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Schleswig-Holstein, 1955: Ein brutal zugerichteter Leichnam und eine Frau, die vor nichts zurückschreckt - so sieht es zumindest das Schwurgericht Itzehoe, als es die 41-jährige Ruth Blaue wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Gemeinsam mit ihrem Geliebten, Horst Buchholz, soll sie ihren Ehemann mit der Axt erschlagen haben. Buchholz kann nicht mehr befragt werden, er hat sich in der Untersuchungshaft die Halsschlagader durchtrennt. Ruth Blaue beharrt bis zu ihrem Tod 1972 auf ihrer Unschuld.
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Seitenzahl: 254
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Kathrin Hanke
Ruth Blaue – Die Axtmörderin mit dem Madonnen-gesicht
True Crime
Schuldig oder nicht? Schleswig-Holstein im November 1955: Nach nur vier Verhandlungstagen endet der Indizienprozess im Schwurgericht Itzehoe gegen Ruth Blaue mit einem Schuldspruch und dem Strafmaß lebenslange Haft. Gemeinsam mit ihrem Geliebten, der sich jedoch in der Untersuchungshaft durch Suizid den irdischen Richtern entzogen hat, soll sie ihren Ehemann zunächst mit einem Schlafmittel ruhiggestellt und dann durch mehrere Axthiebe den Kopf zertrümmert haben. Ruth Blaue leugnet ihre Schuld bis zu ihrem Tod 1972. Ruth Blaue gilt als charismatische Frau – nicht umsonst hat ihr Geliebter, der Bildhauer und Holzschnitzer Horst Buchholz, unzählige Madonnen mit ihrem Antlitz versehen. Ist eine solche Frau zu einer so blutigen Tat fähig? Gleichzeitig ist sie mit ihrer Vergangenheit als Gelegenheitsprostituierte, einer früheren Verurteilung wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Unterschlagung kein unbeschriebenes Blatt. True-Crime-Autorin Kathrin Hanke hat nicht nur den Fall, sondern ebenso das Leben der Ruth Blaue aufgerollt.
Kathrin Hanke schreibt seit über einem Jahrzehnt als freie Autorin erfolgreich Krimis. Bekannt ist sie vor allem durch ihre Heidekrimis rund um das Team des Ermittlerduos Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder sowie ihre True-Crime-Bücher. Diese haben die studierte Kulturwissenschaftlerin in die Tiefen von Archiven steigen lassen, um mit fesselnden, wahren Geschichten wieder emporzukommen. Kathrin Hanke ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie aktiv bei den Mörderischen Schwestern, dem gemeinnützigen Verein zur Förderung der von Frauen geschriebenen, deutschsprachigen Kriminalliteratur.
Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Landespolizei Schleswig-Holstein
ISBN 978-3-7349-3092-8
Für meine Eltern
»Die Liebe war eigentlich immer da, vom ersten Augenblick an. Es war eine Liebe ohne die sonst üblichen Spannungen. Sie war etwas Selbstverständliches.«
(Ruth Blaue über ihre Beziehung zu Horst Buchholz, 1955)
»Dann woll’n wir mal«, sagte Manfred Kahle zu seinem Kollegen und erhob sich. Der Schließer griff nach den Schlüsseln und machte sich auf zu seinem Rundgang. Sein Kollege folgte ihm. Sie hatten sich die Zellen aufgeteilt. Gleich begann im Strafgefängnis Neumünster die Nachtruhe.
Eigentlich war der abendliche Rundgang Routine, doch seit einiger Zeit ging es nicht mehr nur darum, die Insassen in ihre Zellen zu schicken und dort für die Nacht einzuschließen. Einer von ihnen bekam eine Sonderbehandlung. Sein Name war Horst Buchholz. Der junge Mann, der des Mordes beschuldigt wurde und hier bei ihnen in Neumünster auf seine Verhandlung wartete, die für den 14. November am Landgericht in Itzehoe bei der Schwurgerichtskammer angesetzt war, hatte schon einige Male versucht, dieser zu entgehen. Buchholz galt als Selbstmordkandidat und sollte vor sich selbst geschützt werden. Das war die Aufgabe der Wärter und damit heute auch Kahles.
