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„Was trinkst du? Wie wär' s mit einem Cocktail? Oh je. In deiner Generation trinkt man noch Humpen voller Bier. Oder hast du schon zu Pfefferminztee gewechselt? Den habe ich auch auf der Karte.“ „Sehe ich etwa nach Pfefferminztee aus?“, grinste ich. „Ich meine, dass ein Cocktail schon das Richtige für mich ist. Zum Beispiel ein Manhattan.“ „Du meinst – Whiskey mit Wermut?“ Ich war ein bisschen stolz darauf, weil ich sie hatte verblüffen können. Sie hatte nicht erwartet, dass mir überhaupt ein Cocktailname einfiele, ich sah es ihr an. „Einen Manhattan, für den alten Freund meiner Mutter! Geht aufs Haus!“ Sie grinste mich an. „Alle Achtung, ein Cocktail. Ich dachte immer, dass du dich nur mit dem falschen Bewusstsein auskennst, nicht aber mit den individualistischen Sonnenseiten des Daseins.“ Ich brüllte auf vor Lachen. Ihre Bemerkung war große Klasse, ein bisschen frech, aber den Nagel auf den Kopf getroffen. Man merkte ihr an, dass sie die Erziehung einer Alt-Achtundsechzigerin genossen hatte. Das schmeichelte meiner Generation und, weil ich dazugehörte, letztlich auch mir. „Damals waren wir streng und selbstgerecht“, sagte ich mit einem Achselzucken. „Mach dir nichts draus. Ihr konntet nichts dafür. Ihr seid von euren Nazi-Eltern streng und selbstgerecht erzogen worden. Natürlich musstet ihr hinter jedem Cocktail gleich eine amerikanische Verschwörung befürchten.“
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Inhaltsverzeichnis
Der Holzpavillon
Der Geheimtipp
Das Hotel am Meer
Spuren des Blutes
Das Heiligtum
Der lange Atem des Stubenhockers
Die Hüpfburg im All
Der unglückliche Prinz
Die rote Acht
Angst um Julie
Das Glücksschwein
Projekt Stille
Kiosk adieu
Die Performance
La Cantina
Tante Emma
Es hänge der Henker!
Der Siegeszug des Quaders
Nicht für eine Nacht
Impressum
Leon Berg
Die einseitige Medaille
Erzählungen von der Verbesserung der Welt
In den Straßenfluchten, die im neunzehnten Jahrhundert bar jeder ökonomischen Vernunft errichtet worden waren, schlummerte heutzutage manches Schnäppchen – manches Schnäppchen für Investoren wohlgemerkt!
Wenn mir mein Terminplan Zeit ließ, machte ich mich zu Fuß auf den Weg, um mich in diesen Stadtvierteln umzuschauen. Sie versprühten den bürgerlichen Charme historisierender Fassaden. Die Vorgärten waren von schmiedeeisernen Zäunen umgeben. Nackte Aphroditen und Hermesstatuen stützten Balkone, Simse und Vordächer. Säulenimitate, verspielte Erker, alles ein bisschen heruntergekommen. Viel zu hoch die Wohnräume. Heute, im Zeitalter der Nichtraucher, brauchte niemand mehr vier Meter hohe Decken, das war unökologisch.
Ich hielt stumme Zwiesprache mit meinem Geld. Es saß wie auf Kohlen, wollte heraus, wollte arbeiten, mehr abwerfen als normale Bankzinsen.
Wart' s nur ab, murmelte ich, du wirst schon noch auf deine Kosten kommen.
Ungefähr bei Hausnummer hundert entdeckte ich ein Grundstück, das nahezu unbebaut geblieben war. Zurückgesetzt von der viel befahrenen Straße, inmitten einer lichten Gruppe aus Laub- und Nadelbäumen, stand ein hölzerner Pavillon. Weder ein Zaun, noch eine andere Absperrung verhinderten den Zutritt. Buntes Herbstlaub bedeckte den Boden.
Die Seitenwände bestanden aus weiß lackierten Holzpanelenwänden, von denen die Farbe etwas abblätterte. Die Frontseite teilten sich eine schmale Eingangstür und ein Schaufenster. Nach oben hin schloss ein Flachdach den Pavillon ab. Es ragte über das Schaufenster hinaus und böte interessierten Kunden Schutz vor Regen – wenn es denn irgendwen gegeben hätte, der sich für die Auslagen interessierte.
Also jemand will da drin etwas verkaufen, schüttelte ich ungläubig den Kopf, deshalb kein Zaun.
Ich trat näher und sah, dass in dem Schaufenster lauter Bücher ausgestellt waren.
Ein Buchladen?
Es wunderte mich, dass mir das anachronistische Geschäft inmitten des kleinen Parks noch nie aufgefallen war. Vermutlich fuhr ich hier immer nur mit dem Auto entlang. Das sollte man nicht tun. Man musste seine Stadt gelegentlich erwandern oder mit dem Fahrrad erkunden, um die verborgenen Dornröschenschlösser zu entdecken, deren Bewohner nur darauf warteten, dass ein reicher Prinz sie aus dem Schlaf der Vergangenheit erweckte. So wie ich und dieser Holzpavillon.
Nicht weit eine U-Bahn-Station.
