Russisch Blut/Doppelte Schuld - Anne Chaplet - E-Book

Russisch Blut/Doppelte Schuld E-Book

Anne Chaplet

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Beschreibung

Russisch Blut: Für Katalina Cavic, die junge bosnische Tierärztin, sollte es ein Neuanfang sein auf Schloss Blanckenburg. Doch sie kommt nicht zur Ruhe: Lüge und Betrug sind hier ebenso offensichtlich wie der Verfall des alten Anwesens. Während Katalina noch mit den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit kämpft, erschüttert der Mord an einem angesehenen Archäologen die Schlossbewohner. Im Zuge der Ermittlungen tritt ein altes Geheimnis zutage, das mit der dramatischen Flucht einer Frau in den Wirren des Zweiten Weltkriegs zusammenhängt – unddas Katalina nur allzu sehr an ihre eigene Geschichte erinnert... Doppelte Schuld: Mary Nowak legte die Zeitung zur Seite. Sie hatte den Toten sofort wiedererkannt: Benjamin Dimitroff. Vor 17 Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, kurz nach der Wende. Nun war er im Schlosspark von Blanckenburg gefunden worden. Was steckte dahinter? Der lange Arm der Firma? Hatten die alten Kader einen ehemaligen Mitarbeiter aus dem Weg räumen lassen? Und war es weise von Mary Nowak, sich nach über 50 Jahren ausgerechnet hierhin, nach Schloss Blanckenburg, locken zu lassen, an einenOrt der Erinnerungen? Am liebsten wäre sie sofort wieder verschwunden. Aber man hatte sie in der Nähe der Leiche gesehen, Blanckenburgs TierärztinKatalina Cavic hatte sie beobachtet. Doch Katalina schien der Polizei nichts von ihrer Beobachtung mitteilen zu wollen … »Doppelte Schuld« ist der zweite Fall für die Tierärztin Katalina Cavic, die bereits in Anne Chaplets Roman "Russisch Blut" die Leser faszinierte. Auch hier wird ein brisantes Kapitel der deutsch–deutschen Geschichte erzählt. Einmal mehr packend und höchst authentisch verwebt Anne Chaplet das Geheimnis um die verschwundenen SED–Millionen mit dem Schicksal einer Spionin im aus Kalten Krieg und der Lösung eines mysteriösen Mordfalls.

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Russisch Blut:

Für Katalina Cavic, die junge bosnische Tierärztin, sollte es ein Neuanfang sein auf Schloss Blanckenburg. Doch sie kommt nicht zur Ruhe: Lüge und Betrug sind hier ebenso offensichtlich wie der Verfall des alten Anwesens. Während Katalina noch mit den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit kämpft, erschüttert der Mord an einem angesehenen Archäologen die Schlossbewohner. Im Zuge der Ermittlungen tritt ein altes Geheimnis zutage, das mit der dramatischen Flucht einer Frau in den Wirren des Zweiten Weltkriegs zusammenhängt – unddas Katalina nur allzu sehr an ihre eigene Geschichte erinnert...

Doppelte Schuld:

Mary Nowak legte die Zeitung zur Seite. Sie hatte den Toten sofort wiedererkannt: Benjamin Dimitroff. Vor 17 Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, kurz nach der Wende. Nun war er im Schlosspark von Blanckenburg gefunden worden. Was steckte dahinter? Der lange Arm der Firma? Hatten die alten Kader einen ehemaligen Mitarbeiter aus dem Weg räumen lassen? Und war es weise von Mary Nowak, sich nach über 50 Jahren ausgerechnet hierhin, nach Schloss Blanckenburg, locken zu lassen, an einenOrt der Erinnerungen? Am liebsten wäre sie sofort wieder verschwunden. Aber man hatte sie in der Nähe der Leiche gesehen, Blanckenburgs TierärztinKatalina Cavic hatte sie beobachtet. Doch Katalina schien der Polizei nichts von ihrer Beobachtung mitteilen zu wollen … 

»Doppelte Schuld« ist der zweite Fall für die Tierärztin Katalina Cavic, die bereits in Anne Chaplets Roman "Russisch Blut" die Leser faszinierte. Auch hier wird ein brisantes Kapitel der deutsch–deutschen Geschichte erzählt. Einmal mehr packend und höchst authentisch verwebt Anne Chaplet das Geheimnis um die verschwundenen SED–Millionen mit dem Schicksal einer Spionin im aus Kalten Krieg und der Lösung eines mysteriösen Mordfalls. 

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

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Russisch Blut:

Copyright © 2004 by Cora Stephan

Doppelte Schuld:

Copyright © 2007 by Cora Stephan

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung der Originalcover: Agentur bürosüd°, München

Entwurf: Designomicon

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-855-1

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Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2004 by Cora Stephan
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Jouve
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN 978-3-95530-218-4

