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Der Journalist Jan Schröder erhält von seinem Verleger den lästigen Auftrag, dem Finanzdezernenten Gerhard Kromer eine Sexaffäre anzuhängen, um eine langweilige Biografie in einen pikanten Bestseller zu verwandeln. Schröder, der sich zu Höherem berufen fühlt, beauftragt Klara, eine Bedienung mit Germanistikstudium, für ihn als Ghostwriterin das Buch schreiben. Er sieht seine Aufgabe höchstens nur im Recherchieren. Dabei trifft er auf die unehelich geborene Emily Stone, ihre Mutter Katy und den Privatdetektiv Heinz Parkow. Der geschäftstüchtige Detektiv hat Mutter und Tochter davon überzeugt, dass der Tod von Emilys Vater im Auftrag von Kromer, seinem Schwager, geschehen sei, um das Vermögen an sich zu reißen. Auch Schröder kann sich nicht erklären, woher Kromer so viel Geld hat, das er mit vollen Händen ausgibt. Nicht zuhause, wo er als Sparkommissar gehasst wird, sondern in einer kleinen Stadt in Irland, die ihn als Wohltäter liebt und feiert. Als Parkow ermordet wird, folgt Schröder widerwillig dem Verdacht, dass Kromer ein Mann mit zwei Gesichtern sei. Er kennt den Finanzdezernenten seit vielen Jahren und will das eigentlich nicht glauben. Andererseits treibt ihn die Sensationslust an. Ein Mord, vielleicht auch zwei, bescherten der Biografie weitaus mehr Aufmerksamkeit als eine mühsam konstruierte Sexaffäre, was sich gewiss in der Beteiligung am Verkaufserlös niederschlüge.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Leon Berg
Rotstift-Kromer wird glücklich
Softkrimi
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- gekürzte Vorschau -
Inhaltsverzeichnis
Titel
Mein Verleger und ich
Der Ruck
Shit happens
Die Sinnkrise
Impressum tolino
Vor mehr als dreißig Jahren begann ich als Lokalredakteur des hiesigen "Abendblatt". Nebenher verfasste ich Schundbücher, die mir in Fachkreisen ein schlechtes Image einbrachten. Schon damals hätte ich lieber für die Ehre statt für Geld geschrieben. Heute neigte sich meine berufliche Laufbahn dem Ende entgegen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, um ein Suhrkamp-Autor zu werden. Dieser Traum hatte mich ein Leben lang beschäftigt und angetrieben. Jemand sein, den die Kinder in der Schule durchkauen mussten. So wie ich mir die Zähne an Schiller und Stifter ausgebissen hatte. Mit bedeutungsschwangeren Texten ging man unsterblich in die Geschichte ein.
Finanziell konnte ich nicht klagen. Die halbseidenen Sensationsgeschichten, die ich unter verschiedenen Pseudonymen verfasst hatte, hatten mir eine sehr geräumige Eigentumswohnung beschert. Das Stadtviertel war inzwischen zur teuren Wohnlage aufgerückt. Ich konnte meine Kinder im Studium unterstützen. Den anderen Teil bezahlte meine Ex-Frau. Sie hatte ein kleines Vermögen mit emanzipatorischer Frauenliteratur gemacht. Ihre Heldinnen litten darunter, ständig vom Sperma ihrer Gatten besudelt zu werden und wurden lesbisch. Seit sich das, was die intellektuelle Elite unter Political Correctness verstand, an Bedeutung verloren hatte, waren ihre Einnahmen stark zurückgegangen. Aus Frust hatte sie sich von mir getrennt. Inzwischen hatte ich die Scheidung verarbeitet, und jetzt da ich keine Rücksicht mehr auf die Familie nehmen musste, hatte ich gute Aussichten, es in diesem Leben doch noch zum Suhrkamp-Autor zu bringen.
Ich frühstückte in meinem Lieblingscafé, las auf meinem Tablet-Computer verschiedene Zeitungen, klopfte mit dem Löffel gegen die Schale des gekochten Eis. Über mir verschränkte sich das Blattwerk der Platanen. Es war noch früh im Jahr, zum Glück hatte ich eine leichte Strickjacke dabei.
Auf der Straße bullerte der Achtzylindermotor eines City-Jeeps, ich ahnte Schlimmes. Der Wagen hoppelte auf den Gehweg herauf und bremste. Mein Verleger stieg aus.
„Ich hab’s doch gewusst, dass ich dich hier treffe.“
„Und ich dachte schon, der Tag beginnt in gemütlicher Ruhe und Frieden.“
Mein Verleger lachte.
„Hör mal, ich habe da was für dich.“
Desinteressiert hob ich die Augenbrauen und pulte die Schalenschnipsel vom Ei. Ich wusste, dass ich keine Fragen stellen musste. Mein Verleger befand sich der Stimmung, in der es neue Ideen geradezu unbändig aus ihm heraustrieb. Er erzählte mir von Kromer, dem Finanzdezernenten. Bald würde man ihn in den Ruhestand verbschieden. Für mich war das nichts Neues, Gerhard Kromer und ich waren gewissermaßen zusammen beruflich groß geworden. Unser gemeinsamer Sandkasten hatte „Lokalpolitik“ geheißen. Weil unsere Stadt eine sehr bedeutende Stadt war, war auch unsere Lokalpolitik sehr bedeutend.