Menschenmassen quollen die Treppe herauf. Studenten, Angestellte mit Laptop-Rucksäcken, Finanzberater im Anzug. Anwaltskanzleien hatten sich hier in der Gegend niedergelassen, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer. Massenhaft Kaufkraft, wenn man die Monatseinkommen der Angestellten addierte, aber dieser Holzpavillon schien mir kaum dazu geeignet zu sein, das Geld systematisch abzuschöpfen. Niemand blieb stehen, nahm von dem Buchladen Notiz oder ging gar hinein.
Hey, sagte ich zu meinen Geldmitteln, ich glaube, es gibt Arbeit. Ich rieb mir die Hände. Es war wie in einem grandiosen Märchen. Hatte außer mir wirklich noch niemand diesen hochkarätigen Standort entdeckt?
Im Kopfe überschlug ich, wie viel der winzige Buchladen im Jahr abwarf und konnte die Geringfügigkeit des Betriebsergebnisses nicht fassen. Wie war es möglich, dass sich jemand mit so wenig Umsatz zufrieden gab? Das war keine Bescheidenheit, sondern Sabotage an der Volkswirtschaft!
Vor meinem inneren Auge sah ich die alten Bäume fallen und ein schickes Einkaufzentrum entstehen. Die Logos der berühmtesten Weltmarken erleuchteten die Straßenfront. Die Menschen, die aus der U-Bahn drängten, kauften sich im Vorbeigehen etwas zum Frühstück, ein Croissant und einen Coffee to go. Mittags aßen sie internationales Fastfood, und nach Feierabend gingen sie shoppen. Sie arbeiteten hart und verdienten es, ihr Geld gepflegt unter die Leute zu bringen.
Mir schwebte eine Art Potsdamer Platz vor wie der in Berlin. Das zusammengewachsene Volk hatte sich als Mittelpunkt ein Shopping-Center mit Systemgastronomie erschaffen und so dem neuen Selbstverständnis Ausdruck verliehen. Außerdem lag man als Investor mit einem Einkaufszentrum immer richtig, stets kam es bei der Bevölkerung gut an.
Was hältst du davon, fragte ich mein Geld, du kaufst den Buchladen, das riesige Grundstück, die umliegenden Häuser, und schon bald tanzt hier der Bär!
Hinter dem Schaufenster des Holzpavillons sah ich schemenhaft einen Mann hantieren. Er war alleine in dem altmodischen Laden. Wer sollte sich auch dorthin verirren? Nicht einmal eine Neonreklame lockte Kunden an.
Ich trat näher, stieß die Eingangstür auf, sie knarzte, eine Glocke bimmelte.
Es roch nach Bollerofen, nach heißem Tannenholz und glühenden Briketts. Eine wohlige Wärme wehte mir ins Gesicht. Es war still hier drinnen, der Lärm blieb auf der Straße. Der Mann, der Buchhändler, sah mich an. Kundschaft, da guckst du, nicht wahr, dachte ich, sagte aber nichts.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er mich.
Ich fühlte mich sauwohl in der Rolle des Glücksbotschafters und lächelte voller Großmut und Freigiebigkeit, als ich fragte, was der Laden kosten solle.
„Lieber Buchhändler, nennen Sie mir einfach Ihren Preis!“
Mein Lächeln hörte nicht auf zu strahlen.
Der Buchhändler, ein dürrer, bärtiger Mann mit schwarzen, widerspenstigen Haare, die sich über die Ohren wellten, ein abgetragenes Glencheck-Sakko wie ein englischer Snob, der kurz vor der Pleite stand, dieser Buchhändler schien mir etwas schwer von Begriff zu sein.
„Ich verstehe nicht ganz. Sie möchten wirklich alle diese Bücher kaufen?“
„Alles will ich haben, rundherum alles. Den Pavillon, die Bäume, das Grundstück, und wenn es sein muss, nehme ich auch noch die Bücher.“
Meine Geldmittel feuerten mich wollüstig an. Hol' es dir! Hol' es dir! Hol' es dir!
Der Buchhändler musterte mich.
„Wie viel?“
Ich hatte es gewusst, alle Menschen waren käuflich. Es war nur eine Frage des Preises, aber als gewiefter Kaufmann durfte man nicht zu hoch einsteigen.
Ich nannte eine Summe. Sie beeindruckte ihn nicht. Ich erhöhte den Betrag in kleinen Schritten. Ich zählte alle Vorteile auf, die ihm der Verkauf einbrächte. Natürlich könne er den Buchhandel weiter betreiben, aber in einem nagelneuen Shop im nagelneuen Einkaufszentrum, er bekäme einen hochmodernen Laden mit richtigen Glasschiebetüren, großzügigen Sitzgruppen, einfältigen Buchverkäufern und einem kleinen, arbeitssparenden Sortiment, alle Bücher doppelt und dreifach ausgelegt, damit es nach massenhafter Auswahl aussähe.
„Wissen Sie, nur Bestseller, und von jedem gleich zweihundert Stück.“
Mein Geld rieb sich die Hände. Es ahnte, dass wir ihn gleich herumgekriegt hatten.
„Sie werden auch einen uniformierten Türsteher bekommen, der aufpasst, dass niemand etwas klaut.“
Der Buchhändler nahm seine Tätigkeit wieder auf. Er schrieb Preisschilder, und das per Hand. Zugegeben, er hatte eine wohlgeformte Schrift. Er räumte Bücherkisten aus, befestigte mit Reißzwecken Plakate. Eine Lyrikerin wurde zu einer Lesung erwartet. Ich fragte mich, warum er nicht jemand Berühmtes aus dem Fernsehen eingeladen hatte, der aus seinen Memoiren las, und eine Musikband, die es ordentlich krachen ließ. So machte man Umsatz, aber nicht mit Gedichten.