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Inhaltsverzeichnis
TitelImpressumTiefe SchattenTeil 1
12345
Teil 2
123456
Teil 3
123456789
Teil 4
1234567
Tiefe Schatten
Aber weiter und weiter Schlepp ich ich fort; Von Tag zu Tag, Von Mond zu Mond, Von Jahr zu Jahr; Bis dass ich endlich, Erschöpft an Leben und Hoffnung, Werd hinstürzen am Weg Und die alte, ewige Nacht Mich begräbt barmherzig, Samt allen Träumen der Sehnsucht.
Theodor Storm
The Legacy
When I died last, and, dear, I die As often as from thee I go, Though it be but an hour ago, And lovers’ hours be full eternity, I can remember yet, that I Something did say, and something did bestow;
Teil 1
1
Flucht aus Ostpreußen, Winter 1945
Es war ein düsterer Tag gewesen. Jetzt stand vor den Fenstern die schwarze Nacht. Mathilde zögerte. Im Esszimmer lag alles noch auf dem Tisch, die Terrinen, die Platten, die Teller und das Besteck. Ihr Vater hatte es so gewollt. Und die Köksch hatte voller Verachtung gesagt: „Du schließt nicht ab! Dann müssen sie nicht erst die Tür eintreten, bevor sie sich bedienen.“ Sie ging noch einmal zurück, nahm das Besteck und den Serviettenring mit ihren Initialen sowie die silberne Schöpfkelle und wickelte alles in eine Schürze.
Der Treck war fort. Sie war die letzte.
Marie Mathilde von Bergen ließ alle Türen offenstehen, nahm die Jacke vom Haken, schlüpfte in die Gurte des gepackten Rucksacks, steckte das Bündel mit dem Tafelsilber in die Satteltasche und ging über den Hof zum Stall. Es war eisig kalt, bestimmt längst unter zwanzig Grad Minus. Der Wind pfiff über die Dächer, aber es schneite wenigstens nicht.
Im Stall scharrte Falla unruhig im Stroh. Die meisten Tiere waren fort und die übriggebliebenen schienen die Veränderung zu spüren. Vielleicht vermisste die Stute den Hund? Papa hatte Wotan erschossen, bevor er ging. Er hatte mit Tränen in den Augen die Kühe losgebunden und die Türen zum Schafstall aufgelassen.
Sie nahm Sattel und Halfter von der Wand. Falla reckte ihr den braunen Kopf mit der weißen Blesse entgegen. Sie öffnete den Verschlag, tätschelte der Trakehnerstute den Hals und ließ sie ein Bein nach dem anderen heben, um ihr die scharfen Stolleneisen unter die Hufe zu schrauben. Hoffentlich half das auf den vereisten Straßen. Dann sattelte sie das Tier, führte es aus dem Stall, sah ein letztes Mal hinauf zum ersten Stock von Gut Jechow, in dem ihr Zimmer lag, stieg auf und ritt zum Tor hinaus.
In keinem der umliegenden Gehöfte und Katen brannte noch Licht. Das Grollen hinterm Horizont war jetzt ganz nah. Falla hob den Kopf und spitzte die Ohren. Mathilde spürte die Unruhe des Pferdes wie ein Echo der eigenen Angst vor dem unbekannten Verhängnis.
„Wir kommen zurück“, hatte Mama beim Abschied geflüstert. Nein, dachte Mathilde. Der Osten ist verloren.
Kilometer für Kilometer rückte die vertraute Landschaft in die Ferne. Sie versuchte, sich alles noch einmal einzuprägen in den Farben der Jahreszeiten. Aber sie sah nur Weiß und Schwarz und Grau. Wie auf einer Fotografie, die man Jahre später in der Hand halten würde, um „damals“ zu seufzen.
Als es auf die Straße zuging, wurde Falla immer langsamer und blieb schließlich schnaubend stehen. Ein schwarzer Lindwurm kroch dort vorne, ein schweigendes Ungeheuer aus tief vermummten Menschen, die im Schritttempo den Pferdekarren hinterherstapften oder Handwagen zogen, Schlitten, vollgestopfte Kinderwagen. Es gab kein Schluchzen, es fiel kein Wort – man hörte nur das Rascheln von Kleidern und das Knirschen des Schnees und das Schnauben der Pferde, die so müde aussahen wie die Menschen. Noch nicht einmal die Kinder schrien.
Mathilde flüsterte Falla beruhigende Worte ins Ohr und lenkte sie sanft an den Rand der endlosen Schlange geduckter Menschen. Der Treck kroch gen Westen, bis es licht wurde am Horizont. Bald darauf kamen den Flüchtenden Kübelwagen mit Soldaten und Geschütze auf Lafetten entgegen. Und dann rollten Panzer heran, geradewegs zu auf die Menschenmassen, die eingekeilt waren zwischen den schweren Wagen und nicht ausweichen konnten. Mathilde versuchte, ihre Tränen mit der behandschuhten Hand wegzuwischen, bevor sie ihr auf den Wangen gefroren. Am Wegesrand und im Straßengraben lagen armseliger Hausrat, gestrandete Karren und verendete Pferde. Und kleine Leichen.
Hinter Altfelde musste sie absteigen, um sich neben Falla warmzulaufen. Steif vor Kälte stolperte sie über den verharschten Schnee, als sie ein Puppengesicht im schneeverwehten Graben sah, eine winzige Gestalt in einem weißen Tuch, das der Wind oder ein Tier weggezupft hatte. Von nun an achtete sie nicht mehr auf das, was neben ihrem Weg lag.
Die Gegenwart war der nächste Schritt, die Zukunft der nächste Tag.
Alles andere versuchte sie zu vergessen: die Wagen, mit denen schon vor Monaten Jechows Gemälde und Möbel, die Porzellansammlung und die kostbarsten Bände aus der Bibliothek abtransportiert worden waren. Mamas Augen beim Abschied. Papas Bitte, sie möge sich ihren Weg nach Westen abseits vom Treck suchen. Sie wusste, was er dachte und nicht gesagt hatte: Es erhöhte die Chance, dass einer der Jechows überlebte.
Manchmal dachte sie zaghaft an Gregor. Und manchmal schwebte ihr Blanckenburg vor Augen, wie ein Luftschloss, heiter und hell.
Erst nach mehr als zwölf Stunden machte sie Pause. In dem verlassenen Hof hatten Soldaten Quartier gemacht. Es gab Futter und Wasser für Falla, dünnen Kaffee, Brot und ein Lager im Stroh. Sie war kaum eingeschlafen, als sie wieder hochschreckte. „Weg!“ brüllte ein junger Soldat in den Stall hinein. Im Schein der Laterne leuchtete sein Gesicht, die Wangen gerötet, die Augen weit aufgerissen. Er war so jung. Jünger als sie, jünger als Gregor. „Wir sprengen die Brücke über die Nogat!“ Wieder zog sie auf Falla neben dem Flüchtlingsstrom her, voller Hoffnung und voller Angst, dem Treck der Eigenen zu begegnen.
Hinter Dirschau verließ sie den Treck und schlug den Weg nach Schöneck ein. Ein ausgemergelter Jagdhund lief eine Weile hinter ihr her, ohne einen Laut von sich zu geben. In Gladau schlossen sich ihr zwei vermummte Gestalten auf erschöpften Pferden an. Man nickte einander zu. Sie sah müde Augen unter schneeverkrusteten Brauen.
Mathilde fühlte sich wie ausgeschnitten aus der Welt, die sie gekannt hatte. Die Stimmen, Gerüche und Farben waren immer flüchtiger geworden und hatten sich irgendwo auf der Strecke aus ihrem Gedächtnis gelöst. Ihr Kopf war leer. Manchmal spielte die Erinnerung ihr Gedichtzeilen zu, „Er stand auf seines Daches Zinnen“ oder „Die Kraniche des Ibikus.“ Alberne Abzählreime. Kinderlieder. Eine Zeile schwebte immer wieder an und begann sich schließlich einzunisten: „Aber weiter und weiter schlepp ich mich fort, von Tag zu Tag, von Mond zu Mond, von Jahr zu Jahr...“
Im Forsthaus von Ribaken machten sie Rast. Mathilde nahm ihre Umgebung erst wieder wahr, als jemand Brot und heiße Suppe vor sie stellte. Und jetzt erst spürte sie den Hunger. Sie begann gierig zu löffeln.
Die Gaststube des Forsthauses war überfüllt; kein Gesicht sah vertraut aus. Die Wärme und das Essen und die vielen menschlichen Stimmen lullten sie ein, sie wäre auf der Stelle eingeschlafen, wenn nicht die Schmerzen in ihren halberfrorenen Händen gewesen wären. Und die neuesten Nachrichten: Elbing war bereits am 23. Januar von den Russen eingenommen worden. Seither war das nördliche Ostpreußen vom Westen abgeschlossen. Sie war den Eroberern nur wenige Stunden voraus. „Sie kreisen uns ein. Sie sind hinter uns. Sie kommen von der Seite“, sagte ein älterer Mann mit bebender Stimme.
Noch in der Nacht brach sie wieder auf. Einer ihrer stummen Begleiter half beim Nachschärfen der Stolleneisen für Falla. Der Mann hatte die Abzeichen von seiner Wehrmachtsuniform gerissen. Als er ihren Blick sah, sagte er: „Der Krieg ist schon seit letztem Sommer aus. In Berlin hat das nur noch niemand mitgekriegt.“ Sie zog die Sattelgurte fest. „Wehe den Besiegten“, murmelte der Mann.
Wenn es Folkert und seinen Freunden gelungen wäre, den Größten Feldherrn aller Zeiten umzubringen, letztes Jahr, im Sommer – wäre sie dann auch hier, in dieser eisigen Nacht?
Falla wirkte zum ersten Mal müde. Sie schien das rechte Vorderbein zu schonen. Mathilde murmelte Liebkosungen und kämpfte gegen die Angst an, die ihr in die Kehle stieg. Wer beten könnte.
