, wirkte sie dabei, als unternähme sie einen ausgeklügelten diplomatischen Schachzug. Nun wurde Gertrudis doch nervös.

Die Oberin ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Ein hölzernes Ungetüm, ein Erbstück, wie so viele Möbel hier. Jemand hatte sein Erbe dem Orden gespendet. Wohin mit all den alten Dingen?

»Berichte. Wie geht es euch da oben im Gebirge?«

Gertrudis hatte sich alles zurechtgelegt. Mit Zahlen konnte sie. Das Internat trug sich, noch, wurde großzügig vom bayerischen Staat unterstützt. Schließlich bot es Jugendlichen in einer strukturschwachen Region die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, mit zusätzlicher Betreuung sowie Sportangeboten, und darüber hinaus hatten sie ja seit zwei Jahren diesen Sonderzweig. Der kostete extra, wobei die Eltern der dort lernenden Schüler mehr als bereit waren, für die zusätzlichen Dienstleistungen zu zahlen.

»Wie geht es euren Versagern?«, kam die Provinzoberin zum Punkt.

»Den Begriff mag ich nicht so sehr«, konterte Gertrudis.

»Ich verstehe. Es handelt sich um Jugendliche, die einfach Pech hatten.«

»Nicht unbedingt Pech. Manchmal ist es eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände, die dazu führen, dass sie ihre Schulkarriere abbrechen, in die Sucht rutschen, von zu Hause weglaufen.« Gertrudis nippte an ihrer Tasse. Der gleiche, grasige Geschmack, den sie seit ihrem Noviziat vor beinahe 40 Jahren kannte. Ihr Magen krampfte sich empört zusammen. Sie ignorierte ihn, genauso wie den leidenden Blick des Gekreuzigten an der Wand hinter dem Schreibtisch.

»Ich bekomme ab und zu Anfragen von Reportern. Alles Mögliche wollen sie über euch wissen. Die entsprechenden Zeitungsausschnitte habe ich dir zugeschickt.« Die Provinzoberin lehnte sich zurück, strahlend vor Stolz.

»Die positive Resonanz freut uns. Das Konzept funktioniert. Die allermeisten Jugendlichen begreifen unser Internat und die Sonderförderung als ihre letzte Chance. Sie arbeiten mit. Das ist die Grundvoraussetzung.«

»Wohl wahr. Und die Bilanz?«

Gertrudis überlegte blitzschnell. Zum Ende des vergangenen Schuljahres war das Geld knapp geworden.

»Romana hat mir erzählt, dass die Spendensituation sich gebessert hat«, fügte die Provinzoberin hinzu.

Gertrudis wurde blass. Ihre Mitschwester Romana fungierte als ihre Stellvertreterin. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht. Zudem war Romana knapp zehn Jahre jünger, energiegeladen, robust und ehrgeizig. Sie würde liebend gern die Internatsleitung übernehmen. Probleme, die Gertrudis nicht schlafen ließen, stachelten Romana nur an, unkonventionelle Lösungen zu erarbeiten.

»Wir haben einen Vater, dessen Sohn Schulprobleme hatte und der von der Extrabetreuung profitiert. Ein Industrieller. Er spendet großzügig.«

Die Provinzoberin legte die Fingerspitzen aneinander. »Meine Liebe. Spenden sind gut. Leider sind sie nicht vorauszusehen. Ich brauche die Gewissheit, dass wir es mit den regulären Einnahmen schaffen.«

Wenn die Provinzoberin von Romana geimpft worden war, und ihr Hinweis auf die Spenden ließ keine anderen Rückschlüsse zu, war sie vielleicht mit den Zahlen besser vertraut, als sie durchblicken ließ. Gertrudis entschied sich, ehrlich zu sein.

»Selbstverständlich kosten die zusätzlichen Pädagogen Geld. Anders können wir jedoch die spezielle Förderung der Jugendlichen, die Schulprobleme haben, nicht leisten. Des Weiteren behelfen wir uns mit Referendaren, die keine Stelle im regulären Schuldienst bekommen haben. Sie übernehmen Stunden bei uns.«

Wieder das Telefon. Irgendwo über ihr.

»Nachhilfe.«

»Man kann es so nennen. Im Kern geht es um die individuellen Lerndefizite der Schüler. Die müssen aufgefangen werden. Außerdem helfen uns die Mädchen, die bei uns ihr freiwilliges soziales Jahr ableisten.« Gertrudis räusperte sich. »Womöglich können wir in dem Rahmen eine weitere Stelle einrichten. Dieser Förderzweig ist unsere einzige Chance, wenn wir auf lange Sicht bestehen wollen.«

Es war heraus. Gertrudis würde die Worte nie zurücknehmen können.

Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Grau hockte der Himmel auf den Dächern Würzburgs. In der Rhön würde es weiterschneien. Zeit, an den Aufbruch zu denken, wenn sie nicht im Dunkeln zu Hause ankommen wollte.

»Könnt ihr die Kosten drücken?«

»Da wäre auch noch unser Zivi …«

»Versteh mich nicht falsch. Ich möchte bei diesem Förderprojekt bleiben. Ich halte es für zukunftsfähig, wirklich! Wann immer ich kann, weise ich auf das Albertus-Magnus-Internat hin. Demnächst geht ein Informationsbrief an die Schulbehörden in Bayern und Hessen raus. Werbung ist alles. Nicht kleckern, klotzen. Eventuell können wir bei den Ministerien auf höhere Zuschüsse pochen.« Sie lachte laut und herzlich, während in ihrem Rücken das Fenster im Wind klapperte. »Du machst gute Arbeit, Gertrudis. Denk bitte daran: Spenden helfen, wenn es mal knapp wird. Doch hauptsächlich müssen die Einnahmen von den Beiträgen der Eltern und den staatlichen Mitteln kommen. Ich möchte nicht von einer Person abhängig werden. Das verstehst du sicher?«

Gertrudis nickte und murmelte ein paar Floskeln. Dieses Gespräch lief trotz allem nicht auf ein Desaster zu, wie sie zuvor gefürchtet hatte.

