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Mit ironischer Distanz, aber auch einfühlsam auf der Seite der Protagonisten stehend, beschreibt der Autor das Streben der Menschen nach dem Besseren. Aus alltäglichen Situationen entwickeln sich spannende und auch nachdenkliche Geschichten mit unvorhergesehenen Wendungen.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Inhaltsverzeichnis
Der Laden
Der Erlöser
Zwei Familien
Lisa und Kraschke
Eine Weihnachtsgeschichte
Auf der Suche nach Schnaps
Impressum
Sascha Schneidwerfer, seines Zeichens der General Store Manager des Ladens, verstand nicht, warum die Leute erst dann anfingen, den Geldbeutel zu suchen, nachdem die Kassiererin den Kassenbeleg längst ausgedruckt und überreicht hatte. Richtig wäre es gewesen, das Geld oder die Scheckkarte unverzüglich bereit zu halten. Jeder normale Mensch sollte wissen, dass das Bezahlen dem Einkauf auf dem Fuße folgte. Aber nein, die Leute standen dumm herum, bis endlich der Groschen fiel.
„Ach so, das Geld.“
„Ja, wo ist denn der Geldbeutel?“
„Ich schwöre, eben war er noch da.“
„In der Hosentasche vielleicht?“
„Unmöglich. Ich habe ja einen Rock an. Folglich kann er gar nicht in der Hosentasche stecken. Herr je, was bin ich heute wieder für eine Schussel-Tante.“
Selbst die schnellsten Kassiererinnen spielten ihre Personalkosten nicht ein, wenn sie zwar – ratzfatz – Waschmittel, Obst und Schnapsflaschen über den Kassenscanner schubsten, die Leute jedoch den Zeitgewinn zunichte machten, weil sie zu dämlich waren, ihr Portemonnaie zu finden.
Sascha Schneidwerfer konnte das nicht länger mit ansehen.
„Jetzt mach' mal hinne, zack, zack!“
Die junge Frau, die das Ziel der Attacke war, hüpfte erschrocken zur Seite und ließ vor Aufregung den Geldbeutel fallen. Die mühsam abgezählten Ein-Cent- und Zwei-Cent-Stücke, mit denen sie der Kassiererin eine große Freude machen wollte, kullerten über den Boden und drehten sich wie Kreisel auf der Kante. Einige torkelten unter das Kassenregal. Alle starrten auf den Boden, und mit dem Bezahlen ging es nicht voran. Der Schuss war nach hinten losgegangen. Die Kunden trieben ihn in den Wahnsinn. Langsam gingen ihm die Ideen aus. Was er schon alles versucht hatte, um den Menschen Disziplin beizubringen!
Unter den schnellsten Zahlern hatte er wöchentlich einen Einkaufsgutschein verlost, aber jene, die es am nötigsten gehabt hätten, sich am Riemen zu reißen, waren so sehr in ihrer Lahmarschigkeit gefangen, dass ihnen nicht einmal das Schild auffiel, das auf die Verlosung hinwies.
„Alle mal herhören! Die Preise wären viel niedriger, wenn ich das Kassenpersonal einsparen könnte, das untätig herumsitzt, nur weil es massenhaft dusselige Kunden gibt, die ständig vergessen, wo sie die Geldbörsen hingesteckt haben.“
Die Leute kicherten.
Er hatte Schilder aufgestellt, worauf geschrieben stand, dass er in Zukunft jeden Mann und jede Frau ohne Vorwarnung massakrieren lasse, der länger als eine Minute benötige, um den Bezahlvorgang abzuwickeln.
Niemand hatte die Drohung ernstgenommen. Das Vertrauen in den Rechtsstaat war übermächtig, und Sascha Schneidwerfer nahm davon Abstand, dem einen oder anderen den Schädel einzuschlagen. Die Bluttat hätte nur gaffende Schaulustige angelockt, die nichts kauften, sondern nur glotzten.