Sie erreichten Gut Jannewitz in der Dämmerung. Man hatte die letzten Schweine geschlachtet, die ausgeweideten Kadaver hingen an einem Balken im Hof. In der Wohnstube stand die Luft, es roch nach ungewaschenen Menschen und feuchten Kleidern. Ein ganzer Treck war hier gestrandet – Soldaten hatten Straßensperren errichtet, um Truppen der Wehrmacht ungehindert durchleiten zu können.
Alles in Mathilde wollte weiter. Aber das Pferd brauchte eine Pause – und sie auch. Nur langsam drangen Menschen und Stimmen und Gerüche zu ihr durch: Die alte Dame, die ihr einen zweiten Teller Suppe gebracht hatte und jetzt auf dem Sofa saß und Strümpfe strickte, neben einem müden Mann im Wehrmachtsmantel, der den rechten Arm in der Schlinge trug. Das Mädchen mit den viel zu großen Augen. Das Kind, das den Suppenlöffel nicht halten konnte. Mathilde schob den Teller von sich, wollte aufstehen. Sie musste schluchzend zusammengebrochen sein. Es war ihr peinlich, als sie merkte, dass ihr Kopf an der Brust ihres Nachbarn lag.
Als die Sperre aufgehoben wurde, brach Mathilde mit den anderen auf. Es hatte in der Nacht geregnet auf den gefrorenen Boden, Straßen und Wege waren spiegelglatt. Sie sah fassungslos zu, wie einer der eisenbereiften Wagen vor ihr im Zeitlupentempo von der Straße rutschte und im Straßengraben landete. Pferde strauchelten und stürzten, Menschen schrien und weinten. Die Welt war verrückt geworden
Ob noch Brücken über die Oder führten? Ob Schloss Blanckenburg noch stand? Ob Gregor an sie dachte?
Sie hatten es sich versprochen, damals, als man die Zeichen schon lesen konnte: sie und die beiden Brüder Hartenfels, Folkert und Gregor, Söhne von Tante Betty, der Lieblingskusine ihrer Mutter. Es war wie ein feierlicher Schwur gewesen: Was immer passiert – wir sehen uns wieder in Blanckenburg. Aber Folkert war tot. Und Gregor? Zum ersten Mal, seit sie sich von Jechow verabschiedet hatte, verließ sie der Mut. Sie glaubte nicht mehr daran, dass sie ankommen würde. Dass der Winter je zu Ende ginge, dass der Kanonendonner einmal aufhören würde, dass sich die Kälte wieder zurückziehen könnte aus den Knochen, aus den Muskeln, aus dem Gedärm. Aus der Seele.
In Bassenthin erzählte man, dass die Russen auf Köslin und Schlawe vorrückten; das lag nicht weit hinter ihr. In Pommern flüchtete noch niemand, es sei verboten, sagte eine Frau und lachte verächtlich. Mathilde zog mit den anderen Richtung Oder, zur Autobahnbrücke.
Die Straße war überfüllt und spiegelglatt. Mathilde musste immer wieder absteigen, weil sie so müde war, dass sie befürchtete, aus dem Sattel zu rutschen – und um Falla zu schonen. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen.
Weit vor der Brücke begann das Chaos. Soldaten versuchten, den Verkehr zu regeln, um die Flüchtlinge schneller überholen zu können. Mal sollten die Trecks rechts, mal links, mal in der Mitte fahren. Als vier andere Reiter umdrehten und ihr zuriefen, sie wollten zur nächsten Oderbrücke weiter südlich reiten, schloss Mathilde sich an. Eine Weile hielt sie das Tempo der anderen durch. Dann fiel sie zurück.
2
Ankunft in Blanckenburg, fast sechzig Jahre später
Ein Bahnhof war wie der andere.
Katalina Cavic setzte Koffer und Taschen ab und zog sich den Kragen ihrer gefütterten Lederjacke enger um den Hals. Über den Platz vor Blanckenburg-Bahnhof strich ein eisiger Luftzug. Die wenigen Menschen, die an diesem frischen Apriltag zu sehen waren, hatten den Kopf gesenkt und stemmten sich gegen den Wind.
Es war ihr mittlerweile egal, wo sie ankam – und was sie hinterließ, wenn sie wieder ging: Eine heruntergewirtschaftete Wohnung, ein paar Bücherkisten, ein altes Auto. Manchmal auch einen Mann. Warum Blanckenburg? Warum nicht. Das letzte Mal war es Kerken gewesen und davor Bramsche und davor ...
Sie schob die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Irgendwann kam die Zeit, da würde sie auch Blanckenburg wieder den Rücken kehren. Heimat ist, wo es Arbeit gibt. Der Rest ist Erinnerung.
Sie blickte auf die Uhr. Er kam zu spät.
Als sie wieder aufsah, glaubte sie sich in einer anderen Welt.
Zwei schwarze Pferde vor einer offenen Kutsche galoppierten mit wehenden Mähnen auf den Platz. Das passte weder zum Wetter noch zu diesem trübsinnigen Vorort. Das Friesengespann stob an ihr vorbei, trommelnde Hufe, geblähte Nüstern, rollende Augen. Der Mann auf dem Kutschbock hatte sich halb aufgerichtet, rief den Pferden etwas zu und zerrte an den Zügeln. Vergeblich.
Katalina hielt ihr Gesicht in den Wind und hätte fast gelacht. Ja, es gab zu tun. Blanckenburg hatte eine Verabredung mit ihr. Sie würde das Städtchen schneller kennenlernen, als seine Einwohner ahnten und es ihr lieb war: den Mann, der seine Pferde nicht im Griff hatte. Und all die anderen, deren Hunde und Meerschweinchen, Katzen und Zierfische Koliken oder Flöhe hatten. Das war der Gang der Dinge. Ein Beichtvater war nichts gegen einen Tierarzt, diese natürliche Vertrauensperson aller Menschen mit Tieren, insbesondere der älteren und einsamen. Und ein Tierarzt war nichts gegen eine Tierärztin.
Manchmal machte sie das traurig. Manchmal brachte es sie zum Lachen. Und manchmal sorgte es dafür, dass sie wieder ging.
Immer auf der Flucht, dachte Katalina.
Das Friesengespann hatte eine Runde um den Platz gedreht und kam jetzt zurück. Das Fell der Pferde glänzte, der Kötenbehang, die Fellstulpen um die Fesseln, und die unbeschnittenen Mähnen waren sauber gekämmt. Rotes Ledergeschirr, schwarze Kutsche – man hatte offenbar Geld und Geschmack. Als das Gespann vor ihr zu stehen kam, griff Katalina dem nervöseren der beiden Tiere ins Zaumzeug und murmelte „Polako, Polako.“ Der Gaul reagierte, als ob er flüssig im Bosnischen wäre.
„Ich weiß nicht, was mit ihr los ist“, sagte der Mann in Reitstiefeln und grüner Cordhose, der von der Kutsche sprang und ihr mit ausgestreckter Hand entgegenging. „Alex Kemper. Sind Sie – ?“
Das also war der Mann, der ihr beim letzten Telefongespräch versprochen hatte, sie abzuholen. Er schaute fragend. Was hatte er erwartet? Eine blonde Fee? Sie ließ die Hand in der Jackentasche.
Verlegen lächelte er. „Sie müssen Katalina Cavic sein.“
„Und Sie sind der Herr von Schloss Blanckenburg?“ Ihre Handbewegung umfasste Wagen und Gespann.
Kemper verzog den Mund und lachte dann doch. „Ein Herr, der noch nicht einmal seine Pferde im Griff hat?“ Er tätschelte den Hals des Wallachs, der ruhig dastand, während die Stute noch immer dampfend atmete. „Das hier ist Woodstock und die nervöse Dame heißt Daphne.“
Kemper verstaute das Gepäck und half Katalina mit übertriebener Galanterie in den Wagen. Kaum saß er selbst, gingen die Pferde los, als stünde der Große Preis von Niedersachen auf dem Spiel. Die wenigen Zuschauer tuschelten und grinsten.
„Langsam!“ Der Mann hielt die Zügel viel zu kurz. Sie hätte sie ihm am liebsten aus der Hand genommen. Aber nach einer Weile fielen die Tiere von selbst in einen lockeren Trab und nach wenigen Minuten hatten sie den tristen Vorort mit dem Bahnhof verlassen. Katalina lehnte sich aufatmend zurück und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Rostrote aufgebrochene Erde auf den Äckern. Dazwischen graugrüne Wiesen und verkrautetes Brachland, ein Tannenwäldchen in der Ferne, am Bachlauf verwehtes Gehölz.
Kemper entspannte sich langsam. „Eigentlich wollte ich bei Ihnen Eindruck schinden“, sagte er. „Aber Friesen können zickig sein.“
Das Ende der Verbindungsstraße kam in Sicht. Vor ihnen lag Blanckenburg-Stadt, genau da, wo das flache Land sich zu erheben begann und gemächlich dem höchsten Punkt des tannendunklen Gebirges zustrebte. Über dem Städtchen sah man das Schloss thronen. Blanckenburg schien sich zu ducken unter seinem gewaltigen Wahrzeichen. „Renaissance-Schloss seit dem 16. Jahrhundert, ab 1705 barock umgebaut. Die Burganlage selbst stammt aus dem 12. Jahrhundert“, sagte Kemper.
Autos und Menschen strömten ihnen entgegen, während die Pferde die Hauptstraße entlang zogen. Die Stute ging im Gleichklang mit dem Wallach, ihre prächtigen Hinterteile wogten, die Köpfe mit den spitzen Ohren nickten, ab und an schnaufte eines der beiden Tiere. Nur Kemper wirkte verkrampft, er grüßte niemanden, obwohl man ihm zuwinkte und ihnen hinterhersah.
Dafür lächelte Katalina in die Menschenmenge, als ob sie ihre Untertanen segnete. Es waren ihre künftigen Kunden, die Frau im Regenmantel, deren geschorener Pudel ein bunt gemustertes Deckchen trug, der Jugendliche in Schlabberhosen, der sich von einem energiegeladenen Malamud über die Straße ziehen ließ – und die Frau vor dem Schaufester einer Buchhandlung. Zum vornehmen Grau des edlen Weimaraners, der neben ihr stand, trug sie ein bodenlanges dunkelrotes Gewand und einen auffallend breitkrempigen Hut.