»Damit du dich vollständig auf das Internat konzentrieren kannst, möchte ich dir eine Belastung abnehmen. Ab Februar übernimmt Schwester Romana das Administrative. Du legst all dein Gewicht in die pädagogische Arbeit.«

Darauf lief es hinaus! Ein Schauder rann Gertrudis über den Rücken. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor einem Faustschlag schützen. Um Pädagogik ging es in ihrem Amt gerade nicht! Eher um Betriebswirtschaft.

»Ich …«

»Keine Widerrede. In unserem Alter müssen wir mit unseren Kräften haushalten. Leider sieht die Nachwuchssituation unseres Ordens, du entschuldigst die Wortwahl, hundsmiserabel aus. Wenn der Herr keine Wunder geschehen lässt, bleiben irgendwann nur wir Alten übrig. Noch Tee?«

Sie sondert mich aus, dachte Gertrudis, während sie mechanisch ihre Tasse hochhielt und sich die grasige Brühe einschenken ließ. Langsam, aber sicher. Und Romana rückt immer näher. Bis sie mich ausgestochen hat. Bloß wegen ihres Förderers mit den Goldhosen. Unversehens brach ihr der Schweiß aus.

Sie musste aufpassen.

*

18.5.2018

2.

Privatdetektivin Katinka Palfy hatte kein Problem mit mysteriösen Persönlichkeiten. Im Prinzip fand sie undurchschaubare Menschen sogar interessanter als jene, in denen sie lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dass allerdings ihre neue Klientin Anja Riedeisen, 51, sich davor fürchtete, bei einer Geburtstagsfeier ihre einstige Jugendliebe wiederzutreffen, und deshalb eine Personenschützerin dabeihaben wollte, hielt sie für unverhältnismäßig. Natürlich ging es bei diesem neuen Auftrag um etwas anderes als 30 Jahre alte romantische Gefühle. Wenngleich Anja Riedeisen dazu noch nicht viel gesagt hatte.

Katinka steuerte ihren italienischen Kleinwagen, gutmütig »der Italiener« genannt, die Höhenzüge der Rhön hinauf. Von Bamberg, wo sie lebte und üblicherweise auch arbeitete, keine weite Reise.

»Damals ging hier eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt durch«, ließ sich Anja vernehmen.

»Damals.«

»Sie müssen verstehen. Diese Fahrt ist der reinste Flashback für mich! Seinerzeit«, sie lachte verlegen, »lag dort rechts Thüringen und dort links Bayern. Unser Internat befand sich ganze fünf Kilometer von der sogenannten Ostzone entfernt. Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir Ermahnungen, uns nicht zu nah an die Grenze zu bewegen.«

»Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Ihr freiwilliges soziales Jahr an so einem abgelegenen Ort zu machen?«, fragte Katinka aus echter Neugier. Das Kürzel FSJ war ihr nicht gänzlich unvertraut. Doch so etwas wie eine Grenze gab es nicht mehr. 30 Jahre waren eine lange Zeit, fand Katinka. Die Welt hatte sich in der Zwischenzeit Pi mal Daumen 262.800 Mal um die eigene Achse gedreht.

Der Landschaft der Rhön hatte die Zeit bislang nichts anhaben können. Stoisch, schroff, abwartend wirkten die geduckten Sträucher am Feldrand. Ab und zu drückte eine Windbö den Wagen zur Seite.

»Ich bin in Fulda aufgewachsen. Katholisch konservativ. Wollte Lehrerin werden, auf keinen Fall Wirtschaft studieren, sonst hätte mein Vater mich vollkommen vereinnahmt.«

»Warum?«

»Er besitzt eine Papierfabrik. Alles stellt er her, von Geschenkpapier über Fotopapier bis Grußkarten. Wäre ich ein Sohn gewesen, hätte er mich vermutlich gezwungen, in die Firma einzusteigen. Als ich mit meinem Studienwunsch rausrückte, kriegte er zu viel. Ich ließ mich von seinen Wutanfällen und Bestechungsversuchen nicht davon abhalten, hatte Informationen von verschiedenen Universitäten angefordert. Am liebsten wollte ich nach Passau, weit weg von den Eltern. Als er mitbekam, wie ernst es mir war, gab er sich kompromissbereit. Ich sollte ruhig erst mal ein Praktikum machen, ich würde schon sehen, dass Lehramt nichts für mich ist.«

»Da hat er sich wohl getäuscht!«

»Richtig. Ich bin doch Lehrerin geworden. Das freiwillige Jahr im Internat hat mir sehr gut gefallen. Danach bekam ich einen Studienplatz und später eine Anstellung im Gymnasium in Bamberg. Meine Wunschstadt übrigens! Was will man mehr.«

Katinka setzte den Blinker, folgte den Wegweisern. Rund um die schmalen Straßen ragten die dunklen Gipfel der Rhön auf. In der Ferne konnte man die Wasserkuppe ahnen mit der markanten Radarkuppel. Ein paar Wolken zogen sich dort zusammen. Ansonsten war der Himmel blitzblau. Mai eben.