„Du hast einen guten Draht zu Kromer“, sagte mein Verleger und lächelte verschmitzt. „Dir wird er alles erzählen. Du musst eine Biografie über ihn schreiben.“
„Über Kromer? Sein Leben? Sein Werk? Wen interessiert trockene Finanzpolitik? Er hat die Stadt mit Sparmaßnahmen gequält. Die meisten Leute sind froh, dass er geht und dass die Stadt endlich ihre Gelder verprassen kann. Auf nichts Anderes hat die Opposition seit Jahren gewartet.“
„Aber unsere Stadt ist die erfolgreichste im ganzen Land. Nirgendwo wurde das Geld so klug ausgegeben wie bei uns. Wir haben die meisten Arbeitsplätze, für jedes Grundschulkind gibt es eine Nachmittagsbetreuung, in manchen Vierteln sogar bis zum Ende der Spätschicht.“
„Er hat die Vereine bluten lassen, hat Fußballer, Tennisfreunde und Kleintierzüchter vor den Kopf gestoßen, hat Baufirmen von auswärts beauftragt und den Filz der heimischen Mafia zerschlagen. Die meisten Einwohner, die was zu sagen haben, würden ihn am liebsten umbringen.“
„Egal, er hat dreißig Jahre im Amt überlebt.“
„Trotzdem, Verdienste interessieren niemand. Es wundert mich, dass ausgerechnet du ein Buch über einen Finanzpolitiker verlegen willst. Schau dir die Bibel an, sie ist voller blutiger Morde und Gewalttaten. Sie ist das erfolgreichste Buch des Teils der Welt, die an den christlichen Gott glaubt. Kriminalromane erreichen Millionenauflagen. Ebenso Geschichten, die das Private am Sex ins grelle Licht der Öffentlichkeit zerren.“
Mein Verleger lächelte, ich ahnte nichts Gutes. Bisher hatte er meine sozial- und kulturkritischen Ansichten immer als die Auffassung eines Frustrierten abgetan. Ich sei ein Moralapostel, trockener als der Sand der Sahara, ich gönne den Menschen keinen Spaß, im Grunde meines Herzens sei ich ein schöngeistiger Langweiler, sogar die Lektoren des Suhrkamp-Verlags würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Aber heute schien er meine Meinung weder diskreditieren noch widerlegen zu wollen. Er schaute mich an, als hätte ich die Wahrheit gesprochen und als stimmte er mit mir in allen Punkten überein. Er schien meine Ansichten zu teilen, er nickte mir aufmunternd zu, als wollte er noch mehr Anklagen über die Verruchtheit der Medienindustrie, des Privatfernsehens des Internets und der Zugkraft von Sexgeschichten hören. Fragend schaute ich ihn an und hielt mitten im Satz inne. Die drei Fortsetzungspunkte lagen zwischen uns. Da stimmte etwas nicht. Noch nie hatte mein Verleger meinem Geschimpfe auf die Schlechtigkeit der Welt freien Lauf gelassen und sich gar daran erheitert.
„Was ist?“, fragte ich.
„Du hast völlig Recht. Deshalb sollst du nicht nur schreiben, was du über Kromer weißt, sondern was du möglicherweise recherchierst. Ich wette, da ist etwas.“
„Wie meinst du das? Was soll da sein?“
„Weißt du, was seine Sekretärin zu mir gesagt hat? Kromer liebt seine Excel-Tabellen. Mit Sex ist er so sparsam wie mit den städtischen Geldern.“
„Na und? Das stimmt vermutlich auch.“
„Ja. Aber woher weiß sie das?“
Mir schwante Übles.
„Du meinst, ich soll herausfinden, wie sie zu der persönlichen Erfahrung gelangen konnte, dass Kromer mit Sex so sparsam wie mit seinen Finanzmitteln umgehe?“
Mein Verleger grinste.
„Schröder, wir brauchen eine Affäre…“
„Kromer stand schon oft im Schussfeld der Medien. Man stellte ihm kritische Fragen. Er hatte Antworten. Man unterstellte ihm, einseitig für die Reichen zu arbeiten. Er bewies das Gegenteil. Man unterstellte ihm, einseitig für die Armen zu arbeiten. Er bewies das Gegenteil. Man schob ihm eine Geliebte unter. Er bewies, der Frau nie begegnet zu sein. Nie machte er durch Skandale von sich reden. Seine Reisekostenabrechnungen stimmten hundertprozentig. Immer waren es seine Gedanken, seine Ideen und seine Arbeit, die ihn in die Schlagzeilen brachten, nie eine skurrile Homestory, nie ein liederlicher Gedanke, eine Affäre.“
„Stell dich nicht so an. Du machst das schon. So eine Story ist doch nicht Neues für dich.“
Den roten Faden der Biografie stellte sich mein Verleger ungefähr so vor, dass der unmenschlich ordentliche, ehrenwerte Kromer den Frust seines Jobs, immer nur angefeindet zu werden, mit einem zweiten Gesicht kompensierte. Dieser Milchmädchen-Psychologie entsprechend sollte ich hauptsächlich über den Mister Hyde schreiben, der in Kromer steckte. Das sei eine News. Von der Finanzpolitik könne man täglich aus der Zeitung erfahren, aber erst schmutzige Bettgeschichten mit viel spritzendem Sperma in den teuersten Hotels, würden der Biografie die nötige Würze verleihen. Anlässlich der feierlichen Verabschiedung des Finanzdezernenten in den Ruhestand, wollte mein Verleger die Bombe platzen lassen und sich in den Flutwellen des Skandals baden.
„Und? Machst du’s?“, fragte er. „Ich weiß, du machst es.“
„Ich brauche Bedenkzeit.“
„Du und Bedenkzeit? Das ist ja ganz etwas Neues. Wenn du willst, kannst du gerne eines deiner Pseudonyme verwenden, Lukas Pimpernell oder Georg Ficke.“
„Ein anderes Projekt hat Vorrang.“
„Ach nein? Stehen die Lektoren vom Suhrkamp und Hanser vor deiner Wohnungstür Schlange?“
Ich hätte ihm ins Gesicht schlagen können. So tief empfand die Demütigung, dass er mir die Erfolglosigkeit meiner Ambitionen unter die Nase rieb. Aber seinem Angebot hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ich biss die Zähne zusammen, zierte mich noch ein paar Tage, trieb den Vorschuss in die Höhe und dachte, dass ich ein letztes Mal im Leben meine Seele dem Schund verschreiben werde, um dem schnöden Mammon die Hand zu reichen.
„Ich hab’s gewusst“, bellte mein Verleger ins Telefon.
„Was hast du gewusst?“
„Dass ich mich auf dich verlassen kann.“
Mist, dachte ich. Immer bei zweifelhaften Unternehmungen galt ich als verlässlicher Partner.
„Alles klar?“ fragte er.
