Sommer in der DDR - Leon Berg - E-Book

Sommer in der DDR E-Book

Leon Berg

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Beschreibung

Micha liegt im Sterben, in der Charité. Er bekommt von einer geheimnisvollen Frau Besuch, die wie Königin Elisabeth II von England aussieht. Sie befragt ihn zu seinem Leben. Micha erinnert sich an seine große Liebe, an Katrin aus dem Osten, die plötzlich aus seinem Leben verschwand, obwohl er als Westdeutscher für die Stasi spionierte, um sie zu schützen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

2039, Charité

2009, Sehenswürdig

2009, Claudia

1962, kleiner Grizzly

2009, am Kliff

1969, Genosse Hanselmann

2009, Dreißigtausend Küsse

2009, Latte Macchiato

1979, ausgerechnet Abba

2009, Kurznachricht

1979, Ostberlin, Friedrichstraße

2009, Märchenwald

1980, Ostberlin, Tränenpalast

2009, Nordstrand

1980, Uschis Connection

1989, neuer Anzug

1989, auf der Couch

2009, Lammgerichte

2009, Zimmer 404

2009, Hotelbar

1995, die geheimen Berichte

1999, Kontraste

2009, Frühstück

2019, Backsteinkirche

2029, Spaghetti-Eis

2039, Charité

Impressum

Leon Berg

Sommer in der DDR

Roman

2039, Charité

Ich sehe Blau. Die Farbe der Freiheit und der romantischen Sehnsucht fällt durch die schräg gestellten Lamellen der Jalousie. Dämmerlicht in meinem Zimmer, das Rauschen der Klimaanlage. Computergesteuerte Geräte surren, messen, melden.

Über mir, an einem filigranen, verchromten Galgen, hängt eine Plastikflasche. Ihre Öffnung weist senkrecht nach unten. Tröpfchenweise löst sich klare Flüssigkeit und rinnt durch einen flexiblen Schlauch in meinen Blutkreislauf. Ich kenne meine Zimmernummer nicht. Daten und Fakten sind nie meine Stärke gewesen. Ich wünsche, dass man das Jahr 2039 schreibe. Es wäre ein gutes Jahr zum Sterben, der Sommer im August, das Jubiläum der diamantenen Hochzeit mit meiner ersten und innigsten Liebe, die nie stattgefunden hat.

Dass ich im bekanntesten Krankenhaus Deutschlands liege, bedeutet mir in medizinischer Hinsicht nichts. Es adelt niemanden, wenn es bald heißen wird, schau, das ist einer von denen, die in der Charité gestorben sind, wow!

Man lässt mich schlafen. Tag und Nacht. Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund. Mir kann man nichts vormachen, ich sehe blau.

Ob es stimmt, dass der Tod wie das Umsteigen in einen anderen Bus ist?

Meinen Ärzten, die sich auf das Renommee ihres Krankenhauses etwas einbilden, binde ich es nicht auf die Nase, dass ich mich nicht wegen ihrer geballten Kompetenz hier eingeliefert habe. Sie wären eingeschnappt, möglicherweise hätte ich sogar Nachteile zu fürchten. So wie die Sau, die von Perlen vor ihren Füße profitiert, auch keine besondere Hingabe erwarten kann.

Draußen ist Tag, Sonnenschein, vermute ich. Die Streifen hellen, strahlenden Blaus vermengen sich mit der Dunkelheit meines Zimmers zu kühler Schwärze.

An der Wand hinter dem Fußende meines Bettes hängt eine zum Poster vergrößerte Fotografie. Das Personal der Intensivstation hat Urlaubsbilder zusammengetragen, vergrößert und auf Karton gedruckt, um die Krankenzimmer zu verschönern. Das Bild zeigt die Innenansicht der Grotta Azzura. Ein Barke schaukelt auf königsblauem Wasser, im Hintergrund, gleißend hell, der Höhlenausgang zum Golf von Neapel hin. Goldene Reflexe. Der Stein leuchtet, Flammen gleich, in Azur.

In meinem Zimmer riecht es nach Desinfektionsmitteln, nach den antiseptischen Düften von Krankheit und Vergänglichkeit. Mein Bett stinkt nicht. Es ist keine sarggleiche, grüne Wanne in der ich liege. Ich fühle mich ansehnlich, präsentabel, alles um mich herum ist auf dem neuesten Stand.