»Aber warum hier oben?«

»Wegen der ganzen Zankerei mit den Eltern hatte ich mich recht spät beworben. Eigentlich wäre ich lieber weiter weggegangen, so wurde es die Rhön. Sehr viel mehr Stellen waren nicht mehr frei.«

»Ein Pflaster für Eisenbereifte.«

»So schlimm ist es nicht«, lachte Anja Riedeisen. »Alles war ja neu für mich. Ich hatte eine Menge Ablenkung und kam kaum zum Grübeln. Die Tage vergingen wie im Flug. Das Albertus-Magnus-Internat hatte zwei Jahre zuvor einen zusätzlichen Zweig eingerichtet. Extraförderung für Schulabbrecher, die es noch einmal probieren wollten.«

»Und da haben Sie sich verliebt?«

»In Martin Süderbeck. Kindisch, dennoch eine prägende Beziehung. Er hatte zwei Schlamperjahre hinter sich und wurde erst im Alter von 18 einsichtig. Plötzlich wollte er doch das Abitur machen. Er war schon älter als ich. Meine Schulkarriere hingegen war eine Brave-Mädchen-Chronik: schnurstracks zum Ziel.«

Katinka grinste. »Was nichts heißt.« Sie ließ den Blick schweifen. Außer dem einen oder anderen Motorrad, dessen Fahrer das Frühlingswetter genoss, waren sie allein auf der Straße. »Wie verhielt sich eigentlich Ihre Mutter zu Ihrer Idee, ein Jahr in der Rhön pädagogisch tätig zu sein?«

»Sie stand immer auf der Seite meines Vaters.« Anja seufzte. »Heißt so viel wie: Sie war dagegen. Was soll ich sagen: Ich habe mich durchgesetzt. Die Zeit hier oben tat mir gut. Endlich weg von der Enge der Familie konnte ich herausfinden, was sonst außer Gehorsam und stillem Groll in mir steckte. Ich war glücklich hier auf den windumwehten Höhenzügen, mit dem Ballast der deutschen Nachkriegsgeschichte im Rücken. Irgendwie nahm man das alles sowieso einfach hin. Die Grenze wurde schnell zur Normalität. Wir arrangierten uns damit, dass Thüringen, in das wir von der nächstgelegenen Anhöhe rüberschauen konnten, unerreichbar blieb. Wir riefen Freunde in den USA an, aber niemanden ein paar Kilometer weiter. Wir kannten da keinen. Seltsam. Einem Jugendlichen von heute kann man das nicht mehr nahebringen.«

»Es gab keine Handys. Telefonieren war teuer.«

»Und das Telefon stand an der zugigsten Stelle im Haus! Damit man sich kurzfasste.«

Ein Trupp Radfahrer in aerodynamischem Outfit rauschte ihnen entgegen, sich gegen den Wind stemmend.

»Kirsten und ich sind auch immer mit dem Rad unterwegs gewesen.« Anja deutete auf die Sportler. »Bei Wind und Wetter. Sogar im Winter.«

»Kirsten?«

Es blieb eine Weile still. »Meine Freundin. Die zweite FSJ-lerin im Internat. Wir verstanden uns super. Von Anfang an.«

Irgendetwas schwang da noch mit, fand Katinka. Trotzdem unterließ sie es nachzuhaken. Ihr Auftrag bestand darin, bei der bevorstehenden Geburtstagsfeier einer der Ordensschwestern, die vor 30 Jahren das Haus geführt hatten, Anja als vermeintliche »Freundin« zu begleiten. Anja war geschieden, ein anderer Mann als Begleitperson nicht in Sicht. Alleine zu fahren, kam ihr ebenso wenig angemessen vor. Es ging um Samstag und Sonntag in der Rhön. Das war alles. Für Katinka eine willkommene Abwechslung zu diversen anderen Aufträgen.

»Erzählen Sie mir mehr über die Nonnen«, bat Katinka. Besser, sie besann sich auf das Naheliegende. Zumal sich in ihrer Beziehung zu Hardo in der letzten Zeit ein Misston eingeschlichen hatte. Was Katinka auf eine vermurkste Ermittlung zurückführte, die bei der Bamberger Polizei für handfesten Ärger gesorgt hatte. Jemand hatte seine Kompetenzen überschritten, und ihr Lebensgefährte Harduin Uttenreuther musste den Schlamassel ausbaden. Ihr ging allmählich die Geduld aus, um seine Launen und sein rüffeliges Gehabe zu ertragen.

»Schwester Romana war stellvertretende Leiterin. Eine temperamentvolle Person voller Tatendrang. Mit ihr führte ich mein Bewerbungsgespräch. Himmel, war ich nervös! Trotz katholischer Sozialisation hatte ich zum ersten Mal mit Nonnen zu tun. Dann war da Schwester Gertrudis, die Direktorin, verantwortlich für das pädagogische Konzept. Äußerlich war sie das ganze Gegenteil von Romana. Außerdem gehörten eine Küchenschwester und eine Erzieherin dazu. Außer Kirsten, mir und den Hauptamtlichen gab es noch einen Zivi. Tobias. Ob er auch kommt?«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.

Katinka nahm Tempo weg. Rechts am Weg stemmte sich eine Kapelle aus Sandstein gegen den Himmel, wuchtig, wehrhaft. Dahinter blühte ein Holunderstrauch, silbern glänzend vor dem stahlblauen Himmel. Die harsche Landschaft machte es einem bei diesem traumhaften Frühlingswetter leicht, in Bewunderung auszubrechen.

Den Wagen, der über die Hügelkuppe auf sie zuschoss, sah sie beinahe zu spät. Sie wandte ihren Blick erst wieder der Straße zu, als sie Anjas lautes Schreien hörte. Riss das Steuer herum. Gab Lichthupe.

»Verdammt, ist der meschugge?« Sie lenkte den Italiener ganz nach rechts, spürte groben Untergrund unter den Reifen. Das Steuerrad umklammernd hielt sie die Spur.

Der Sportwagen, ein superflaches, schwarzes Modell, röhrte vorbei. Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf das höhnische Grinsen des Fahrers.

»Honk!« Katinka schaltete die Warnblinkanlage an und hielt. »Frau Riedeisen?« Vorsichtig berührte sie ihre Klientin an der Schulter. Die zuckte zurück, hob sogar den Arm, als müsste sie sich verteidigen. »Es ist nichts passiert! Wir sind nicht im Graben gelandet.«

Anja presste die Hände vors Gesicht. Ihr Schreien war in ein dünnes Wimmern übergegangen.