„Ich bin dabei“, antwortete ich,
Jetzt hatte ich wieder einen der Jobs, die mich ankotzten. Ich hätte „nein“ sagen müssen. Standhaft bleiben, an meine eigenen Ziele denken, endlich von den Visitenkarten Gebrauch machen, die ich auf den internationalen Buchmessen eingesteckt hatte. Aber nein, ich, Jan Schröder, war faul, lebte lieber in meiner Traumwelt als im Hier und Jetzt.
Nur dieses eine Mal noch, flüsterte ich, ohne recht daran zu glauben. Andererseits war ich nicht so viel schlechter wie meine Kollegen. Die Medien waren ein einziger großer Waschsalon, und der Journalismus lebte davon, schmutzige Wäsche zu waschen. Der Beruf gehörte nicht in die Kategorie „Wahrheit und Aufklärung“, sondern in die Abteilung „Brot und Spiele“. Um des Sieges Willen musste jemand fertiggemacht werden, am besten ein Promi, und Kromer war ein Promi, wenigstens in unserer Stadt. Ich hatte keine gute Meinung von dem Berufsstand, dem ich angehörte – weil ich auch keine gute Meinung von mir hatte.
Ich war ein langsamer Schreiber, doch diesmal stand es ganz besonders schlimm um mein Tempo. Schon fast einen Monat war es her, dass ich den Vertrag unterzeichnet hatte. Seitdem hatte ich noch nichts Anstößiges in den Computer getippt. Nicht einmal viel Wahres war mir eingefallen.
Vom Giebelfenster meines Arbeitszimmers im fünften Stock blickte ich auf die Straße hinunter, auf den kleinen Platz mit den sechs Platanen. Die Bistrostühle meines Lieblingscafés lockten mich aus dem Homeoffice, aber ich blieb oben und presste weiterhin Text aus mir. Am liebsten hätte ich wie ein richtiger Caféhausliterat in der verrauchten Öffentlichkeit Gleichgesinnter geschrieben. Aber Caféhausliteraten waren eine Erscheinungsform vergangener Jahrhunderte. Leider.
Eigentlich hätte ich nur fleißig niederschreiben müssen, was ich über Gerhard Kromer wusste. Ich wusste viel. Wir kannten uns seit Urzeiten, waren im gleichen Alter. Als man ihn damals zum Finanzdezernenten ernannte, war ich ein frischgebackener Lokalredakteur, der seine Artikel auf einer Hermes-Baby tippte. Ein Setzer goss meine Worte in Blei. Im Zeitungswesen war der Farbdruck noch unbekannt.
Leidenschaftlich schlug mein Herz wie das von Ernest Hemingway, zugleich fühlte ich mich zu nüchterner Sachlichkeit verpflichtet wie Egon Erwin Kisch.
Der Reporter habe unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, hatte Kisch einst gefordert. Ich verstand darunter den Skandale aufdeckenden, investigativen Berichterstatter. Er war mein großes Vorbild gewesen, wegen ihm hatte ich den Beruf des Journalisten ergriffen.
Die Realität als rasender Reporter ernüchterte mich. Ich berichtete von den Jahreshauptversammlungen der Kleintierzüchter und der Gesangvereine, ich schrieb über Faschingsprinzen und Weinköniginnen, ohne durch subjektives Wohlwollen die traurige Realität aufzuhübschen oder zu unterdrücken.
„Am Anfang ehrte der Vereinspräsident die Verdienste von 22 langjährigen Mitgliedern. Obwohl er vom Blatt ablas, verhaspelte er sich mehrmals und verwechselte einige Namen. Nach eineinhalb Stunden atmete der Saal hörbar auf. Die Zeremonie der Preisverleihung begann. Eine Art Faschingsprinz betrat die Bühne, und Bunny, der Hase mit der roten Schleife, wurde Erster. Den zweiten Preis bekam Goldhamster Susi, mit grünem Schleifchen. Nur die Leute in der ersten Reihe sahen das winzige Tierchen und applaudierten. Einstimmig wurde der Vorstand entlastet. Niemand hatte beschissen oder betrogen.“
Die Mitglieder waren entsetzt über meine Art der Berichterstattung. Natürlich wünschten sie sich von ihrer Zeitung Unabhängigkeit und Objektivität, aber nicht ausgerechnet dann, wenn es um die Jahresversammlung ihres Vereins ging.
Fast täglich hagelte es Beschwerden wegen meiner angeblich unsachlichen Berichte. Man vermisste die lang vorbereiteten Lobhudeleien und Dankesadressen und machte mir den Vorwurf der „ironischen Distanz“. Wütende Leserbriefe flatterten ins Haus, Drohungen, das Abonnement zu kündigen.
Mein Chefredakteur nahm mich aus der Schusslinie. Er setzte mich mit einer wunderlichen Begründung auf den jungen Kromer an, der soeben Finanzdezernent geworden war.
„Bei dem kann nicht viel schiefgehen. Kromer ist schnell wieder vom Fenster.“
Niemand wettete auch nur eine müde Mark darauf, dass Kromer die ersten hundert Tage im Amt überleben würde.
Kromer prophezeite den finanziellen Kollaps, wenn nicht gespart werde. Die Stadt sei kein Selbstbedienungsladen für Politfunktionäre und deren Wahlvolk. Nur fünf Mitarbeiter beschäftigten sich mit elektronischer Datenverarbeitung. Hundert müssten es werden, damit man anderswo dreihundert einsparen könne. Man müsse optimieren, optimieren, optimieren. Die städtischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten umlernen und Gewohnheiten über Bord werfen.
„In zwanzig Jahren wird in jedem Amtszimmer ein Computer stehen. Die Stadtverwaltung wird mit der Hälfte des Personals das Doppelte leisten.“
„Aber Herr Kromer“, fragte ich, „wird das nicht einen Sturm der Entrüstung hervorrufen?“
Kromer wusste nicht nur viel über Computer und Rechnungswesen, er sah auch sehr gut aus. Wie ein Sunny-Boy – jedoch ein sparsamer – immer modisch leger oder schick, je nach Art seiner Gesprächspartner, wie es der Auftritt verlangte. Aber nie trug er einen Blaumann, um den Werktätigen vorzugaukeln, dass er einer von ihnen wäre. Ich war begeistert. Ich schrieb einen euphorischen Artikel nach dem anderen über den neuen Finanzchef unserer Stadt, dessen Lieblingswörter ums Sparen und Optimieren kreisten, ums Optimieren und Sparen.