Jedes Mal, wenn Kahle an der Reihe war und er es tun musste, tat der Mann, der inzwischen in Einzelhaft saß, ihm leid. Normalerweise verspürte Kahle nicht solche Regungen, dann wäre er in seinem Beruf falsch und hätte besser Bäcker werden sollen. Warum Horst Buchholz diese weiche Seite in ihm zum Klingen brachte, die er sich sonst nur zu Hause bei seiner Frau und den Kindern erlaubte, wusste Kahle nicht. Und er hinterfragte es auch nicht. Schlicht und ergreifend, weil er solche Gefühlsduseligkeiten in seinem Beruf nicht gebrauchen konnte. Die Insassen waren wie Hunde. Sie verstanden nur eine konsequente und harte Führung, sonst verloren sie den Respekt und bissen die Hand, die sie fütterte. Natürlich nur im übertragenen Sinn, dachte der Schließer jetzt und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was er sich auch immer zusammendachte. Buchholz war ein Verbrecher. Ihm sollte nicht umsonst der Prozess gemacht werden. Zudem war es keine Bagatelle, die ihm zur Last gelegt wurde. Buchholz saß hier in der Untersuchungshaft wegen Mord. Mit einer Axt, die er vermeintlich gemeinsam mit seiner Geliebten Ruth Blaue, der Ehefrau des Ermordeten, geschwungen haben sollte. Soweit Kahle wusste, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch keine stichhaltigen Beweise, aber das würde sich zeigen und ging ihn als Gefängniswärter sowieso nichts an. Trotzdem machte er sich seine Gedanken. Schließlich war er ja auch nur ein Mensch und soweit er gehört hatte, hatten die Beschuldigten ihre Aussagen immer wieder geändert, weshalb niemand genau wusste, was nun wahr und was falsch war, zumal nur Indizien für das Verbrechen vorlagen und es keine weiteren Zeugen gab. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. So war das ja oft.
Einmal hatte Buchholz nach Kahles Wissen zum Beispiel alles zugegeben: »Ich habe ihm mehrere Schläge mit der Axt auf den Kopf versetzt. Er hat sich nicht mehr gerührt. Nachher sagte Frau Blaue zu mir: ›Nun darfst du nicht den Kopf verlieren!‹«
Dem entgegen sollte Ruth Blaue laut irgendeiner Zeitung gesagt haben: »Für mich war immer mein Mann der Eindringling. Ich wünschte seinen Tod. Ich sagte es Buchholz, der um mich litt wie ich um ihn. Die Entscheidung musste fallen, weil wir alle drei am Ende unserer Kraft waren. Gehandelt habe aber immer nur ich.«
Wie man es auch drehte und wendete, und gleichgültig, wer von den beiden am Ende den Todeshieb versetzt hatte, Buchholz war tief in die Tat verstrickt. Selbst wenn er seiner Geliebten nur beim Wegschaffen des toten Ehemanns geholfen hatte. Dies bedeutete für Kahle wiederum, dass Buchholz trotz seiner Selbstmordversuche kein Sensibelchen sein konnte. Hierin bildete er keine Ausnahme zu den anderen Insassen. Irgendwas hatten sie alle auf dem Kerbholz, selbst wenn es ihnen wie im Fall von Buchholz noch nicht nachgewiesen war. Und trotzdem: Buchholz war einer dieser wenigen Häftlinge, die Kahle in den vielen Jahren als Schließer erlebt hatte, von denen er sich wider besseres Wissen nicht vorstellen konnte, dass sie etwas Verbotenes taten und schon gar nicht mordeten. Mit seinen blonden Haaren, den traurigen Augen und feinen Gesichtszügen erinnerte Buchholz eher an ein Jüngelchen, dem man sagen musste, es solle nicht auf die Herdplatte fassen, weil sie noch heiß sein könnte.
Buchholz sprach nicht viel. Er saß den ganzen Tag in seiner Zelle, mischte sich beim Frischluftgang über den Gefängnishof nicht unter die anderen, wurde im Gegenzug aber auch von diesen in Ruhe gelassen. Vielleicht lag das daran, dass Buchholz so eine tiefe Traurigkeit umgab.
Soweit Kahle wusste, war Buchholz Künstler. Und dann noch ein Liebender. Ob es damit etwas zu tun hatte? Diese Schwermut. Vielleicht war die Tat ja auch im Affekt geschehen. Wenn Liebe mit im Spiel war, war das keine Seltenheit. Natürlich klang schon die Bezeichnung Axtmörder brutal, allerdings war Buchholz Bildhauer, und ein Beil gehörte da sicher auch zu seinen Werkzeugen. Vielleicht war es die naheliegendste Waffe für den Künstler gewesen …
Ein weiteres Mal schüttelte Kahle den Kopf. Jetzt, um seine Gedanken über den Insassen zu verscheuchen. Der Bildhauer ließ ihn nicht los. Kahle konnte mit Kunst nicht viel anfangen. Entweder er fand etwas schön oder eben nicht. Womit er sich jedoch auskannte, waren Menschen, denn er sah viele, und unter ihnen waren auch immer wieder mal Künstler oder solche, die es sein wollten. In der Regel war es so, dass diese einsaßen, weil die Armut sie getrieben hatte, das Gesetz zu brechen, oder sie waren in etwas hineingerutscht, was sie mit sich gezogen hatte. Meist eine Frau. Wie vermeintlich im Fall von Buchholz. Frauen waren nach Kahles Meinung häufig schuld, und er war froh, seine Renate zu haben. Renate war zufrieden mit ihrem Leben, sorgte sich um ihn und ihre drei Kinder und hatte vor allem keine Spinnereien im Kopf. Das war das Wichtigste für eine funktionierende Ehe.