Katinka wartete. Diese Frau brauchte ein wenig Zeit. Und sie hatte vor etwas Angst. Jedoch nicht unbedingt vor dem Zusammentreffen mit ihrer ersten Liebe vor 30 Jahren.

*

3.

»Albertus-Magnus-Zentrum«, stand auf einem Hinweisschild, daneben ein größeres mit der Aufschrift: »Zur Fremdsprachenkorrespondentenschule«.

»Sieh an. Früher hieß es nicht Zentrum«, sagte Anja Ried­eisen lächelnd.

Katinka bog auf die schmale Zufahrtsstraße. Zwei mehrstöckige neobarocke Gebäude erhoben sich am Waldrand, Sandstein, warm in der hellen Frühlingssonne leuchtend. Frisches Grün hatte sich noch kaum in den Wald verirrt, dafür sorgten die auf einer Wiese vor dem linken Haus geparkten Autos für Farbflecke.

»Meine Güte! Hier hat sich fast nichts verändert! Das linke Haus war das, wo die unteren Klassen wohnten. Auch die Schwestern und wir als Freiwillige hatten dort unsere Zimmer. Ich frage mich, ob sie wenigstens die gruseligen Badezimmer renoviert haben.«

»Es sind 30 Jahre vergangen«, warf Katinka ein. »Da muss man schon mal ein Fenster auswechseln. Ich weiß, wovon ich rede.« Sie dachte an die unbezahlten Rechnungen von ihren letzten Renovierungsarbeiten. Alles in allem kam ihr dieser Auftrag entgegen. Leicht verdientes Geld mit einem gewissen Freizeitfaktor.

»Da haben Sie recht.«

»Wer wohnte in dem rechten Gebäude?«

»Die älteren Schüler und ein Ehepaar. Beide waren als Pädagogen tätig.«

»Soweit ich weiß, waren die meisten Internate in den 80ern nach Geschlechtern getrennt.«

»Das trifft für die Städte zu, aber hier in der Einöde – da musste man gerechterweise Jungen wie Mädchen eine Chance geben.«

»Die Schule befand sich nicht hier?«

»Nein, in Mellrichstadt. Die Schüler besuchten entweder das Gymnasium oder die Realschule. Ein Bus brachte sie jeden Morgen hin, mittags gab es einen Rückfahrtdienst und noch einmal einen gegen 16 Uhr.«

»Mittlerweile haben die Schwestern die Räumlichkeiten anscheinend weitervermietet. Die Fremdsprachenkorrespondentenschule muss in dem rechten Gebäude sein, oder?«

»Offenbar, ja. An so etwas wäre früher nie zu denken gewesen. Der Platz wurde für die Schüler benötigt. Wahrscheinlich hat der Unterhalt der Anlage an der Kasse der Nonnen genagt und sie gezwungen, durch Vermietung Geld zu verdienen. Die meisten kamen uns damals schon recht alt vor. Mittlerweile müssen sie Greisinnen sein. Und Nachwuchs gibt es kaum noch.«

Katinka stellte ihren Italiener neben einem Mustang mit Münchner Nummer ab. »Aus den Schülern sollte richtig was geworden sein, wenn man die schicken Fahrzeuge betrachtet.«

»Ich sage Ihnen, Internatserziehung war seinerzeit begehrt. Was sollte man hier draußen denn tun, außer brav zu lernen?«

»Knutschen im Wald?«

Anja Riedeisen lachte. »Das stand selbstverständlich auch auf dem Programm.«

»Sollen wir?«

»Ich muss erst mal durchatmen.«

Katinka wandte den Kopf. Das Gesicht ihrer Auftraggeberin war blass. Die Unterhaltung hatte sie von ihren Sorgen anscheinend nicht abgelenkt.

»Was ist los, Frau Riedeisen?«

»Ist nicht so einfach. Ehrlich.«

»Sie haben es doch damals ganz gut ausgehalten. Mit 20 hat man meistens mehr Probleme als mit 50. Habe ich mir sagen lassen.«

Wieder ein leises Lachen. »Sie haben recht. Deswegen wollte ich Sie dabeihaben.«

»Als Motivationsfaktor?«

Anja Riedeisen stieg aus. »Sehen Sie den flachen Anbau ganz rechts? Das war die Innenturnhalle. Sportangebote hatte man gute. Es gab sogar ein Außenschwimmbad im Sommer. Ob sie das noch haben?«

»Wir werden es gleich feststellen.«

Katinka schritt forsch auf den Platz zwischen den beiden Gebäuden zu. Partyzelte waren aufgestellt. Etliche Besucher in schicker Kleidung standen dort herum, einige mit Sektgläsern in den Händen. Die Unterhaltungen wirkten verhalten, man befand sich in der Aufwärmphase. Katinka bemerkte zwei Nonnen, die sich um die Gäste kümmerten. Wie Butler in zu weiten Kleidern kreisten sie um die Besucher.

»Anja! Mein Gott, Anja Mähling? Wie ich mich freue!« Eine Schwester löste sich aus der Menge und marschierte auf Anja und Katinka zu.

»Schwester Romana! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Anja, das ist so schön, dich zu sehen. Ich darf doch beim Du bleiben?«

Anja Riedeisen lachte.

»Das ist Schwester Romana, sie war stellvertretende Direktorin, als ich hier meinen Dienst versah. Eine Freundin, Katinka Palfy.«

»Und Anja heißt jetzt Riedeisen.« Katinka streckte der Nonne die Hand hin. »Auch von mir die besten Wünsche zum Geburtstag.«

Die Schwester griff energisch zu und schüttelte Katinkas Hand. Sie war eine von diesen korpulenten, heiteren Frauen, die mit ihrer unermüdlichen Tüchtigkeit nahezu jedes Problem aus der Welt schaffen und jeden Wunsch erfüllen konnten.