In wenigen Wochen verschaffte sich Kromer einen kompetenten Überblick. Wichtige Mitarbeiter seines Vorgängers setzte er auf die Abschussliste. Sein erster Haushaltsentwurf trotzte den Ressorts Millionen ab. Die unterschiedlichsten Interessengruppen empörten sich, ein Aufschrei ging durch die Stadt. Handwerker, Subunternehmer, Lieferanten, Arbeiter, Angestellte und Gewerkschaften liefen entrüstet Sturm. Die Industrie- und Handelskammer jammerte, alteingesessene Firmen drohten mit der Verlagerung ihrer Produktionsstätten.
„Der Finanzdezernent setzt den Rotstift an“, schrieb ich. „Jetzt ist Schluss mit der Gemütlichkeit im kommunalen Dschungel. Kromers Kahlschlag wird das Spinnennetz des Klüngels aufdröseln. Eine neue Zeit bricht an, ohne Filz. Bleibt zu hoffen, dass unser Finanzdezernent die erste Amtszeit übersteht und einst als der legendäre Rotstift-Kromer einen Ehrenplatz in der Geschichte der Stadt finden wird.“
Mit „Rotstift-Kromer“ hatte ich das Markenzeichen geboren, das die Jahrzehnte überdauern sollte. Das Attribut „Rotstift“ war für Kromer eine besondere Auszeichnung, keine üble Nachrede. Der Rotstift war seine Streitaxt im Kampf für Veränderung, Erneuerung und Gerechtigkeit.
„Kromer muss weg!“, schallte es allerorts, denn die Leute wollten keine juristische Gerechtigkeit, sondern die gefühlte Chance sich ein Privileg zu erhaschen.
Kromer blieb.
Mein Chefredakteur schnauzte mich an.
„Warum schreiben Sie nicht, was die Straße denkt, Schröder?“
„Die Presse ist unabhängig.“
„Ja, von der Politik, aber nicht von ihren Kunden.“
Ich murmelte ein Schimpfwort in mich hinein und nahm Kromer in Schutz wie in all den späteren Jahren, in denen ich seine Festigkeit und Unbestechlichkeit verteidigte.
Die Erfolgsbilanz seiner Jahre war bemerkenswert. Die Stadt arbeitete sich vom Schmuddel-Kind zur Perle hoch. Junge Familien siedelten sich an, neue Industrien schufen Wohlstand. Mehr als einmal rettete er seinen Oberbürgermeistern das Amt. Kromer war der unverzichtbare Bösewicht, den niemand liebte und der scheinbar Übles tat, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Die eifersüchtige Opposition wetterte, dass der Aufschwung trotz Kromer, nicht wegen Kromer erfolgt sei. Es machte sie rasend, dass sie mit ihren Prognosen stets danebengelegen hatte.
„Schon als kleiner Junge interessiert sich Kromer für die Welt der roten und schwarzen Zahlen“, hämmerte ich wütend in die Tastatur, was er mir einmal beiläufig in einem Interview erzählt hatte. „Während seine Altersgenossen mit Teddybären spielen, schiebt er Kugeln auf dem Abakus. Früh ist sein Weg als Finanzdezernent vorgezeichnet.“
Ich sah meinen Verleger gähnen. Nicht für langweilige Wahrheiten bezahlte er mich. Er erwartete, dass ich Kromer in Pfanne haue, diesen ehrenwerten Menschen, dass es so richtig krachte und der Rubel rollte.
Ausgerechnet mich hatte er dazu auserkoren, ich, dem nicht mehr viel Lebenszeit blieb, um meiner wahren Bestimmung zu folgen, als Suhrkamp-Autor geistige Mühlräder zu drehen, anstatt schlüpfrige Tatsachen zu recherchieren, die es nicht geben werde, davon war ich überzeugt. Mir würde nichts Anderes übrigbleiben, als es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen und mich darauf zu verlassen, dass Kromer die nötige Kraft fehlte, um gegen die unterstellten Peinlichkeiten vorzugehen.
„Schon als kleiner Junge vergeht sich Kromer an Teddybären. Er interessiert sich mehr für die Unterwäsche des Hausmädchens als für ernsthafte Mathematik.“
Schon besser, dachte ich und fühlte mich schrecklich. In Kromers Elternhaus hatte es niemals Hausmädchen gegeben, egal. Ich Brutus, Kromer Cäsar.
„Eines Tages interviewte eine junge Volontärin den gestandenen Finanzdezernenten. Um möglichst viel Information zu bekommen, zog sie sich adrett aber sparsam an. Es geschah, was nicht ausbleiben konnte. Kromer schwor der angehenden Journalistin ewige Treue. Sie sollte nicht die einzige bleiben. Kaum eine Rock-Trägerin entging seinen Treueschwüren.“
Was für eine erbärmliche Unterstellung. Ein Königreich für einen Beweis! Sollte je ein Suhrkamp-Lektor diese Zeilen lesen, wäre ich schlagartig erledigt – über den Tod hinaus. Generationen von Germanistinnen und Germanisten bepinkelten meinen Grabstein. Die Weimarer Klassiker, denen ich in Himmel oder Hölle begegnete, schnitten mir Grimassen und setzten sich demonstrativ an einen anderen Tisch.
Wie tief war ich gesunken. Sex war nichts Anrüchiges. Hätte es nur katholische Priester gegeben, wäre das christliche Abendland schon seit der Kreuzigung Jesus Christi ausgestorben. Ausgerechnet ich musste die schönste und nützlichste Sache der Welt in den Schmutz zu ziehen, um einen ehrenwerten Kommunalpolitiker zu diskreditieren.
Genug gejammert, genug des Selbstmitleids!
Ich gab mir einen Ruck und rief Kromer an. Vielleicht existierte ja wirklich eine flotte Biene, die ihm den Schmerz des Ungeliebtseins versüßte.