Ich erhöhte den Kaufbetrag nochmals und merkte, dass mein Lächeln dünner wurde.
Ein harter Hund, dachte ich, hoffentlich merkt er nicht, dass ich langsam nervös werde.
Der Buchhändler fing an, das Schaufenster mit einigen Neuerscheinungen zu drapieren. Geschmackvoll sah es aus, jedoch hatte ich von den Autorinnen und Autoren, die er ausstellte, noch nie etwas gehört. Lauter unbekannte Namen. Ein Idealist, dachte ich, mein Gott, er ist ein Idealist.
Auf einmal sagte der Buchhändler, dass er jetzt schließen müsse, es sei achtzehn Uhr.
Er drehte ein Schild an der Ladentür um, so dass von außen zu lesen war: „Sorry, we're closed.“ Er lächelte, ohne Bitterkeit und Hintergedanken. Er war einfach nur freundlich zu mir und wollte, dass ich nachhause ging.
Irre, dachte ich, der ist irre.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu verabschieden. Fassungslos trat ich ins Freie hinaus. Aber ich wusste, ich würde wiederkommen. Mein Geld und ich gaben niemals auf.
Er hatte sich dazu breitschlagen lassen, Cora ans Kliff zu begleiten, zum angeblich schönsten Ort der Welt. Keine Straße führte dorthin, man musste auf schlecht verlegten Betonplatten wandern, mit einem Fahrrad wäre es auch gegangen, aber Fahrräder hasste er noch viel mehr.
Soweit das Auge reichte, blühte der Raps. In der Ferne, mehr zu ahnen, als tatsächlich zu sehen, lag ein Wäldchen, wie eine dunkle Matte auf dem gewellten Gelb. Drei markante Baumkronen ragten in den Himmel hinein.
„Siehst du die Pappeln? Dort ist es schon.“
„Ich weiß nicht, ob es mich anspornt, wenn ich das Ziel vor Augen sehe, oder mich die Entfernung depressiv macht und die Gefahr einer Kapitulation provoziert.“
„Bisher ist doch alles glatt gegangen. Deine neuen Trekking-Stiefel wirken Wunder, auch deine Spezialsocken reiben weder an der Ferse, noch an den Zehen. Du wirst sehen, hinterher bist zu ein ganz anderer Mensch.“
„Soso, dir passt es also nicht so wie ich bin.“
„Nur noch einen Kilometer.“
„Das sind ja mehr als tausend Schritte.“
„Denk an die schönste Aussicht und den besten Rhabarberkuchen der Welt.“
Cora wusste, dass er sich nur zierte. Einfach zu sage, klasse, hier gefällt es mir – so weit war er noch nicht.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Nicht, dass sie sich nichts mehr zu sagen gehabt hätten, doch die Abwesenheit von audiovisuellen Zumutungen, von Lärm und Gestank schuf so etwas wie sprachlose Ehrfurcht. Die ersten reifen Rapsschoten zischelten im Wind. Vom Meer her wehte salzige Luft. Wellen donnerten an den Sockel des Kliffs, Rauschen drang aus der Ferne herüber. Möwen schrien.
In Wirklichkeit brauchte er weder Zuspruch noch die Aussicht auf Belohnung. Längst hatte er seinen Frieden mit dem wunderbaren Tag geschlossen. Es sollte nur nicht so aussehen, als müsse man ihn zu seinem Glück zwingen.
Am liebsten hätte er innegehalten, in der Hoffnung die Zeit würde mit ihm stillstehen. Die Natur verlangte, eingesogen zu werden, mit weit geöffneten Poren. Lange war es her, dass er so intensiv wie heute aus seinem Alltag herausgetreten war. Die Natur war einfach da. Sie wollte einem nichts verkaufen, sie breitete sich kommentarlos aus, ohne Absicht, ohne Hintergedanken, ohne Aufmerksamkeit erheischende Attitüde. Er ahnte, dass ihn der Ausflug auf ganz neue Gedanken bringen würde.
„Warum eigentlich der beste Rhabarberkuchen der Welt? Was ist so besonders daran?“
„Lass dich überraschen!“
„Also ist nicht nur der Weg das Ziel, sondern auch das Ziel ist das Ziel.“
„Ohne Ziel gäbe es keinen Weg.“
„Was ist denn nun das Ziel? Die schönste Stelle der Welt oder der beste Rhabarberkuchen?“
„Der Weg, der Rhabarberkuchen und die Aussicht vom Kliff, es ist gewissermaßen ein Dreifachziel.“
Trotz ihres gemächlichen Voranschreitens kamen die Bäume tatsächlich näher, und ehe er sich versah, tauchte das Meer vor seinen Augen auf. Weiße Schaumkronen tanzten auf dem wogenden Blau, ein wunderbarer Kontrast zu den Blüten im Vordergrund. Cora hatte nicht zu viel versprochen.