Mein Tod wird weder die Schuld der Chefärzte, noch die des Krankenhausmanagements sein. Ich muss selbst meinen Teil dazu beitragen, um gesund zu werden, ich muss aufstehen, muss hinaus marschieren, durch die blaue Tür, die nach draußen führt. Nur wer zuversichtlich ist, stirbt nicht, Hoffnung ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit – Hoffnung.

Ich zerre an den Plastikschläuchen, die mich gefangen halten und sich hartnäckig in mein Fleisch gegraben habe. Ein elektronisches Gerät fiept, schlägt eindringlich Alarm.

Über meinem Bett blinkt eine rote Lampe. Alert. Alert. Auf dem Flur heult eine Sirene wie beim Angriff feindlicher Welten auf die Erde. Alert. Alert.

Eine junge Frau in hellblauer Klinikkleidung eilt herein. Sie schilt mich aus. Sie verbietet mir, ständig an den Kanülen herumzufummeln, sie seien lebenswichtig. Dann lächelt sie nachsichtig und entschuldigt sich. Ich weiß, dass sie sich gegenüber Todgeweihten höflich und zuvorkommend benehmen muss, selbst wenn sie noch so sehr nerven.

Außerdem, sagt sie, Besuch für Sie, wartet draußen.

Besuch? Wer soll das sein? Ich bin der letzte Überlebende meines Jahrgangs, meiner Dekade. Ich kenne keinen Menschen, der mich sehen wollte, in meinem Zustand bin ich selbst für einen Versicherungsagenten uninteressant.

Sie sagt, sie wisse nicht, in welcher Beziehung die junge Dame zu mir steht, die draußen warte. Ob ich sie empfangen möchte, wolle mer se reilasse?

Ich halte es für unangemessen, dass die Krankenpflegerin wie eine Karnevalsnärrin zu mir spricht, ich versuche, ihr Namensschild zu lesen, aber weil sie mir aufmunternd zunickt, begehre ich nicht auf und lächle zustimmend zurück.

Bitte, ermahnt sie mich, Finger weg von Schläuchen und Kanülen. Sie sind wichtig, damit Sie wieder gesund werden. Und später schlafen Sie ein bisschen.

Ich – und gesund? Da lachen ja die Hühner.

Die Krankenpflegerin schenkt mir ein warmherziges Lächeln, es ist randvoll mit Seele und Herz. Sie tätschelt meinen Arm. Das tut gut. Vielleicht werde ich doch wieder gesund werden, Hoffnung, Zuversicht.

Die Krankenpflegerin wendet sich ab, öffnet die blaue Tür und gibt die Klinke einer Frau in die Hand, die ungefähr um die sechzig sein könnte. Eine junge Dame, so, so. Das Alter ist relativ, vor allem im fortgeschrittenen Stadium.

Wer ist sie? Ich erinnere mich nicht daran, sie jemals gesehen zu haben. Ganz klar, sie kann nur eine Fremde sein. Andererseits weiß ich, wie es in meinem Gedächtnis aussieht. Mein Gehirn ist ein verwunschener Keller. Die Gegenstände meiner Erinnerung stehen zwar vollständig an ihrem Platz, aber Spinnweben, Staub und herumkrabbelndes Ungeziefer machen es unmöglich zu finden, was ich suche.

Die Fremde zeigt mir einen großen Strauß aus bunten Blumen in lebensfrohen Farben. Die Krankenpflegerin nimmt ihn ihr ab. In meinem Zimmer ist nichts erlaubt, das mit lebendigen Keimen um sich werfen könnte.

Wer ist sie, diese Frau, die hinter sich die blaue Tür schließt und schmallippig lächelnd auf mich zukommt? Sie erinnert mich an jemanden, ja ich kenne sie. Als ich jung war, zierte ihr Gesicht die Titelseiten der Regenbogenpresse.

Die Frau schiebt einen Klinikstuhl neben mein Bett und setzt sich nah zu mir. Auf einmal weiß ich, dass Königin Elisabeth, die Zweite, in mein Zimmer gekommen ist. Ihr Teint ist blaublütig hell, die Lippen rot, weißgrau kurz gelockt die Haare. Vornehme Fältchen umspielen Augen und Mund.

Die Frau trägt ein weißes Kleid aus feinstem Tuch. Eine golden leuchtende Krone überstrahlt ihre Frisur. Geflochtene Applikationen säumen Kragen und Ärmel, eine blaue Schärpe wölbt sich über dem Busen.