„Haben Sie Zeit für ein Interview?“
„Gerne. Für Sie immer. Um was geht es denn?“
„Wie ich höre, findet bald Ihre Verabschiedung statt. Aus diesem Anlass schreibe ich an Ihrer Biografie. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich unterstützten.“
„Meine trockenen Zahlen sind gewiss uninteressant. Noch nie hat jemand den Unterschied zwischen Ausgaben für Konsum und Ausgaben für Investitionen verstanden. Möchten Sie wirklich, dass ich finanzpolitische Grundsätze ausbreite?“
„Ich brauche etwas Menschliches von Ihnen. Welche Blumen Sie lieben, was Sie am liebsten essen und trinken, faszinierende Ereignisse, ungewöhnliche Erlebnisse, alles was das Herz wärmt und die Seele streichelt.“
„Eine Home-Story? Auch Sex?”
„Wenn Sie etwas zu bieten haben, gerne.“
„Warum denn nicht? Lassen Sie sich einen Termin von meiner Sekretärin geben. Wir treffen uns am besten nicht in meinem Büro, sondern bei mir zuhause.“
„Sie haben Home-Storys nie gemocht, Kromer. Warum ausgerechnet jetzt, am Ende Ihrer Laufbahn?“
„Vielleicht ist es Zeit, endlich damit anzufangen.“
Lange dachte ich über die Bemerkung nach, „Zeit, endlich damit anzufangen“. Und was hatte es mit dem „Sex“ auf sich? Gab es jemanden? Hatte mein Verleger doch den richtigen Riecher bewiesen? Nun ja, manch älterer Herr sonnte sich in seinem zweiten Frühling und sehnte sich im Überschwang der Gefühle nach einem Coming-out.
Gar ein Mann, durchzuckte mich ein Geistesblitz. Bahnte sich gar eine gleichgeschlechtliche Hochzeit an, und ich war der, der davon als erster erführe?
Durch das Giebelfenster strahlte die späte Nachmittagssonne herein. Mir ging es sehr viel besser, nachdem ich mich aufgerafft hatte, mich mit Kromer zu verabreden und Zeuge einer überraschenden Ankündigung werden würde.
Nach dieser erfolgreichen Wende verdiente ich es, endlich in meinem Lieblingscafé zu sitzen. Rasch schaltete ich den Computer aus und fuhr mit dem Aufzug nach unten.
Vor der Haustür wehte mir ein warmer Wind entgegen. Lauter hübsche Frauen bewegten sich auf unterschiedliche Weisen durch die Straßen meines Viertels, auf Stöckelschuhen, Fährrädern, in Cabrios. Sie stöckelten aufrecht in Kurz, befreit vom Wintermieder, und lächelten.
Ich setzte mich an einen der Bistrotische unter den Platanen und bestellte mir einen Cappuccino. Die Bedienung, die mir schon öfters aufgefallen war, daumte meinen Wunsch in ihr elektronisches Erfassungsgerät und eilte zum nächsten Tisch. Die Blätter flirrten und zischelten. Der sanfte Frühling bezauberte die Menschen. Zartes Grün spross, Blüten knospten. Wie Heinrich Heine fühlte ich mich, der als junger Mann in Hamburg den Anblick der schaumentstiegenen Göttinnen genossen hatte, die an schönen Tagen den Jungfernstieg entlang trippelten.
Nein, ich fand es nicht sexistisch, den Frauen hinterher zu schauen, die sich für Ausgehen hübsch gemacht hatten. Meine Ex-Frau hätte mich dafür gelyncht.
Kromers Villa lag am Hang, ich hätte zu Fuß hingehen oder das Fahrrad nehmen können, aber heute fühlte ich mich matt, hatte keinen Appetit, weder Lust auf Essen noch auf Trinken. Am liebsten hätte ich das Treffen abgesagt. Jedoch hielt ich mich für Profi genug, um auch unter den schwersten Rahmenbedingungen eine gute Leistung abzuliefern.
Ich nahm das Auto. In Serpentinen führte die Straße bergan. Mit jeder Kehre setzten sich bessere Wohnlagen von schlechteren ab. Die Panoramastraße, wo Kromers Haus stand, war nur auf der Talseite bebaut. Oberhalb begann ein lichter Wald. Gemischter Baumbestand. Ein Eichhörnchen wuselte über die Straße, huschte den Stamm hinauf und verschwand auf der abgewandten Seite der Tanne. Oder war es eine Fichte? Noch nie hatte ich Nadelbäume auseinanderhalten können.
In diesem Moment spürte ich ein nicht zu bändigendes Rumoren im Bauch. Mir wurde schlecht. Mit letzter Kraft drehte ich mich um, rannte zu meinem Wagen zurück, startete den Motor, wendete. In halsbrecherischem Tempo raste ich nachhause. Ich hatte keine Zeit, den Wagen in der Tiefgarage verschwinden zu lassen, ich parkte im Halteverbot, stürzte in meine Wohnung hinauf, öffnete die Toilettentür. Es gab kein Halten mehr. Ich fand nicht einmal Zeit, mich aus der Hose zu schälen. Geistesgegenwärtig warf ich mich in die Badewanne und ließ dem Dammbruch in Kehle und Darm freien Lauf.
Ich drehte das Wasser auf, kippte Tannenschaumbad in den Strahl und versuchte die Knöpfe meines Hemdes zu öffnen. Mir war unglaublich schlecht. Ich wollte sterben. Schwer durchtränkt klebte die Kleidung an meinem Körper und zog mich zum Wannenboden. Nie wieder gelänge es mir, mich aus meinen Exkrementen zu erheben. Der Wasserspiegel stieg. Schaumhügel trieben wie Eisberge auf meinen Kopf zu. Weder ihr Duft noch ihr reines Weiß gaben mir Hoffnung auf eine zweite Chance nach meinem Tod. Unter Schmerzen blickte ich zurück auf mein Lebenswerk aus Kolportagen und Schmuddel-Geschichten. In seiner Summe ergab es eine hässliche Gesamtphysiognomie.
Als das Wasser erkaltet war und ich im Bademantel ins Wohnzimmer ging, läutete das Telefon.