Wie der Bug eines riesigen Schiffes ragte die Steilküste ins Meer hinaus. Er stand sozusagen auf Deck. Die Wellen schlugen donnernd gegen den Fuß des Felsens und zerstoben zu tausend glitzernden Tropfen. Zarte Nebel stiegen auf, zogen kühl an ihm vorbei. Jede Woge war anders. Die hohen Wellen verflachten. Kleine Wellen bäumten sich plötzlich steil auf, oder es geschah umkehrt, fern eines Algorithmus. Er spürte die unbändige Lust, wie das Model aus der Deo-Werbung hinunterzuspringen und einzutauchen in die erfrischenden Fluten.
Cora deutete auf die Gartentische und Plastikstühle. In großzügigen Abständen verteilten sie sich nahezu ungeordnet auf der Grasnarbe. Bunte Sonnenschirme. Merkwürdig, kein Werbeaufdruck, weder Coca-Cola, noch Jever-Bier.
„Los, soeben stehen Leute auf“, sagte sie.
„Nur kein Stress.“
Aber Cora spurtete schon los und setzte sich. Langsam folgte er, schritt an blühenden Sträuchern vorbei. Der ewig blasende Küstenwind hatte sie klein und knorrig wachsen lassen. In der Ferne glitt eine Hochseefähre über das Wasser. Winzige Segelboote neigten sich im Wind. Er setzte sich zu Cora, sie drehten die Stühle zur See. Die Blätter raschelten, eine Möwe schrie. Hielt der Wind den Atem an, erstarb jedes Geräusch. Nirgendwo Lautsprecher, aus denen Smash-Hits und Verkehrsdurchsagen dröhnten, keine Sonderangebote und fanatisch kreischenden Sportreporter. Nur Wellen, Wind und die wärmende Sonne. Reglos saß er einfach nur da, bedürfnislos glücklich.
„Weißt du, es ist wunderschön hier. Die Mühe hat sich wirklich gelohnt.“
„So was habe ich ja noch nie von dir gehört.“
„Einmal ist immer das erste Mal. Aber wie funktioniert das mit dem Kuchen? Kommt jemand vorbei, um die Bestellungen aufzunehmen?“
„Selbstbedienung. Holst du was? Bring mir zum Rhabarberkuchen bitte einen Holunderblütensaft mit. – Was schaust du mich so an? Die haben hier lauter selbst gemachte Limonaden.“
„Selbst gebackener Rhabarberkuchen? Selbst gemachte Limonaden? Gibt's das wirklich noch?“
„Ja. Und stell dir vor, hier haben sich auch schon Günter Grass, Nina Hagen, Joschka Fischer, Lothar Späth und Sabine Christiansen bewirten lassen.“
„Aber hoffentlich nicht alle auf einmal?“
„Nein, nein“, lachte sie lauthals. „Und Helene Weigel soll mit ihrem Bert auch schon hier gewesen sein. Und Shakira.“
„Was? So lange gibt es das Café schon? Ich meine nicht Shakira, sondern Brecht.“
Eine Möwe zog die Küstenlinie entlang nach Norden. Je weiter sie sich entfernte, desto stärker nahm das Gefieder die Tönung des Himmels an, das satte Blau, das in der See seinen Widerschein fand. Die Umrisse verloren an Kontur. Bald käme der Moment, an dem die Möwe über dem Meer zu einem unsichtbarer Punkt geschrumpft wäre.
„Wolltest du dir nicht etwas zu trinken holen? Immer in Richtung des Hexenhäuschens gehen, dann kannst du die Kuchentheke nicht verfehlen.“
„Bin schon unterwegs.“
Er erhob sich, obwohl der Wunsch nach Konsum eher der Gewohnheit als dem realen Begehren entsprang. Das windschiefe Fachwerkhaus, das vom Kliff zurückgesetzt in das kleine Waldstück hinein gebaut war, erinnerte tatsächlich an die Abbildungen von Hexenhäuschen in Kinderbüchern. Eine uralte Eiche warf ihren Schatten auf einen Tapeziertisch, der mit geblümtem Wachstuch bespannt war. Mehrere Kuchenschatullen, Glaskaraffen und Thermokannen standen dort. Zwei weißhaarige Damen, die sich wie Zwillingsschwestern ähnelten, saßen hinter der provisorischen Kuchentheke und häkelten.
Eine der beiden Frauen legte ihre Sachen beiseite und erhob sich. Im Tonfall herber Freundlichkeit und in offensichtlicher Unkenntnis eines einstudierten Bestelldialogs fragte sie ihn, was er haben wolle.
Unentschlossen musterte Moritz das Angebot. Er vermisste die Markenlogos, die ihm Sicherheit bei der Wahl gaben. Er war es nicht gewohnt, anhand des Augenscheins zu entscheiden.
Die alte Dame hob den Deckel der Kuchenschatulle an und legte ihn zur Seite.
War das eine Überraschung! So einen Rhabarberkuchen hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Er beugte sich hinab und bestaunte das kulinarische Kunstwerk. Ein dunkelbrauner, feinkrustiger Boden, eine weiche Lage aus sandfarbenem Rührteig, darüber zwei Daumen breit Rhabarberkompott, in zarten Stücken, nicht zu Brei verkocht. Und dann fünf Zentimeter Baiser! Ungelogen! Mindestens fünf Zentimeter luftig gebackener Eischnee und oben drauf eine hauchfeine, beigefarbene Zuckerkruste!