In diesem Moment stieß Daphne ein markerschütterndes Wiehern aus und sprang vorwärts. Woodstock, überrumpelt, hielt nicht lange dagegen und schloss sich dem wilden Galopp an. Die Kutsche schlingerte über die Straße, fast wäre das Gespann mit einem entgegenkommenden Kleintransporter zusammengeprallt.
Alex Kemper brüllte und zerrte an den Zügeln. Diesmal nahm Katalina sie ihm aus der Hand. Sie spürte fast im selben Moment, wie sie Kontakt aufnahm mit den beiden kraftvollen Kreaturen vor ihr, wie über eine Nabelschnur. Daphne schüttelte noch einmal schnaubend den Kopf, Schaumfetzen flogen nach rechts und nach links. Dann wurde sie ruhiger und schließlich fielen beide Pferde wieder ins Schrittempo.
Katalina atmete tief auf. „Was um Himmelswillen ist los mit den Gäulen?“ „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das erklären.“ Kemper klang resigniert. „Es kommt aus heiterem Himmel.“
Sie bogen von der Hauptstraße ab, in eine kopfsteingepflasterte Gasse. Es ging bergauf. Über ihnen hing das Schloss wie ein graues Felsennest. Das Gespann zog einen weiten Bogen um den Schlossberg, bis sie durch einen steinernen Torbogen in den Innenhof einfuhren.
Das Geräusch der Pferdehufe hallte von den beiden langgestreckten Seitentrakten des Gebäudes wieder. Sie musste die Zügel unwillkürlich angezogen haben, denn die Pferde schritten wie in einem Trauerzug auf die Schlossruine zu.
Das von Ferne so imposante Gebäude sah aus der Nähe wenig einladend aus. Die Uhr am Turm des Schlosses schien schon lange auf halb sechs zu stehen. Die steinernen Figuren auf den Simsen rechts und links davon wirkten grau und gebrechlich. Türen hingen schief in den Angeln oder waren mit roten Klinkern zugemauert.
„Der alte Kasten ist nicht bewohnbar.“ Besitzerstolz merkte man Kemper nicht an. „Wir wohnen standesgemäß nebenan, im Traiteurshaus, da hauste früher der Koch.“ Er half ihr vom Bock. „Sehen Sie sich ruhig um. Aber Sie sollten nicht allein hineingehen. In den oberen Stockwerken kann man für nichts mehr garantieren.“
Der einstmals ockerfarbene Putz hatte sich in dicken Placken von der Fassade des vierflügligen Baus gelöst. In den Regenrinnen wuchs Unkraut. Einige Scheiben der tiefgezogenen Fenster waren zerschlagen, andere mit Pappe zugeklebt. Katalina versuchte einen Blick durchs Fenster. Hier musste eine Kapelle gewesen sein. Die Stuckverzierungen an der Decke des Kreuzgewölbes waren größtenteils abgefallen und lagen in weißen Brocken auf dem Boden.
Durch die Fenster zum nächsten Saal konnte man noch Reste von prächtigen Deckengemälden und Wandmalereien erkennen. Die Kachelöfen, das Parkett, die Wände schienen Opfer von jugendlichen Vandalen, Hausschwamm und kaputten Regenrinnen geworden zu sein. Katalina zog fröstelnd die Schultern hoch.
Der durchdringende Schrei hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Die erbitterte Klage eines frustrierten Schlossgeistes? Katalina drehte sich um. Ein Pfauenpärchen schritt heran. Es passte zu der verkommenen Pracht mindestens so gut wie das Pferdegespann mit den schwarzen Friesen.
Sie atmete tief durch. Der Turmflügel wirkte nicht ganz so verwahrlost wie die beiden Seitenflügel. Im ersten Stock waren die Fenster noch intakt, im zweiten mit Holzplanken vernagelt oder mit Plastikfolie geflickt. Der Anblick des Verfalls löste ein Gefühl in ihr aus, das sie nicht gleich entschlüsseln konnte. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Turm, um den ein Schwarm Krähen kreiste. Genau. Das alles war ihr vertraut. Es erinnerte sie. An Kälte, Feuchtigkeit, Hunger, Verfall. An das graue Bauernhaus, durch dessen Fenster und Türen der Wind blies. An das blakende Herdfeuer in der Küche. An die Großeltern. An Gavro.
Es erinnerte an zu Hause.
Zu Hause ist da, wo es Arbeit gibt, wies eine strenge innere Stimme sie zurecht, die wie Großmutter klang, wenn sie zu lange in der Bibel gelesen hatte. Nun, an Arbeit mangelte es in Blanckenburg sicher nicht: Sie hatte die örtliche Tierarztpraxis übernommen, in einem Fachwerkhaus in der Altstadt, das renoviert werden musste. Bis alles fertig war, durfte sie im Kutscherhaus des Schlosses wohnen, das hoffentlich in nicht ganz so trostlosem Zustand war wie das herrschaftliche Anwesen selbst. Sie musste möglichst bald verlässliche Handwerker auftreiben und sich um ein neues Auto kümmern. Schließlich wollte sie nicht auch noch ihre Freizeit in diesem Ruinenstilleben verbringen.
Katalina schlenderte zurück zum Traiteurshaus, einem kompakten Bau, der vor der Schlossmauer lag und bewohnbar wirkte. Eine schrille Stimme schallte ihr entgegen. Sie schaute hinauf zum ersten Stock. Eine Frau mit einem dunklen, strengen Pagenschnitt um das runde Gesicht lehnte aus einem der Fenster und rief wieder etwas, das Katalina nicht verstand. Es klang wie ein empörtes „Nein“ auf bayrisch.
„Ich suche Noa, meine nichtsnutzige Tochter“, sagte die Frau, als sie schließlich hinunterblickte und Katalina sah. „Sie sind die neue Tierärztin, stimmt’s?“
Katalina nickte.
„Hat Alex Sie hier stehengelassen? Wo ist Ihr Gepäck? Wie war die Fahrt? Sprechen Sie überhaupt deutsch? Frieren Sie nicht?“
Katalina musste nicht antworten, denn die Frau hatte ihren Kopf noch vor dem letzten Fragezeichen zurückgezogen. Minuten später öffnete sich die Haustür.
Katalina würde sich immer an diesen Augenblick erinnern, in dem sie Alma Franken zum ersten Mal begegnete: Alma sah aus wie eine russische Mamotschka, es fehlte nur das Kopftuch. Sie war klein, rund wie ein Kegel und trug einen bodenlangen, schweren Faltenrock, ähnlich solchen, die alte Frauen in jenen Gegenden tragen, in denen man an Kirchweih noch Tracht anlegt. Das stark geschminkte Gesicht und die auffälligen Schmuckstücke um Hals und Handgelenke passten nicht zu dem biederen Gewand. „Kommen Sie rein in unsere malerische Residenz.“
In Flur war es düster; es roch nach Essen. Alma öffnete die Tür zu einer Art Wohnküche. Der Raum war überheizt, im Backofen brutzelte irgend etwas und unter dem Fenster bullerte ein schwarzer Kanonenofen. Eine Frau saß auf einem durchgesessenen Sofa und starrte konzentriert auf einen Laptop. Zu ihren Füßen räkelte sich eine riesige schwarze Dogge. Das Tier hob den Kopf, schien sich nicht entscheiden zu können, ob es gähnen oder knurren sollte, und ließ ihn wieder fallen.
„Das ist Frau Dr. – “
„Cavic“, sagte Katalina. „Praktische Tierärztin. Ohne Doktor.“
„Also die neue Veterinärin“, sagte der hagere Mann, der beim Herd gestanden hatte und sich nun neben die Frau auf dem Sofa setzte. „Willkommen auf Schloss Blanckenburg.“ „Die unhöflichen Herrschaften auf dem Sofa sind übrigens Sophie Franken und Peer Gundson“, sagte Alma und wandte den beiden den Rücken zu. „Meine jüngste Schwester und ihr – Lebensgefährte.“ Die Frau mit dem Laptop hob den Kopf, sah blicklos in Katalinas Richtung, nickte und senkte den Kopf wieder. Peer Gundson hob eine Hand und winkte matt.
„Es fehlt noch Erin, das ist die mittlere von uns dreien. Verheiratet mit Alex.“
Nanu, dachte Katalina. Kemper sah nicht nach Ehemann aus.
„Und meine Tochter Noa. Wo ist der Satansbraten?“
Alle guckten zur Tür. Aber es war Alex Kemper, der einen Schwall kühler Luft, ihre Arzttasche und einen mürrischen Gesichtsausdruck in die stickige Küche brachte.
„Es stinkt“, sagte er. „Kann es bei uns nicht dieses eine Mal, wenn wir schon mal einen Gast haben, etwas kultivierter zugehen?“ Er ließ die Tasche fallen.
Die Frau mit dem Laptop klappte ihr Gerät zu und blickte kurzsichtig in die Runde. Alma begann geräuschvoll den Tisch zu decken. Und Katalina wünschte sich weit fort. Dennoch folgte sie der unausgesprochenen Einladung, sie hatte Hunger. Alle setzten sich – bis auf Sophie Franken, die nervös abwinkte. Kemper schob seinen Teller schon nach den ersten Bissen von sich.
„Geht’s uns so schlecht, liebe Alma, dass wir diesen Schweinefraß hier essen müssen?“ „Du weißt, wie es uns geht“, sagte Alma mit leidender Miene. „Gut, dass uns Frau Cavic demnächst allmonatlich ihre Miete vorbeibringen wird. Dann können wir uns deinen vorzüglichen Geschmack vielleicht wieder leisten.“
Peer Gundson, der bei Kempers Bemerkung aufgestanden und hinausgegangen war, kam zurück mit einer Flasche in der Hand. Verlegen lächelnd sah er Katalina an und goss ihr, als sie nickte, ein.