„Sie, Schnecke, mal ein bisschen dalli, dalli!“
Schon wieder musste er eine Kundin auf Trab bringen. Sie suchte nicht nur ihr Geld, sondern packte auch die gekauften Sachen derart langsam ein, als wäre das Verstauen der Lebensmittel ein kompliziertes Denkspiel, das nur Hochbegabte mit Doktortitel in angemessener Zeit gewinnen konnten.
Noch während er überlegte, wie er die Kundin wirkungsvoll beschimpfen solle, erblickte er auf dem Gehweg vor dem Schaufenster den Mann mit den Stoppelhaaren und dem akkuraten Schnauzbart. Der Fremde presste die Stirn an die Glasscheibe und schirmte mit den Händen das Sonnenlicht ab, damit er besser hereinschauen konnte. Es war Herbie Unterhoch, ausgerechnet.
„Der hat mir gerade noch gefehlt. Gleich wird er wieder Gutes tun wollen.“
Sascha Schneidwerfer kannte diesen Menschen als einen neunmalkluger Besserwisser. Mehrmals hatte sich Herbie Unterhoch der Zentrale als „großer Reformer“ angedient. Im Mittelpunkt stehe der Mensch, hatte Herbie Unterhoch großkotzig doziert und versucht, sich mit dieser Devise bei den Chefs einzuschleimen. Über solch leere Floskeln konnte Sascha Schneidwerfer nur lauthals lachen. Wer Gewinn machen wollte, benötigte Kernseife, keinen Weichspüler. Zucht und Ordnung, damit die Kasse stimmte! Lynchen sollte man diesen Herbie Unterhoch, der keine Ahnung vom Geschäft hatte, abmurksen!
Aber Sascha Schneidwerfer beherrschte sich. Er beließ es dabei, eine überreife Tomate vom Kassenband zu nehmen und sie diesem Widersacher mit aller Kraft an den Kopf zu werfen. Mit dumpfem Plop-Geräusch zerplatzte die Tomate innen an der Schaufensterscheibe. Rote Soße floss in Schlieren herab. Die Leute in den Kassenschlangen lachten.
Reflexartig hatte Herbie Unterhoch den Kopf zurückgezogen. Die blinde Aggression des amtierenden General Store Managers bestürzte ihn, der draußen vor dem Fenster stand. Aber sie hielt ihn nicht davon ab, Gutes zu tun.
Er betrat den Laden, um den Leuten beim Einpacken ihrer Einkäufe behilflich zu sein. Die Worte tiefer Dankbarkeit, die er zu hören bekam, erfüllten ihn nicht nur mit Stolz, sie bestätigten ihn auch in seiner Auffassung, dass er der bessere General Store Manager gewesen wäre. Die Personalabteilung konnte ganz offensichtlich nicht zwischen Gut und Schlecht unterscheiden. Der unfähige Sascha Schneidwerfer musste endlich gefeuert werden, damit er, Herbie Unterhoch, den Posten bekam und der Welt zeigen konnte, wie man einen Laden führte.
Liebevoll packte Herbie Unterhoch die Waren in die Einkaufstüten. Die Kunden freuten sich und nahmen sich ausgiebig Zeit für die Suche nach ihren Geldbeuteln. Sascha Schneidwerfer äugte misstrauisch herüber. Ruhelos, in gebückter Haltung, den Kopf auf Handtaschenhöhe, streifte er wie ein unterfordertes Käfigraubtier um die Kassenzeilen herum, pirschte sich an die Langsamsten heran und knurrte sie an. Herbie Unterhoch wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ein Hündchen nach seinem Krawattenzipfel schnappe.
Noch sehnlicher, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, wünschte er sich allerdings, dass ein Kampfhund ihm an die Gurgel spränge und fest zubiss.
Auf einmal bemerkte Herbie Unterhoch die neuen Schilder. Etwa drei Meter vor der Kasse deutete ein fetter Zeigefinger auf die Wartenden.
„Fange jetzt mit der Suche nach deiner Geldbörse an!“
Zwei Einkaufswagenlängen später das zweite Schild mit einem ebensolchen Zeigefinger.