„Zwei Stück bitte. Und dann noch einen Cappuccino.“
„Cappuccino haben wir nicht.“
„Aber Cappuccino gibt es heute überall.“
„Wir haben nur Kaffee aus der Thermoskanne. Und selbstgemachte Holunder- und Zitronenlimonade. Und Papaya-Sanddorn-Limo. Haben Sie die schon mal probiert? Schmeckt ausgezeichnet, wirklich.“
Er verdrehte die Augen.
„Dann lieber normalen Kaffee aus der Thermokanne.“
„Schade, dass sich nur wenige Leute von unseren kreativen Limonaden begeistern lassen. Am liebsten trinken alle das gleiche, Cola, Cappuccino und Latte Macchiato.“
Diesen Vorwurf fand er unverschämt. Die alte Hexe hatte ihm soeben zwischen den Zeilen mitgeteilt, dass sie ihn für einen Bauer halte, der nur das fresse, was er auch kenne. So sprach man nicht mit einem Kunden, nicht in der Gastronomie. Und schon gar nicht mit ihm. Er kam aus der Werbebranche und hatte täglich mit neuen Ideen zu tun. Er wusste, wie man den Menschen einen Floh ins Ohr setzte. Zudem hatte die alte Dame „Macchiato“ verächtlich wie „Matschato“ ausgesprochen, vermutlich ohne es besser zu wissen.
Jedoch, aus Respekt vor ihrem quasi-biblischen Alter verzichtete er auf eine Retourkutsche.
„Es gibt leider keinen Cappuccino“, sagte er zu Cora und stellte das Tablett ab.
Schweigsam aßen und tranken sie. Es schmeckte unglaublich gut. Noch nie hatte er einen derart ausgezeichneten Rhabarberkuchen gegessen, in keiner Konditorei, in keinem Sternerestaurant. Er genoss jeden Bissen, wagte kaum das Schlucken. Die Zeit, in der das Backwerk seine Geschmacksknospen umschmeichelte, war ein teures Gut. Der Kuchen sah nicht nur exzellent aus, sondern schmeckte auch so, man schmeckte die Liebe zu dem Ding, nicht die Liebe zum Tauschwert.
Ihm fiel auf, dass es den Leuten an den anderen Tischen ähnlich erging. Sie konsumierten kaum etwas, und das Wenige auch noch langsam. Sie nippten an ihren Limonaden, führten die Gabel nur gelegentlich zum Mund. Sie ließen sich Zeit beim Kauen. Genussvoll wendeten sie den Kuchen, staunten, schauten in die Ferne, hinaus zum Horizont, wo das Meer sich krümmte. Sie sahen glücklich aus, bar jeder Wünsche und Bedürfnisse, wie im Paradies, wo Milch und Honig flossen.
„Umsatz ist etwas anderes“, sagte er.
„Wie meinst du das?“
„Ich frage mich, wie die beiden Hexen kalkulieren. Von dem bisschen Kuchen und den paar Gläsern Limo wird doch der Kohl nicht fett. Die Gäste sitzen viel zu lange, sie holen kaum Nachschub. Sie schauen nur aufs Meer, aber an einer schönen Aussicht lässt sich nun mal nichts verdienen, außer man würde gesalzene Eintrittspreise verlangen.“
Sein Blick schweifte über das Kliff, er atmete gleichmäßig aus und ein. Aus und ein. Er spürte, dass sich die Alltagssorgen vollständig aus seinem Körper verabschiedeten. Die Kunden, die neuen Projekte, die Zahlungsausfälle, die angenehmen und unangenehmen Termine, das alles berührte ihn jetzt nicht mehr. Seine Gedanken waren frei.
In dieses Vakuum stießen neue Ideen vor, neue Möglichkeiten, kreative Gedanken.
„Ich überlege gerade, wie man dieses Oma-Café professioneller aufziehen könnte. Die Tische müssten enger stehen, man bräuchte ein paar Bedienungen, die nachfragen, wenn die Gäste zu wenig konsumieren. Das Ganze müsste für Familien erschlossen werden, Parkplätze müssten her, ein glatt geteerter Radweg für die Rennradler, eine Hüpfburg, ein Hochseilgarten für die Kinder, morgens Langschläfer-Frühstück, mittags Brunch, nachmittags Kaffee und Kuchen, abends Dinner, nachts Disko. Nur mal so ins Unreine gesprochen. Die Lage am Kliff ist großartig. Hier steckt richtig viel Potenzial drin.“
„Und wenn's regnet?“
„Das ganze muss natürlich allwettertauglich sein. Deshalb sehe ich hier erst mal eine Großbaustelle. Tagungskapazitäten, Konferenzen und Wellness, in bester Lage am Kliff! Eine Superrutsche für die Kinder am Wochenende. Ein Saurier-Park und eine Quizbühne, damit einem niemand vorwerfen kann, die Allgemeinbildung käme zu kurz.“
„Warum nicht gleich ein Einkaufszentrum? Das landschaftlich am schönsten gelegene Einkaufszentrum der Welt. Schnäppchen mit toller Aussicht. Nutzen Sie unsere kostenlose Kliff-Garage. Hier purzeln die Preise ins Meer!“
„Cora, du nimmst du mich nicht ernst.“
Ein Containerschiff kreuzte auf dem offenen Wasser. Moritz beobachtete, wie es kaum merklich vorwärts stampfte, im Ergebnis aber erstaunlich schnell voran kam und alsbald im Dunst der Weite verschwunden war. Jetzt hätte er vielleicht doch Lust auf eine innovative Papaya-Limo mit Sanddorn, doch die zwanglose Ruhe, die das Tempo vorgab, verschob den Kaufimpuls auf ein ungewisses Später.