Alex prostete ihr zu. Im Unterschied zu den anderen hatte sie mit Appetit gegessen. „Als Tierärztin scheint man einen guten Stoffwechsel zu haben“, sagte er mit Blick auf ihren Teller. Sie sah auf. Alle schienen auf ihren Teller zu starren. Katalina starrte zurück. Ich weiß, was Hunger ist, dachte sie und hob das Glas.
Der Rotwein schmeckte schwer und würzig und ließ sie an gefüllte Heuschober und an ihre Großmutter denken, wie sie mitten im heißesten Sommer in der Küche stand und Marmelade aus schwarzen Johannisbeeren einkochte.
„Solange wir noch was im Keller haben“, sagte Alex und prostete in die Runde. „Und wer weiß – vielleicht werden ja doch noch alle Wünsche wahr.“
Alma nahm einen Schluck und stellte das Glas dann wieder ab. Sie hatte die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen und blickte in die Runde. „Sollten wir nicht doch – nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten? Ich meine – das Projekt mit dem Golfhotel war vielleicht übertrieben, aber – “
„Es ist vor allem gescheitert, liebe Alma“, sagte Peer Gundson.
„Ich finde, wir sollten Geduld haben“, sagte Sophie, die noch immer neben dem leise schnarchenden Hund saß. Ihre Stimme zitterte vor Nervosität.
„Aber das eine schließt doch das andere nicht aus! Ich meine, bevor wir das Schloss weiter verfallen lassen müssen... Viel Zeit ist nicht mehr!“
„Diesen Sommer hält es noch durch!“ Alex Kemper klang bestimmt, aber Katalina war der kurze Seitenblick hin zu ihr nicht entgangen.
„Ich habe darüber nachgedacht, ob wir nicht besser – “
„Heute nicht, Alma. Unser Gast interessiert sich nicht für unsere Sorgen.“
Katalina senkte den Kopf, damit niemand sie lächeln sah. Familie ist doch was Schönes, vor allem, wenn man sie nicht hat, dachte sie.
Ein kluger Gedanke – nur schade, dass er wehtat.
Nach einer Weile löste der Wein die Anspannung, unter der die Schlossbewohner zu stehen schienen. Schlossbewohner? Das Schloss war eine Ruine, seine Besitzer wohnten im Dienstbotenhaus und schienen auch noch auf das bisschen Miete angewiesen zu sein, die sie ihnen zahlte. Zugleich hielt man sich ein kostspieliges Pferdegespann. Seltsam. „Lachen Sie nur über uns.“ Alma lehnte sich zu ihr hinüber, die Stimme verschwörerisch gesenkt. „So ist das in Familien. Abgesehen davon, dass es bei uns nicht die drei Schwestern sind, die sich zanken, sondern unsere Männer.“
„Aber was denn! Peer ist die Bescheidenheit und Zurückhaltung in Person.“ Alex grinste spöttisch. „Und im übrigen bin ich sicher, dass Katalina das alles brennend interessiert.“
Ersatzweise begannen nun alle, sie auszufragen. Verheiratet? Nein. Kinder? Keine. Haustiere? Nicht mehr. Noch nicht. Als irgendwann die Küchentür aufging, schaute keiner hin. Eine zarte, unauffällige Person, die vom Alter her nur Erin sein konnte, schlüpfte auf den freien Stuhl neben Gundson. Alma bemerkte sie als erste und schien sie fragend anzusehen. Erin hob die Schultern und ließ sie wieder fallen und schüttelte dann leicht den Kopf. Alma seufzte, räumte die Teller zusammen und stand auf.
Katalina verabschiedete sich, sobald es die Höflichkeit zuließ. Als sie, von Alex begleitet, hinausging, hob die Dogge den Kopf. Was für ein schönes Tier, dachte sie noch und sah erstaunt, wie sich der Blick des großen Hundes verschleierte und ihm der Kopf wieder auf die Pfoten sank.
Kemper trug ihr das Gepäck zum Kutscherhaus. Er atmete wie sie tief durch, als sie durch die kühle Nachtluft gingen. „Wir sind – eigentlich ganz normal, Katalina“, sagte er nach einer Weile.
Erwartete er eine Antwort?
3
Auf der Flucht, März 1945
Das war kein Kaffee, auch wenn er so aussah. Wenigstens war die Brühe heiß. Mathilde legte beide Hände um den Becher und pustete. Ihre Finger waren dünn geworden in den letzten Wochen, in denen sie krank im Bett gelegen hatte.
„Wir hatten dich fast schon aufgegeben, Kindchen“, hatte Elisabeth gesagt, als Mathilde wieder zu sich gekommen war. Ihr Gesicht war das erste, was sie wahrgenommen hatte: ein ruhiges Frauengesicht, die Strenge, die ihm die scharfe Nase und das aus der Stirn gekämmte und am Hinterkopf zusammengesteckte Haar gab, gemildert durch das spöttische Blitzen in den grauen Augen. Später schob sich Gudrun in ihr Gesichtsfeld, schmales Gesicht, kühle Hand, nervöse Stimme. Und Lida, ein Schatten, der vorbeischwebte und wieder im Hintergrund verschwand.
Mathilde stand allein in der großen Küche des Dorotheenhofs, der gleich außerhalb des Örtchens Dammwiese lag. Was für ein Glück, dass Falla den Weg hierhin gefunden hatte, in diese Frauengemeinschaft, die der Krieg gestiftet hatte. Die anderen waren unterwegs, holten Holz, organisierten Essbares. Eine hatte früh schon Wasser aufgesetzt, das auf dem Küchenherd summte. Mathilde hob den Deckel. Es war heiß genug für den Abwasch.
Acht Teller, vier Gläser, Besteck. „Und wenn es die Henkersmahlzeit ist“, hatte Elisabeth gestern Nachmittag verkündet. Und dann waren die Frauen in Keller und Vorratsräume ausgeschwärmt und hatten die Regale geplündert. Eingelegtes, Eingemachtes aus dem vergangenen Sommer. Die vorletzten Kartoffeln. Vier Flaschen roten Burgunder, den Elisabeths Mann für festliche Anlässe zurückgelegt hatte.
Elisabeth v. Rhein war Herrin des Dorotheenhofs, seit ihr Mann gefallen und ihre Tochter verschollen war. Für das Fest gestern Abend hatte sie ihren Kleiderschrank geöffnet. Gudrun wählte ein schwarzes Samtkleid mit Spitzen an Ausschnitt und Ärmeln, steckte sich die Haare hoch, trug Lippenstift auf. Wie eine Großstädterin. Sie war aus Berlin evakuiert worden, nachdem eine amerikanische Bomberflotte das Haus in Schutt und Asche gelegt hatte, in dessen Keller ihre beiden Kinder und die Mutter verschüttet worden waren.
Nur Lida wollte sich nicht schön machen und war weinend aus der Küche gelaufen. Lida war erst vierzehn. Sie hatte nicht viel erzählt von dem Tag, an dem die Russen über Cosel hinwegrollten. Und keine der Frauen hatte sie gefragt, wie oft es gewesen sei. Und wie viele.
Warum auch? Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen, fand Mathilde – und spürte wieder den Kloß im Hals, wie das erste Mal, als Elisabeth ihr Lidas Geschichte erzählte.
Sie fühlte sich hier in Dammwiese wie in einer Luftblase, während um sie herum die Menschen in die Barbarei taumelten. Es war der Krieg, er gewöhnte an die Gewalt. Was hatte Elisabeth gestern gesagt? „Die unseren haben sich im Osten womöglich auch nicht besser aufgeführt. Den Preis bezahlen wir.“ Selbst ein vierzehnjähriges Mädchen?
Mathilde polierte das Silberbesteck, als ob es sich noch lohnte. Elisabeth dachte nicht daran, irgend etwas zu verstecken – das Porzellan, die Bilder, den Schmuck oder die Uhren. Die Russen würden kommen, sie überrollen und dann weitermarschieren. Man musste den Kopf einziehen und abwarten, bis die Welle vorübergerauscht war. „Wer jetzt flieht, wird eingeholt“, hatte Elisabeth behauptet.
„Ob von Deutschland etwas übrig bleibt?“ Gudruns belegte Stimme klang ihr noch im Ohr.
Wer weiß, dachte Mathilde.
„Sie können uns ja nicht alle totschlagen!“
Wer weiß.
Man musste abwarten. Der Weg nach Westen war versperrt. Die Oderbrücke lag unter Beschuss; ein Nachbar hatte sich vor ein paar Tagen hinausgewagt und berichtete von russischen MiGs, die aus Bordkanonen und Maschinengewehren auf alles feuerten, was sich noch regte; von zusammengeschossenen Trecks, zersiebten Menschen und Pferden. Bleiben. Nicht zurück-, nicht vorwärtsdenken.
Mathilde nahm die Schüssel mit dem Abwaschwasser und ging hinaus. Es war Frühling geworden, ohne dass sie etwas davon mitgekriegt hätte. Grüner Flaum bedeckte die Äste, die Forsythien wurden schon gelb. Sie schüttete das Wasser in den Putzeimer im Hof und nahm den Weg die Anhöhe hinauf. Über einer der glitzernden Wasserflächen des Sumpflandes am Rande der Oder kreiste ein Reiher. Sie hielt ihr Gesicht in die Morgensonne. Dort, weit weg, lag Jechow. Das Gutshaus sei abgebrannt, hatte jemand erzählt, der es von jemand anderem gehört hatte.
Der Geschützdonner war in den letzten Tagen leiser geworden. Gudrun hatte gestern lachend behauptet, es sei alles schon vorbei, nur sie hier in der Einöde hätten nichts davon mitgekriegt.
Am Himmel stand ein Roter Milan und schrie. Als Mathildes Blick wieder hinunter ging zum fernen Horizont, hatte sich dessen Kontur verändert. Er bewegte sich. Sie stand und starrte, bis ihr die Augen tränten. Der Stolz verbot ihr, in Panik davonzurennen. Aber schon stolperte sie den Hang hinunter zum Dorf. Vor der Kirche blieb sie stehen. Was sollte sie sagen? Sie kommen?