Seit wann hat Königin Elisabeth einen Busen? Was macht sie an meinem Bett? Ich kann es mir nicht erklären, warum sie mich besuchen kommt.

Königin Elisabeth die Zweite beugt sich über mein Bett, um an meinem Gesicht den Zustand meiner Gesundheit abzulesen. Jetzt erkenne ich, dass die hoheitliche Schärpe in Wirklichkeit der Riemen einer Jeanstasche ist. Die Frau trägt keine Krone, mich irritierten Lichtreflexe der Zimmerbeleuchtung. Die weißen Haare und den hellen, gepflegten Teint habe ich richtig wahrgenommen, das Lächeln auch. Ich glaube, ich bin ihr sympathisch.

Je näher mir die Frau kommt, desto angenehmer mischt sich der Duft verführerischer Weiblichkeit unter den Geruch der Desinfektionsmittel.

Wie geht es dir?

Wer ist sie, dass sie mich duzt?

Erzähl mir, wie es dir geht.

Wie soll es mir schon gehen auf einer Krankenstation, in der das Leben künstlich verlängert wird? Ohne Apparate, ohne medikamentöse Einträufelungen und Atemunterstützung – ich führe längst in einem anderen Bus.

Erzähl mir ein bisschen von dir.

Die Frau schaut mich an, voller Erwartung als wollte sie, dass ich ihr ein lang ersehntes Geschenk überreiche. Sprich mit mir, deswegen bin ich hier.

Ich? Erzählen? Ihr? Warum? Warum will Königin Elisabeth oder wer immer die Fremde ist, warum will sie, dass ich aus meinem Leben erzähle?

Erzähl einfach von dir, und denk dir nichts dabei.

Aus ihrer Jeanstasche schaut der Hals einer Glasflasche hervor. Die Banderole verrät mir, dass es sich um Olivenöl handelt. Um geweihtes Öl? Zumindest trägt es kein Emblem von Aldi. Ich ahne, dass die Frau eine Priesterin ist. Sie kam, um die Krankensalbung vorzunehmen, die letzte Ölung. Mit "Erzählen, und denk dir nichts dabei" meint sie die Beichte. Ein freundliches Angebot vom lieben Herrgott. Im letzten Moment will er mir den richtigen Weg zeigen, obwohl ich nie einen Cent Kirchensteuer bezahlt habe. Wie selbstlos von ihm.

Die Frau insistiert.

Du machst mir eine große Freude, wenn du von dir erzählst. Am meisten interessiert mich natürlich, wie du meine Mutter kennengelernt hast.

Deine Mutter? Wer soll das sein?

Aber die Frage erleichtert mich. Sie gibt mir die Gewissheit, dass die Frau keine Priesterin ist, die mich nur deshalb besucht, um meine Seele für die katholische Kirche zu beschlagnahmen. Ich habe noch eine Chance, prima, nutze sie!

Auf einmal bin ich davon überzeugt, dass ich dieses Zimmer bald verlassen werde. Warum sonst sollte mir das Schicksal diese Unbekannte an mein Bett geschickt haben?

Sprich, ermutigt sie mich. Erzähl' es, Micha. Erzähl' mir von dir, jetzt. Bitte.

2009, Sehenswürdig

Auf dem Grashügel neben der Bushaltestelle steht ein Glockenstuhl aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Holzkonstruktion besteht aus einem klobigen Pyramidenstumpf, der das Walmdach wie einen eckigen Pilzhut trägt. Die Seitenwände von Turm und Dachaufsatz sind aus dunkel gebeizten Planken gezimmert. Das Wetter hat Verwitterungsspuren hinterlassen. Ein penibel restauriertes, königsblaue Ziffernblatt strahlt auf mich herab. Goldene, römische Ziffern blinken. Zurzeit schaue ich mir gerne Sehenswürdigkeiten an. Ich verarbeite eine gescheiterte Beziehung. Zum Glück ist Europa nicht arm an historischen Gebäuden, Theatern und Museen. Andere Menschen suchen einen Psychologen auf, um ihre schmerzliche Vergangenheit zu begreifen. Ich will davon nichts wissen, ich möchte auf neue Gedanken zu kommen und neben den Ruinen des vergangenen ein neues Leben bauen.