„Das Projekt geriete natürlich in Konflikt mit dem Naturschutz, mit den Bauern und den Bürgerinitiativen, die aus der ganzen Republik anreisten, um dem Staat mal wieder zu zeigen, wo der Barthel seinen Most holt. Man müsste sich durch alle Instanzen klagen. Das triebe die Kosten in die Höhe.“
„Du trampelst ohne Gewissensbisse auf der Natur herum. Warum kannst du nicht einfach alles so lassen, wie es ist? Mir ist nicht bekannt, dass sich irgendjemand über den Zustand beklagt hat, so wie er jetzt ist.“
„Aber lauten Applaus höre ich auch keinen. Klar muss man irgendwo ein paar Ersatzbäume anpflanzen und die eine und andere Vogelart umsiedeln samt Käfern, Würmern und Hamstern, damit das Ökosystem etwas zu fressen hat. Aber letztlich ist es ein demokratisches Vorhaben. Jetzt verkehren hier nur wenige Wanderer und Radfahrer, die sich eine teure Sportausrüstung leisten können. Das elitäre Ausflugsziel sollte sich in ein Konsumvergnügen für die arbeitende Masse verwandeln. Der schönste Ort der Welt wäre für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Gerechte Teilhabe am Konsum, das ist hochentwickelte Demokratie. Nicht nur palavern im Parlament, sondern selber haben.“
Vor seinem inneren Auge sah er ein riesiges, durchscheinendes Zeltdach. Es überspannte das Kliff und böte nicht nur Schutz bei widrigem Wetter, sondern wäre ein weithin sichtbares Wahrzeichen, das den Menschenmassen den Weg wies. Wie viel das wohl kostete, und vor allem, in wessen Besitz befand sich das Grundstück rund ums Kliff?
„Ich hole mir noch ein Stück vom besten Rhabarberkuchen der Welt. Dabei frage ich die beiden Ladys gleich mal, wie viel sie für ihr Land haben möchten.“
„Mit dir kann man nirgendwo hingehen. Du bist peinlich. Oberpeinlich. Aus jedem Mauseloch willst du gleich eine Unterführung mit Einkaufspassage und Rolltreppen machen.“
„Lass mich doch“, lachte er.
Die ältere Dame an der Theke schenkte ihm kaum ein dürres Lächeln des Wiedererkennens. Ihre Miene hatte so ganz und gar nichts von dem quasi-orgastischen Strahlen und Wimpernklimpern der Bedienungen in den Großstädten und an den Rezeptionen der großen Hotels.
„Diesmal nehme ich eine von den Papaya-Limos. Und dann noch ein Stück Rhabarberkuchen.“
Die ältere Dame beglückwünschte ihn nicht, dass er sich hatte überzeugen lassen, jetzt eines der Kreativ-Getränke zu nehmen. Das hätte sich so gehört. Außerdem war der Kuchen aus. Beiläufig erkundigte er sich, ob sie schon einmal daran gedacht hätten zu verkaufen.
Sie lächelte.
„Das Kuchenrezept wollte schon Doktor Oetker haben, und wir haben es ihm nicht gegeben, nicht wahr Luise?“
„Von mir aus auch das Kuchenrezept. Aber ich dachte eher an das Grundstück, vom Wald bis zum Kliff.“
„Das Grundstück gehört meinem Sohn und seiner Familie, ich kann es nicht verkaufen.“
„Sie haben einen erwachsenen Sohn mit eigener Familie? Herzlichen Glückwunsch.“
Er zückte das Handy, um sofort sein Büro anzurufen und nachforschen zu lassen, wie der Sohn heiße, wo er wohne und so weiter, doch unglaublicher Weise fand er kein Netz. Dem Mädchen hinter ihm, das eine Kurznachricht schreiben wollte, ging es ähnlich. Mit galligem Gesicht nölte es herum, weil ihre Eltern es in ein Funkloch verschleppt hatten.
Cora betrachtete das Limonadenglas, das er auf den Tisch stellte.
„Kein Kuchen?“
„Ist aus. Das Problem an frisch Gebackenem ist, dass es nicht unbegrenzt verfügbar ist. Aus kaufmännischer Sicht würde ich hier Kuchen aus der Tiefkühltruhe anbieten. Den kann man viel besser kalkulieren, vor allem wenn plötzlich das Wetter wechselt. Man stellt die Torte einfach in die Mikrowelle bis sie aufgetaut ist, und wenn etwas übrig bleibt, friert man den Rest wieder ein bis zum nächsten Wochenende.“
„Du hast keine Ahnung.“
„War nur Spaß. – Das Grundstück gehört übrigens so gut wie mir.“
„Was? Sie verkaufen? Das glaube ich nicht.“
„Ihr Sohn wird verkaufen. Der Sohn hat Familie, und Familien mit Kindern sind wie ein Fass ohne Boden.“
„Du bist zynisch.“
„Was die beiden Alten mit dem Café tun, ist unsozial. Anstatt ihr Land der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen und Arbeitsplätze zu schaffen, klammern sie sich wie zwei missgünstige, neidische Glucken an ihrem Besitz. Aber ist es nicht so, dass Eigentum verpflichtet?“
Ein frisch verliebtes Pärchen, das zwei Stunden lang geschmust und dabei nur ein einziges Getränk konsumiert hatte, kam an den Tisch und bat, dass Cora ihnen ein Abschiedsbild knipste. Die beiden jungen Leute posierten vor der Abrisskante des Kliffs. Der Wind zauste ihre Haare, türkisblau leuchtete das Meer im Hintergrund. Cora kniete vor ihnen nieder und nahm sie ins Visier des Fotoapparats. Sie achtete darauf, dass auch der wilde Rosenstrauch aufs Bild käme und die knalligen roten Tupfer des Klatschmohns im Vordergrund.