„Hast du deine Geldbörse schon gefunden? Wenn nicht, bedenke, die Volkswirtschaft nimmt Schaden wegen dir!“
Und direkt an der Kasse der letzte Hinweis:
„Wer beim Zahlen Zeit verplempert, dem werden ohne Warnung die Brustwarzen oder das Gemächte abgeschnitten.“
Der rüde Umgangston stimmte Herbie Unterhoch traurig. Tränen schossen ihm in die Augen und kullerten über seine Wangen. Am liebsten wäre er aus dem Laden gestürmt und hätte das nasse Gesicht daheim ins weiche Kopfkissen gedrückt. Aber er war kein flüchtiger Kapitän, der in der Stunde der Not ein sinkendes Schiff verlässt. Er biss die Zähne zusammen und erfüllte weiterhin die schöne Pflicht. Mit einem schmerzlichen Lächeln auf den Lippen empfing er den Dank derer, denen er Gutes tat.
Warum begehrte die Kundschaft nicht auf? Wie Schlachtvieh reihten sich die Leute in die Kassenschlangen ein und ertrugen es mit stoischer Miene, ständig angeschnauzt zu werden. Keine Sprechchöre, die lautstark fordern:
„Hinweg mit Sascha Schneidwerfer, dem Rüpel, Herbie Unterhoch soll unser neuer General Store Manager sein!“
Der Laden war ein Schandfleck niederen Konsums! Wäre er der General Store Manager gewesen, hätten sich Harmonie und Lebensfreude zwischen Regalen, Gemüsekisten, Kühltruhen und Registrierkassen verbreitet.
Schon mehrfach hatte er sich der Zentrale als der bessere General Store Manager empfohlen, aber man ihn nur höflich auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet, ohne diesen konkret zu nennen, diese Weicheier, die sich nichts trauten. Die Welt war ungerecht. Die Schlechten wurden gerne genommen, die Guten blieben außen vor und darbten.
Schon bahnte sich der nächste Skandal an. Herbie Unterhoch musste mitansehen, wie der General Store Manager auf einem armen Macho herumhackte.
„Ja wo haben wir denn unseren Geldbeutel hingetan? Ja wo ist er wohl? Wie geht es uns mit der Erkenntnis, dass es nicht die Bizeps sind, mit denen man sich den Aufbewahrungsort des Geldes einprägt, sondern das Köpfchen?“
Der Macho schnauzte einfallslos zurück.
„Ich präge dir auch gleich was ein!“
Beifall heischend schaute er sich in der Kassenschlange um. Aber die Leute gaben ihm keinen Rückhalt. Unversehens fand er sich in der Rolle eines Trottels wieder, der sich abkanzeln lassen musste. Dies war der traurige Part, den das Drehbuch des Lebens heute für ihn vorgesehen hatte.
Kleinlaut tastete er die knallenge Leder-Jeans ab, zog die Cowboystiefel aus, suchte in den Socken nach den Geldscheinen und wurde immer nervöser. Es roch nach altem Käse. Nicht nur die schönen Frauen wendeten sich von ihm ab.
Auf dem Gehweg patrouillierten zwei uniformierte Polizisten. Sie hielten das Rückgrat aufrecht durchgebogen und die Köpfe nach hinten gekippt, damit sie unter dem Schild der Schirmmütze hindurchsehen konnten.
Herbie Unterhoch, der die Schmach des armen Machos nicht länger ertrug, klopfte heftig an das Schaufenster. Die beiden Schupos wandten die Köpfe und schoben sich die Mützen in den Nacken. Sie glaubten zu erkennen, dass drinnen jemand wild gestikulierend um Hilfe rief. Sofort setzte einer der Polizisten einen Notruf ab. Blitzschnell entsicherten sie ihre Waffen und stürmten mit der Macht des Staates in den Laden herein.