»Freut mich, freut mich. Danke bestens. Namen sind Schall und Rauch, aber mein Gedächtnis funktioniert ansonsten wie geschmiert. Bislang lässt es allenfalls bei Telefonnummern nach.« Sie lachte herzlich. »Ihr hattet eine lange Reise, nehme ich an, also stärkt euch erst einmal! Wir haben Prosecco da sowie alkoholfreie Drinks. Schlagt mir nicht über die Stränge, die eigentliche Party steigt erst heute Abend.«

»Wir übernachten«, wandte Anja ein. »Einen Prosecco können wir uns genehmigen, oder?«

»Warum nicht«, nickte Katinka.

Schwester Romana schlug sich an die Stirn. »Seht ihr, wohin Eigenlob führt. Hatte ich doch glatt vergessen, dass ihr auf der Übernachtungsgästeliste steht. Im Ernst: Ich habe die meisten Sachen wirklich im Kopf. Anders als unsere liebe Gertrudis.« Sie senkte die Stimme. »Sie steht an der Schwelle zur Demenz.«

»Ach du Schreck.« Anja sah betroffen drein. »Das hätte ich nie gedacht. Sie war immer so eine kontrollierte Person, hatte das Internat perfekt im Griff.«

Schwester Romana winkte ab. »Sich im Griff zu haben bedeutet nicht, dass man mit dem Leben zurechtkommt. Meine Meinung.«

Eine kurze Pause entstand. Die Schwester streckte sich, um nach Neuankömmlingen Ausschau zu halten.

»Sie haben sich extra keine Geschenke gewünscht«, sagte Anja. »Aber so ganz mit leeren Händen wollte ich nicht kommen. Daher habe ich eine Blumenschale für die Kapelle besorgt. Ist das in Ordnung?«

»Mein liebes Kind, natürlich. Etwas für die Gemeinschaft ist genau das Richtige. Was brauche ich schon? Materielles beschwert nur. Im Alter merkt man das deutlicher als je zuvor.«

»Wer von den früheren Schwestern ist denn heute noch hier?«

»Nur Richhilde, die ehemalige Küchenchefin. Du erinnerst dich sicher an die köstlichen Baumkuchen, die es zu Festtagen gab? Allein ihr Werk. Tja, Schwester Ursula, eine unserer besten Erzieherinnen, ist vor zehn Jahren gestorben. Das Küchenteam ist mittlerweile komplett weltlich. Richhilde hat Arthrose und kann sich kaum bewegen. An Arbeit ist nicht mehr zu denken, wenngleich sie sich an einem Tag wie heute zusammenreißt und versucht, ihren Beitrag zu leisten. Falls sie sonst das Haus verlässt, muss es ein guter Tag sein, sie kommt nur unter Schmerzen die Treppen runter. Heute leitet Schwester Irmtraud unseren Minikonvent, sie stieß vor drei Jahren dazu. Vier Schwestern, hier draußen, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!« Schwester Romana nahm drei Gläser Prosecco von einem Tisch. Ein Windstoß bauschte ihren Rock auf. »Draußen feiern in der Rhön, das gelingt nicht immer. Der Herrgott meint es gut mit uns. Auf eure gesunde Ankunft in der Vergangenheit!« Sie lachte fröhlich und stieß mit Katinka und Anja an. Die Gläser klirrten.

Katinka sah sich um. Unter den Gästen hatten sich mittlerweile Grüppchen gebildet. Viele schienen mit ihren Familien gekommen zu sein. Kinder flitzten über die Wiesen, zwei unzufriedene Teenager hockten auf einer Bank und daddelten auf ihren Handys. Der Empfang hier oben schien zu wünschen übrig zu lassen, denn beide machten ausgesprochen verdrossene Gesichter.

»Schön hier. Lüftet den Geist«, sagte sie.

»Richtig. Ich mochte es früher nicht so gern, mittlerweile kann ich die Vorzüge schätzen«, lächelte Schwester Romana. »Besser spät als nie. Zum Sommer wird der Konvent aufgelöst.«

»Was?« Entgeistert sah Anja die Schwester an.

»Wir sind alt. Alle Orden leiden an Nachwuchsmangel. Wie sollen wir eine Einrichtung dieser Größe halten? Schon vor 15 Jahren haben wir die Hälfte der Gebäulichkeiten an die zukünftigen Fremdsprachenkorrespondenten vermietet. Die kommen zum Unterricht mit dem Auto. Unsere Schüler werden sich im kommenden Schuljahr andere Unterkünfte suchen müssen. Es sind ohnehin nicht mehr viele. So etwas wie ein Internatsleben gibt es kaum noch. Tja.«

Katinka ließ den Blick schweifen. An einem sonnigen Frühlingstag wirkte alles malerisch, ein wenig aus der Zeit gefallen. Aber im November, in Tristesse und Düsternis? Meins wäre es nicht, dachte sie.

»Ist das Ehepaar Krone noch hier?«, fragte Anja.

»Beide gehen im Sommer in Frührente. Sie haben sich einen Alterssitz in Thüringen verschafft, stell dir vor. Hinter der Grenze!«, gluckste Schwester Romana. »Wer hätte das damals gedacht?«

»Niemand. Ich kann mich erinnern, wie Sie mich eingewiesen haben, als ich meinen Dienst hier begann«, lächelte Anja. »Vorsicht im Wald. Nicht bis zur Grenze gehen. Spätestens an den weiß-blauen Pfosten stehen bleiben. Die Schüler darauf hinweisen.«

Schwester Romana zeigte auf ein Grüppchen. »Da drüben steht Gitta Krone. Ganz die alte, was?«

Neugierig beäugte Katinka eine dünne Frau in Jeans und einem Herrenhemd, die gerade ihr Saftglas abstellte und ein etwa vierjähriges Mädchen zurechtwies, das unter dem Tisch mit den Getränken ein charmantes Versteck zum Spielen gefunden hatte.

»Humorvoll war sie nie«, sinnierte Anja.