Ich kette mein Fahrrad an ein Halteverbotsschild. Grauer Himmel. Ein modischer Geländewagen holpert in Schrittgeschwindigkeit über das Kopfsteinpflaster. Der Fahrer schaut bekümmert drein, als schmerzten ihn das Rumpeln und Trampeln der Räder, die armen Stoßdämpfer. Mich ängstigt ein anderer Gedanke, der Gedanke, für immer allein zu sein.

An der Bushaltestelle schäkern ein junger Mann und eine junge Frau. Die Frau sitzt unter dem Plexiglasdach auf der Bank des Wartehäuschens, der Mann hockt breitbeinig auf seinem Moped und spielt am Gashebel. Die Frau wirft ein zerknülltes Papiertaschentuch nach ihm, er duckt sich, weicht aus. Die beiden wollen etwas voneinander. Werden sie Kinder haben? Ein Junge und ein Mädchen, zwei Jahre auseinander, so wie ich sie mir von Katrin gewünscht hätte?

Nach der Trennung denke ich oft an sie, Katrin, was ist aus dir geworden? Wo bist du? Wo treffe ich dich?

Hinter der Bushaltestelle erhebt sich der Grashügel mit dem Glockenstuhl. Flache Stufen führen mich durch einen gemauerten Torbogen. Sie enden vor einer romanischen Backsteinkirche, die von einer schattigen Gänseblümchenwiese umgeben ist. Von der Straße aus ist die Kirche kaum zu sehen. Lindenbäume und Eichen wiegen ihre Äste im Wind. Sie umranken die Bauwerke, es ist kühl und feucht, ein feiner Modergeruch umspielt meine Nase. Aus der Grasdecke ragen alte Grabsteine heraus, wie zweidimensionale Schachfiguren, mit Königskrone und Turmzinnen. Umschlingender Efeu, Moos an den Wetterseiten.

Eine verwitterte Holzbank und ein Picknicktisch stehen neben dem Seiteneingang der Kirche, ich setze mich. Es ist wunderbar still, nur die Blätter sirren. Es ist ein Ort zum Denken, zum ziellosen Dahingleiten lassen der Gedanken, zum Erinnern und Wiedererleben. Die Frauen liefen mir weg oder ich ihnen. Katrin, vor langen Jahren, sie wäre die Richtige gewesen.

Das Sitzen und Denken ist wie eine Reinigung, wie ein Entstauben und Entlüften, ein Auskehren und Entfernen der Spinnweben, die sich zwischen Erlebtem, zwischen gespeicherten Begriffen und Bildern ausgebreitet haben.

Mein Zeitgefühl schwindet. An der Bushaltestelle fauchen Pressluftbremsen, ein Diesel tuckert. Zischend öffnen sich die Türen eines Reisebusses. Eine Frau in hellblauer Windjacke schlägt die Kapuze über den Kopf und kommt auf den Friedhof herauf. Mit ausgestrecktem Arm betrachtet sie ihr Handy und drückt einige Tasten. Die Log-In-Melodie spielt. Die Frau tippt eine Nummer, hält das Handy ans Ohr und fragt ihren Göttergatten, ob er den Mülleimer auf die Straße gestellt habe. Er hat es vergessen.

Ewald, mir ist, als wärst du völlig verkalkt. Reiß dich zusammen! Kaum bin ich auf einer Kaffeefahrt, schon geht es daheim drunter und drüber.

In meiner Ehe bekam ich nie Scherereien wegen vergessener Müllabfuhrtage. Vielleicht ist sie deswegen gescheitert.

Schon drängt die Reisegruppe hinterher. Von überall her ertönen Soundclips, Telefonklingeln, Hundegebell, die Original Oberkrainer. Takte bekannter Schlager. She came to me one morning. Autohupen, das Meck-Meck von Bugs Bunny. We are the champions, eine rauschende Toilettenspülung. Una festa sui prati. Völker hört die Signale.

Eine Frau im leuchtfarbenen Regencape schwenkt ein rotes Fähnchen und übernimmt die Führung. Mir nach, bitte folgen Sie mir, Achtung, das Gras ist feucht, rutschen Sie nicht aus, halten Sie Balance. Verletzen Sie sich nicht an den Grabsteinen.

Die Touristen sind mit ihren Telefonaten beschäftigt. Sie stolpern, dieser verfluchte Boden, da kann man sich ja alle Haxen brechen. Jene, die nicht telefonieren, speichern das historische Ensemble aus Backsteinromanik, altem Friedhof und Glockenstuhl auf SD-Karten ab, im Vordergrund mal die Monika, die Silke, der Herbert, die Luise und die liebe Tante Hildegard.