Der Pfarrer trat aus der Kirche und sah sie fragend an. Zwei kleine Mädchen hüpften einem Ball hinterher. Eine Frau mit einer Milchkanne in der Hand und einem Kopftuch über den grauen Haaren eilte geschäftig vorüber.
Sie kommen.
Die Frauen verkrochen sich in den Eiskeller, der im Park in einen Hang gebaut war, ein ganzes Stück entfernt vom Wohnhaus. Es roch erdig und war dunkel dort unten. Kein Laut war zu hören, nur Lidas angstvolles Atmen. Und dann betete jemand, hastig wispernd, wie ein Kind.
Das Geräusch, das draußen langsam näherkam, war mit nichts zu vergleichen, was Mathilde jemals gehört hatte. Es begann damit, dass die Weinflaschen leise klirrten. Der Boden vibrierte. Und dann rollte es heran und vorbei auf der Straße, die hinunter zur Oder führte, wie eine Flutwelle, Stunde um Stunde, eine unbeschreibliche Kakophonie, markerschütternd und nervenzerfetzend. Als der Lärm verebbte, glaubte sie aus dem Dorf Schreie und Johlen zu hören.
Am Morgen war der letzte Panzer am Haus vorbeigezogen. Niemand hatte ihr Versteck gefunden, die Kellertür aufgerissen, die Frauen herausgezerrt. Mathilde war die erste, die es wagte, die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Der Himmel leuchtete rot, es roch brandig. Aber das Wohnhaus stand noch. Sie lief durch den Park zur Anhöhe hinauf. In der Stadt brannte das Rathaus. Menschen liefen hin und her und versuchten zu löschen. Der feuerspeiende Drache aber war weitergezogen.
Am nächsten Tag kam die Nachhut der Roten Armee. Die zog nicht vorbei.
Als die ersten Panjewagen und die Männer auf den zottigen Pferden im Dorf auftauchten, stand Elisabeth auf, nahm Lida mit nach oben und versteckte sie in einem Verschlag am Ende des langen Flurs mit den Dienstbotenzimmern. Mathilde setzte sich zu Gudrun an den Küchentisch und wartete darauf, dass die Tür aufflog. Sie machte sich keine Illusionen. Keine von ihnen hatte noch welche.
Die Männer grinsten, als sie einer nach dem anderen in den Raum traten. Bauernsöhne mit roten Gesichtern und schlechten Zähnen, breitschädelig und kurzgeschoren. Einer fuchtelte mit dem Gewehr, die anderen trugen ihres an einer Schnur über der Schulter. Der Anführer hielt den Frauen seinen Unterarm entgegen, an dem er vielleicht ein Dutzend Armbanduhren trug. Dann deutete er auf Gudrun und sagte triumphierend: „Frau!“
Die Luft war mit einem Mal zum Ersticken. Es roch nach Schweiß und Urin und Pferden und Alkohol. Mathilde verabscheute sich für die Hilflosigkeit, die sie sitzen bleiben ließ, während Gudrun in Panik nach einem Fluchtweg suchte.
Und dann sprach eine vertraute Stimme fremde Laute. Elisabeth stand in der Tür. Sie stellte sich vor die Männer hin und sagte in höflichem Ton etwas auf Russisch, das sogar die Rotarmisten zu beeindrucken schien. Für eine Weile jedenfalls. Denn wenig später fühlte auch Mathilde eine Hand auf ihrem Arm, einer der Burschen zog sie hoch, sein nach Fusel riechender Atem nahm ihr die Luft. Der Anführer mit den Uhren zerrte an Gudrun. Dann erstarrte die Szene.
„Wieso sprechen Sie Russisch?“ Der Mann, der hinter den Soldaten die Küche betreten hatte, war jung, blass und trug eine Uniform mit viel Lametta. Sein Deutsch klang weich. Er nannte sogar seinen Namen, während er den Kopf leicht neigte. Mathilde verstand das Wort „Major“, mehr nicht.
Elisabeth sah ihn fast demütig an. Die anderen Soldaten taten so, als seien sie nicht übermäßig beeindruckt von ihrem Vorgesetzten, aber der Mann neben Mathilde lockerte seinen Griff.
„Ich wurde jahrelang von einer bourgeoisen dekadenten russischen Familie als Küchenmagd ausgebeutet, Genosse Major.“
Der Major sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Dann ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen und winkte seinen Begleitern. Einer der beiden packte aus: Brot, Schinken, Wodka. Gudrun rieb sich den Arm und sah verständnislos von einem zum anderen.
„Setz dich, Genossin“, sagte der Major und zog sie mit einem kräftigen Ruck auf den Stuhl neben ihm. Auf seinen Wink hin setzte sich Mathilde an die andere Seite.
Elisabeth holte Teller, Besteck, Gläser. Die Männer aßen gierig; dazu tranken sie Wodka, in großen Zügen, mit Ernst und ohne erkennbares Vergnügen. Nachdem die erste Flasche geleert war, durften auch die Frauen essen und trinken, während der Major sie einer eingehenden Befragung über ihr Verhältnis zum Faschismus unterzog, die zufriedenstellend ausgefallen sein musste, denn er nickte immer häufiger und lächelte. Irgendwann holte Gudrun die Fotos ihrer Kinder hervor, die sie stets bei sich trug. Der Major betrachtete jedes einzelne. Mathilde sah mit Verwunderung, dass seine Züge weich wurden.
Die Männer tranken. Elisabeth hielt sich im Hintergrund. Gudrun weinte. Einer der Begleiter des Majors, der wie Dschingis Khan aussah, hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und zu schnarchen begonnen.
„Könnten Sie sich vorstellen, mich ein wenig besser kennenzulernen?“ fragte der Major irgendwann, ohne Mathilde dabei anzusehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie ein rettender Engel stand Elisabeth neben ihnen. „Ihr Zimmer ist gleich im ersten Stock, Herr Major“, sagte sie leise. Der Mann seufzte und stand auf. Dann hielt er Mathilde die Hand hin: „Ich heiße Fedor“, sagte er.
Die Russen hinterließen den Geruch nach Wodka und Schweiß. Draußen im Hof wurde gesungen, jemand spielte Geige dazu. Mathilde sah durchs Fenster Männer an Lagerfeuern sitzen, reden, essen, trinken, im Hintergrund Pferde und Kühe. „Geh ins Bett“, sagte Elisabeth leise. „Ich pass schon auf.“
Am nächsten Morgen war Elisabeth noch wach und die Ruhe selbst, während Gudrun sich theatralisch die Augen rieb und behauptete, die ganze Nacht über kein Auge zugetan zu haben. Sie schnitt das Brot auf, das ein blutjunger Bursche namens Wanja vorbeigebracht hatte, mit einem schönem Gruß vom Major. „Ich mache mir Sorgen um Lida“, sagte sie. „Ich war eben oben bei ihr, sie fühlt sich fiebrig an und scheint die ganze Zeit geweint zu haben.“
„ Ihr ist doch nichts passiert gestern“, sagte Gudrun spitz.
„Dir auch nicht.“ Mathilde empfand mehr Mitleid mit Lida als mit Gudrun. Die ältere hatte erlebt, was Lida womöglich nie empfinden würde: Liebe, bevor man Sex miteinander hatte. Sie versuchte, nicht an Gregor zu denken. Sie verdrängte schon seit Tagen jeden Gedanken an ihn, so als ob sie ihm durch den inneren Kontakt ein Fenster öffnete, durch das hindurch er sehen könnte, wie sie aß und trank – mit dem Feind. Der womöglich auch nur ein Mann war wie alle anderen.
„Ich gehe hinunter ins Dorf“, sagte Elisabeth, nachdem sie stumm ihren Ersatzkaffee getrunken hatte.
Mathilde legte das noch feuchte Brot beiseite, das ihr trotz der Marmelade nicht schmeckte. „Ich komme mit“, sagte sie und holte ihre Stiefel hervor vom Platz neben dem Küchenherd. Die Schnürschuhe waren neu gewesen, als sie losritt, Soldatenstiefel. Jetzt lösten sich die dünngelaufenen Sohlen von den Schuhspitzen.
Draußen auf dem Hof roch es nach Pferdemist und Männerpisse. Die Soldaten putzten die Gewehre, besserten Kleidungsstücke aus, versorgten ihre Pferde. Der Trupp führte zwei Kühe und ein Kalb mit sich. Der Kerl mit den vielen Uhren am Arm winkte grinsend zu ihnen herüber. Elisabeth nickte ihm zu und ging mit entschlossenen Schritten über den Hof. Niemand hielt sie auf.
Im Park standen Geschütze unter den Bäumen und am Teich wuschen zwei Frauen ihre Wäsche – Soldatinnen offenbar, in Feldbluse und Mütze mit Abzeichen. Vor dem Tor weideten drei Männer ein totes Pferd aus; es würde also Pferdebraten geben. Mathildes Magensäfte reagierten beim bloßen Gedanken daran. Sie dachte mit Bangen an Falla – im Stall hatten sich Soldaten einquartiert, sie traute sich nicht nachzuschauen, ob es dem Tier gut ging. Sie blieb stehen und presste die Fäuste an die Brust. Falla war die letzte lebendige Erinnerung an Jechow.
Im Dorf sah es nicht viel anders aus als oben auf dem Hof. Die Russen hatten sich mit ihren Pferden in Läden und Garagen eingerichtet, es sah fast idyllisch aus, wie die Tiere hinter den zerschlagenen Schaufensterscheiben standen und fraßen.
„Ach Gottchen, gnädige Frau“, sagte eine weißhaarige Frau. „Die Frau vom Schneider und die Kleine von nebenan haben dran glauben müssen – das Geschrei. Es war entsetzlich.“ Elisabeth streichelte der Alten die Hand.