„Alles hinlegen! Hände über den Kopf!“
Die Kunden ließen sich augenblicklich zu Boden fallen. Nirgendwo blinzelte mehr ein Auge zwischen den Regalen und Wühltischen hervor. Es war mucksmäuschenstill, abgesehen von der Dudelmusik, die charakterlos vor sich hin fiepte, als habe der Komponist von Wassersuppe gelebt.
Sascha Schneidwerfer starrte die beiden Polizisten fassungslos an und stellte sich als General Store Manager vor.
Ob das eine verfluchte Katastrophenübung sei, wollte er wissen. Warum man ihn, verflucht nochmal, nicht vorher darüber informiert habe? Nach diesem Schock habe selbst der Klügste vergessen, wo der Geldbeutel stecke!
Die Polizisten schauten sich um und konnten nichts Ungewöhnliches feststellen, abgesehen von einem Mann in Lederkluft, der inmitten seiner Schuhe und Strümpfe auf dem Boden lag und zitternd die Hände hob.
„Verzeihung“, sagte einer der Polizisten.
„Entschuldigung“, sagte der andere.
Sie steckten ihre Waffen ein.
Zögernd erhoben sich die Leute vom Fußboden, sie klopften sich den Staub aus der Kleidung und verließen die Deckung. Die Lage entspannte sich.
Jemand fing zu klatschen an wie nach der geglückten Landung in einem Urlaubsflieger, andere stimmten in den Applaus ein. Die Polizisten schoben sich ihre Schirmmützen in die Stirn und lächelten wie Popstars. Fehlte nur, dass jemand ein Autogramm von ihnen haben wollte.
Die Leute deuteten mit dem Zeigefinger auf Herbie Unterhoch und denunzierten ihn als die Person, die den falschen Alarm ausgelöst hatte. Vorbei war es mit der Verbundenheit. Eben noch hatte man ihm die Hand geschüttelt, weil er geholfen hatte, die Sachen in Tüten zu packen, jetzt drohte das undankbare Volk, ihm die Rechnung für die Reinigung der Kleider zuzuschicken. Nicht einmal der arme Macho, den er aus seiner demütigenden Lage befreit hatte, sprach ein Wort der Anerkennung.
„Wir müssen Sie aufs Revier mitnehmen und einsperren“, sagte einer der Polizisten.
„Wegen Vortäuschung einer Notsituation“, fügte der andere mit erhobenem Zeigefinger hinzu.
Er zog ein Paar Handschellen hervor und ließ sie vor seiner Nase baumeln.
Traurig legte Herbie Unterhoch die Handgelenke aneinander und streckte sie dem Polizisten entgegen. Kaltes Metall umschloss seine Arme, das Schloss schnappte zu. Die Leute standen gaffend Spalier, als die Polizisten ihn zur Ladentür hinaus schoben. Hinter ihm waren die schneidenden Kommandos des General Store Managers zu vernehmen, der die Kundschaft aufmischte.
„Die verlorene Zeit muss aufgeholt werden!“
„Mach mal hinne! Los, los, los!“
„Ein Supermarkt ist kein Schlafsaal!“
„Und dir schneide ich gleich das Gemächte ab, wenn du nicht endlich spurst!“
Die armen, armen Menschen, dachte Herbie Unterhoch. Er empfand tiefes Mitleid. Aber so war es im Leben. Das Schlechte regierte die Welt, und das Gute musste im Gefängnis schmoren.
Verdammt zum Untätigsein saß Herbie Unterhoch auf dem harten Bettgestell seines Kerkerraums und schaute mit wehmütigem Blick zurück auf die glücklichen Stunden, als er den Menschen bei ihren Einkäufen zur Seite gestanden hatte.
Allzu wahr war das Sprichwort, dass Undank der Welt Lohn sei. Er war mit seinem Latein am Ende, sein Dasein steckte in einer Sackgasse. Alles Menschenmögliche hatte er versucht, um General Store Manager zu werden und das Los der Menschen im Laden zu lindern. Aber eine gläserne, unsichtbare Wand hinderte ihn an der Erfüllung seines Lebenstraums.