„Wie war das Interview? Der Termin war doch heute, oder?“
„Ja, der Termin war heute.“
„Hast du was rausgekriegt?“
In knappen Worten beichtete ich die zutiefst peinliche Norovirus-Infektion, die mich befallen hatte. Kein archaischer Konflikt, in dem zwei Seelen um die Überhand kämpften, nichts mit Krieg, Frieden, Wahnsinn und Genie, sondern eine banale Allerwelt-Toilettengeschichte. Hilflos auf dem Rücken liegend hatte ich in die Hose geschissen und gleichzeitig mein Hemd mit Erbrochenem besudelt. Mit solchen Erlebnissen konnte ich nicht gegen einen Don Carlos anstinken und mich in der Rolle eines Marquis von Posa wähnen, der von seinem kaltherzigen Verleger „Gedankenfreiheit!“ forderte. Ich, der in meinem Leben nur noch eines werden wollte, Suhrkamp-Autor, musste niedere Umstände anführen, um zu erklären, warum das Interview mit Kromer in letzter Sekunde nicht zustande gekommen war.
Obwohl die Gründe, die ich aufzählte, kein Stoff war, aus dem die großen Dramen sind, machte mein Verleger eines daraus. Zum Glück befand er sich nicht in meiner Nähe, sondern in einer Gott sei Dank weit entfernten digitalen Funkzelle. Er tobte wie ein Wahnsinniger, dass ich ihn noch schreien hörte, nachdem ich das Handy längst hinters Sofa gepfeffert hatte.
„Hörst du mir überhaupt zu“, quakte er aus seiner dunklen, staubigen Ecke.
„Du bist nicht zu überhören.“
„Mein Anwalt wird sich bei dir melden, hörst du? Du kannst dich auf was gefasst machen. Er wird dir eine gesalzene Rechnung präsentieren. Dass du die ausgezahlten Vorschüsse zurückzahlst ist noch das Mindeste.“
„Glaubst du, dass es mir Spaß macht, mit Schüttelfrost und Brechdurchfall…“
„Müller und Bender haben auf dem Klo die besten Einfälle.“
„So, haben sie?“ Es passte mir nicht, dass mir mein Verleger Kollegen als Beispiel unter die Nase rieb. „Dafür will niemand lesen, was sie schreiben.“
„So? Aber merk dir“, drang es hinter dem Sofa hervor, „wenn der Rotstift-Kromer erst mal verabschiedet ist, interessiert sich kein Schwein mehr für die Biografie. Dann kann ich mir gleich die Kugel geben.“
„Für Kromer interessiert sich sowieso niemand“, erwiderte ich ärgerlich und voller Bauchweh. „Die volkswirtschaftliche Lebensleistung eines Finanzdezernenten? Nur Datenmüll, meine Tantiemen kann ich gleich in den Wind schreiben.“
„Daher weht der Wind also. Du hast keine Lust? Aber du hast einen Vertrag. Willst du ihn brechen? Dann wirst du mich von meiner ungemütlichen Seite kennenlernen.“
Obwohl ich meinen Verleger kaum anders als ungemütlich kannte, ruderte ich zurück.
„Schon gut, du bekommst dein Buch rechtzeitig. Versprochen. Und es wird mehr drinstehen, als du jemals erwartet hast.“
„Außerdem geht es in der Biografie nicht um finanzpolitische und haushaltstechnische Insidergeschichten, sondern um Kromers deftig-pikante Sexaffären.“
„So? Welche denn?“
„Kapier endlich, genau das sollst du herausfinden, Schröder.“
„Kromer, eine Art Giacomo Casanova?“
Trotz rumorendem Darm, Magenschmerzen und Kopfweh konnte ich mir einen Lachimpuls nicht verkneifen.
„Was soll daran witzig sein“, schnaubte mein Verleger. „Du hast schon tausend Kolportagen abgeliefert, und wir haben jedes Mal gut daran verdient. Lass mich auch diesmal nicht im Stich. Ich will keine Lobhudeleien, sondern schonungslosen, investigativen Journalismus. Verstanden?“
„Ich habe schon ein bisschen recherchiert“, log ich, um der Schreierei ein Ende zu setzen.
Das unerwartete Schweigen am anderen Handy verriet, dass mein Verleger nach Luft schnappte und dass die Dollarzeichen in seinen Pupillen rotierten. Von einer zur anderen Sekunde ging sein Wutausbrauch in Neugier und Sanftmut über. Er sprach so leise, dass ich hinters Sofa kriechen und das Handy hervorholen musste, um ihn zu verstehen.
„Du hast wirklich Anhaltspunkte gefunden?“
„Es ist noch nicht ganz sicher“, wiegelte ich ab.
„Was weißt du, was ich nicht weiß?“
Ich wusste sehr viel, was mein Verleger nicht wusste, zum Beispiel vieles, was mit Kunst, Ethik und Wahrheit zusammenhing, aber es waren alles Dinge, die mein Verleger nicht wirklich wissen wollte. Ich stammelte, dass ich bei meinen Recherchen auf einige Widersprüche gestoßen sei, ich müsse bestimmten Spuren folgen, um die Faktenlage juristisch und journalistisch wasserdicht zu machen. Es liege allerdings nur im Bereich des Möglichen, dass ich auf eine Goldader gestoßen sei.
„Dazu brauche ich Zeit.“
„Viel Zeit?“
„Du weißt, dass gut Ding Weile haben will.“
„Ein Skandal ersten Ranges?“
Ich hatte versucht, so vage als möglich zu bleiben, doch der Fisch hatte den Köder geschnappt. Mein Verleger übersah das Hypothetische in meinen Worten, das heißt, er wollte es übersehen. Seine Gier trumpfte auf und setzte mich unter Druck, die Realität zu verbiegen und nebensächlichen Details eine schwerwiegende Bedeutung zu geben.
Mir war klar, dass ich in Kromers Leben schleunigst etwas Schlüpfriges finden musste. Keine Frage, dass es mir gelingen würde. Kein Mensch war frei von Begehren. Ich musste es nur für eine prüde und scheinheilige Öffentlichkeit zur grausigen Verfehlung stilisieren, zum tragfähigen Skandal aufbauschen, sprachlich kein Problem – aber moralisch?