»So, Buchholz, jetzt heißt’s fertigmachen für die Nacht. Du kennst das«, tönte Manfred Kahle, als er nun die Zelle von Horst Buchholz betrat. Der Mann lag bereits auf der Pritsche und nickte ihm gleichgültig zu. Kahle hatte alles mitgebracht, was er benötigte – es war nicht viel –, trat an die Pritsche und Buchholz heran und begann damit, den Insassen zu fesseln. Gerade gestern hatte Kahle in seinem eigenen Bett kurz vor dem Einschlafen darüber nachgedacht, dass er nur schwer in den Schlaf finden würde, wenn er sich nicht drehen und wenden könnte, wie er es in den Federn wollte. Aber er musste es tun. Das Fesseln. Es diente Buchholz zum Schutz vor sich selbst. Darüber hinaus war es eine Weisung von oben, die der Schließer nicht hinterfragen durfte. Und auch gar nicht wollte. Dann hätte er viel zu tun.
Nachdem Manfred Kahle seine allabendliche Fesselungsaufgabe ausgeführt hatte, verließ er die Zelle II/19 und ließ das Licht brennen. Auch dies galt als Sicherheitsmaßnahme, denn normalerweise lagen die Insassen während der Nacht im Dunkeln. Außer Horst Buchholz. Das Licht brannte bei ihm auch nachts durchgehend, damit sie als Wärter mit nur einem Blick durch das Guckloch der verriegelten Zellentür sehen konnten, wie es um den Insassen stand. Das taten sie alle 15 Minuten, womit die sonst übliche Mütze Schlaf im Schließer-Kabuff wegfiel. Obwohl sie sich natürlich abwechselten, um nach Buchholz zu sehen. Doch auch, wenn ein Kollege aufstand und über den Gang zur Zelle schritt, wurde man wach. Bald hatte das hoffentlich ein Ende. Entweder wurde Buchholz freigesprochen, und wenn nicht, käme er in eine andere Verwahrungsanstalt, diese hier war ohnehin nur für den Übergang. Dann konnten Kahle und seine Kollegen wieder zu ihrem normalen Berufsalltag übergehen, ohne befürchten zu müssen, dass der Insasse in Zelle II/19 sein Leben aushauchte.
Horst Buchholz hatte bereits drei Mal Hand an sich gelegt. Glücklicherweise immer ergebnislos. Beim ersten Mal hatte er es mit einer Rasierklinge versucht. Er musste diese bei sich versteckt haben, nachdem sie ihm seine Rasur erlaubt hatten. Oder ein Mithäftling hatte sie ihm zugespielt, sie wussten es nicht. Natürlich hatten sie Buchholz’ Zelle danach komplett auf den Kopf gestellt und ihr alles entnommen, was dem Untersuchungshäftling helfen könnte, sich aus dem Leben zu stehlen. Das hatte den Insassen jedoch nicht von seinem Vorhaben abgebracht, wie sie wenig später erleben sollten, als er sich durch einen Treppenschacht zu Tode stürzen wollte. Als auch dieser Versuch gescheitert war, war Buchholz immer wieder, bis sie ihn stoppten, mit seinem Schädel gegen die Zellenwand gerannt, um ihn zum Bersten zu bringen. Das war erst wenige Tage her. Bis auf einige blutige Wunden und sicherlich enorme Kopfschmerzen hatte der Mann nichts davongetragen. Und nun wurde er nachts gefesselt, damit auch so etwas nicht mehr vorkommen konnte.
Nachdem Manfred Kahle und sein Kollege die Insassen »ins Bett gebracht« hatten, wie die Schließer es hier untereinander nannten, hatten sie beide ihre mitgebrachten Stullen ausgepackt und verdrückt. Dabei hatte Kahle begehrlich auf den dick aufgetragenen Brotbelag des Kollegen geschielt. Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten und gefragt: »Hast du da Butter drauf?«
Zwar waren die miesen Zeiten, die sie nach dem Krieg gehabt hatten, vorbei, und so langsam ging es allen wieder besser, dennoch galt zumindest bei Kahle zu Hause Butter noch als Luxus. Seine Frau kaufte nur Margarine und ging auch damit sparsam um.