„Ich bitte um ein Wunder, ein einziges Wunder! Liebes Schicksal, noch nie habe ich dich angebaggert, es ist jetzt das erste Mal. Ein einziges Wunder wirst du mir doch gewähren können! Ist das zu viel verlangt?“
Spät am Abend, der Mond schien durch die Gitterstäbe des Zellenfensters und warf eine bizarre, rechteckige Fläche auf den Betonfußboden, wurde der Riegel an der Tür zurückgeschoben. Der Aufseher schubste einen Betrunkenen herein, der, laut krakeelend, einige Herren zu sprechen wünschte. Sie heißen Bierbrauer-Franz, Marx und Bronstein.
„Was ist denn mit dem los?“, erkundigte sich Herbie Unterhoch.
„Soll angeblich in einem Baumarkt randaliert haben“, antwortete der Aufseher.
„S-sofort will ich Bronstein sprechen. Und Bierbrauer-F-Franzl! Und dann bringe man mir endlich einen f-frischen Smirnoff Blue Label M-Maxi!“
Herbie Unterhoch wusste, was ein Smirnoff ist, und dass ein Baumarkt der falsche Ort dafür war.
Die Tür fiel ins Schloss.
„Sie sind Wodka-Trinker?“
„In erster Linie bin ich Philosoph, lassen Sie sich das gesagt sein, junger Mann! Und Sie? Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Wohin gehen Sie?“
„Eigentlich bin ich General Store Manager.“
„Eigentlich? Darf ich daraus schließen, dass Sie im Zustand der Uneigentlichkeit leben?“
Herbie Unterhoch hatte noch nie über das Uneigentliche nachgedacht und wusste deshalb nicht, was er antworten sollte. Er ließ sich Zeit mit seiner Entgegnung, deswegen klang sie wohl durchdacht und tiefgründig.
„Ich kann nicht sein, was ich bin.“
Lange dachte der betrunkene Philosoph über die verzwickte Antwort seines Zellengenossen nach. Wie konnte jemand nicht sein, was er war? War er’s, wenn er’s nicht war, oder war er’s nicht, wenn er’s war? Er ahnte die Kategorie, in die seine Antwort fallen konnte, aber der Begriff schlummerte tief in seinem Langzeitgedächtnis und widersetzte sich mit entsetzlicher Widerspenstigkeit dem hervorgeholt und ausgegraben werden.
Nach einiger Zeit fing er zu erwidern an.
„Nun, das authentische Leben ist nicht jedem gegeben. Die Welt ist schlecht! Sie ist es nicht erst seit gestern, und nichts ist dringlicher, als die Welt zu verbessern. Aber niemand tut es. Niemand schreitet zur längst fälligen Tat. Warum? Weil die Menschen lieber von den üblen Umständen profitieren, anstatt sie niederzuringen. Sie nutzen die Schlechtigkeit der Welt, um Profite zu machen. Metaphorisch gesprochen richten sie die Welt nicht so sein, dass kein Kehricht mehr entsteht, sondern sie gründen Industrien, die Eimer, Schaufel und Besen produzieren und verkaufen, um sich dumm und dämlich daran zu verdienen. Da liegt der Hund begraben, mein lieber General Store Manager.“
„Welcher Hund?“, dachte Herbie Unterhoch.
Aber plötzlich begriff er, warum die Leute im Laden nicht gegen Sascha Schneidwerfer aufbegehrten. Sie dachten nur an ihren Vorteil und hofften, dass der Kelch des Unrechts an ihnen vorüberging. Sie ließen sich durch die billigen Preise bestechen und nahmen dafür jedwede Demütigung in Kauf. Sie wollten nicht König sein, sondern Geld sparen.