Sie gingen von Haus zu Haus. Die Ruine des alten Rathauses rauchte noch. Den Lebensmittelladen hatten Soldaten auf der Suche nach Alkohol verwüstet.
Niemand belästigte die beiden Frauen. Erst kurz vor der Kirche stellten sich ihnen zwei lallende Rotarmisten in den Weg. Der eine rief „Uri, Uri“ und griff nach Elisabeth, der andere musterte Mathilde und versuchte ein gewinnendes Lächeln, das plötzlich erstarrte. Er packte seinen Kameraden am Arm und verschwand. Als sie sich umdrehte, stand Dschingis hinter ihnen und zündete sich umständlich eine Zigarette an.
„Begleitschutz“, sagte Elisabeth. „Dem Major liegt an uns.“ An mir, dachte Mathilde. Bildete sie sich ein, dass die Menschen ihnen mit Vorsicht, ja Misstrauen begegneten, sobald sie den Schatten hinter ihnen sahen? „Wir sind Feinds Liebchen“, flüsterte Elisabeth. Sie hatte es auch gemerkt.
Als sie zurückkamen, saßen Fedor und Wanja am Küchentisch und tranken. Gudruns Gesicht war leicht gerötet, sie flirtete mit dem Major. Elisabeth blieb in der Tür stehen. Mathilde sah fragend zu ihr hinüber. „Lida!“ formten ihre Lippen lautlos. Aber man hörte es schon.
Soldatenstiefel auf der Treppe. Männerlachen. Ein panischer Aufschrei.
Der Major tat, als gehe ihn der Tumult nichts an. Die Tür flog auf, zwei Soldaten hielten das Mädchen gepackt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schrie nicht mehr, man hörte nur ihren keuchenden Atem.
Endlich sah der Major auf, leerte das Glas in seiner Hand in einem Zug, stellte es auf den Tisch, zündete sich gemächlich eine Zigarre an und sagte: „So.“
Gudrun machte den Mund auf. Wanja legte ihr warnend die Hand auf den Unterarm. „Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben mein Vertrauen missbraucht. Ich habe Sie geschützt, aber meine Männer sind hungrig. Sie dürsten nach ein bißchen – Liebe.“ Er stand langsam auf, ging auf Lida zu, legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und betrachtete sie von beiden Seiten.
„Ein hübsches Kind. Wer wird da wohl der erste sein?“
Mathilde trat ein paar Schritte vor. „Bei wilden Hunden, durchgehenden Pferden und unbotmäßigen Menschen hilft nur eines: Haltung“, hatte ihre Mutter immer gesagt, die das in Vollendung beherrschte.
„Herr Major.“
„Fedor“, sagte der Major mit sanfter Stimme, ohne den Blick von Lida zu nehmen. „Nenn mich Fedor, Mathilde.“
„Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen!“
Er drehte sich langsam um. Sein Gesicht war mindestens so hochmütig wie ihre Haltung. „So? Das ist aber schade! Kann ich etwas tun, um Ihre Achtung wiederzugewinnen?“
„Lassen Sie Lida gehen. Sie ist noch ein Kind.“
Er sah sie an, ohne die Miene zu verziehen. Dann winkte er seinen Leuten. Sie ließen das Mädchen los, das schluchzend zu Boden sank.
„Ich danke Ihnen für Ihr großherziges Angebot, gnädiges Fräulein!“ Der Major hielt Mathilde den Arm hin. Sie neigte den Kopf und folgte ihm zurück an den Küchentisch.
Wanja spielte auf dem Klavier, das im Speisezimmer stand. Die Männer sangen. „Russisch Blut“, flüsterte der Major Mathilde ins Ohr. „Ein Liebeslied.“ Die Männer tranken und rauchten. Und tranken.
Am nächsten Tag kamen zwei russische Soldatinnen ins Haus. Sie schauten sich prüfend um und marschierten zielstrebig auf die Truhe zu, in der Elisabeth die Tischwäsche aufbewahrte. Mathilde unterbrach den Abwasch und Gudrun die Näharbeiten. Elisabeth machte eine einladende Geste, das Gesicht todernst. Bepackt mit Stapeln von weißen Damasttüchern und Servietten zogen die beiden Soldatinnen wieder davon. Die Frauen arbeiteten weiter, als wäre nichts geschehen. Nur Lida hockte auf einem Stuhl neben dem Herd, ganz nah bei Elisabeth.
„Ich danke dir“, sagte Elisabeth leise. Mathilde blickte auf. Die Ältere sah müde aus. „Sie könnte es nicht noch einmal ertragen.“
„Es ist nichts.“ Mathilde legte das Geschirrtuch beiseite. „Es trifft ja nicht – die Seele. Oder das Herz.“ Sicher war sie sich dessen nicht.
Der Major und seine Begleiter kamen schon am frühen Abend. Fedor hatte sich rasiert, seine Haut war gerötet und glänzte. Er setzte sich an den Tisch, streckte die Beine in den Stiefeln von sich und ließ sich von Elisabeth bedienen. Gudrun blickte nicht auf, während sie ihre Suppe löffelte. Und Lida hatte sich hinter den Ofen verkrochen. Wanja war wieder an den Flügel gegangen und spielte und spielte. Es waren längst keine Volks- und Liebeslieder mehr, die hinüberwehten. Fast kamen ihr die Tränen, als der Junge zu Chopin überging. Eine der Nocturnes. Sie sah auf und in Fedors Augen. Heute war der Major nicht betrunken. „Ich bin Ihnen hoffentlich nicht allzu unangenehm“, sagte er leise.
Mathilde schüttelte den Kopf. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte die ganze Sache hinter sich gebracht. Der Major hob sein Glas und prostete ihr zu. Sie lächelte schwach und erwiderte den Gruß. Der Wein sah blass aus und roch nach Staub. Fedor stand auf und reichte ihr den Arm.
Im Schlafzimmer setzte er sich aufs Bett, zog sich unter Grunzen und Stöhnen die Stiefel aus und warf sie in die Zimmerecke, gefolgt von Jacke, Hose und Unterwäsche. Im flackernden Kerzenlicht sah er jung aus. Unerfahren. Verlegen. Sie löschte die Kerze, schlüpfte aus dem Kleid und legte sich neben ihn.
Es war schnell vorbei. Das schlimmste war, dass er ihren Mund küssen wollte. Als er sich danach auf die Seite legte und ihr den Rücken zuwandte, um zu schlafen, hörte sie ihn murmeln: „Nur Huren lassen sich nicht küssen.“
Sie glaubte, kein Auge zumachen zu können. Aber am nächsten Tag erwachte sie, als es schon hell war; sie war noch nicht einmal aufgeschreckt, als Fedor aufgestanden, sich angezogen und aus dem Zimmer gegangen war.
Ihr Körper war ihr fremd und unangenehm. Sie sehnte sich nach einem Bad. Und sie fürchtete sich vor den Blicken der anderen. Dennoch zog sie sich an und ging in die Küche.
Elisabeth sagte leise: „Sie packen.“
Mathilde wurde vor Erleichterung ganz schwach.
„Mir ist das Unglück lieber, das ich kenne“, murmelte Gudrun.
Von draußen hörte man Pferdewiehern, Fluchen und befehlsgewohnte Stimmen. Der Hof war schon fast leer. Falla, dachte Mathilde. Ich muss nach Falla sehen. Endlich glaubte sie sich aus dem Haus trauen zu können. Einige der Lagerfeuer rauchten noch. Zwischen den Feuerstellen menschliche Exkremente, Lumpen, verbeultes Kochgeschirr, Pferdeäpfel. Sie tastete sich vor zum Stall.
Und dann waren sie über ihr.
Sie gab keinen Laut von sich und sie wollte auch nicht zählen. Und nur, als einer etwas sagte, das wie „Hure“ klang, öffnete sie die Augen. Es war nicht der Major, natürlich nicht. Es war ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, einer mit ausgeschlagenen Schneidezähnen und einer breiten Narbe auf der Wange. Er spuckte ihr ins Gesicht, als er mit ihr fertig war.
Es tat nicht wirklich weh. Es musste wohl so sein. Viel schlimmer war, was sie nicht gleich bemerkte. Sie hatten Falla mitgenommen.
„Ihr müsst weg, Mathilde. Lida und du. Gleich morgen.“ Elisabeth setzte ihren Korb auf den Küchentisch. Sie hatte den Wodka, den die Russen dagelassen hatten, gegen Lebensmittel getauscht.
„Und du?“
„Ich bleibe hier“, sagte Elisabeth. „Es gibt nichts, wo ich lieber wäre.“
Mathilde sah den Frauen einer nach der anderen in die Augen. „Ich gehe sofort.“
Es gab nicht viel zu packen. Die Satteltaschen brauchte sie nicht mehr, ein Rucksack genügte. Nur das Päckchen, das sie seit Jechow bei sich trug, auf dem Leib, und das ihr die Haut am Rücken blutig geschabt hatte, machte ihr Kopfzerbrechen. Sie wusste ja nun, dass ihr Leib kein sicherer Ort mehr war. Dennoch schob sie das Päckchen in den Hosenbund. Dann setzte sie sich aufs Bett und zog die Stiefel an.
Sie hatten fast fünfhundert Kilometer durchgehalten. Warum nicht weitere fünfhundert? In der Küche hatte Elisabeth Brot und Wurst in ein Tuch gepackt und legte ein Messer obendrauf, nachdem sie es kräftig nachgeschliffen hatte. „Wo ist Lida?“
Gudrun sah nicht hoch. „Sie zieht sich an. Sie packt.“
Mathilde mochte nicht warten. Ihre Beine, ihre Füße, alles wollte losgehen. „Ich schau nach“, sagte sie.
4
Blanckenburg, im April 2004
Die Schläge dröhnten durchs ganze Haus. Sie waren vor der Tür, sie schlugen mit den Gewehrkolben dagegen, sie traten sie mit schweren Stiefeln ein, sie würden gleich im Haus sein, die Treppe hochlaufen, die Schlafzimmertür aufreißen, sie ...
Katalina hörte sich ächzen. Dann saß sie aufrecht im Bett, die Augen weit aufgerissen, mit rasendem Puls.