»Hmm«, hatte sein Kollege genickt, während er sichtlich sein Butterbrot genoss. »Die Schwester meiner Frau hat mit ihrem Mann einen Bauernhof bei Aukrug und versorgt uns gut damit«, hatte er kauend erklärt. Danach hatten sie geschwiegen und sich die Zeitung zum Lesen aufgeteilt. Zwischendurch hatten sie das getan, was getan werden musste, und jede Viertelstunde nach Buchholz gesehen. Jetzt schreckte Kahle hoch – sein Kollege hatte den Stuhl gerückt, um aufzustehen. Anscheinend war er doch kurz eingenickt.
»Ist es schon wieder so weit?«, fragte Kahle noch ziemlich maddelig im Kopf.
Er bekam nur ein Brummeln von seinem Kollegen als Antwort, was so viel wie »Ja« bedeutete, dann schlurfte dieser davon. Auch Kahle stand auf. Er brauchte unbedingt einen Kaffee, damit er die restliche Zeit seines Dienstes einigermaßen überstand. Es war bereits 4 Uhr morgens, lange hatte er nicht mehr bis zum Schichtwechsel. Ein Glück. Er gähnte einmal und streckte sich ausgiebig, dennoch fühlte er sich wie gerädert. Irgendwie war es etwas anderes, wenn man einfach nur eine normale Nachtschicht schob. Ohne so einen lebensmüden Insassen wie Buchholz. Natürlich, auch dann konnte man nicht einfach schlafen, aber diese Anspannung fehlte, denn die machte das Ganze derzeit so anstrengend. Na ja, bald ist das mit Buchholz vorbei. In ein paar Tagen ist sein Prozess, und dann ist seine Zeit bei uns in der Untersuchungshaft gezählt, sagte sich der Schließer nicht zum ersten Mal und setzte sich wieder bequem auf seinem Stuhl zurecht. Der dampfende Kaffeebecher stand vor ihm, und allein sein Duft weckte wieder ein paar Lebensgeister in Kahle. In diesem Moment kam sein Kollege zurück, verkündete »Alles ruhig. Er liegt auf seiner Pritsche und pennt«, und setzte sich Kahle gegenüber.
»Lust auf ein Spielchen?«, fragte er dann und zückte bereits die Karten. Kahle nickte. Warum nicht? So ein bisschen Karten kloppen hielt gut wach, und vielleicht konnte er seinem Kollegen ein paar Kröten aus der Tasche ziehen.
Während des Spiels behielt Kahle die ganze Zeit über die Uhr im Blick. Die Weisung der Gefängnisleitung war deutlich gewesen – keine Sekunde später als stets nach 15 Minuten sollte nach Buchholz gesehen werden – und der Schließer wollte sich nichts zuschulden kommen lassen. Jetzt war es bereits 4.14 Uhr. »Ich muss, bin gleich wieder da«, sagte Kahle deswegen zu seinem Kollegen, deutete mit seinem Kinn Richtung Uhr und erhob sich, während er sein Kartenblatt auf den Tisch legte. Inzwischen war es 4.15 Uhr. Um 4.17 Uhr sah Kahle durch das Guckloch von Zelle II/19 und erstarrte. Zunächst brachte er keinen Ton heraus, dann schluckte er schwer und begann über den Trakt nach seinem Kollegen zu brüllen, während er bereits die Zelle aufschloss und an die Pritsche eilte. Dort blieb er abrupt stehen und schluckte ein weiteres Mal. Vor ihm lag reglos Horst Buchholz, der ihn aus gebrochenen Augen anstarrte. Manfred Kahle musste sich nicht erst überzeugen, dass der Mann tot war. Was er sah, bereitete selbst ihm, der sich für hart gesotten hielt, Gänsehaut: Das Gesicht von Buchholz war wachsweiß und stand im grausigen Kontrast zum Hals, der rot von Blut war, genauso wie das Bettzeug und der Boden um die Pritsche herum. Kahle blickte an sich herunter auf seine in schweren Schuhen steckenden Füße – er stand mitten in einer blutigen Lache. Ihm wurde übel und er musste sich abwenden, damit er sich nicht übergab. In diesem Moment kam sein Kollege, blieb kurz im Türrahmen stehen, stieß ein »Ach, du Scheiße« aus und verschwand sofort wieder. Sicherlich, um den Anstaltsarzt zu alarmieren.
Erneut wandte Kahle sich der Pritsche zu. Wie konnte das passiert sein? Hatte er Buchholz am Abend zur Nachtruhe nicht ordentlich gefesselt? Hatte der Insasse sich befreien können, um sich dann die Halsschlagader aufzuschneiden? Aber womit? Sie hatten seine Zelle doch von allen gefährlichen Gegenständen gesäubert. Und auch alle möglichen Verstecke überprüft. Und das nicht nur einmal. Vor allem, als Buchholz versucht hatte, sich mithilfe der Rasierklinge zu töten, hatten sie die Zelle auf links gedreht und kein mögliches Tötungswerkzeug in ihr gefunden. Und auch ihn selbst hatten sie immer wieder durchsucht, wenn er zum Beispiel aus der Dusche gekommen war und mit anderen Insassen in Kontakt getreten sein konnte, die ihm etwas hätten geben können. Für Geld, Zigaretten oder dergleichen machten die meisten hier alles möglich. Was hatten sie als Wachmänner übersehen?