„Herr Philosoph?“
„Ja?“
„Wie kann man die Welt verbessern?“
„Nichts geschieht von selbst auf dieser Welt, mein lieber General. Man muss ein Zeichen setzen. Es ist die Tat, nicht der Gedanke, und es ist auch nicht das Wissen, das den guten Menschen zum edlen Ritter schlägt. Der Geist allein ist zahnlos, die Menschheit braucht ein Fanal.“
Das Fanal, murmelte Herbie Unterhoch. Es war die Tat, die adelte. Der Philosoph, an dessen Lippen er hing, hatte ihm die Augen geöffnet. Er durfte nicht länger in Gedanken jammern und klagen, sondern musste zur Tat schreiten. Aber wie? Wie sollte er’s anpacken, um zu werden, was er ist?
„Herr Philosoph, neben Ihnen sitzt ein guter Mensch, der im Zustand der Uneigentlichkeit von der Polizei ins Gefängnis gesperrt wurde, während eine authentische Bestie die armen Leute in Angst und Schrecken versetzt. Was soll ich tun, um das Schlechte zum Guten zu wenden?“
Der Philosoph schaute ihn tadelnd an.
„Hast du mir denn nicht zugehört? Zum Mitschreiben, ich wiederhole: Weder der Gedanke, noch das Wissen, schlägt den Guten zum Ritter, sondern die Tat. Der Geist allein ist zahnlos, es ist das Fanal, das adelt.“
Herbie Unterhoch wurde nicht ganz schlau aus den Worten, aber er getraute sich nicht, ein zweites Mal zu fragen. Der Philosoph hätte ihm die Begriffsstutzigkeit als Dummheit auslegen und mit Hass und Abscheu darauf reagieren können. Womöglich wäre er aus der Haut gefahren und hätte ihm den Kopf an den Wänden aus Waschbeton zerschmettert, nur um zu beweisen, dass nichts anderes als trockenes Stroh darin enthalten sei.
Kleinlaut fasste sich Herbie Unterhoch doch ein Herz.
„Herr Philosoph, haben Sie einen Tipp wegen des Fanals? Irgendwie einen sachdienlichen Hinweis, wie ich meine Gedanken in ein Fanal verwandle, damit der Geist zahnt.“
„Zahlt?“
„Zähne bekommt.“
„Kapierst du denn gar nichts? Bist du deine gesamte Schulzeit über krank gewesen?“
Mit diesen Worten kippte der Philosoph auf die harte Holzpritsche. Übergangslos verwandelten sich seine Worte in ein lautes, regelmäßiges Schnarchen. Herbie Unterhoch war dagegen hellwach. Die Gedanken des Philosophen elektrisierten ihn wie herrenloses Gold, das auf der Straße lag. Das Fanal, flüsterte er in sich hinein. Es war die Tat, die adelte.
Auf einmal bemerkte er, dass der Philosoph zu atmen aufhörte. Mitten im Schlaf hielt er die Luft an. Zeit verstrich. Die Brust hob und senkte sich nicht mehr. Um Himmels Willen, er wird doch nicht an Erbrochenem ersticken!
Herbie Unterhoch schüttelte ihn, versetzte ihm einige sanfte Backpfeifen, besprenkelte sein Gesicht mit eiskalten Wassertropfen. Der Philosoph schreckte auf.
„Lattenheim“, murmelte er. „Hattenleim.“
„Herr Philosoph?“
„Ja, was ist denn? Was willst du noch von mir, ich bin müde, sehr, sehr müde!“
„Lattenheim?“
„Hattenleim.“
Der Philosoph verschloss seine Lippen. Es sah auch nicht danach aus, als wollte er sie in den nächsten Stunden noch einmal öffnen. Zu gerne hätte Herbie Unterhoch die Bedeutung der Botschaft begriffen. War es denn überhaupt eine Botschaft? Waren es nur zufällig genuschelte Silben? Lattenheim Hattenleim, was hatte ihm der Philosoph mit diesen Wörtern sagen wollen?
Entlassen. Man hatte nichts gegen ihn in der Hand und hatte ihn auf freien Fuß gesetzt.