Ach, stöhnte ich. Wann wäre endlich meine Zeit als Suhrkamp-Autor gekommen, überhäuft mit anerkannten Literaturpreisen? Wie lange noch verlangte die Realität von mir, Geschichten zu erfinden, in denen prall gefüllte Büstenhalter und hautenge Spitzenhöschen auf sonnengebräunter Haut die tragende Rolle spielten?
Wenigstens war ich alleinstehend. Meine Frau war abgehauen, die Kinder standen auf eigenen Füßen. Wenn mir wirklich alles zu bunt werden würde, blieb mir immer noch der Ausweg, bei einer alpinen Wanderung aus Versehen in eine Gebirgsschlucht zu stürzen und mir das Genick zu brechen.
Übrigens, mit dem Tod des Mannes endeten auch die Romane meiner Ex-Frau, nur, dass die Männer in einem Akt der Emanzipation vom Weibe hingerichtet wurden und nicht unabsichtlich irgendwo hinunterfielen.
Obwohl Norovirus-Infektionen nach ein paar Tagen abgeklungen sein sollten, so stand es jedenfalls im Internet, dauerte es bei mir fast zwei Wochen, bis ich mich wieder in Lage fühlte zu arbeiten. Erschwerend kam hinzu, dass mein Auto abgeschleppt worden war. Mein ganzes Leben erschien mir als einzige nicht enden wollende Demütigung.
Um nicht total in Depressionen und wüsten Vorahnungen zu versinken, machte ich eine gute Miene zum bösen Spiel und rappelte mich auf. Ich rief Kromer an, bat um einen neuen Termin und bekam prompt die Zusage. Die Zeit drängte. Die feierliche Verabschiedung des Finanzdezernenten rückte näher, ich musste mich sputen, um das Machwerk zu vollenden.
Mein Verleger hatte sich nicht bei mir gemeldet, während ich krank im Bett gelegen war, gewiss nicht aus menschenfreundlicher Rücksichtnahme, vermutlich hatte er befürchtet, sich um mich kümmern zu müssen, einkaufen gehen, Kamillentee kochen und so weiter, um vielleicht selbst angesteckt zu werden und sich geschäftsunfähig im Badezimmer einschließen zu müssen.
Am Tag nach meiner vollständigen Genesung schleppte ich mich in mein Lieblingscafé unter den Platanen. Ich fühlte mich noch wackelig auf den Beinen, aber die Sonne schien, ein angenehm warmer Lufthauch wehte den Duft von später Blüte durch die Stadt. Die Menschen hatten gute Laune. Die Stimmung sprang auf mich über und steckte mich an. Ich dachte, dass das Leben sehr viel schöner sei, als ich in den letzten Tagen geglaubt hatte. Die Schwere fiel von meinen Gliedern ab. Mit jedem Meter, den ich voranschritt, erwachte die Tatkraft in mir. Ich bekam Lust, etwas zu unternehmen, wegzufahren, Urlaub zu machen. Ich wollte das Buch beginnen, das mich als Suhrkamp-Autor qualifizierte. Mir schmeckten der Cappuccino und die Croissants. Die Bedienung, die mir schon ein paar Mal das Frühstück gebracht hatte, sah heute besonders hübsch und freundlich aus.
Als hätte mein Verleger die Genesung gerochen, tauchte er plötzlich auf. Er trabte er auf mich zu! Ich hatte mich auf ein paar Stunden ungezwungenes Künstlerdasein gefreut.
„Du glaubst nicht“, begann er ohne Umschweife, „wie viele Leute immer noch einen dicken Hals haben. Allein das Einkaufszentrum, das Kromer wegen ein paar Goldhamstern verhindert hat, brachte ihm lebenslange Feindschaften ein. Deine Enthüllungsstory wird den Menschen eine späte Genugtuung sein.“
„Es waren Feldhamster. Sie stehen unter Naturschutz. Kromer hat sich nur an die Gesetzeslage gehalten. – Und welche Enthüllungen meinst du?“
Er sah mich konsterniert an und schnappte nach Luft.
„War nur Spaß“, grinste ich.
Mein Verleger drohte mir mit dem Zeigefinger.
Ich erinnerte mich, dass er einem Bauern einige Grundstücke abgeluchst hatte und auf dem mit Feldhamstern durchsetztem Gelände sitzen geblieben war.
„Hast du damals viel Geld verloren?“, fragte ich.
„Ich hätte besser meine Konkurrenten kaufen sollen. Dann wäre ich heute die absolute Nummer eins und könnte mich – und dich – mit angenehmeren Dingen beschäftigen als mit hässlichen Schmuddelgeschichten.“
Mir fiel auf, dass die Bedienung, eine große schlanke Brünette, die deutlich erwachsener wirkte als das junge Gemüse, das sonst hier bediente, auffällig gründlich die Nebentische putzte und ständig zu uns hersah, als belauschte sie das Gespräch zwischen meinem Verleger und mir.
„Jetzt hattest du genug Zeit zum Schreiben gehabt“, sagte er jovial und klopfte mir auf die Schulter als wäre ich sein Kumpel, „wie weit bist du gekommen? Wann darf ich mit dem Manuskript rechnen? Ich muss den Grafiker mit dem Einband beauftragen. Der Text muss Korrektur gelesen werden. Ich weiß ja, wie viel Schreibfehler du immer machst.“
Ich erzählte meinem Verleger, dass die Biografie in den letzten Zügen liege, was natürlich nicht stimmte, aber ich hatte keine Lust, mir wieder sein Geschrei anzuhören. Aus dem Stegreif zitierte ich einen fiktiven Abschnitt.
„Ich habe seinen Beitrag zur Konferenz der Finanzdezernenten von 1986 recherchiert. Was Kromer damals sagte, galt als richtungsweisend. Noch heute klingt es unglaublich modern. Seine Überlegungen zur Neuordnung der Verantwortungsbereiche muten an, als wären sie erst neulich entstanden.“
Ich redete mich warm und wusste plötzlich, was ich schreiben musste, um Kromers Lebensleistung gerecht zu werden. Kromer, ein genialer, kommunikativer Finanzdezernent, wurde in europäische Hauptstädte eingeladen, um sein Wissen zu verbreiten. Aber die Kleingeister in unserer Stadt heizten die Stimmung gegen ihn an. Kromer sei ständig auf Reisen, Kromer treibe sich in Paris, London, Barcelona, Triest und Irland herum. Er nutze sogenannte „Dienstreisen“ als Urlaub, während die Menschen, denen er Opfer abverlangte, hart arbeiten mussten.