„Lächeln! Cheese! Sagen Sie mal ‚Ameisenscheiße‘.“
Das Pärchen bedankte sich und radelte davon. Erst jetzt bemerkte er, dass die Sonne über das Firmament gewandert war und aus einer ganz anderen Richtung schien. Cora brachte ihren Stuhl in eine neue Position.
„Hast du schon mal daran gedacht, dass die schönste Stelle am Kliff nicht mehr existieren wird, nachdem du sie kompatibel für die Bedürfnisse von Krethi und Plethi gemacht hast? Das wird ein x-beliebiger Freizeitpark, wie es hunderte gibt, tausende. Austauschbar, gesichtslos …“
„Ja, das ist ein Problem“, nickte er. „Aber andererseits, wenn erst einmal alles anders geworden ist, dann weiß niemand mehr, wie es früher hier war. Krethi und Plethi werden es trotzdem großartig finden, weil sie das Alte nicht mit dem Neuen vergleichen können. Sie werden glauben, dass es nie anders gewesen sei und hier ihr Herz verlieren.“
„Aber ich werde wissen, wie es hier war.“
„Und ich leider auch“, seufzte er.
Sie waren die letzten beiden Gäste. Bis zum Auto war es ein längerer Fußmarsch. Sie brachten das Geschirr zurück und machten sich auf den Heimweg. Der Raps wiegte im frühen Abendwind. Das Wäldchen schrumpfte zur Matte. Er blieb stehen und drehte sich noch einmal um. Dort, wo die drei mächtigen Baumkronen herausragten, befand sich das Café am Kliff, dort hatte er den besten Rhabarberkuchen der Welt mit der dicksten Eischnee-Schicht gegessen.
„Heute war der schönste Tag seit langer Zeit. Ich möchte ihn niemals missen. Wegen mir soll der Ort für immer ein Geheimtipp bleiben.“
„Du bist froh, dass ich dich zu dem Ausflug überredet habe, und es macht dir nichts mehr aus, es zuzugeben?“
„Danke für alles. Ich hoffe, dass andere Investoren keine Frau wie dich an ihrer Seite haben, die sie an den schönsten Platz der Welt führt, wo sie vielleicht auf den dummen Gedanken kommen, das Paradies in ein Haifischbecken des Konsums zu verwandeln.“
„Meinst du das wirklich, oder fändest du es nur furchtbar, wenn ein anderer das Geschäft macht, auf das du verzichtet hast?“
Gerade eben erst hatte sie ihn kennengelernt, schon erzählte er ihr von seiner Schuld.
Er sagte, er habe verschiedene Optionen gehabt. Unter allen infrage kommenden Möglichkeiten habe er sich bewusst für genau diesen Weg entschieden, in freiem Willen und in vollem Bewusstsein der Folgen.
Niemand habe ihn gezwungen, verführt oder überredet. Im Gegenteil, er selbst sei es gewesen, der auf andere Menschen Einfluss genommen habe, damit seiner Entscheidung Taten folgten. Nein, er könne sich nicht herausreden. Wenn sie ihm einen Vorwurf machen wolle, nur zu! Er habe vollstes Verständnis, würde aber jederzeit wieder so handeln, ganz genauso, nicht weil er glaube, dass der Lebensweg schicksalhaft vorherbestimmt sei, sondern wegen des Komforts.
„Wegen des Komforts?“
Erstaunt hielt sie die Luft an. Das war ein komischer Typ, der sie an der Bar angesprochen hatte. Er sah sehr gut aus, genau wie sie. Ein Blinzeln von ihm, ein Lächeln von ihr. Ein Augenaufschlag, ein Stirnrunzeln. Schon hatte er sie mit angenehmer Stimme zu einem Cocktail eingeladen. Er hatte ein Zeichen hinter die Theke gegeben, das Personal spurte, ihr edler Spender hatte hier etwas zu sagen, man achtete ihn, war ihm ergeben.
Der Cocktailschwenker hatte lange geklappert, und kaum dass appetitlich wie aus einem Bilderbuch der Sundowner vor ihr gestanden hatte, orangerot wie der einsetzende Sonnenuntergang, hatte der fremde Mann mit sonorer Stimme von seiner Schuld zu erzählen begonnen.
„Aber woran sind Sie denn eigentlich Schuld?“
„Tobi. Sag Tobi zu mir.“
„Also gut, Tobi. Tobi, willst du mir bitteschön verraten, woran du Schuld bist?“
„Am Zustand der Welt.“
„An nichts Geringerem? – Oh!“
Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund und bat um Verzeihung für die flapsige Erwiderung. Die Worte waren ihr aus Versehen herausgerutscht. Man hätte ihre Entgegnung als Ironie missverstehen können, dass sie sich lustig machte über diesen Adonis in den besten Jahren, der an nichts geringerem Schuld war als am Zustand der Welt – Wow! In Wirklichkeit mochte sie solche Männer, die bereit zur Verantwortung waren und die sich nicht aus allem herausredeten.