Eine ältere Dame erkundigt sich bei der Reiseleiterin, ob der hölzerne Turm das Toilettenhäuschen sei.

Nein, antwortet sie liebenswürdig, der Glockenstuhl ist eine der ganz besonderen Sehenswürdigkeiten unseres Besichtigungsprogramms auf der Insel Rügen.

Ich möchte weder geblitzt, noch gespeichert werden und verdrücke ich mich ins Innere der Backsteinkirche. Es ist riecht nach altem Holz, nach feuchtem Gebälk, nach Stein und Staub. Ich schreite zwischen den Bankreihen hindurch, bleibe stehen und schaue, setze mich. Mein Atem geht leicht, ich mache nichts, denke nichts. Mir kann nichts passieren, ich gebrauche meine Sinne nicht. Ich kann es mir gefahrlos leisten, mein Denken vom Netz zu nehmen. Die Geräusche, die ich höre, kann ich einordnen, das Kameraklicken, die flüsternden Stimmen, die Klingeltöne, das Schlurfen von Schuhsohlen. Sie bedürfen keiner körperlichen Reaktion, nicht meiner Reflexe.

In der Nähe des Altars steht ein Pult, darauf eine alte Bibel aus schwerem Papier. Ich lese den aufgeblätterten Vers. Er handelt vom Jesus im Tempel: Als Jesus zwölf Jahre alt war, nahmen ihn Maria und Joseph erstmals zum Passahfest nach Jerusalem mit. Nach den Festtagen machten sie sich auf den Heimweg, doch ohne dass sie es bemerkten, blieb Jesus in Jerusalem zurück. Sie hatten ihn vergessen.

Wie oft habe ich mir als Kind gewünscht, dass mich meine Eltern vergäßen. Einfach vergessen.

Vergessen zuhause, wenn die quälende Zugfahrt in den Osten zu den Verwandten nahte, das endlose Geklapper der Schienenstöße, der Gestank von Schweiß und Zigarettenrauch in den überfüllten Abteilen. Meine Eltern ließen mich nirgends zurück, sie redeten mir gut zu, sie packten mich ein und schleppten mich ungefragt durch ihre Welt. Zeit die nicht vergehen wollte, wenn das Leben anderswo spielte.

Und dann, in den ersten Tagen des neuen Schuljahrs, wenn die Klasse einen Aufsatz über das schönste Ferienerlebnis schreiben musste, fiel mir keine Begebenheit ein, die das Herz meiner Lehrerin rührte. Kein Wunder, dass ich in Deutsch versagte.

2009, Claudia

Ich verlasse die Kirche und trete hinaus auf die Friedhofswiese. Die Bustouristen zeigen mir den Rücken. Im Halbkreis scharen sie sich um ihre Reiseleiterin und folgen schläfrig schweigend dem historischen Exkurs über Christentum, Kirchenbau und Architektur des zwölften Jahrhunderts.

Auf der verwitterten Holzbank, auf der ich vorher saß, sitzt jetzt eine Frau. Sie trägt ein hautenges Radler-Kostüm, wie ich, jedoch in den Farben der Telekom. Vor ihr ein Energydrink und eine Plastikbox mit Rohkostgemüsen zum Knabbern. Zu sehr unterscheidet sich die Frau von den Bustouristen, als dass sie zu ihnen gehören könnte. Kein Begleiter weit und breit.

Ob sie es als billige Anmache missdeutete, wenn ich sie fragte, ob ich mich wieder auf meinen alten Platz setzen dürfe? Oder glaubte sie, dass ich sie verjagen wollte?

Ich erfinde ein vergessenes Kleidungsstück, Entschuldigung, haben Sie zufällig meine Fahrradhandschuhe gesehen, sie müssen hier irgendwo liegen.

Nein, hier sind keine. Sie spricht mit vollem Mund und schaut sich suchend auf der Gänseblümchenwiese um. Den Rest ihrer Worte verstehe ich nicht.

Wie bitte? Was haben Sie gesagt?

Sie schluckt ihren Bissen hinunter, wir kommen miteinander ins Gespräch, sie macht etwas Platz und hat nichts dagegen, dass ich mich zu ihr setze.