»Wenn ihr eure Zimmer in Augenschein nehmen wollt: Im Treppenhaus hängt ein Zettel mit euren Namen und der Zimmernummer. Zweiter oder dritter Stock. Kein Lift, leider. Wir alten Nonnen müssen wenigstens bloß in die erste Etage raufklettern. Selbst das schafft die arme Richhilde kaum. Sie ist diejenige von uns, die am längsten hier lebt. Mit Übernahme des Internats durch den Orden kam sie in die Rhön.«

Anja nickte abgelenkt. Eine andere Nonne löste sich aus der Menge.

»Romana?«, rief sie. Ihre Stimme klang heiser. Sie war klein, sehr mager, knochig beinahe. Ihre Füße steckten in Schnürstiefeln, die ihr eindeutig zu groß waren.

»Meine Güte, sie hat wieder die dicken Winterschuhe angezogen«, wisperte Romana. »Das ist es, was das Alter aus den Menschen macht. Früher war sie so eine fähige Chefin. Sie ist 91, wusstest du das, Anja?« Laut rief sie: »Gertrudis, kannst du dich an unsere Anja erinnern?«

Die dünne Nonne blinzelte kurzsichtig. »Anja Mähling.« Sie lächelte breit. »Das freut mich ganz besonders.«

»Mich ebenfalls, Schwester Gertrudis. Schön, Sie wiederzusehen.«

Gertrudis streckte die Hand aus. »Du warst ja eine von denen, die uns besonders ans Herz gewachsen sind!«

Schwester Romana verdrehte die Augen.

»Und Sie? Kenne ich Sie auch?«, wandte Gertrudis sich an Katinka.

Helle blaue Augen strahlten sie an.

»Nein, wir sind uns noch nicht begegnet. Ich bin eine Freundin von Anja.«

»Sie heißt Karina«, sagte Schwester Romana.

»Katinka.«

Romana nahm die andere Nonne bei der Hand. »Ist denn unser Tobias schon hier? Ihn kennt Anja doch noch.«

Katinka musterte Schwester Romana neugierig. Sie wirkte, als habe sie sich seit Wochen auf diesen Tag gefreut und wäre nun bereit, ihn in vollen Zügen auszukosten.

»Tobias Gebsen?«, hörte sie Anja aufgeregt fragen. Von Nervosität war nichts mehr zu spüren.

»Genau der. Ihr entschuldigt uns?«, bat Romana. »Gerade kommt ein Schwung Gäste.«

»Natürlich, kein Thema!« Anja nickte den Nonnen lächelnd zu.

Beide gingen davon, die magere Gertrudis steif wie ein Stock, Romana eilfertig.

Katinka stellte ihr Glas ab.

»Was dagegen, wenn ich mich ein bisschen umsehe?«, flüsterte sie Anja zu.

Ein Schatten glitt über Anjas Gesicht.

»Ich bin in einer Viertelstunde zurück. Möchte einfach die Anlage kennenlernen.«

»Klar. Natürlich«, nickte Anja.

*

4.

Katinka schlenderte über das Gelände. Der Wind ließ die Tischdecken flattern. Jemand brachte ein paar Feldsteine, um sie zu beschweren. Gelächter. Ein Sektglas fiel um. Leute wuselten umher. Mehr Gäste kamen vom Parkplatz herüber.

Eine runde Frau um die 50 mit kurz geschnittenem grauen Haar und einem Korb am Arm trat Katinka in den Weg.

»Grüß Gott!« Ein Namensschildchen an ihrem Pullover wies sie als Schwester Irmtraud aus. »Wir haben Badges für unsere Gäste vorbereitet, damit wir wenigstens voneinander wissen, wie wir heißen.«

»Katinka Palfy.«

Die Schwester wühlte im Korb. »Bitte, für Sie! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?«

»Hatten wir. Ich bin eine Freundin von Anja Riedeisen. Sie hat als Freiwillige hier ein soziales Jahr absolviert. Vor 30 Jahren.«

»Ich bin erst seit drei Jahren hier. Die Namen von früher sagen mir leider nicht viel.«

»Darf ich neugierig sein?«, bat Katinka. »Warum tragen Sie keine Ordenstracht?«

»Meine Generation tut das nur noch bei Bedarf.« Sie lächelte. »Ihnen wird dies vielleicht eigenartig vorkommen. Dennoch: Ich bin die jüngste Schwester in diesem Altenheim. Mit 55!«

»Ich habe gehört, es gibt bloß noch vier Schwestern.«

»Stimmt. Wir halten die Fahne hoch!« Sie nickte Katinka zu und ging weiter zu den nächsten Gästen, die gerade vom Parkplatz herüberkamen, ein Paar mit zwei Kindern.

»Herzlich willkommen«, rief Schwester Irmtraud. »Verraten Sie mir Ihre Namen? Wir haben Badges vorbereitet.«

»Martin Süderbeck«, sagte der Mann. »Und Carola. Meine Frau.«

Sieh an, das ist er also, dachte Katinka. Anja Riedeisens erste Liebe.

Martin Süderbeck war groß, schlaksig, sein lockiges braunes Haar lichtete sich bereits, aber der grau melierte Dreitagebart gab ihm ein charmantes Aussehen. Er lächelte Schwester Irmtraud an, als er sein Namensschild in Empfang nahm. Grübchen in den Wangen. Ein jung gebliebenes Gesicht.

»Bitte sehr«, freute sich Schwester Irmtraud. »Und für die Kinder?«

»Linda und Delia. Eigentlich wollten sie gar nicht mit, lieber bei der Oma bleiben, nicht wahr?«, wandte er sich an zwei Mädchen von etwa zehn Jahren, die einander glichen wie das berühmte Ei dem anderen.

»Seid ihr Zwillinge?«, wollte Schwester Irmtraud wissen.

»Klar, sieht man doch«, antwortete die eine cool.

Katinka musste grinsen. Durchsetzungsvermögen und Wurstigkeit gegenüber Autoritäten konnte ein Mädchen nicht früh genug lernen.