„Natürlich bin ich nicht alleine schuld, aber ich trage eine Mitschuld. Es kommt darauf an, wie weit man die Welt fasst, die man meint. Aber was meine Welt betrifft, was in meiner Welt geschehen ist, daran bin ich zu einem großen Teil Schuld. Wie heißt du eigentlich?“
„Linda. Ich bin Linda.“
„Lass uns ins Freie hinausgehen, Linda, und den Sonnenuntergang genießen."
Ihr war bewusst, dass ihr Badeabzug mehr von ihrem Körper zeigte, als er verbarg. Das hautenge Höschen des Mannes war auch nicht gerade ein Winterpelz. Sie würden während des Naturschauspiels erbärmlich frieren. Aber der Mann dachte wirklich an alles. Wieder schnippte er mit den Fingern. Eine braungebrannte Blondine in knappem Bikinioberteil und ultrakurzem Baströckchen brachte ihnen zwei strahlend weiße, kuschelige Frotteemäntel. Tobi half ihr beim Überziehen.
„Mit der Dämmerung kommt ein kühler Wind.“
Sie durchquerten das Kiefernwäldchen, das sich zwischen Ferienanlage und Meer erstreckte, und gelangten an den Strand. Zwei Liegen, wie für sie freigehalten, standen bereit. Klassische Musik spielte an der Strandbar, Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung. Gott sei Dank, nicht Mozarts kleine Nachtmusik oder irgendein schmalziger Pop-Song, der um Tränen heischte.
Dann fing er wieder damit an.
„Ich kann den Tag sogar genau identifizieren, an dem meine Mitschuld begann.“
„Aha. Und wann war das?“
Ihr Interesse war geheuchelt, sie wollte in Wirklichkeit nichts von seiner Schuld wissen, aber in Ermangelung eines eigenen Gesprächsthemas, ließ sie sich darauf ein. Einsamkeit und Schweigen wären grausam gewesen. Sie waren kein zerstrittenes Ehepaar, das sich nicht einmal bei einem romantischen Sonnenuntergang etwas zu sagen hatte.
„Ich war gerade achtzehn Jahre alt geworden und verbrachte die Ferien in einem Zeltlager am Meer. Für mich war das nichts Neues, seit Jahren schon ließen mich meine Eltern mit Gleichaltrigen losziehen. Ich fand es wie immer großartig, das Wasser, die Sonne, die Freunde und natürlich auch die Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.“
„Aber nicht an jenem Tag?“
„Nein, nicht an jenem Tag vor dreißig Jahren.“
Er ersparte ihr die Frage nach dem warum und fuhr nach einer kurzen Kunstpause mit seinem Bericht vor.
An dem Tag vor dreißig Jahren, als seine Mitschuld begonnen habe, seien wieder einmal Ameisen in seinen Schlafsack gekrabbelt und hätten ihre steckende Säure verspritzt. Überall habe es gebissen und gezwickt.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlecht ich geschlafen habe. Übel gelaunt erwachte ich, mein Körper war von oben bis unten mit roten Flecken übersät.“
„Deine Schuld begann also mit den Ameisen?“
Hielt er sie zum Narren?
Sie wusste nicht recht, was sie von diesem Geständnis halten solle. Es klang wie mit Kanonen auf Spatzen geschossen, der große Topos der Schuld und das winzige Insekt, die Ameise. Irgendwie stimmten die Relationen nicht.
Andererseits machte sie gerade dieses Missverhältnis neugierig. Das Geheimnis des Mannes interessierte sie. Mit vollendeten Manieren hatte er ihr in den Bademantel geholfen, jedoch fiel ihm bei einem romantischen Sonnenuntergang nichts anderes ein, als über Ameisen im Schlafsack zu plaudern, und das nicht einmal aus aktuellem Anlass. In der komfortablen Ferienanlage, zu der diese Standliegen gehörten, gab es weder Ameisen, noch Kakerlaken, noch Ratten. Immerhin wusste sie jetzt, wie alt er war, dreißig plus achtzehn.
„Ja und nein.“
Was sollte diese Antwort schon wieder? Musste man ihm jedes Wort aus der Nase ziehen?
„Begann deine Schuld mit Ameisen oder nicht?“
Er erzählte, dass er, wie bereits erwähnt, nicht zum ersten Mal in einem Zelt geschlafen habe, weshalb er natürlich gewusst habe, dass Insekten zu den normalen Begleitumständen eines Campingurlaubs gehörten. An diesem Tag jedoch habe er zum ersten Mal die Zwangsläufigkeit seiner misslichen Lage hinterfragt. Er habe sich darüber Gedanken gemacht, ob man sich als Mensch, als Krone der Schöpfung, wirklich damit abzufinden habe, den Schlafsack mit Ungeziefer zu teilen und ihr lästiges Krabbeln und Stechen zu erdulden.
„Also nicht mit der Ameise begann deine Schuld, sondern mit dem Nachdenken über die Ameise?“
Sie fand diese Spitzfindigkeit irre. So ein Typ war ihr noch nie untergekommen.
„Genau! Der Mensch hat Grips im Kopf – aber wozu? Um das Lästige vom Angenehmen zu trennen.