„Frau Cavic!“ Es pochte gegen die Haustür. Die Stimme klang nicht herrisch, nicht drohend, sondern ängstlich. „Hören Sie mich?“
Katalina tappte zum Fenster, schob den Vorhang beiseite, blinzelte in einen wässrig blauen Himmel und sah dann hinunter auf eine Person, die einen Hut, Regenjacke und Gummistiefel über der Jeans trug, obwohl es heute nicht nach Regen aussah. Wenn sie sich nicht täuschte, handelte es sich um Sophie Franken.
Sie fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. Wahrscheinlich sah sie verschlafen und zerknittert aus. Egal, dachte sie und lehnte sich aus dem Fenster. „Was ist los?“
Das Gesicht Sophie Frankens hellte sich auf. Die dunkelblonde Frau, die gestern geistesabwesend und spröde gewirkt hatte, sah plötzlich weich und verletzlich aus. „Ich störe Sie nicht gern – und das an Ihrem ersten Tag hier – aber Leo – “ Sie machte eine vage Geste in Richtung Schloss. „Mein Hund, wissen Sie.“
Katalina nickte. „Ich komme“, sagte sie, schloss das Fenster und schlüpfte dann in die Jeans und den Pullover, die sie schon gestern bereitgelegt hatte. Arbeitsklamotten. Sie hatte sowieso nicht daran gedacht, den Tag tatenlos im Bett zu verbringen.
Leo lag noch immer in der Küche neben dem Sofa. Das Tier rührte sich nicht, als Sophie vor ihm niederkniete und Kosenamen flüsterte. Es trug ein makelloses schwarzes Fell, darunter feste Muskeln; eine weiße Brust und weiße Tupfer an den Vorderpfoten. Seine Ohren waren nicht kupiert. Eine deutsche Dogge, wie sie im Züchterstammbuch stand. Das Tier wirkte völlig gesund.
„Leopold of Wellesley Castle, genannt Leo. Er ist seit gestern so. Erst dachte ich mir nichts dabei. Aber heute – er ist ganz anders als sonst.“
Sophie tätschelte dem Hund die Ohren. Katalina untersuchte das Tier oberflächlich. Die Körpertemperatur war normal, die Lefzen gut durchblutet. Nur der Muskeltonus war ungewöhnlich – der Hund lag viel zu entspannt da und atmete zu langsam. Jetzt begann er auch noch zu schnarchen. Sie hob sein linkes Augenlid an. Dann richtete sie sich wieder auf.
„Haben Sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben? Oder eine Schlaftablette?“
„Ich?“ Sophie guckte gekränkt und überrascht zugleich.
„Hat er vielleicht selber so etwas gefressen?“ Hunde sind ewig neugierig und nagen an allem. Nichts ist unmöglich.
Sophie schüttelte zweifelnd den Kopf.
Katalina lächelte beruhigend. „Die Dosis dürfte nicht sehr hoch gewesen sein. Lassen Sie ihn einfach ausschlafen.“
Sie nahm den Weg zurück, der hinter dem Schloss vorbeiführte. Als sie zur Koppel mit den beiden schwarzen Friesen kam, brachen kräftige Sonnenstrahlen durch den Dunst. Die Knospen an den Büschen glänzten prall und das vielstimmige Vogelgeschrei kam ihr plötzlich ohrenbetäubend vor.
Die Stute raste über die Koppel, mit fliegender Mähne und pumpenden Muskeln unter dem schwarzen Fell. Das andere Tier beobachtete das Ganze mit erhobenem Haupt und mahlendem Kiefer, es wirkte erstaunt.
Am Gatter stand Alex Kemper. „Ist das – normal?“ fragte er und deutete mit dem Daumen auf das Tier, das jetzt bockte.
„Wie man’s nimmt.“ Katalina stellte sich neben ihn.
„Es ist natürlich wieder einmal nur Daphne. Woodstock ist die Ruhe in Person.“ Katalina setzte die Stiefelspitze auf die unterste Planke des Weidegatters und legte die Arme auf den obersten Balken. „Kein Wunder“, sagte sie. Daphne schüttelte die Mähne und stieß ein helles Wiehern aus. „Ein Wallach ist dafür nicht mehr empfänglich.“ „Wofür, um Himmelswillen?“
Katalina sah ihn von der Seite an. Konnte ein Pferdehalter so naiv sein? „Machen Sie sich keine Sorgen. Das hier ist ganz normal.“
„Normal?“ Kempers Stimme war schrill geworden. „Sie hat Schaum vor dem Mund!“ Katalina musste grinsen. „Naja – in ihrem Zustand – “
„In welchem Zustand?“ Kempers Gesicht war deutlich gerötet. Und mit einem Mal konnte sie den schwachen Geruch identifizieren, der ihr vorhin in die Nase gestiegen
war. Alex Kemper hatte eine Fahne. Morgens um halb zehn.
„Sie ist rossig.“
Er starrte sie verständnislos an.
„Haben Sie schon mal daran gedacht, Daphne decken zu lassen?“ fragte sie so sanft wie möglich.
Er sah sie an, als ob allein die Idee daran kränkend wäre. Dann drehte er sich um und ging. Sie sah ihm nach, dieser Gestalt in den ausgebeulten Kordhosen und der gelben Regenjacke und dachte an die Szene von gestern Abend. Niemand schien in dieser Familie richtig glücklich zu sein.
Zurück im Kutscherhaus, stellte sie die Kaffeemaschine an und aß etwas von dem Brot und dem Käse, die Alma ihr gestern Abend noch mitgegeben hatte. Am dringendsten war die Renovierung der Tierarztpraxis in der Stadt. Sie nahm den großen Schreibblock und ihren Füllfederhalter und machte sich an die Planung. Hoffentlich waren Blanckenburgs Handwerker schnell und verlässlich.
Etliche Stunden, viele Tassen Kaffee und zwei Käsebrote später stand sie auf und streckte sich. Sie musste raus, spätestens jetzt, da sich die Sonne gegen die letzten Schleierwolken durchgesetzt hatte. Und sie hatte noch nichts vom Park gesehen.
In den Bäumen johlten frühlingstrunkene Vögel. Der Weg zum Park war gepflastert und von Gebüsch und wilden Rosen gesäumt. Jemand hatte begonnen, das Unterholz zu lichten und die Sache auf halbem Weg wieder aufgegeben. Nach wenigen Metern verzweigte sich der Weg, sie nahm den rechten Pfad. Die verschorften und zerborstenen Giganten links und rechts des Weges wiesen keine Anzeichen des grüngrauen Flaums auf, der bei anderen Bäumen den nahen Frühling signalisierte. Sie hielten ihre kahlen Äste in die Höhe, als ob die Jahreszeiten im Park von Schloss Blanckenburg außer Kraft gesetzt seien. Katalina tippte auf Eichen und Buchen. Und auf Ahorn, Ulmen und irgend etwas Exotisches.
Der Weg schien immer tiefer in ein ungeordnetes Stilleben von Baumriesen hineinzuführen. Umso überraschter war sie, als sich der Baumbestand lichtete und sie plötzlich auf einer Wiese stand, nein: auf einer Art Plateau, das sich vor dem Schloss erstreckte, obwohl es von unten wie ein in die Felsen geklebtes Räubernest gewirkt hatte.
Man blickte von der großzügigen Fläche über das Städtchen und über den nahen Fluss, über das Gewerbegebiet, das inzwischen jede deutsche Gemeinde aufwies, die auf sich hielt. Auf eine zerklüftete Felswand linker Hand, die wie ein steinerner Vorhang die Stadt begrenzte. Und auf die Bergkette am Horizont, deren höchster Gipfel der sagenumwobene Brocken war, auf dem sich die Hexen zur Walpurgisnacht trafen. Und rechts ... Das Bild war ihr vertraut. Sie hatte es viel zu oft gesehen: aufgerissene Erde, Grabkreuze. Dennoch trat sie näher. Die Steine, die dort standen, waren zerborsten, die Inschriften von Wind und Regen ausgewaschen, die Kreuze, ebenfalls aus Stein, verwittert. Wenn das hier ein Friedhof war, dann war er jahrhundertealt. Sie berührte das Wappen auf einem der grauen Steine, dessen Konturen nur noch schwach mit den Fingerkuppen zu tasten waren. Und sagte die Worte, die schon ihre Großmutter sagte angesichts der Zeichen des Todes.
Als sie Stimmen hörte, zuckte sie wie ertappt zusammen. Alma trat aus dem Wald, sie war nicht allein. Hastig drehte Katalina sich um und ging in die andere Richtung davon. Der Mann an Almas Seite hatte eine Figur, die weder zu Alex noch zu Peer Gundson passte.
Ihr Rückzug führte sie an einer Scheune mit eingestürztem Dach vorbei, daneben frisch zusammengezimmerte Ställe. Sie schlüpfte durch die halboffene Stalltür. Man konnte nichts erkennen im Dämmerlicht, aber sie hörte etwas. Stimmen. Sie stand still, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
„Hat sie dir nichts erzählt? Sie ist doch täglich bei ihm oben.“ Das klang nach Sophie Franken.
„Er ist nicht ansprechbar. Sagt sie.“ Alex Kempers Stimme klang gleichgültig. Und dann flüsterte er: „Ich hab dich so vermisst.“
„Du tust mir weh.“ Sophie flüsterte zurück.
„Entschuldige.“ Katalina hörte den Mann atmen. „Aber dieser verdammte Reißverschluss!“
„Wenn er nur endlich reden würde ... du weisst, wie viel davon abhängt für dich und mich.“ Für dich und mich. Katalina grinste in sich hinein.
„Verflucht! Was hast du denn bloß gemacht mit dieser blöden Jeans?“ Man hörte Alex schnaufen. „Ich krieg den Reißverschluss weder rauf noch runter!“
„Er muss doch mal mit der Sprache rausrücken. Das war doch der Deal.“ Sophie Franken schien ungerührt von Alex’ Bemühungen. „Nun mach schon!“
„Er ist krank, Sophie.“
„Er simuliert.“
„Er wird 84.“
„Das ist kein Argument!“