„Das alles kannst du getrost rausschmeißen“, stöhnte meine Verleger, „niemand möchte so was lesen. Was tun ältere Männer in Paris, Barcelona, London und Nizza? Sie vergnügen sich mit jungen Dingern und spielen den Sugar-Daddy. Referate über Finanzen halten – dass ich nicht lache!“
„Es war aber wirklich so. Außerdem, was wäre dabei gewesen, wenn eine Freundin mit ihm gereist wäre? Seine Lebensleistung schmälerte das gewiss nicht.“
„Die Leute möchten nicht lesen, wie es wirklich war“, schnaubte er kopfschüttelnd, „die Wahrheit ist Humbug, niemand glaubt sie. Die Leute glauben nur das, was sie zu wissen glauben. Du solltest dich nicht allzu sehr an die Wahrheit halten. Beschreibe die Wirklichkeit so, wie die Leute sie sich vorstellen.“
Er lächelte charmant, ich schluckte und setzte einen unbedarften Gesichtsausdruck auf.
„Ich soll also lügen?“
„Nein, du sollst schreiben, was die Menschen für möglich halten. Was in ihr Weltbild passt. Rundum perfekt wie Kromer kann kein Sterblicher sein. Es muss eine dunkle Seite geben. Du sollst sie finden. Heilig sind nur der Papst und Gott. Und selbst da habe ich meine Zweifel.“
Ich stierte vor mich hin, unzufrieden mit dem, was mein Verleger von mir verlangte. Irgendwann musste Schluss sein. Ich musste einen Schnitt machen.
„Wie soll ich das anstellen?“, bockte ich. „Soll ich zaubern? Soll ich es auf Unterlassungsklagen ankommen lassen?“
„Du bist plötzlich sowas von kompliziert. Du musst nur sie Dinge aus dem Zusammenhang reißen, musst sie zuspitzen, musst rhetorische Fragen stellen, die sich im Hirn des Lesepublikums ganz von selbst im gewünschten Sinne beantworten. Bringe ein paar falsche Behauptungen unter, die so ungeheuerlich sind, dass sie niemand in Zweifel zu ziehen wagt. Spiele mit Emotionen, Mensch Schröder, du weißt doch, wie sowas geht.“
Ich hasste es, wenn mir jemand sagte, was ich tun und lassen solle und was die wirkliche Wahrheit sei.
„Jetzt lass mich mal in Ruhe schreiben, und nerv mich nicht dauernd mit deinen dusseligen Vorhaltungen, das Buch ist ja noch lange nicht fertig.“
„Noch lange nicht fertig.“
Mindestens fünf Mal murmelte mein Verleger den Satz vor sich hin, der mir unbedacht herausgerutscht war. Die Worte waren wie Öl ins Feuer gegossen.
„Noch lange nicht fertig“, schnaubte er. Das hätte ich mir gleich denken können, dass du ewig an deinen Texten herumfummelst. Du hast einen idiotischen Perfektionswahn. Wenn du ewig nicht fertig wirst, rechnet sich das Projekt nicht mehr.“
„Geld, immer nur Geld! Kunst ist für dich das Können, Profit zu machen, indem du Leute wie mich schlecht für ihren Erfindungsreichtum bezahlst.“
„Okay, mach, was du willst. Mach, was du willst. Aber bring mir das Buch schnell heraus. – Neunzig Prozent aller Biografien werden gekauft, um zu erfahren, wer mit wem… Bitte, denke an das, was unser Publikum lesen will und nicht an das, was du schreiben willst. Sonst kann ich mir gleich die Kugel geben.“
Mit dem Zeigefinger formte er eine Pistole und hielt sie sich an die Schläfe.
„Paff, paff.“
Mein Verleger warf einen Geldschein auf den Bistrotisch.
„Wir sehen uns.“
Er erhob er sich und stieg in seinen Achtzylinder-Allrad-Jeep, der am Bordstein im Halteverbot parkte – wo sonst. Mit bullerndem Motor fuhr er davon.
Heilfroh, dass die unerwartete Besprechung zu Ende war, sah ich den Rücklichtern hinterher und atmete auf. Ich kam mir vor, als wäre er mein Zuhälter.
Die Bedienung trat an meinen Tisch heran. Sie sammelte den Geldschein meines Verlegers ein. Ich bestellte noch einen Cappuccino, den dritten in Folge. Die junge Frau zögerte, schien etwas auf dem Herzen zu haben, verschwand dann aber endlich, um meine Bestellung weiterzuleiten.
Ich wollte nicht nachhause, ich wollte im Freien unter den Platanen sitzen und nicht mehr aufstehen, hier, wo sich das Rascheln der Blätter mit den Verkehrsgeräuschen zu einem einlullenden Hintergrundrauschen vermengte. Nichts zog mich an den Schreibtisch. Im Café war ich Mensch, weit weg von den Tasten des Computers, dem Internet, meinen Notizen, Aufzeichnungen und Tagebüchern, dem ganzen jämmerlichen Materialberg eines Autors, dem die Erkenntnis dämmerte, dass er nicht die geringste Lust hatte, sich Text aus den Fingern zu saugen, der den geistigen und moralischen Verfall der Menschheit förderte.
Das Lesenlernen sei von den Stundenplänen zu streichen, grollte ich übellaunig. Es führe nur dazu, dass die intellektuelle Unterschicht, denen der Analphabetismus abhandengekommen war, ihren Tribut fordere, und mein Verleger gehörte zu denen, die sich dazu berufen fühlten, ihnen das vorzusetzen, was sie glaubten, sich durchs Lesenlernen verdient zu haben.
- Ende der Buchvorschau -
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ISBN: 978-3-7393-9183-0