Der Busfahrer tippt auf die Hupe, mehrmals kurz. Er lässt den Motor warmlaufen, damit die Klimaanlage den Innenraum temperiert. Die Touristen fahren ihre Handys herunter. Ein letztes Hallo. Ob die Blumen gegossen sind? Denk dran, die Fenster zu schließen, wenn du aus dem Haus gehst.

Die Reisegruppe bewegt sich zur Bushaltestelle hinab, es dauert. Endlich sind alle eingestiegen, endlich alle durchgezählt. Niemand wurde vergessen.

Zischend schließen sich die Türen. Der Fahrer tritt aufs Gaspedal, der Diesel kommt auf Touren, polternd verschwindet der Bus auf seinem Weg zur nächsten Station.

Oh je, Bustouristen, sagt die Frau neben mir. In den Ferien haben mich meine Eltern immer auf Kaffeefahrten mitgeschleift, zuerst gab’s eine langweilige Sehenswürdigkeit, dann ein versalzenes Mittagessen und schließlich einen biederen Vortrag über Teflon-Kochtöpfe, Höhensonnen und Haarschneideapparate für zuhause, alles, was der Mensch nicht braucht.

Ich lache. Und wenn man dann am ersten Schultag einen Aufsatz über sein schönstes Ferienerlebnis schreiben musste, fiel einem nichts Aufregendes ein.

Woher wissen Sie das? Sie können ja Gedanken lesen! Die Frau mustert mich, ihre Gleichgültigkeit verschwindet. Unsere Sozialisationen haben eine gemeinsame Schnittmenge. Ich saß in Zügen, sie in Bussen, unsere Eltern waren voll aufgekratzter Vorfreude, die Kinder angepisst.

Ein Spatz landet mir zu Füßen und schaut uns beide mit ruckendem Köpfchen erwartungsvoll an. Auf der Gänseblümchenwiese ist wieder Ruhe eingekehrt. Amseln singen ihr melodisches Lied, in den Blättern rauscht der Wind.

Woher ich das weiß? Ich habe soeben an meine Ferienerlebnisse denken müssen. Wussten Sie, dass Jesus von seinen Eltern in Jerusalem vergessen wurde?

Einige Krümel meines Butterbrotes fallen zu Boden. Der Spatz pickt sie auf und flattert davon, bevor ihm widrige Umstände die Beute entreißen könnten.

Ich heiße Claudia. Und du?

Micha.

Erzähl mir von deinen Ferienerlebnissen. Komm, Micha. Erzähl' von dir.

Aus ihrem Rucksack zaubert sie zwei dünne, weiße Plastikbecher und eine Thermokanne hervor. Sie lockert den Deckel und reicht mir einen der Becher.

Kaffee?

Ich steuere mehrere Packungen Hanuta bei. Die Frau, die Claudia heißt, schiebt ihr Rohkostgemüse beiseite.

1962, kleiner Grizzly

Ich fand es ungerecht, dass ich in den Ferien nichts Besonderes erlebt hatte wie alle anderen. Als einziger in meiner Klasse hatte ich keine tolle Geschichte, die mein Aufsatzheft füllte und die meine Familie und mich in positivem Licht erscheinen ließ. Jeder hätte mir gestimmt, dass es kein schönes Ferienerlebnis war, wenn einem auf einer unbegreiflich langen Zugfahrt das Lieblingsbuch gestohlen wurde, wenn man dann von seiner Oma eine geklebt bekam und wenn sich eine dumme Ziege mit frechen Stummelzöpfen darüber kaputtlachte.

Ich ließ meinen Blick schweifen, lutschte bekümmert an der Kappe meines Federhalters und schämte mich meiner Stielaugen. Nur die anderen hatten wundervolle Sommerferien gehabt. Emmi, neben mir, schrieb von dem Ritt auf dem süßen Pony. Davon hatte sie schon auf dem Schulhof geschwärmt, und ihre Freundinnen waren in verzückte Rufe ausgebrochen. Gewiss lieferte Emmi wieder den besten Aufsatz ab, wie immer.

Mein schönstes Ferienerlebnis – als wäre es selbstverständlich, dass man in den Ferien etwas Schönes erlebte.

Sebastian, schräg vor mir in der Reihe, der Große mit dem Rundrücken, schrieb wie ein Wirbelwind. Mit kräftigem Druck flitzte sein Stift über die Heftseiten. Er hatte Auto-Scooter fahren und mit seinem Vater Flipper spielen dürfen. Eisdielen am Strand, Zuckerwatte. Renate hatte am Meer Muscheln und Seesterne gesammelt, und Ottokar hatte in einem Zelt geschlafen, im Süden unter schattigen Bäumen. Dort, wohin mich meine Eltern verschleppt hatten, gab es solche großartigen Dinge nicht.