Der Schließer begutachtete den Leichnam, ohne näher an ihn heranzutreten. Sein Herz klopfte. Hatte er einen Fehler gemacht? Nein, die Fesseln waren noch dran. Aber wie hatte Buchholz dann seinen Tod herbeiführen können? Irgendwie war er scheinbar doch an etwas Scharfes herangekommen. Doch selbst wenn, wie hatte er sich dann die Halsschlagader aufschlitzen können?
»Der Doktor ist informiert und schon auf dem Weg«, wurde Kahle von der Stimme seines Kollegen aus seinen Überlegungen gerissen. Kahle brummelte irgendetwas als Antwort, er wusste selbst nicht was, noch immer war er zu schockiert. Dafür war sein Kollege umso redseliger: »Da hat der Kerl sich ja was Schönes zum Geburtstag geschenkt!«
»Wie – Geburtstag?«, horchte Kahle auf.
»Ja, seinen 31., hast du denn seine Akte nicht gelesen?«, wollte der Kollege wissen.
»Wenn ich mich in Akten versenken würde, würde ich aus dem Lesen nicht mehr herauskommen«, erwiderte Kahle und fühlte sich ertappt – er zog es eben vor, sich Informationen über die Insassen von seinen Kollegen erzählen zu lassen. Dass diese das nur lückenhaft taten, dafür konnte er schließlich nichts.
Ein paar Stunden später verließ der Schließer Manfred Kahle mit schweren Schritten das Untersuchungsgefängnis Neumünster. Seine Schicht war schon sehr viel länger beendet, doch nachdem der Anstaltsarzt eingetroffen war und offiziell den Tod des Insassen Horst Buchholz festgestellt hatte, hatten sie den Leichnam abtransportieren lassen. Auch der Doktor hatte keine Erklärung, auf welche Weise Buchholz seinen Freitod herbeigeführt hatte – es befand sich kein scharfer Gegenstand auf der Pritsche oder überhaupt in der Zelle. Aus diesem Grund würde Buchholz auch obduziert werden, um das Rätsel seines Todes zu lösen.
Jetzt ging es Kahle aber nicht um das Wie, sondern das Warum. Er stellte sich die Frage nach dem Motiv von Buchholz. Kahle, wie auch alle anderen, würde es nie erfahren und gerade deswegen beschäftigte es ihn. Hatten den Bildhauer Gewissensbisse geplagt? Hatte er gar nicht seine Geliebte in Schutz genommen und tatsächlich die Wahrheit gesagt, als er gestand, seinem Nebenbuhler den Kopf mit der Axt eingeschlagen zu haben? Konnte er die eigene Schuld nicht mehr ertragen und hat sich deshalb selbst gerichtet? Oder hat er lieber sterben wollen, um sich nicht vor dem Schwurgericht für seine Tat verantwortlich zu zeigen und vor allem der drohenden Strafe zu entgehen? Wohl niemand verbrachte gern sein restliches Leben hinter Gittern. Möglicherweise hatte er sich auch für seine Geliebte geopfert, die Mitangeklagte. Um ihr den Weg hinter Gitter zu ersparen? Denn nun, mit seinem Tod, konnte die Frau ohne Skrupel alles auf ihn schieben, und er selbst konnte gar nicht mehr anders, als dazu für immer zu schweigen.
Kahle gähnte und musste an seine Renate denken, die sich sicher schon fragte, wo er blieb. Ein seltenes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte ihn, sie zur Frau zur haben. Ihr gemeinsames Leben war zwar nicht gerade aufregend, manches Mal sogar sehr eintönig, denn im Grunde glich ein Tag dem anderen, und dennoch wollte er um keinen Preis der Welt tauschen. Wann hatte er Renate eigentlich das letzte Mal eine Freude gemacht? Er konnte sich nicht erinnern und beschloss, im Blumenladen am Bahnhof einen kleinen Strauß für sie zu besorgen. Bei dem Gedanken lächelte der Wärter vor sich hin, und ihm wurde warm ums Herz. So wie vorhin, als er beim Aufräumen der Zelle II/19 ein beschriebenes Blatt auf dem kleinen Tisch gefunden hatte. Die Zeilen hatten ihn tief berührt. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Tragödie in den frühen Morgenstunden. Es hatte sich um ein Gedicht gehandelt, das Ruth Blaue, die ebenfalls in Haft saß, für Horst Buchholz geschrieben hatte. Kahle nahm an, dass Buchholz dieses Gedicht zur Hand genommen hatte, bevor er sich ein letztes Mal auf seine Pritsche legte. Das Gedicht war voll inniger Liebe, und zu seiner eigenen Überraschung hatte Kahle es noch in seinem Kopf:
»Es sind die gleichen Mauern, kalt und schwer,
die meine Angst und deine Not umfassen.