Unauffällig behielt sie die Süderbecks im Blick, während sie weiterging. Das Gebäude auf der rechten Hofseite wirkte verlassen. Am Eingang prangte ein Schild: Fremdsprachenkorrespondentenschule. In einem Plastikkasten daneben warteten Flyer auf Interessenten. Katinka drückte die schwere Türklinke. Verschlossen.

»Das Internatsgebäude ist das andere«, erklärte jemand.

Katinka drehte sich um. »Gut, dass Sie es sagen. Ich war noch nie hier.«

Der Mann warf sich in die Brust. »Nein?«

Sie lugte auf sein Namensschild. Manfred Krone. »Und Sie?«

»Ich habe mein halbes Leben in diesem Haus als Pädagoge Dienst getan.«

»Zusammen mit Ihrer Frau, habe ich recht?«

Er starrte Katinka missmutig an. Es war offensichtlich, dass er dieses Detail gerne bühnenreif ausgestaltet hätte.

»Und nun gehen Sie in Frührente. Sehen Sie, so schnell sprechen sich Dinge herum.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das kenne ich wirklich zur Genüge. Wir haben es im Albertus-Magnus-Zentrum mit einer Börse zu tun, nichts bleibt unbekannt.«

»Schwester Romana hat es mir erzählt.«

»Romana! Der Name ist Programm. Die Ähnlichkeit mit dem Wort ›Roman‹ fällt ja wohl gleich auf. Also mit einem dicken Schmöker.« Krone hoffte auf eine Reaktion, die ihm belegte, dass sein Witz gut war.

Katinka ging nicht auf ihn ein. »Sie sieht jung aus. Nicht wie 80.«

»Nein, sie hat sich gut gehalten, hat ununterbrochen überall mitgemischt. Wer mit jungen Leuten arbeitet, bleibt im Herzen frisch.«

Du aber nicht, dachte Katinka, während sie den Lodenjanker und den Bauchansatz über der Cordhose ihres Gegenübers musterte.

»Mag sein.«

»Sind Sie auch im Internatsgeschäft tätig?«

»Bloß Begleitperson. Ich bin eine Freundin von Anja Ried­eisen. Früher Mähling.«

Täuschte sie sich, oder wurde Krone tatsächlich eine Spur blasser?

»Wahrhaftig? Anja ist hier? Sie war eine sehr tüchtige Freiwillige. Hat sich schnell reingefunden. Der Winter damals, der dauerte fast ein Dreivierteljahr. Wobei …« Er zögerte. »Kein ganz unproblematisches Jahr.«

»Wegen des Winters?«

»Nein. Pädagogisch gesehen. Ich hoffe, Sie genießen das Wochenende!« Er ließ Katinka stehen.

*

7.7.1987

5.

Mähling fuhr mit Abblendlicht und schaltete es ganz aus, als er kurz nach halb elf auf die Zufahrt zum Albertus-Magnus-Internat einbog. Um diese Jahreszeit leuchtete der Himmel selbst nach zehn Uhr abends noch wie Silber.

Er hielt, drehte am Rückspiegel, kämmte sein Haar zurück, stieg aus. Hätte er den Kopf in den Nacken gelegt, wäre ihm der Himmel vorgekommen wie in Sternenlicht gebadet.

Schwester Romana stand in der Tür, am ganzen Körper Einsatzbereitschaft ausstrahlend.

»Schwester Romana, guten Abend.«

»Gelobt sei der Herr und so weiter. Kommen Sie herein, Herr Mähling. Wenn Sie wegen …«

Er hob die Hand. »Ich würde mich gerne … in Ruhe mit Ihnen unterhalten.«

»Das Haus liegt im Tiefschlaf.« Sie lächelte. »Gehen wir in mein Büro!«

Er folgte ihr in den ersten Stock, wo sie lautlos – die Nonnen schliefen auf diesem Flur – durch die Glastür mit der Aufschrift »Sekretariat« ins Allerheiligste der Büroräume schlüpften.

Romana bewegte sich trotz ihrer Körperfülle schnell und leise. Sie führte Mähling an einem überladenen Schreibtisch vorbei, auf dem eine Schreibmaschine mit ein paar eingespannten Blättern stand, durch eine Schiebetür hindurch.

»Mein Reich!«

Mähling sah sich in dem muffigen kleinen Raum um, in dem außer für einen massiven Schreibtisch mit Drehstuhl und zwei Sesseln kaum noch Platz für einen Aktenschrank war.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Bier?«

»Ich muss noch fahren.«

»Vielleicht einen Kaffee?«

»Nein, wirklich nicht nötig. Ich brauche Ihren Rat.«

»Immer gern. Bitte, setzen Sie sich.«

Er sank in einen Sessel. Die Spiralfedern spürte er im Hintern. Die Nonnen lebten wirklich am Limit. Für sich selbst zweigten sie von den diversen Geldströmen anscheinend nichts ab. Sie waren, wie man so sagte, nicht käuflich. Auf ihre Art konsequent. Einmal arme Ordensschwester, immer arme Ordensschwester. Er bewunderte und verachtete dieses Verhalten zugleich.

Romana nahm ihm gegenüber Platz.

»Meine Tochter hat sich bei Ihnen für ein freiwilliges soziales Jahr beworben.«

»Das ist mir bekannt, ich habe das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt.«

»Also haben Sie sie bereits kennengelernt!«

»Ein liebenswürdiges junges Mädchen, wenn ich das sagen darf.«

»Danke.« Das Lob brachte Mähling aus dem Konzept. Er fühlte sich nun noch nervöser als eben. Es fiel ihm schwer, um etwas zu bitten. Aber er musste es tun. »Ich habe ein Anliegen.«

»Ich höre?«

»Anja, meine Tochter, darf es nicht wissen.«

Schwester Romana verschränkte die Arme. »Sie können auf meine Diskretion vertrauen. Außer mir weiß es niemand. Das wird auch so bleiben.«

»Gut. Schön. Also. Ich verlasse mich auf Sie.«

»Natürlich können Sie das!« Die Nonne sah entrüstet drein.