Von überall her hörte ich die Kratz- und Schabgeräusche der Patronenfüller. Sie ermahnten mich, endlich auch etwas zu Papier zu bringen. Die Zeit lief. Alle hatten ein schönstes Ferienerlebnis gehabt, nur ich nicht.

Wie herrliche es gewesen wäre, wenn es mir wie Robin ergangen wäre, dem Held der Geschichte, die ich auf der unerträglichen Zugfahrt verschlungen. Seine Eltern vergaßen ihn bei einem Zwischenstopp in der kanadischen Wildnis, glaubten, er sei hinten in den Wohnwagen gestiegen, und fuhren davon. Sechs Ferienwochen lang lebte Robin von den Früchten des Waldes und der Seen, wie aufregend. Im Laufe der Zeit schloss er Freundschaft mit einem kleinen Grizzly-Bären, der ihn in vielen gefährlichen Situationen zu Hilfe eilte.

Warum haben wir kein Schlauchboot dabei? Ich quälte meinen Vater, dann meine Mutter, mit Fragen. Der Waggon schwankte über krumme Schienen.

Bei der Oma gibt es keinen See.

Auch kein Meer?

Oma wohnt nicht am Meer. Oma und Opa wohnen in einer großen Stadt, mitten im Land. Das haben wir doch schon tausend Mal besprochen. Katrin wird auch da sein.

Meine Mutter trug ein schickes Kostüm. Das Profil ihres Gesichts sah wunderschön aus. Sie hielt den Kopf abgewandt und schaute in den gelblichen Nebel hinaus, der zur Nacht wurde. Der Geruch von Chemiefabriken drang durch die spröden Gummidichtungen des Abteilfensters.

Schwefeldioxide, Phenole, Ester-Verbindungen, schnaubte mein Vater. Hier stinkt's gewaltig.

Ich wusste nicht, ob er nur auf die Abgase oder auch auf den Raucher in unserem Abteil anspielte.

Neben der Schiebetür blies ein Mann den Qualm seiner Zigarre in die Luft, mit vollen Backen. Mir tränten die Augen, mir war übel von dem widerwärtigen Gestank. In Kanada, wo Robin die Ferien an den klaren Seen verbrachte, war die Luft frisch und rein. Meine Mutter sog angewidert Luft durch die Nase, doch der dürre, grauhaarige Mann im London-Tweed merkte nicht, dass er uns belästigte, ungerührt paffte er weiter. Er drückte den Zeigefinger an den Steg seiner eulenhaften Hornbrille, schob sie die Nase hinauf und stieß Rauch aus.

Ich vertiefte mich wieder in die Wildnis, wo man ein Wasserflugzeug brauchte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Robin, in dessen Haut ich unendlich gerne geschlüpft wäre, glitt in seinem Kajak durch das glatte Wasser. Er hatte einen Angelhaken ausgeworfen. Ein Fisch biss an, ein Prachtexemplar. Das Boot schaukelte, ringförmig breiteten sich die Wellen aus. Das Spiegelbild der Landschaft erzitterte. Der Fisch kämpfte, zerrte ungestüm an der Leine, und Robin stürzte ins Wasser, tauchte unter. Aber wachsam passte die Natur auf ihn auf. Wildgänse meldeten das Unglück. Der kleine Grizzly schwamm herbei und geleitete Robin sicher ans rettende Ufer.

Die Schreie der Vögel verwandelten sich jäh in das Kreischen der Bremsanlage, der Zug kam zum Stehen. Aus dem würzigen Duft kanadischer Kräuter wurde wieder der Gestank von Alkohol, Zigarren und Chemieindustrie. Ich öffnete die Augen. Sie brannten. Ein uniformierter Mann trat in unser Abteil. Er fingerte an den Gepäckstücken herum, fischte eine Zeitung heraus, dann wollte er mein Buch.

Gib her, Kleiner. Na, gib es mir schon. Wissen deine Eltern denn nicht, dass man keine Schriftwerke in die Deutsche Demokratische Republik einführen darf?

Ich verstand zunächst "Schiffswerften" und wunderte mich, aber als er mir die Hand entgegen streckte, wusste ich, dass ich gemeint war.

---ENDE DER LESEPROBE---