Es sind die gleichen Gitter ringsumher,
die uns nun nicht mehr zueinander lassen.
Darum berühr’ ich oft mit heißer Hand
den kalten Stein und wag’ ein wehes Streichen.
Und leise, leise bebt die harte Wand,
es ist, als könnte ich dich doch erreichen.«
»In meiner ersten Ehe habe ich meinem Mann zuliebe getan, als wären Ehe, Anstand und Sitte für mich keine bindenden Begriffe. Aber wie sehnsüchtig wünschte ich eine richtige Ehe mit echten, positiven Familienbindungen. Auch in meiner zweiten Ehe glaubte ich, meinem Mann zuliebe alles bagatellisieren zu müssen. Mein Mann wollte wohl eine Frau haben, aber selbst niemals gebunden sein.«
(Ruth Blaue, 1955)
»Gelogen habe ich stets nur aus einem inneren Notstand heraus, nie, wenn es sich um mich allein handelte. Jede Lüge war mir Last. Meine eigenen Lügen habe ich mir nie als eventuelle Wahrheiten eingebildet.«
(Ruth Blaue, 1970)
Die Tränen quollen aus ihr heraus wie Sturzbäche und sie hatte das Gefühl, dass die salzhaltige Flüssigkeit bereits tiefe Rinnen in ihre Haut gegraben hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie schon weinte. Wie viel Tränen konnte ein Mensch überhaupt produzieren? War sein Vorrat nicht irgendwann erschöpft? Scheinbar nicht. Die Quelle schien nie zu versiegen. Doch selbst, wenn sie es gewollt und die Kraft gehabt hätte, gegen den Tränenfluss anzukämpfen, hätte sie nichts gegen ihn tun können. Zu sehr drückte er von innen. Erleichterung fühlte sie dennoch keine. Ihr Kissen war bereits völlig durchnässt. Ruth war das gleichgültig, sie presste ihr Gesicht nur noch stärker hinein. Alles war ihr gleichgültig, denn so unglücklich wie derzeit war sie noch nie in ihrem ganzen Leben gewesen. Und jetzt hatte sie auch noch marternde Kopfschmerzen dazubekommen. Kein Wunder. Ein bisschen freute sie sich sogar über diesen neuen Schmerz, lenkte er sie doch etwas von dem anderen, viel tiefer sitzenden und bestimmt niemals mehr vorübergehenden ab.
Die 19-Jährige lag auf dem Bett in ihrem Zimmer im Haus ihrer Eltern, die sie trotz allem wieder bei sich aufgenommen hatten. Gern hätte sie geschlafen, dann würden ihre Gedanken wenigstens nicht mehr um das Schreckliche kreisen, das sie selbst hervorgerufen hatte. Wie ein verwundetes Tier heulte Ruth auf. Alles war ihre Schuld! Wieso hatte sie das nur getan? Sie wusste warum. Sie hatte aus Liebe gehandelt und ja, sie würde es wieder tun, nur würde sie es dann klüger anstellen. Allerdings würde es sicher kein zweites Mal geben. Und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben.
Dabei hätte alles so schön, nein, noch schöner werden können. Gerade jetzt, da die Weihnachtszeit und damit das Fest der Liebe bevorstand.
Ruth seufzte zwischen zwei Schluchzern auf, und als hätte dieses Seufzen einen kleinen Kanal in ihrem Kopf freigegeben, schoss ihr ein Gedanke durch den Sinn, der ihre Tränen von der einen auf die andere Sekunde versiegen ließ: Sie hatte etwas, was ihr niemand nehmen konnte. Ihre Erinnerung!
Ruth drehte sich von der Bauch- in die Rückenlage, nahm das gerahmte Foto in die Hand, das mit dem Bild nach unten auf ihrem Nachttisch lag, drehte es um und betrachtete es – Wolfgang. Sofort durchströmte die junge Frau das warme Gefühl der Liebe, und zu ihrer eigenen Überraschung blieben die Tränen, die das Konterfei des geliebten Mannes in den letzten Stunden und Tagen bei ihr ausgelöst hatte, tatsächlich aus. Fest sah sie in Wolfgangs Augen, während sie sanft mit dem Zeigefinger über sein markantes Gesicht strich. Sie lächelte, legte den silbernen Bilderrahmen auf ihre Brust und gab sich ganz dem Erinnern hin.