Mähling spürte die Sprungfedern und wusste, dass er mit Romana rechnen konnte.

»Sie können sich sicher sein, es wird nicht Ihr Schaden sein.«

Sie winkte ab.

Irgendwo in dem alten Haus knackte etwas. Er fuhr zusammen. Verdammt, wenn er sich sogar vor Holz ängstigte, das sich ausdehnte oder zusammenzog …

»Das war der Anlass meines Besuches, Schwester.« Ihm brach der Schweiß aus. Dass Anja sich ausgerechnet hier bei den Nonnen bewerben musste! Ihm blieb wirklich nichts erspart. Mühsam stemmte er sich hoch.

»Ich hätte Ihnen gern etwas angeboten, Herr Mähling.«

»Nicht nötig. Ich muss wirklich zurück.« Wie albern, die weite Fahrt auf sich zu nehmen für ein paar Sätze.

»Sie arbeiten zu viel.« Schwester Romana stand ebenfalls auf. »Von Zeit zu Zeit sollten auch Sie sich etwas schonen.«

»Da haben Sie recht.« Er verachtete Ratschläge wie diese. Die Nonne hatte doch keine Ahnung, wie es war, ein Unternehmen zu führen.

»Ich bringe Sie raus.«

Er folgte ihr durch das stille Gebäude. In Zukunft würde er noch vorsichtiger sein müssen.

*

6.

Sich vorsehen.

Nichts dem Zufall überlassen. Lieber unter den Leuten bleiben. Sich nicht verkriechen.

All das habe ich gelernt. Nicht wahr?

Stell dich ans Fenster, damit sie von draußen sehen, dass du dazugehörst.

Die Geräusche im Haus sind heute Morgen verblasst. Alle sind draußen. Das herrliche Wetter!

Von hier oben habe ich immer gern die Zufahrt beobachtet. Wie viele Wagen heute den Weg heraufkommen. Die ganze Wiese ist zugeparkt. Was für ein schöner Tag! Wenn ich an den Winter denke. Wie die wenigen PKW sich hier heraufkämpfen!

Einer kam immer in der Nacht.

Heb den Kopf und zeig, was du willst. Sag klar, wohin es gehen soll.

Ich habe das alles hier aufrechterhalten. Selbst wenn es keiner mehr weiß, mehr wissen will, ich entsinne mich sehr gut. Ohne mich gäbe es heute kein Fest.

Andere werden sagen, dass es trotzdem nicht für die Ewigkeit war. Da kann ich nicht widersprechen. Nur Gott ist ewig.

Heiliger Geist,

Du Hauch des Lebens

Du Feuer vom Himmel

Du Beistand der Christen

Du Helfer im Gebet

Du Unterpfand der Erlösung

– erbarme dich unser1

*

1Aus: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch der Erzdiözese Bamberg 2013. Heilig-Geist-Litanei, S. 609f.

18.5.2018

7.

Katinka hatte die Blumenschale für Schwester Romana aus dem Kofferraum geholt und stellte sie gerade an einer windgeschützten Stelle am Hauseingang ab.

»Da sind Sie ja!« Anja stürzte auf Katinka zu, als hätte sie tagelang allein in einer Wüste ausgehalten.

»Martin Süderbeck ist angekommen. Mit Frau und Kindern.«

»Habe ich gesehen!«

Anja Riedeisen wirkte nun genauso unter Strom wie während der Fahrt in die Rhön. Die Entspannung, die sich vorhin auf ihre Züge gelegt hatte, schien es nie gegeben zu haben.

»Gehen Sie es an! Begrüßen Sie ihn! Er wird Ihnen ja wohl nicht den Kopf runterreißen.«

»Wir haben uns 30 Jahre nicht gesehen«, jammerte Anja, während sie in einer Aufwallung von Entschlossenheit ihre Handtasche unter den Arm klemmte. »Und er ist verheiratet! Meine Güte, wie viel Zeit vergangen ist.«

»Haben Sie nie versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen?«

»Nein, irgendwie ergab sich nie der richtige Moment. Anscheinend funktionierte unsere Beziehung nur hier oben. Nach dem Abitur leistete er seinen Zivildienst, nicht weit von hier, ich studierte in München, also …«

»Anja?«

Der Schlaks mit den Locken kam auf sie zu.

»Jetzt hat er das Rennen gemacht«, murmelte Katinka. »Geschwindigkeit ist alles.«

»Martin?«

»Verdammt, ist das lang her!« Martin Süderbecks Gesicht rötete sich, als er Anja linkisch umarmte und schließlich an den Schultern packte, um sie ein Stück von sich wegzuhalten. »Du hast dich überhaupt nicht verändert!«

»Das habe ich überhört.« Sie lachte.

Er wandte sich an seine Frau, die ihm nachkam. »Carola, das ist Anja, ich habe dir von ihr erzählt. Anja hatte das Abitur schon in der Tasche, als sie hier ihren Freiwilligendienst antrat.«

»Während du gepaukt hast, was du all die Jahre verpasst hattest«, vollendete seine Frau. »Faulpelz! Ich kenne die Geschichte.« Mit einem freundlichen Lächeln drückte sie Anja die Hand. Sie war sehr groß, fast so eine lange Latte wie ihr Mann. Ihre perfekten Beine steckten in weißen Jeans. Das Haar trug sie in einem schicken, kinnlangen Schnitt, den der Wind hartnäckig sabotierte. »Hi. Ich bin Carola.«

»Freut mich, freut mich.« Anja zeigte auf Katinka. »Das ist meine Freundin Katinka Palfy. Ich hatte keine Lust, alleine zu kommen.«

»Bist du verheiratet?«, fragte Martin Süderbeck rundheraus.

»Nicht mehr. Und die Kinder gehen längst eigene Wege.«