Herbie Unterhoch irrte ziellos durch die Stadt, kickte Steine vor sich her, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Lieber wäre er im Gefängnis geblieben, um dem Philosophen doch noch eine Erklärung aus den Rippen zu leiern.
Ein Tipp! Ein Wink des Schicksals, bitte!
„Herr! Gib mir Hirn oder Glück!“
An einer Ausfallstraße, etwas zurückgesetzt, hinter einem riesigen Parkplatz, stach ihm das haushohe Plakat ins Auge, das für die Lattenheim Baumärkte warb. Das Motiv zeigte ein glückliches junges Paar beim Heimwerken. Der Mann und die Frau leimten ein Regal zusammen und lächelten. Die Botschaft lautete: „Lattenheim hat den Leim!“
Nicht sehr originell, dachte Herbie Unterhoch. Aber dann fiel es wie Schuppen von den Augen. Schlagartig begriff er den Sinn der Worte, die aufgrund des alkoholisierten Lallens undeutlich geklungen hatten. Herr Philosoph hatte ihn auf den Baummarkt hingewiesen. Dort würde er, wie bei einer Schnitzeljagd, weitere Hinweise finden.
Erfreut von der Wendung, die der Tag nahm, betrat Herbie Unterhoch den Baumarkt und wusste sofort Bescheid. Natürlich, kein anderer Laden-Typ vereinigte unter seinem Dach solch eine riesige Sammlung von Mordinstrumenten: Schlagbohrmaschinen, Kreissägen, Benzin betriebene Rasenmäher, Äxte, Beile und Vorschlaghämmer, Heckenscheren – alles, was das Herz begehrte, um einem Widersacher den Schädel zu spalten und seinen Korpus in Stücke zu zerteilen. Das war die Tat, die adelte, das Fanal, das der kluge Philosoph gemeint hatte.
Praktisch mit jedem der angebotenen Gegenstände ließ sich jemand umbringen. Für den Abtransport stand eine große Zahl an Schubkarren und Pflanzenroller zur Wahl. Mit Kleintraktoren ließ sich der leblose Rest des Daseins in ein Versteck schleifen. Nicht zu vergessen die Hochdruckreiniger! Sie verliehen dem Tatort einen spiegelnden Glanz, als wäre dem Opfer nie auch nur ein einziger Blutspritzer aus der Kehle geschwappt.
Ein Baumarkt! Was für ein genialer Fingerzeig! „Lattenheim hat den Leim! Und Lattenheim hat nicht nur das!“
Natürlich hätte er den General Store Manager auch mit einer Toilettenschüssel aus Keramik oder mit einer drei Mal drei Meter Spanplatte erschlagen können, aber es wäre zu anstrengend gewesen. Schon besser die Kreissägen. Als Zubehör wurden spezielle Tische angeboten, an denen man das Werkstück zur leichteren Bearbeitung arretieren konnte. Auch die Pendelstichsäge kam in Frage. Dagegen passten die Oberfräse, der Druckluft-Nass-Schleifer oder der Elektrohobel mit Spantiefeneinstellknopf eher in einen mittelalterlichen Folterkeller als zu einem Mord.
Ein Schwingschleifer?
Herbie Unterhoch entschied sich für einen neuen, Akku betriebenen Elektro-Tacker. Diesen warf er Sascha Schneidwerfer unvermittelt an den Kopf.
Der General Store Manager befand sich auf dem Heimweg von der Arbeit. Er nahm die Abkürzung über die Alte Brücke, die die in malerischen Mauerbögen über den Neckar führt, als ihm plötzlich ein Akku betriebenen Elektro-Tacker entgegenflog. Er wollte ausweichen, knickte um, machte dadurch alles nur noch schlimmer. Er kippte über das Geländer. Er wollte sich an der Sandsteinbrüstung der Brücke festkrallen. Seine Fingernägel rissen ab. Er stürzte den Fluten des Flusses entgegen, wo er kopfüber auf das Sonnendeck eines vollbesetzten Ausflugsdampfers krachte und sich die Halswirbelsäule brach.