*
»Hoppla, wen haben wir denn da?«, sagte der in den Laborraum eingetretene Mann, kam auf Ruth zu und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie hatte gerade die Mäuse füttern wollen, stellte jetzt jedoch die Dose mit dem Futter auf einen der Käfige und ergriff, etwas gehemmt von der starken Präsenz, die dieser umwerfend gut aussehende Mann in seinem Arztkittel ausstrahlte, seine Rechte: »Ruth. Ruth Heine.« Sie machte eine Pause, setzte dann jedoch überflüssigerweise hinzu: »Ich bin neu hier.«
Während er ihr direkt in die Augen schaute, schloss sich seine Hand um ihre, und bereits in diesem Moment war es um sie geschehen. Ruths Magen krampfte sich zusammen, ihr Herz klopfte plötzlich schneller, und ihre Hand glühte, während er jetzt erwiderte: »Trautmann, Doktor Wolfgang Trautmann. Ich bin Assistenzarzt, und der ehrenwerte Doktor Seel, der Sie eingestellt hat, ist unser beider Vorgesetzter. Ist er hier?«
»Ich bin hier hinten, Trautmann«, erklang nun von der anderen Ecke des Labors die Stimme von Doktor Seel. Er war ein Bekannter ihrer Eltern und hatte Ruth hier im Forschungsinstitut des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf eine Lehrstelle als Laborantin gegeben. Ihre Aufgaben waren es vor allem, Berichte abzutippen sowie die Versuchstiere zu füttern. Nicht gerade eine Herausforderung, aber etwas interessanter und verantwortungsvoller als die Anstellung, die sie zuvor in einem Laboratorium der Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg innegehabt hatte. Im Grunde war es auch nicht wichtig. Sie war eine Frau, hatte nach dem Ablegen der Mittleren Reife an der Mittelschule noch ein knappes halbes Jahr lang eine Handelsschule besucht und jetzt arbeitete sie, bis sie heiraten und eine Familie gründen würde. Ihr Vater war es gewesen, der den Wunsch gehabt hatte, dass sie in einem medizinischen Labor tätig war, und ihre Mutter hatte ihn bekräftigt. Ruth hatte sich gern gefügt. Sie glaubte, dass ihre Eltern sie in die Welt der Medizin geschickt hatten, damit sie hier einen vielversprechenden Arzt traf, den sie heiraten würde. Sie selbst hatte nichts dagegen, und während sie jetzt Doktor Wolfgang Trautmann hinterherblickte, der zu Doktor Seel ging, hatte sie das untrügliche Gefühl, gerade ihren potenziellen Gatten kennengelernt zu haben.
Dieses Gefühl verstärkte sich noch in den folgenden Tagen, wenn Wolfgang, wie sie ihn inzwischen nannte, ins Labor kam. Ruth war verliebt. So wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Natürlich hatte sie bereits für Jungen geschwärmt und war auch schon mit dem einen oder anderen ausgegangen. Doch ihre Schwärmerei war nie von langer Dauer gewesen. Bei Wolfgang war das anders. Vielleicht lag dies daran, dass sie es bei ihm nicht mit einem gleichaltrigen Jüngelchen zu tun hatte, sondern mit einem ganze zehn Jahre älteren Mann. Vielleicht aber auch daran, weil sie eben zueinander passten, wie Ruth fand. Mit jedem Tag, ja fast schon jeder Minute nahm ihr Gefühl für ihn zu, sodass ihre Gedanken inzwischen nur noch um ihn kreisten.
Doktor Wolfgang Trautmann war ein Frauenschwarm. Nicht nur die anderen Laborantinnen im Forschungsinstitut warfen ihm vielsagende Blicke zu, auch die Schwestern und sogar Ärztinnen auf dem Gelände des Universitätsklinikums. Das hatte Ruth schon einige Male beobachten können. Und auch, wie Wolfgang sich in der ihm entgegengebrachten Schwärmerei sonnte. Mit einigen der Damen schien er auch innigeren Kontakt zu haben. Das sah Ruth daran, wie vertraut er mit den bewussten Frauen umging. Andere wiederum mieden ihn oder wichen ihm aus. Hatte er ihre Gefühle verletzt? Wie es auch war, Wolfgang machte, was Frauen anging, den Eindruck, ein Jäger und Sammler zu sein, und Ruth schien der Assistenzarzt momentan besonders in sein Visier genommen zu haben – sie ihn jedoch ebenso. Sie war bereits über beide Ohren in ihn verliebt und wollte sein Spielchen mitspielen. Allerdings nicht auf die Weise, die die anderen Frauen an den Tag legten, denn das war allem Anschein nach nicht erfolgreich. So zeigte Ruth sich Doktor Wolfgang Trautmann gegenüber zunächst als unnahbar, aber gleichzeitig schüchtern und zu ihm aufblickend, um ihn dadurch herauszufordern. Hier kam ihr zugute, dass sie nicht nur die Neue im Forschungsinstitut war, sondern zugleich die Jüngste. Diese Tatsachen lenkten sowieso Wolfgangs Aufmerksamkeit auf Ruth. Dessen war sie sich bewusst.
Ihr Verhalten war erfolgreich. Schon nach wenigen Tagen trat Wolfgang an sie heran und fragte: »Ich würde Sie gern einmal ausführen, Fräulein Heine. Haben Sie heute Abend bereits Pläne? Falls dies nicht der Fall ist, würde ich gern Ihr Plan sein.«
Ruth stockte der Atem – der Assistenzarzt hatte unwissentlich den Nagel auf den Kopf getroffen, oder wusste er, dass ihr einziger Plan es war, ihn für sich zu gewinnen und an sie zu binden? Nach einem verschämten Augenaufschlag sagte sie leise zu. Den ganzen restlichen Arbeitstag hatte die junge Frau das Gefühl zu schweben.
Der Abend mit Wolfgang verlief ganz zu ihrer Zufriedenheit. Er hatte sie zum Essen ausgeführt, und danach waren sie zum Tanz gegangen. Bereits beim Essen hatte sie alle aufgesetzte Scheu Wolfgang gegenüber abgelegt, ihm aufmerksam zugehört und dabei ebenso das Wort ergriffen und ihre Meinung vertreten, die seiner in den meisten Fällen jedoch entsprach. Schnell hatte sich ein intensives Gespräch entwickelt. Zu Beginn hatten sie sich über Kunst und Literatur ausgetauscht. Irgendwann hatte Wolfgang das Gespräch auf die politische Situation gebracht. Er war ein entschiedener Gegner der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und konnte ihr überzeugend, ohne die üblichen Phrasen von Menschen, die Aufgeschnapptes einfach wiederkäuten, erläutern, warum er dies war. Sie hatte schier an seinen Lippen gehangen. Seinen schönen, geschwungenen und für einen Mann recht vollen Lippen, die sie an diesem Abend noch küssen sollten. Das war nach dem Besuch einer kleinen Tanzbar gewesen. Schon dort waren sie sich nähergekommen. Natürlich war das auch dem Umstand des Tanzens an sich geschuldet. Hatten sie sich zuvor beim Charleston, einem von den Nationalsozialisten verteufelten Tanz, für den Ruth jedoch das richtige und zu Hause bewusst gewählte kurze und aus dünnem Stoff bestehende Kleid getragen hatte, ordentlich verausgabt, hatten sie später beim langsamen Walzer die Möglichkeit, ein wenig auf Tuchfühlung zu gehen. Ruth hatte an sich halten müssen, sich nicht zu eng an Wolfgang zu schmiegen. Ihr ganzer Körper war für den Mann entflammt, der sie geschmeidig, aber bestimmt auf der Tanzfläche führte und daraufhin hinaus auf die Straße in die angebrochene Nacht. Hand in Hand waren sie die Straße entlang in Richtung Taxenstand geschlendert. Kurz bevor sie dort angekommen waren, hatte Wolfgang sie in einen Hauseingang gezogen, ihr Gesicht in seine Hände genommen, es sanft zu sich hoch gedrückt, und bevor sein Mund den ihren fand, hatte sie bereits die Augenlider geschlossen.
Ruth war im Leben noch nicht so geküsst worden. Überhaupt waren die wenigen Zärtlichkeiten, die sie bisher mit dem anderen Geschlecht ausgetauscht hatte, alle stümperhaft gewesen. Sie hatte sie eher über sich ergehen lassen, als auch nur im Ansatz genossen, weil sie gedacht hatte, das gehörte sich so. Mit Wolfgang war das anders. Und das hatte sie bereits bei diesem ersten Kuss zu spüren bekommen. Mit seinen Lippen auf den ihren hatte sie damals im Hauseingang das Gefühl gehabt, mit ihm zu zerschmelzen, eins zu sein und das bis in alle Ewigkeit. Sie wurde rüde aus dieser Sinnesempfindung herausgerissen, als ein älterer Herr mit einem kleinen Hund an der Leine an dem Hauseingang vorüberging und ihnen zuranzte: »Haben Sie kein Zuhause? Sie sind hier nicht auf der Reeperbahn, das ist eine anständige Gegend!«
Wolfgang löste sich von ihr und lachte auf: »Recht so, der Herr. Die Dame verdient es, auf Rosen gebettet zu werden. Noch einen schönen Abend!«
Zwar freute sich Ruth über diesen liebevollen Ausspruch, aber die innige Stimmung, dass es nur sie und Wolfgang auf dieser Welt gab, war vorüber.